Der Unterrichtsausfall an Schulen ist seit längerer Zeit in fast allen Bundesländern ein Politikum.1 Landtagsanfra- gen kritisieren den Unterrichtsausfall als unzumutbar,2 die Unterrichtsausfall-Statistiken der Kultusministerien3 werden, soweit überhaupt erhoben, angezweifelt4 und besorgte Eltern führen mit ihren Kindern über den Unterrichtsausfall mittlerweile Buch.
Der Unterrichtsausfall an Gymnasien wird vielfach als rechtlich nicht relevante Folge verfehlter Schulpolitik abge- tan. Unterrichtsausfall ist aber dann nicht mehr ein bloß är- gerliches Politikum, wenn die betroffenen Schüler auf Grund eines unverhältnismäßigen und damit unzumutba- ren Unterrichtsausfalls nicht jene Abiturnote und nicht jene Möglichkeiten des Hochschulzugangs erreichen, die ihnen bei ordnungsgemäßem Unterricht möglich gewesen wären. Damit geht es im Folgenden um die Ermöglichung eines chancengleichen Hochschulzugangs durch eine Organisation des Schulunterrichts, der sich seinerseits am Gebot der Chan- cengleichheit ausrichtet.
Zu klären ist zunächst, ob und in welchem Umfang es zu unverhältnismäßigem und unzumutbarem Unterrichts- ausfall kommt und welche bildungspolitischen Folgen mit ihm verbunden sind (I.) Auf diesem Hintergrund werden Verfassungsfragen eines Rechts auf Bildung (II., 1) kurz an- gesprochen, um sodann ein subjektiv-öffentliches Recht auf die Erteilung von Unterricht in gleicher Weise entspre- chend den Stundenplänen (II., 2) zu begründen. Der Schwerpunkt der Überlegungen zum Recht auf chancen- gleichen Unterricht liegt auf der Begründung des Junktims vom Recht auf Chancengleichheit im Unterricht und dem
1 Die Ausführungen beruhen zum Teil auf einem Rechtsgutachten für eine Elterninitiative in Baden-Württemberg.
2 BW LT-Drs. 16/4642 vom 15.8.2018 zur systematischen Erfassung des Unterrichtsausfalls; NRW LT-Drs. 16/14986 vom 2. 5. 2017 zu Unterrichtsausfall und Stellenbesetzungen; Brbg LT-Drs. 6/8059 vom 30. 1. 2018 zum Stundenausfall; Drs. der Hamburger Bürger- schaft 21/12803 vom 30. 4. 2018 zu Risiken und Nebenwirkungen des Unterrichtsausfalls an staatlichen Schulen.
3 Vgl. Fn. 6.
4 So titelt die FAZ in der Ausgabe für Hessen vom 25.4.2018: „Land-
tag streitet über Unterrichtsausfall“, https://www.faz.net/aktuell/ rheinmain/hessischerlandtag-streitet-ueber-unterrichtsaus- fall-15559655.html (abgerufen am 25. 8. 2019). Oder ein Beispiel für eine Kontroverse zwischen obersten Landesbehörden: Der Landesrechnungshof von Schleswig-Holstein hat dem Kultusmi- nisterium in einem Prüfbericht verfehlte statistische Angaben über den Unterrichtsausfall vorgeworfen: https://landesrechnungshof- sh.de › file › bemerkungen_2012_tz12 (abgerufen am 25.8.2019).
5 Hierzu unter III.
Recht auf chancengleichen Zugang zum Hochschulstudium sowie zur Berufsausbildung. Das Recht auf Gleichheit im Unterricht verlangt nicht, dass nicht ab und an Unterrichts- stunden ausfallen dürften. Zu bestimmen ist vielmehr der nicht mehr verhältnismäßige und damit unzumutbare Un- terrichtsausfall(II.,3).
Was nicht möglich ist, kann rechtlich auch nicht durch- gesetzt werden. Manchen Unterrichtsausfall kann man nicht verhindern. Was aber zu verlangen ist: Vom Haus- haltsgesetzgeber,5 von den Kultusministerien und den Gymnasien ist alles zu veranlassen, was einen den Stunden- plänen widersprechenden und damit die Chancengleich- heit beeinträchtigenden Unterrichtsausfall verhindern kann (III.).
I. Der Unterrichtsausfall und seine bildungspoliti- schen Folgen
In welchem Umfang Unterrichtsstunden an Gymnasien ausfallen, ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Wenn an dieser Stelle ausführlicher auf den Unterrichtsaus- fall in Baden-Württemberg eingegangen wird (1.), so ist dies der hier besonders guten Datenbasis geschuldet. In einigen anderen Bundesländern bestehen über die Jahre hinweg vergleichbare Ausfallzahlen.6 Dass der Unterrichtsausfall bildungspolitisch und für die reale Verwirklichung von Chancengleichheit eine gravierende Fehlentwicklung ist, ist bislang von den Kultusministerien, aber auch vom Haus- haltsgesetzgeber offensichtlich nicht hinreichend gewür- digt worden (2.).
6 Einige Prozentzahlen des Unterrichtsausfalls aus den nicht immer vergleichbaren statistischen Angaben der einzelnen Bundesländer mögen genügen: In Bremen fiel im Zeitraum vom August 2018
bis Januar 2019 3, 8 % des Unterrichts aus, 7,5 % des Unterrichts wurde vertreten oder durch Selbststudium ersetzt (https://www. bildung.bremen.de/vertretung_und_unterrichtsausfall-4378; abge- rufen am 25.8.2019). In Hamburg konnte im Halbjahr 2016/2017 nur 85 % des Unterrichts nach Plan erteilt werden (Bürgerschafts- drucksache 21/12803 vom 30.4.2018, Anlage 2). In Thüringen
fiel laut Rechnungshofbericht von 2013 4,4 % des Unterrichts ersatzlos aus und 5,4 % wurde fachfremd vertreten (https://www. thueringer-rechnungshof.de/files/1584E80E375/2013_02_sonder- bericht_2609.pdf (abgerufen am 25.8.2019). In Berlin fielen im Schuljahr 2016/2017 11,2 % des Unterrichts aus, wobei 9 % des ausgefallenen Unterrichts durch Vertretungskräfte bestritten wur- de: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Blickpunkt Schule. Schuljahr 2017/2018, S. E 1, 2; ein vergleichbarer Prozent- satz an Unterrichtsausfall und Vertretungsunterricht ergibt sich für das Land Brandenburg (LT-Drs. 6/8926 vom 11.6.2018, S. 1).
Thomas Würtenberger
Unterrichtsausfall und chancengleicher Hochschulzugang
Ordnung der Wissenschaft 2019, ISSN 2197–9197
216 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2019), 215–226
1. Der Unterrichtsausfall
Wenden wir uns beispielhaft dem Unterrichtsausfall an Gymnasien in Baden-Württemberg zu. Im Jahr 2018 hat sich das Kultusministerium dazu entschlossen, den Unterrichtsausfall an Schulen durch eine „Vollerhebung an den öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg“ im Zeitraum vom 11. – 15. Juni 2018 zu erfassen. Für die all- gemein bildenden Gymnasien ergaben sich:
— Unterrichtsausfall 6,6 %
— Abwesenheit der originär zuständigen Lehrkraft
12, 7 %
— Vertretungen 6,1 %7
Die zweite vom Kultusministerium durchgeführte
„Vollerhebung an den öffentlichen Schulen in Baden- Württemberg“ im Zeitraum vom 12. – 16. November 20188 zeigt für die allgemein bildenden Gymnasien ein etwas positiveres Bild:
— Unterrichtsausfall 4,9 %
— Abwesenheit der originär zuständigen Lehrkraft
9,8 %
— Vertretungen 4,8 % DieseStatistikunterscheidet,wiedieStatistikenanderer
Bundesländer, zwar zwischen völligem Unterrichtsausfall und Unterricht durch eine Vertretungskraft.9 Gleichwohl ist aber dem Unterrichtsausfall in aller Regel der Unterricht in Abwesenheit der originär zuständigen Lehrkraft zuzurech- nen. Ein Unterricht in Abwesenheit der originär zuständi- gen Lehrkraft ist einem Unterrichtsausfall (fast) gleich zu setzen. Bei einer Vertretungsstunde mangelt es an der Kon- tinuität der Vermittlung des Stoffes, an der Kenntnis der Stärken und Schwächen der jeweiligen Schüler und der Klasse insgesamt sowie oft auch an der Beherrschung des entsprechenden Fächerkanons.
Die statistischen Angaben, die die Kultusministerien veröffentlichen, sind lediglich Mittelwerte. Es gibt aufs Gan- ze gesehen im jeweiligen Bundesland immer Gymnasien, an denen nur wenig Unterricht ausfällt, und umgekehrt, an denen besonders viel Unterricht ausfällt. Wie die Spreizung zwischenGymnasienmitextremwenigundextremhohem Unterrichtsausfall aussieht, ist den Kultusverwaltungen be- kannt, entsprechende Daten sind aber bislang kaum zu- gänglich.10 Nach Erhebungen des Unterrichtsausfalls an
7 Die von der ARGE Stuttgart mit Genehmigung des Kultusminis- teriums erhobenen Daten liegen jedoch deutlich höher: 13,5 % der Unterrichtsstunden fielen aus oder wurden durch Vertretun- gen erteilt (BW LT-Drs. 16/4642, S. 2).
8 https://km-bw.de/site/pbs-bw-new/get/documents/KULTUS. Dachmandant/KULTUS/KM-Homepa-pa-ge/Pressemitteilungen/ Pressemitteilungen%202019/2019%2001%2014%20Zweite%20 Vollerhebung%20-%20Anlage%20Auswertung%20Unterrichts- ausfall.pdf (abgerufen am 29.8.2019).
einzelnen Gymnasien spricht alles dafür, dass es Gymnasi- en mit hohem Unterrichtsausfall weit über dem jeweils er- mittelten Mittelwert gibt. Wenn das Mittel von Unterrichts- ausfall und Vertretungsunterricht in einem Bundesland bei etwa 10% der obligatorischen Unterrichtsstunden liegt, dann gibt es dort in der Regel Gymnasien, an denen bis zu 15 % oder mehr kein Unterricht durch die zuständige und entsprechend qualifizierte Lehrkraft stattfindet.
Nicht nur der Unterrichtsausfall an Gymnasien wird mit statistischen Mittelwerten verniedlicht. Die Unterrichts- ausfall-Statistiken an einem einzelnen Gymnasium zeigen ebenfalls nur Mittelwerte. An den jeweiligen Gymnasien gibt es einzelne Fächer mit deutlich höherem Unterrichts- ausfall. An einem Gymnasium mit einem Mittelwert des Unterrichtsausfalls von 10 % ist ein Unterrichtsausfall von über 20% in einem einzelnen Fach kein Einzelfall, wie einige der von Eltern mit ihren Schülern geführten Unterrichts- ausfall-Statistiken zeigen.
2. Folgen des Unterrichtsausfalls
Die Folgen von Unterrichtsausfällen und von nicht hin- reichend qualifiziertem Vertretungsunterricht in der vorstehend dargelegten Größenordnung lassen sich nicht verharmlosen:
a) Gravierende Defizite beim Ausschöpfen des individuel- len Bildungspotentials und der Bildungsressourcen
Wenn wegen der Unterrichtsausfälle und des vertre- tungsweisen Unterrichts das G 8 fast zu einem G 7 bzw. das G 9 zu einem G 8 wird, leidet die Qualität gymnasia- ler Ausbildung. Man wird kaum behaupten können, dass das Erreichen der rechtlich definierten Unterrichtsziele auch dann möglich sei, wenn (fast) ein ganzes Jahr regu- lären Gymnasialunterrichts entfällt.
Es leidet nicht nur die Qualität der gymnasialen Aus- bildung insgesamt. Ebenso leidet die Qualität der Aus- bildung in einzelnen Fächern. Wenn während eines Halbjahres 20% des Unterrichts zum Beispiel im Fach Deutsch ausfällt, lassen sich die im Deutschunterricht zu vermittelnden Kenntnisse, Fähigkeiten strukturierter Gedankenführung in Schrift und Wort sowie besondere Ausdrucksformen nur sehr begrenzt und lückenhaft vermitteln.
9
10
Ähnlich die statistischen Angaben der meisten Bundesländer, wie zum Beispiel die Berliner Statistik für das Schuljahr 2016/2017: Vertretungsunterricht 9 %, Ausfall von Unterricht 2,2 % (Senats- verwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Blickpunkt Schule. Schuljahr 2017/2018, S. E 1, 2).
Nur in wenigen Bundesländern wird der Unterrichtsausfall auch bezogen auf einzelne Gymnasien veröffentlicht.Hier zeigt sich eine erhebliche Spreizung zwischen den vom Unterrichtsausfall weitgehend verschonten und besonders belasteten Gymnasien.
Würtenberger · Unterrichtsausfall und chancengleicher Hochschulzugang 2 1 7
Ein erheblicher Unterrichtsausfall führt notwendi- gerweise dazu, dass die hiervon betroffenen Schüler schlechter als andere Schüler mit regulärem Unterricht in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert und auf das Berufsleben vorbereitet werden. Dies wiederum führt zu Leistungsdefiziten, die sich in ihren Schulnoten nieder- schlagen.11 Ein unverhältnismäßiger und damit unzu- mutbarer Unterrichtsausfall verstößt damit gegen das Gebot der Chancengleichheit, das zu beachten ist, wenn der Schulunterricht der Persönlichkeitsentwicklung und der Vorbereitung auf das Berufsleben dient. Den einen Schülern den hierfür rechtlich vorgesehenen Unterricht zu bieten, anderen Schülern aber zu versagen, ist ein Verstoß gegen die vom Staat in einer bürgerlichen Ge- sellschaft zu fördernde Egalität bürgerlicher Bildung und Ausbildung.12
Um es auf eine einfache je-desto-Formel zu bringen: Je mehr Unterrichtsausfall in der Schulzeit stattfindet, desto geringer sind die Chancen des Schülers, in den durch den Schulunterricht zu vermittelnden bildungs- politischen Zielen gefördert zu werden.
Blickt man insbesondere auf die Abiturprüfung in den einzelnen Prüfungsfächern: Durch Beschlüsse der Kultusministerkonferenz ist festgelegt, was im Abitur mit welchem Leistungsprofil zu prüfen ist. Dieses Leis- tungsprofil lässt sich nur mangelhaft erreichen, wenn zum Beispiel an einem Gymnasium innerhalb eines Halbjahres mehr als 8 % des Unterrichts oder in einem Kernfach in den Klassen vor dem Abitur teilweise 15% des Unterrichts ausgefallen oder von nicht ausreichend qualifizierten Lehrkräften vertreten worden ist.
Konsequenz ist, dass eine Kohorte von Schülern die Hochschulreife zwar erreicht, deren Schulunterricht aber an derart gravierenden Ausfällen gelitten hat, dass ihr Bildungspotential wegen des Mangels an chancenglei-
11 Merkens, in: Bellmann/Merkens (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit als Versprechen, 2019, S. 188 insbesondere zur Korrelation von Vertretungsunterricht und Leistungsniveau der Schüler. In der Bildungsforschung wird allerdings auch eine zurückhalten-
dere Würdigung der Folgen des Unterrichtsausfalls vertreten: Bestritten wird, dass ein „linearer Zusammenhang zwischen der tatsächlichen Unterrichtszeit und dem Lernerfolg der Schülerin- nen und Schüler vermittelt über die aktive Lernzeit besteht“. Man meint, „der Lernerfolg der Schülerinnen und der Schüler (hänge) von der Qualität des Unterrichtsangebots sowie der individuellen Nutzung dieses Angebots durch die Schülerinnen und Schüler ab und somit nur mittelbar von der tatsächlichen Unterrichtszeit“ (Bellenberg/Reintje, Möglichkeiten einer Ermittlung des Unter- richtsausfalls an den Schulen in Nordrhein-Westfalen, Gutachten im Auftrag des Ministeriums für Schule und Weiterbildung NRW, 2013, S. 7; https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/ Ministerium/Service/Schulstatistik/Sonstige-Statistiken/Gutach- ten_Ermittlung_Unterrichtsausfall.pdf, abgerufen am 27.8.2019). Die bildungspolitischen Folgen von Unterrichtsausfall derart herunterzuspielen, ist möglicherweise dem Auftraggeber des Gut-
chem Schulunterricht nicht annähernd ausgeschöpft worden ist.
Die gesamtgesellschaftlichen negativen Folgen dieses Versagens der Schul- und Bildungspolitik sind bekannt. Mängel im Bildungssystem haben negative Auswirkun- gen nicht nur auf die ökonomische und gesamtgesell- schaftliche Entwicklung, sondern auch auf die Verwirk- lichung persönlicher Lebensentwürfe.
b) Zur diskriminierenden Wirkung von Unterrichtsaus- fall
Zwischen Unterrichtsausfall und Lern- bzw. Bildungser- folg besteht, um es zu wiederholen, ein negativer Kausal- zusammenhang.13 Der Unterrichtsausfall in den Kernfä- chern hat für den Schüler zur Folge, dass er seine Bil- dungsmöglichkeiten nicht wie bei rechtskonformem Unterricht wahrzunehmen vermag.
Durch den Minderunterricht ist er in seinem Recht auf gleichen Unterricht und gleiche (Berufs-)Bildungs- möglichkeiten, wie sie die Schüler seiner Jahrgangsstufe erhalten, diskriminiert.
Insbesondere korreliert der Unterrichtsausfall bereits ab der Klasse 10 mit den Leistungen, die im Abitur er- bracht werden. Je höher der Prozentanteil an Unter- richtsausfall oder nicht qualifizierter Unterrichtsvertre- tung ist, desto schlechter sind die Leistungen im Abitur und konsequenter Weise auch die Abiturnote. Der Schü- ler kann im Abitur nicht das Leistungsniveau und nicht den Notenschnitt erreichen, den er ohne Unterrichtsaus- fall hätte erreichen können. Dies betrifft insbesondere die Fächer, bei denen die Aufgaben zentral gestellt und auch zentral korrigiert14 werden. Bei der zentralen Be- wertung dieser Arbeiten kann und darf nicht auf den Unterrichtsausfall an einer Schule Rücksicht genommen werden.
achtens geschuldet, der wegen des Umfangs des Unterrichtsaus- falls immer wieder öffentlich kritisiert wurde. Davon abgesehen sind die Thesen von Bellenberg und Reintje nicht schlüssig. Wenn es richtig ist, dass der Lernerfolg von der Qualität des Unterrichts abhängt, ist der Lernerfolg gleich Null, wenn überhaupt kein Unterricht stattfindet, oder deutlich geschmälert, wenn ein wenig qualifizierter Vertretungsunterricht angeboten wird. Die Relation zwischen Unterrichtsausfall und Lernerfolg lässt sich also nicht anzweifeln. So müssen die Autoren bei der Auswertung der von ihnen referierten internationalen Studien denn auch einräumen, dass der Unterrichtsausfall neben anderen Faktoren zum Absin- ken des Leistungsniveaus beiträgt.
12 Zur Gleichheit als Leitprinzip der gesamten Rechtsordnung: Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 23 Rn. 1 ff.; Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl. 1996, Kap. 26.
13 Forkel, Unterrichtsausfall als Rechtsproblem, SächsVBl. 2010, 282 sowie die Nachw. in Fn. 11.
14 Etwa durch einen neutralen Zweitkorrektor.
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Schüler aus bildungsferneren Familien werden durch den Unterrichtsausfall doppelt diskriminiert. Ihnen fehlt jene Unterstützung, die Kinder aus bildungsnahen Famili- en in derartigen Situationen erfahren können.15
c) Zu Einwänden gegen die negativen Folgen von Unterrichtsausfall
Den hier skizzierten negativen Folgen von Unterrichts- ausfall könnte man entgegenhalten, dass die in der Klas- se 10 (und auch in früheren Klassen) des Gymnasiums erreichten Noten für die Bildung der Abiturnote nicht relevant seien. Es fehle damit an einem rechtlichen Inte- resse an chancengleichem Unterricht in dieser Unter- richtsstufe, ein Unterrichtsausfall sei damit rechtlich irrelevant.
Dieser Einwand kann nicht überzeugen: Denn wo die Grundlagen in den im Abitur zu prüfenden Fächern nicht entsprechend den jeweiligen Stundenplänen gelegt sind, muss in den beiden Jahren vor dem Abitur jenes an Grund- lagen vermittelt werden, worauf der weiterführende Unter- richt nach den Lehrplänen aufzubauen hat. Wo nicht auf den nach den Lehrplänen vorgeschriebenen und erworbe- nen Vor- und Grundkenntnissen aufgebaut werden kann, ist der Unterricht zwei Jahre vor dem Abitur defizitär. Denn wenn in den Abiturklassen ausgefallener Unterricht nach- geholt werden muss, lassen sich nicht die Leistungen erzie- len, die bei ordnungsgemäßem Unterricht in früheren Klas- sen möglich waren.
Dem Recht auf chancengleichen Unterricht lässt sich, so ein weiterer möglicher Einwand, auch nicht entgegenhal- ten, dass der Schüler wegen des hohen Maßes an Unter- richtsausfall in seinem Bundesland nicht in seinem Recht auf chancengleichen Unterricht diskriminiert werde. Denn es gäbe in seinem Bundesland eine Vielzahl von Schülern in vergleichbarer Situation. Weil es an einzelnen Gymnasien und in einzelnen Abiturfächern eine erhebliche Spreizung zwischen regulär erteiltem Unterricht und Unterrichtsaus- fall gäbe, würde es kein Recht auf Chancengleichheit durch Erteilung des rechtlich vorgesehenen Unterrichts geben. Es ist verfehlt, die Faktizität des Unterrichtsausfalls der Gleich- heitsprüfung zu Grunde zu legen. Bezugsrahmen der Gleichheitsprüfung kann lediglich die rechtlich festgesetzte Zahl von Unterrichtsstunden in einzelnen Fächern sein. Der rechtlichen Verpflichtung zur Organisation eines chan- cengleichen Unterrichts kann sich die Kultusverwaltung nicht durch Verweis auf Unterrichtsausfälle entziehen.16
15 Brenner, in: Bellmann/Merkens (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit als Versprechen, 2019, S. 36 f.
16 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 23 Rn 70 f. zur Frage der Gleichbehandlung im Unrecht.
17 BVerfGE 147, 253 ff.
d) Diskriminierung wegen der Vergabe von Studien- plätzen nach der Abiturbestenquote
Im Auswahlverfahren der Hochschulen werden Studien- plätze zum Teil nach der Abiturbestenquote vergeben. Auch nach dem dritten numerus clausus-Urteil des Bun- desverfassungsgerichts17 erfolgt die Vergabe eines Teils der Studienplätze in zulassungsbeschränkten Fächern nach wie vor nach der Abiturbestenquote.18 Dies ist in § 11 der „Verordnung über die zentrale Vergabe von Studi- enplätzen durch die Stiftung für Hochschulzulassung (VergabeVO Stiftung)“ geregelt:
§ 11 Auswahl in der Abiturbestenquote
(2) 1 Für die Besetzung der Studienplätze in der Abitur- bestenquote werden so viele Bewerberinnen und Be- werber ausgewählt, wie insgesamt in dieser Quote Stu- dienplätze zu vergeben sind. 2 Die Auswahl erfolgt nach Absatz 3 bis 5; dabei werden §§ 12 und 13 angewendet. (3) 1 Die Rangfolge wird durch die nach Anlage 2 ermit- telte Durchschnittsnote bestimmt. 2 Eine Gesamtnote gilt als Durchschnittsnote nach Satz 1.
(4) Wer keine Durchschnittsnote nachweist, wird hinter die letzte Bewerberin und den letzten Bewerber mit feststellbarer Durchschnittsnote eingeordnet.
(5) Wer nachweist, aus in der eigenen Person liegenden, nicht selbst zu vertretenden Gründen daran gehindert gewesen zu sein, eine bessere Durchschnittsnote zu er- reichen, wird auf Antrag mit der besseren Durch- schnittsnote berücksichtigt.
Die Kultusministerkonferenz hat beschlossen, die Abi- turbestenquote von 20 auf 30 Prozent zu erhöhen, weil der Abiturnote wird nach vor eine hohe Prognosekraft für den Studienerfolg attestiert wird. Um unter vergleichbaren Un- terrichtsbedingungen die individuell bestmögliche Abitur- note und Abiturbestenquote erreichen zu können, bedarf es in dem jeweiligen Bundesland eines Unterrichts, der in den Abiturfächern für alle Schüler in gleicher Stundenzahl er- folgt und damit das Gebot der Chancengleichheit verwirklicht.
In diesem Kontext stellt sich die weitere Frage: Entfällt die Benachteiligung des Schülers beim Erreichen der für ihn bestmöglichen Abiturnote dadurch, dass nach § 11 Abs. 5 der „Verordnung über die zentrale Vergabe von Studienplätzen durch die Stiftung für Hochschulzulassung (VergabeVO Stif-
18 Hierzu Brehm Konsequenzen der Entscheidung des Bundes- verfassungsgerichts zum Dritten Numerus-Clausus-Urteil vom 19.12.2017 aus anwaltlicher Sicht, Ordnung der Wissenschaft (OdW), 2019, 36, 37 (zur Abiturbestenquote).
Würtenberger · Unterrichtsausfall und chancengleicher Hochschulzugang 2 1 9
tung)“ berücksichtigt wird, dass er wegen Unterrichtsausfalls mit einer besseren Durchschnittsnote zu bewerten ist.19 Ob sich der Schüler mit einem entsprechenden Antrag im Verfah- ren der Vergabe von Studienplätzen durchzusetzen vermag, ist fraglich. Von der Rechtsprechung werden hohe Anforde- rungen an die Begründetheit eines derartigen Antrags gestellt:
„Die hier aufgeworfene Problematik der Anforderungen an Anträge auf Vergabe eines Studienplatzes innerhalb der Kapazität ist nämlich dadurch geprägt, dass der Studien- platzbewerber grundsätzlich nur zum Zug kommen kann, wenn es ihm gelingt, einen der sonst nach den maßgebli- chen Kriterien auszuwählenden Bewerber zu verdrängen. Hieraus schlussfolgert die Rechtsprechung in Bezug auf die in Fällen des Nachteilsausgleichs vorzunehmende Prü- fung, dass eine strenge Betrachtungsweise geboten ist, eben weil jeder Nachteilsausgleich zugunsten eines Studi- enbewerbers das Teilhaberecht eines Anderen aus den
Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG verdrängt“.20
Es besteht also immerhin die abstrakte Möglichkeit, eine Aufbesserung der Abiturdurchschnittsnote im Verfahren der Studienplatzvergabe zu erreichen. Ob überhaupt sowie in wel- chem Zeitraum unter Inanspruchnahme gerichtlichen Rechts- schutzes dies dem Schüler gelingt, ist nicht vorherzusagen. Die Ausgleichsmöglichkeiten bei der Berechnung der Abiturbes- tenquote nehmen dem Schüler nicht das Rechtsschutzbedürf- nis dahingehend, einen Anspruch auf Unterricht ohne unzu- mutbarem Unterrichtsausfall gerichtlich durchzusetzen.
II. Verfassungsrechtliche Garantie eines hinreichenden und im Umfang für alle Schüler im wesentlichen glei- chen Unterrichts
Der vorstehend beschriebene erhebliche Unterrichtsausfall verstößt gegen die verfassungsrechtliche Garantie eines hinreichenden und im Umfang für alle Schüler im wesent- lichen gleichen Unterrichts. Das Recht auf Bildung und Ausbildung (1.) umfasst einen Anspruch auf gleiche Ertei-
19 Zu den Anforderungen entsprechender, von der Schule zu erstel- lender Gutachten: https://zv.hochschulstart.de/index.php?id=321 (abgerufen am 26. 8. 2019).
20 OVG Saarlouis, Beschluss vom 29.10.2015, Az 1 B 189/15, Rn. 10 f., juris
21 BVerfGE 45, 400, 417; BVerfG‑K NVwZ 2018, 728 Rn. 25; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 26. April 1995 – 19 B 765/95, Rn. 3, juris zu einem Anspruch des Schülers auf Erziehung und Bildung nach Art. 8 Abs. 1 S. 1 Verf NRW.
22 BVerwGE 47, 201; BVerwGE 56,155, 158
23 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 84. EL
August 2018, Art. 7 GG Rn. 3.
24 Vertiefend Sachs, Auswirkungen des allgemeinen Gleichheits-
satzes auf die Teilrechtsordnungen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),
lung von Unterricht, wie er in den Stundenplänen der Gym- nasien vorgesehen ist (2.).
1. Das Recht der Schüler auf Bildung
a) Zum verfassungsrechtlichen Schutz eines Rechts auf Bil- dung
Anders als manche Landesverfassungen regelt das Grundgesetz kein Recht auf Bildung. Die Existenz eines aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) und aus der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) abzuleitenden „Rechts auf Bildung“ ist von der Rechtsprechung des Bun- desverfassungsgerichts bislang offengelassen worden.21 In Literatur und Rechtsprechung22 wird ein Recht auf Bildung tendenziell bejaht. Nach Badura sind die Schüler „mit ih- rem Persönlichkeitsrecht und dem „Recht auf Bildung“ der subjektive Orientierungsmaßstab des komplexen Rechtsge- bildes Schule, des Unterrichts und der schulischen Erziehung“.23
Das im Persönlichkeitsrecht und in der Berufsfreiheit wurzelnde Recht auf Bildung besteht nach überwiegender Ansicht allerdings nur für den gleichen Zugang24 zu den staatlichen Bildungseinrichten.25 Es dient lediglich der „Startgleichheit“ bei der Verwirklichung des Rechts auf Chancengleichheit.26
Grund für diese Begrenzung eines Rechts auf Bildung ist: Der Landesgesetzgeber hat einen erheblichen, allerdings nicht unbegrenzten Gestaltungsspielraum bei der Festle- gung der Schulform, der Unterrichtsziele und der Vertei- lung der Stundendeputate auf einzelne Fächer. In welcher Weise und in welchem Umfang in den einzelnen Bundes- ländern das Recht auf Bildung wahrgenommen werden kann, wird durch parlamentsbeschlossene Gesetze vor allem im Bil- dungs- sowie im Schulrecht geregelt.
b) Recht auf gleiche Persönlichkeitsentfaltung im Bereich der Bildung
Anderes gebietet jedoch das Recht auf gleiche Persön- lichkeitsentfaltung im Bereich der Bildung, wenn bil- dungs- und schulrechtliche Regelungen bestehen. Wenn
Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 183 Rn. 156 ff.; Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 7 GG Rn. 2: Recht auf Bildung als ein den Gesetzgeber verpflichtendes Verfassungs- programm; nach Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetzkom- mentar, Art. 2 GG Rn. 111 kann ein Recht auf Bildung allein aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG folgen, also aus einer gleichen Teilhabe an den staatlichen Bildungseinrichtungen.
25 So Stüer, Recht auf unverkürzten Unterricht, RdJB 1986, 282 ff.; Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 84. EL August 2018, Art. 7 GG Rn. 5; vgl. auch Achilles, PdK He G1. Umfang des Unterrichtsanspruchs, Ziffer 3.1.
26 Kirchhof, Art. Allgemeiner Gleichhheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 181 Rn. 187 mit Nachw.
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rechtlich vorgesehen wurde, welche Unterrichtsfächer mit welcher Zahl von Wochenstunden und mit welchen Ziel- setzungen zu unterrichten sind,27 ergibt sich die Verpflich- tung, durch organisatorische Maßnahmen sicher zu stellen, dass der entsprechende Unterricht auch allen Schülern in gleicher Weise erteilt werden kann.
Der zeitliche Umfang des Schulunterrichts ist rechtlich geregelt. Für die Stundendeputate für die einzelnen Fächer an Gymnasien bestehen rechtliche28 oder durch Verwal- tungsvorschrift festgelegte Vorgaben. Für den auf das Abi- tur vorbereitenden Unterricht an Gymnasien ist zunächst auf die von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprü- fung (EPA) zu verweisen.29 Nach diesen Vorgaben wird durch Rechtsverordnung des Kultusministeriums30 vorge- schrieben, welches Fach in welcher Jahrgangsstufe in wel- chem Umfang an Stunden am Gymnasium zu unterrichten ist. So ist etwa geregelt:
„Die Kernfächer Deutsch, fortgeführte Fremdsprache und Mathematik sind für alle Schülerinnen und Schüler verbindlich und werden mit vier Wochenstunden unter- richtet. Sie sind Teil der schriftlichen Abiturprüfung. Die Fächer Geschichte, Musik oder Kunst, Religionslehre oder Ethik und Sport müssen – sofern sie nicht Wahl- kernfach sind – über vier Halbjahre zweistündig belegt werden, Gemeinschaftskunde und Geographie in der Regel zwei Halbjahre zweistündig.“31
Unter dieser Voraussetzung fordert der in Art. 3 Abs. 1 GG geregelte allgemeine Gleichheitssatz, dass jedem betroffenen Schüler in gleichem Stundenumfang der
27 Siehe zum Beispiel § 10 Verordnung des Kultusministeriums BW über die Jahrgangsstufen sowie die Abiturprüfung an Gymnasien der Normalform und Gymnasien in Aufbauform (Abiturverord- nung Gymnasien der Normalform – AGVO, GBl. 2018, 388).
28 Zur Verpflichtung, die Stundentafel durch Rechtsverordnung zu regeln: Stüer, Recht auf unverkürzten Unterricht, RdJB 1986, 282, 284.
29 https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/beschluesse- und-veroeffentlichungen/bildung-schule/allgemeine-bildung. html#c1284, abgerufen am 4.8.2019
30 Vgl. Verordnung des Kultusministeriums über die Stundentafeln der Klassen 5 bis 10 der Gymnasien der Normalform und der Klassen 7 bis 11 der Gymnasien in Aufbauform mit Internat (Stundentafelverordnung Gymnasien) vom 23.6.1999, BW GBl. 1999, S. 323 mit Kontingentstundentafel für die Klassen 5 bis 10 der Gymnasien der Normalform, gültig ab 1.8.2018.
31 https://www.km-bw.de/,Lde/Startseite/Schule/ Abitur+und+Oberstufe, abgerufen am 13. 1. 2018.
32 So Stüer, Recht auf unverkürzten Unterricht, RdJB 1986, 282 ff.; Forkel, Unterrichtsausfall als Rechtsproblem, SächsVBl. 2010, 282, 283.
jeweilige Unterricht erteilt wird.32 Denn Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprin- zip (Art. 20 Abs. 1 GG) garantiert über die herkömmliche Abwehrfunktionen hinaus ein Recht auf gleiche Chancen zur Persönlichkeitsentwicklung im öffentlichen Bildungs- und Schulwesen. Beim Besuch einer staatlichen Schule si- chern diese grundgesetzlichen Regelungen ein Recht auf Chancengleichheit, das unter anderem durch gleichen Un- terricht für die Kohorten eines Jahrgangs zu gewährleisten ist.33
Dieses Recht auf chancengleichen Unterricht wird zu- dem durch die Chancengleichheit im Prüfungsrecht34 ge- währleistet. Die Chancengleichheit im Prüfungsrecht ist nicht nur verletzt, wenn geprüft wird, was nicht Gegen- stand des Schulunterrichts war, sondern auch, wenn eine Kohorte von Schülern regulären Unterricht hatte, eine an- dere aber in unverhältnismäßiger und unzumutbarer Wei- se durch Unterrichtsausfall bedingt nur lückenhaft unter- richtet wurde.35
Zum gleichen Ergebnis eines subjektiv-öffentlichen Rechts auf rechtskonformen Unterricht gelangt man, wenn nicht entscheidend auf ein Recht auf chancengleichen Un- terricht, sondern auf ein Recht auf Einhaltung der rechtlich geregelten Stundenpläne abgestellt wird36: Diese Regelungen sind nicht allein zur Verfolgung allgemeiner bildungspoliti- scher Interessen getroffen worden. Sie schützen und gestal- ten zugleich das Recht der Schüler auf Förderung ihrer Per- sönlichkeitsentfaltung. Schüler sind eben nicht nur Objekte in der Schulorganisation, sondern Subjekte, bei denen die Schulpflicht damit korreliert, dass durch den Schulunter- richt zu ihrer Persönlichkeitsentfaltung beigetragen wird. Handelt es sich bei der rechtlichen Regelung von Stunden-
33
OVG Magdeburg NVwZ-RR 2018, 694 Rn. 21 unter Verweis auf Glotz/Faber, Richtlinien und Grenzen des Grundgesetzes für das Bildungswesen in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch
des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 28 Rn. 11–13; die Bedeutung eines chancengleichen Unterrichts wird von Rux (Artikel „Schulrecht“, in: Ehlers/Feh- ling/Pünder (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 3. Bd., 3. Aufl. 2013, § 86, Rn. 130) nicht hinreichend gewürdigt; er hält einen Unterrichtsausfall erst dann für rechtswidrig, wenn er dazu führt, dass Schüler in Abschlussprüfungen scheitern; dies fordert die kritische Rückfrage heraus: Kann der Auftrag der Schule wirklich darauf reduziert werden, dass Prüfungen nur bestanden werden können? Vgl. auch Rux, Schulrecht, 6. Auflage 2018, Rn. 831 ff. Zum Gebot der Chancengleichheit als zentralem Kontrollmaß- stab im Prüfungsrecht: Sachs, Auswirkungen des allgemeinen Gleichheitssatzes auf die Teilrechtsordnungen, in Isensee/Kirch- hof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010,
§ 183 Rn. 163 f. mit Nachw.
Luthe, Bildungsrecht, 2003, S. 98.
Forkel, Unterrichtsausfall als Rechtsproblem, SächsVBl. 2010, 282, 283.
34
35 36
Würtenberger · Unterrichtsausfall und chancengleicher Hochschulzugang 2 2 1
plänen um Schutznormen, so besteht ein subjektiv-öffentli- ches, gerichtlich durchsetzbares Recht auf entsprechenden Unterricht.
Ein solcher Anspruch steht nach seinem aus dem Grundgesetz heraus entwickeltem Schutzbereich den vom Unterrichtsausfall betroffenen Schülern zu. Ein Anspruch auf Chancengleichheit im Bildungsbereich stellt nach An- sicht einer Kammerentscheidung des BVerfG kein Eltern- recht dar, auf das sich Eltern selbst berufen könnten.37
2. Vom Anspruch auf Erteilung von Unterricht in glei- cher Weise entsprechend den Stundenplänen zum Anspruch auf chancengleichen Zugang zum Hoch- schulstudium
Aus der verfassungsrechtlichen Zielsetzung eines Rechts auf Bildung lassen sich nicht direkt — und damit keine originären — Leistungsansprüche, etwa auf einen Unter- richt in bestimmtem Umfang, herleiten.38 Denn die Annahme originärer Leistungsansprüche würde verhin- dern, dass dem Haushaltsgesetzgeber bei der Erfüllung seiner bildungspolitischen und seiner weiteren Staats- aufgaben ein weiter Gestaltungsspielraum für demokra- tisch legitimierte Politik eröffnet ist.
Anderes gilt jedoch für die sogenannten derivativen Teilhaberechte. Diese betreffen den Bereich, in dem ein staatliches Leistungsangebot rechtlich geregelt ist. Hier darf aus Gleichheitsgründen einzelnen Begünstigten nicht ein Teil der rechtlich geregelten Leistungen vorent- halten werden39: Denn „die Grundrechte vermitteln de- rivative Teilhaberechte, das heißt eine gleiche Teilhabe an den sozialen, grundrechtliche Freiheit ermöglichen- den Transferleistungen“.
Diese verfassungsrechtliche Gewährleistung derivativer Teilhaberechte ist vom Bundesverfassungsgericht im drit- ten NC-Urteil im Kontext der Gewährleistung gleichen Zu- gangs zu Hochschulen besonders betont worden:
„Aus der Ausbildungs- und Berufswahlfreiheit des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ergibt sich für diejeni- gen, die dafür die subjektiven Zulassungsvoraussetzun- gen erfüllen, ein Recht auf gleiche Teilhabe am staatli- chen Studienangebot und damit ein derivativer An- spruch auf gleichheitsgerechte Zulassung zum Studium
37 BVerfG‑K NVwZ 2018, 728 Rn. 25 mit Verweis auf VGH Mann- heim BeckRS 2013, 4685.
38 Hierzu Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 17 Rn. 7 f. mit Ausführungen zu Ausnahmefällen.
39 Hierzu Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl.
2018, § 17 Rn. 9 – hier auch das folgende Zitat; zustimmend
Forkel, Unterrichtsausfall als Rechtsproblem, SächsVBl. 2010, 282.
40 BVerfGE 147, 253, Rn. 103, 105 mit Verweis auf BVerfGE 33, 303,
ihrer Wahl“. Denn der verfassungsrechtliche Grund- rechtsschutz zielt „im Zusammenwirken mit Art. 3 Abs. 1 GG auch auf gleichheitsgerechte Teilhabe an staatlichen Leistungen und– hier–staatlichen Studienangeboten.“40 Was das Bundesverfassungsgericht zur gleichheitsge-
rechten Teilhabe an staatlichen Studienangeboten ausführt, lässt sich auf eine gleichheitsgerechte Teilhabe an staatlichen Unterrichtsangeboten übertragen. Denn nur diese ermög- licht dem Schüler, wie ausgeführt, sozusagen als Junktim den chancengleichen Start bei der Zuteilung von Studienplätzen.
Auch der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg anerkennt die derivativen Leistungsrechte eines Anspruch auf eine gleichheitsgerechte Teilhabe bei der Verteilung von Studienplätzen sowie eine gleichheitsgerechte Teilhabe am Unterricht.41 Auszulegen war Art. 11 Abs. 1 LV BW, wonach jeder junge Mensch „das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung“ hat. Nach An- sicht des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg handelt es sich bei Art. 11 Abs. 1 LV „nicht um einen bloßen Programmsatz, sondern um ein klares Verfassungsgebot, das in erster Linie für die Legislative, aber auch für die Exe- kutive gilt, wie sich aus Abs. 2 der Vorschrift, wonach das öffentliche Schulwesen nach diesem Grundsatz zu gestalten ist, und aus Abs. 4 ergibt, wonach das Nähere ein Gesetz re- gelt“. Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes Baden- Württemberg „kann aus Art. 11 Abs. 1 LV ein subjektives Teilhaberecht auf Bildung abgeleitet werden, das jedoch im Einzelnen der staatlichen Ausgestaltung bedarf. Wegen des Organisations- und Gestaltungsspielraums des Staates nach Art. 11 Abs. 2 und 4 LV besteht im Grundsatz kein subjekti- ves Recht auf Schaffung und Bereitstellung bestimmter Bil- dungseinrichtungen. Hat jedoch der Staat öffentliche Erzie- hungs- oder Ausbildungseinrichtungen geschaffen, ist Art. 11 Abs. 1 LV als landesrechtliches Grundrecht auf gleichen und der jeweiligen Begabung entsprechenden Zugang zu diesen Einrichtungen zu verstehen“.42
Diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechung lässt sich mit gebotener Vorsicht auf die Verfassungsauslegung ande- rer Bundesländer mit vergleichbaren bildungsverfassungs- rechtlichen Regelungen43 übertragen: Hat ein Bundesland öffentliche Erziehungs- oder Ausbildungseinrichtungen und, wie weiter zu konkretisieren ist, bildungsrelevante Transferleistungen zur Verfügung gestellt und rechtlich ge-
330 ff.; 43, 291, 313 ff.; 134, 1, 13 f.
41 VerfGH BW, Urteil vom 30.05.2016 – 1 VB 15/15, Rn. 49 f., juris. 42 VerfGH BW, Urteil vom 30.05.2016 – 1 VB 15/15, Rn. 50, juris;
zustimmend Ebert, in Haug (Hg.), Verfassung des Landes BW,
2018, Art. 11 LVerf, Rn. 21 mit Nachw.
43 Vgl. etwa Art. 20 Abs. 1 Bln Verf.; Art. 29 Brbg Verf.; Art. 27
Brem Verf.; Art. 20 Abs. 1 S. 1 und 2 Thür Verf.
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regelt, so lässt sich nicht nur aus Art. 3 Abs. 1 GG, sondern auch aus Landesverfassungsrecht ein subjektiv-öffentliches Teilhaberecht an diesen Leistungen begründen.
Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten: So weit der Umfang von Unterricht in einzelnen Fächern rechtlich ge- regelt ist, besteht ein aus Art. 3 Abs. 1 GG und gegebenen- falls aus der landesverfassungsrechtlichen Gewährleistung eines Rechts auf Bildung hergeleitetes Recht der Schüler auf chancengleiche Erteilung dieses Unterrichts. Nur wenn die- sem Anspruch genügt wird, kann das Recht auf chancen- gleichen Hochschulzugang in effektiver Weise geltend ge- macht werden. Chancengleicher Unterricht ist damit Ent- stehensvoraussetzung für ein Recht auf chancengleichen Hochschulgang.
3. Obergrenzen des Unterrichtsausfalls: Gleichheitswid- rigkeit und Unzumutbarkeit
Der Anspruch des Schülers auf Gleichheit bei der Ver- mittlung des Unterrichtsstoffes geht nicht so weit, dass in jedem Fach die vorgesehene Zahl an Unterrichtsstunden strikt eingehalten werden müsste. Es ist zumutbar, dass, aus welchen Gründen auch immer, einzelne Unterrichts- stunden ausfallen.
a) Die Frage einer quantitativ festlegbaren Obergrenze
Damit geht es um die Klärung folgender Frage: Welche „quantitativen Obergrenzen“ von Unterrichtsausfällen sind noch verhältnismäßig und zumutbar? Diese quanti- tativen Obergrenzen sind im Hinblick ist das jeweilige Unterrichtsfach und auf den Unterricht insgesamt zu bestimmen.
In vielen Rechtsbereichen wird mit dem Argument der Obergrenzen diskutiert, ab wann eine bestimmte Quantität in eine neue Qualität umschlägt. So ist etwa im Polizei- und Sicherheitsrecht die Rechtsfigur der Ermessensreduzierung auf Null entwickelt worden, die polizeiliche Passivität bei der Gefahrenabwehr unterbindet. Die Polizei muss ledig- lich erhebliche Gefahren für das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum abwenden.44 Maßstab für diese polizeirecht- liche Ermessensgrenze ist also eine erhebliche, nicht mehr zumutbare Gefährdung von existentiellen, grundrechtlich geschützten Rechtsgütern.
In ähnlicher Weise lassen sich die Obergrenzen eines noch verhältnismäßigen und zumutbaren, dem Gleich- heitsgebot nicht widersprechenden Ausfalls von Unterricht bestimmen. Entscheidend für die Zumutbarkeitsgrenze ist,
44 Würtenberger/Heckmann/Tanneberger, Polizeirecht in Baden- Württemberg, 7. Aufl. 2017, § 5 Rn. 354.
45 OVG Koblenz BeckRS 2011, 45203, unter 1b, aa unter Verweis auf BVerfGE 34, 165, 182 ff.; vgl. auch OVG Koblenz NVwZ 1986, 1036; Forkel, SächsVBl. 2010, 282, 283; Theuersbacher, NVwZ 1995, 1178.
ab wann die ernst zu nehmende Gefahr besteht, dass ein Unterrichtsausfall die Chancengleichheit in Bildung und Ausbildung zu verletzen vermag. Maßstab für die Bestim- mung der Obergrenze von Unterrichtsausfall ist also die er- kennbare Gefährdung eines Anspruchs auf Chancengleich- heit in Bildung und Ausbildung. Dieser grundrechtlich ge- schützte Bereich ist von erheblicher Relevanz für die Verfol- gung von persönlichen Lebensentwürfen und damit für den Kernbereich individueller Persönlichkeitsentfaltung. Da von einer Abiturnote die Aufnahme eines selbstgewählten Studiums abhängen kann, greift ein die Obergrenze über- schreitender und die Abiturnote verschlechternder Unter- richtsausfall in unverhältnismäßiger Weise in den engsten Bereich der Persönlichkeitsentfaltung ein.
Es bedarf also eines „quantitativ und qualitativ gleichen Schulunterrichts“, um dem Anspruch der Schüler auf glei- che Teilhabe an den vorhandenen Bildungs- und Ausbil- dungseinrichtungen genügen zu können. Denn nur wer im Gymnasium die gleichen Bildungschancen wie alle Mit- schüler in der Kohorte seiner Klassenstufe hatte, kann sein Recht auf chancengleiche Bildung und Ausbildung sowie auf chancengleichen Zugang zu Hochschule und/oder Be- rufsausbildung in effektiver Weise wahrnehmen.
b) Voraussetzungen von Unterricht in Abweichung vom Stundenplan
Ab einer im Folgenden zu erörternden Quantität des Unterrichtsausfalls besteht ein subjektiv-öffentliches Recht auf Unterlassung des Unterrichtsausfalls bzw. positiv formuliert auf Unterrichtserteilung. Die Recht- sprechung hat dies dahin formuliert: Es besteht ein „Anspruch, von unzumutbaren oder gänzlich unange- messenen Schulbesuchsbedingungen verschont zu blei- ben“45, – und damit auch von einem unzumutbarem Unterrichtsausfall.
Bei der Prüfung, ob ein Unterrichtsausfall unverhältnis- mäßig und unzumutbar ist, muss man berücksichtigen und abwägen46:
(1.) Handelt es sich bei dem in Rede stehenden Unter- richt um einen unmittelbar prüfungsvorbereitenden Unter- richt, der in Noten eingeht, die für die Hochschulzulassung oder für die Berufsausbildung von Bedeutung sind? Ein im Abitur nicht prüfungsrelevanter Unterrichtsausfall ist eher hinzunehmen als in den Kernfächern der Abiturprüfung.
(2.) Handelt es sich um einen Unterrichtsausfall in den unteren Klassen und besteht eine gewisse Wahrscheinlich-
46 OVG Magdeburg NVwZ-RR 2018, 694 Rn. 30, juris; vgl. auch VG Halle, Beschluss vom 16.04.2018 – 6 B 232/18 HAL, BeckRS 2018, 13098, Rn. 10 ff.
Würtenberger · Unterrichtsausfall und chancengleicher Hochschulzugang 2 2 3
keit dafür, dass dadurch entstandene Defizite in den folgen- den Schuljahren wieder ausgeglichen werden können?47 Unterrichtsausfälle in den unteren Klassen sind eher zu- mutbar als in den letzten drei Klassen vor dem Abitur. Denn in diesen Klassen lassen sich erhebliche Unterrichts- ausfälle durch späteren Unterricht in der Regel nicht nachbessern.
(3.) Wo verläuft die quantitative Untergrenze des Unter- richts, um die nach den Bildungsplänen vorgeschriebenen Zielsetzungen zu erreichen? Diese Frage stellt sich nur, wenn in gymnasialen Bildungsplänen keine Vorgaben ge- macht sind, in welchem Stundenumfang ein bestimmtes Fach zu unterrichten ist.
(4.) Ist der Unterrichtsumfang rechtlich festgelegt, stellt sich die Frage: Wo verläuft die quantitative Obergrenze ei- nes noch hinnehmbaren Unterrichtsausfalls? Oder anders formuliert: Was ist der verfassungsrechtliche Mindeststan- dard an Unterricht, der bei einem Unterrichtsausfall zu wahren ist?
c) Zur Bestimmung der Obergrenze eines gleichheits- widrigen und infolgedessen unzumutbaren Unterrichts- ausfalls
Die Fragen, welche quantitativen Obergrenzen von Unter- richtsausfällen noch zumutbar und damit noch statthaft sind und wo die Obergrenze eines gleichheitswidrigen und infolgedessen unzumutbaren Unterrichtsausfalls verlaufen, lassen sich nicht einfach beantworten. An fol- gendem Maßstab muss sich die Beantwortung dieser Fragen orientieren: Die Obergrenze eines gleichheits- widrigen und unzumutbaren Unterrichts in den Schul- jahren vor dem Abitur ist überschritten, wenn der Unter- richt in den Abiturfächern in dem Maß die rechtlich vor- geschriebene Unterrichtszeit unterschreitet, dass ernsthaft zu befürchten steht, dass dieser Unterrichts- ausfall Auswirkungen auf die Abiturnote und damit auf eine Studiums- und Berufsaufnahme gemäß der indivi- duellen Lebensplanung hat.48
Die Abiturnote wird nach der in der „Verordnung über die zentrale Vergabe von Studienplätzen durch die Stiftung für Hochschulzulassung (VergabeVO Stiftung)“ geregel- ten Formel errechnet. Bereits ein Zehntel-Punkt im No- tendurchschnitt kann über die Zulassung zum Hoch- schulstudium eigener Wahl und damit über die indivi- duelle Lebensplanung entscheiden. Eine nur geringfügi- ge Notenverbesserung kann also über die Zulassung zu einem Studienfach entscheiden, das die Qualifikation zum Wunschberuf des Schülers vermittelt. Als Faustre-
47 Vgl. insoweit Rux, Schulrecht, 6. Auflage 2018, Rn. 835.
48 Ähnlich Avenarius, Schulrecht, 8. Aufl. 2010, S. 394, der aber ent-
scheidend auf die Erreichung der Bildungsziele abstellt. Gefährdet der Unterrichtsausfall die Erreichung der Bildungsziele, werden von Avenarius Klagemöglichkeiten bis zu einer Amtshaftungskla- ge bejaht.
gel hat zu gelten: So wie die Hochschulen in den NC-Fä- chern alle ihre Ausbildungskapazitäten bis zum letzten Platz auszuschöpfen haben, müssen die Haushaltsgesetzge- ber sowie die Kultusministerien mit ihren Schulen dafür sorgen, dass ein chancengleicher Unterricht die Vorausset- zungen dafür schafft, dass eine chancengleiche Abiturnote den chancengleichen Zugang zum Studium ermöglicht.
Legt man diesen Maßstab an, so ergibt sich für den noch zumutbaren, gegen das Recht auf Chancengleichheit nicht verstoßenden Unterricht: In den letzten drei Schuljahren vor dem Abitur dürfen an den Gymnasien während eines Schuljahres nicht mehr als 8 % an Unterricht49 in einem einzelnen Fach durch eine qualifizierte Lehrkraft ausfallen. Gleiches gilt für einen Unterrichtsausfall von 8 % während eines Halbjahres in den Abiturfächern insgesamt.
Ein genauer empirischer Nachweis für diese 8 %-Gren- ze kann derzeit nicht erwartet werden, da es bislang kaum Studien zu den Folgen von Unterrichtsausfällen gibt. Nur eine empirische Studie weist für den Vertretungsunterricht nach, dass diese Größenordnung des Vertretungsunter- richts zu einem deutlichen Leistungsabfall der betroffenen Schüler führt.50 Wenn man also fragt, in welchem Ausmaß Unterricht ausfallen kann, ohne dass der Leistungsstand ne- gativ beeinflusst wird, so sind 8 % die Obergrenze für einen Unterrichtsausfall, der noch nicht zwingend schlechtere Kenntnisse und damit schlechtere Noten befürchten lässt. WereinenochhöhereObergrenzefürzumutbarhält,zwei- felt daran, dass das Erreichen der Bildungs- und Unter- richtsziele jenes Stundenumfangs bedarf, der in den Bil- dungsplänen vorgesehen ist. Und davon abgesehen würde der Umfang der Schulpflicht in Frage gestellt, wenn auch mit 8 % (oder noch) weniger Unterrichtszeit die bildungs- politischen Ziele erreicht werden könnten.
III. Welche Maßnahmen zur Verminderung des Unter- richtsausfalls?
Auch im schulischen Bereich gilt der Rechtsgrundsatz: Ult- ra posse nemo tenetur – ein Unterrichtsausfall, der nicht vermeidbar ist, muss hingenommen werden. Deswegen gehört es zur Normalität, dass unvorhersehbare Ereignisse zu einem unvermeidbaren Unterrichtsausfall führen kön- nen. Jenseits des Unvermeidbaren besteht die rechtliche Verpflichtung des jeweiligen Haushaltsgesetzgebers, des jeweiligen Kultusministeriums und der jeweiligen Schullei- tung, alles rechtlich und faktisch Mögliche zu veranlassen, um unverhältnismäßigen und unzumutbaren Unterrichts- ausfällen vorzubeugen und diese zu verhindern.
49 Zu derartigen Prozentzahlen vgl. Avenarius, Schulrecht, 8. Aufl. 2010, S. 393 mit Fn. 8.
50 Zu dieser Studie vgl. Fn. 11.
224 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2019), 215–226
In den Debatten um den Unterrichtsausfall ist ein Dau- erthema, ob im Landeshaushalt hinreichend Lehrerstellen ausgewiesen sind, um Unterrichtsausfälle zu vermeiden. Blicken wir also zunächst auf den Haushaltsgesetzgeber: Beim Beschluss über den Haushaltsplan ist der Landtag grundsätzlich frei, wie und in welchem Umfang Bildungs- ausgaben in den Staatshaushalt eingestellt werden. Gleich- wohl unterliegt der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Landeshaushalts Bindungen, die einzulösen er ver- pflichtet ist. Wenn das Landesrecht bestimmt, dass zum Beispiel an Gymnasien ein bestimmter Stundenplan einzu- halten ist, ist der Haushaltsgesetzgeber verpflichtet, die für den entsprechenden Unterricht nötigen Lehrerstellen zu etatisieren.51 Diese Pflicht zur Etatisierung von Lehrerstel- len umfasst natürlich ebenfalls Lehrerstellen zur Überbrü- ckung von Unterrichtsausfall. Wie der Gesetzgeber insge- samt ist auch der Haushaltsgesetzgeber an die Grundsätze der Konsequenz im Recht, der Systemgerechtigkeit und der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung gebunden. Der Sachgesetzgeber und der Haushaltsgesetzgeber sind ver- pflichtet, die durch Leistungsgesetze verursachten Ausga- ben vollumfänglich in den Haushaltsplan einzustellen. Eine Normdivergenz zwischen der staatlichen Verpflichtung zu Leistungen und den insoweit erforderlichen Haushaltsmit- teln muss im demokratischen Rechtsstaat ausgeschlossen sein. Was der Landesgesetzgeber im Schulbereich als Sach- gesetzgeber regelt, muss er als Haushaltsgesetzgeber auch fi- nanziell ermöglichen.52 Soweit eine zu geringe Zahl von Planstellen für Lehrer einschließlich einer Lehrerreserve zu Unterrichtsausfall führt, hat der Haushaltsgesetzgeber dem Unterrichtsausfall mit einem angemessenen Ausbau der Lehrerreserve begegnen.
Es bleibt jedoch das Problem, was zu geschehen hat, wenn der Haushaltsgesetzgeber dieser Verpflichtung nicht nachkommt. Können rechtliche und verfassungsrechtlich zwingende Verpflichtungen mit den im Haushaltsplan zur Verfügung gestellten Finanzmittel nicht erfüllt werden, sind zur Vermeidung von Unterrichtsausfall über- bzw. außer- planmäßige Ausgaben nach § 37 LHO BW geboten.53
tigung von Unterrichtsausfall haushaltsrechtlich möglich sein. Eine haushaltsrechtliche Begrenzung dieser Lehrauftragsmit- tel ist nicht statthaft. Um ein ausreichendes und für alle Schüler gleiches Lehrangebot an den Gymnasien des Landes zu garan- tieren, sind finanzielle Restriktionen der zur Bewältigung des Unterrichtsausfalls zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel, wie sie in einzelnen Bundesländern bestehen, unzulässig. Ver- stöße gegen die Chancengleichheit in der Bildung dürfen nicht auf hausrechtlichen Restriktionen bei der Erteilung von Lehr- aufträgen beruhen.
Die Gymnasien sind verpflichtet, durch organisatori- sche Maßnahmen Unterrichtsausfälle zu vermeiden.54 Werden zum Beispiel dienstliche Gründe für einen Unter- richtsausfall vorgetragen, so ist abzuwägen: Wie gewichtig ist der dienstliche Grund und wie gewichtig ist die Vermei- dung von Unterrichtsausfall? Bei dieser Abwägung gilt die bekannte je desto-Formel: Je gravierender die Belastungen durch den Unterrichtsausfall an einem Gymnasium sind, desto weniger dürfen dienstliche Gründe für einen Unter- richtsausfall maßgeblich sein.
Von der Schule ist darauf hinzuwirken, dass in einem einzelnen Fach nicht mehr als höchstens 8% des stunden- planmäßigen Unterrichts ausfällt bzw. durch nicht hinrei- chend qualifizierte Vertretungskräfte erbracht wird. Hierzu bedarf es erleichterter Einstellungsmöglichkeiten für qualifi- zierte Aushilfskräfte. Was den Zeitpunkt der Erteilung entspre- chender Lehraufträge betrifft: Diese müssen bereits erteilt wer- den, bevor gravierende Unterrichtsausfälle drohen. Denn auch Unterrichtsausfälle, die noch nicht gravierend sind, widerspre- chen der rechtlichen Verpflichtung zur Erteilung von Unter- richt und dürfen nicht sehenden Auges hingenommen wer- den. Es ist eben ein Unterricht zu gewährleisten, der dem rechtlich festgelegten Stundenplan entspricht.
Soweit dem Unterrichtsausfall in einzelnen Fächern durch Einstellung von Lehrern nicht abgeholfen werden kann, da es nicht genügend Hochschulabsolventen gibt, muss der Unter- richt von qualifizierten Quereinsteigern und von pensionier- ten Lehrkräften, die, wie in einigen Bundesländern, ein attrak- tives Angebot erhalten, erfolgen.55
54 BVerwG NVwZ 1984, 796 f.
55 Von den ARGEs der Regionen Baden-Württembergs wird gefor-
dert:
‑Mindestens 110-prozentige Unterrichtsversorgung für die Schulen
des Landes durch zusätzliche Planstellen für das Kultusministeri-
um, finanziell abgesichert im Landeshaushalt.
‑Ende der Entlassung von Referendaren nach dem 2. Staatsexamen;
Bezahlung während der Sommerferien statt Wiedereinstellung
zum ersten Schultag des neuen Schuljahres.
— Springerverträge für jeweils ein Schuljahr (einschließlich der Ferien)
für examinierte Lehrer. Entsprechende landesweite Einteilung in örtliche Bereiche. Begünstigung für die Einstellung in den Schul- dienst nach Absolvieren eines „Springerdienstes“.
— Einstellung von Quereinsteigern mit entsprechender beruflicher Qualifizierung und zeitlichen Kapazitäten.
51 52
53
Daher muss die Erteilung von Lehraufträgen zur Bewäl-
Gerichtlich lässt sich diese Verpflichtung des Landesgesetzge- bers allerdings nicht durchsetzen: Luthe, Bildungsrecht, 2003, S. 146 mit Nachw.
Zu diesen Grundsätzen vgl. Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 1979, S. 339 ff.; Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung — Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konse- quenzen?, NVwZ 2002, 33 ff.; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 12 Rn. 26 ff.; § 23 Rn. 60 ff.; Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungs- rechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), 588 ff.; Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, 864 ff. Vgl. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 50 Rn. 104.
Würtenberger · Unterrichtsausfall und chancengleicher Hochschulzugang 2 2 5
Erhebliche Unterrichtsausfälle, die sich über Jahre hinzie- hen, lassen auf politisch nicht bewältigte strukturelle Probleme bei der Organisation eines rechtskonformen Schulunterrichts schließen. Zur Beseitigung struktureller Probleme bedarf es bisweilen längerer Zeiträume, um Abhilfemaßnahmen auf den Weg zu bringen. Was aber das Bildungsverfassungsrecht ver-
bietet: Unzumutbarer Unterrichtsausfall darf nicht über viele Jahre hinweg sehenden Auges toleriert werden.
Thomas Würtenberger ist Professor an der Albert-Lud- wigs-Universität Freiburg und Leiter der Forschungs- stelle für Hochschulrecht und Hochschularbeitsrecht.
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