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I.

Die­ser Vor­trag hat eine Vor­ge­schich­te: Ich war nach mei­ner Rück­kehr aus Bonn im RC Frei­burg-Zäh­rin­gen am 15. Janu­ar 2008 zu Gast mit dem Vor­trag „Der Bolo- gna-Pro­zess, ein Glau­bens­krieg“. In einer äußerst kri­ti- schen Dis­kus­si­on rag­te die ers­te Wort­mel­dung hin­sicht- lich Emo­ti­on und Duk­tus her­aus. Pro­fes­sor Hel­mut Eng- ler, lang­jäh­ri­ger Wis­sen­schafts­mi­nis­ter des Lan­des Baden-Würt­tem­berg und Alt­rek­tor der Uni­ver­si­tät Frei- burg erklär­te mit einem Tre­mo­lo in der Stim­me: „Leu­te wie Sie, Freund Heß, machen mei­ne Hum­boldt-Uni­ver- sität kaputt“. Das war der Start­schuss für mei­ne Unter­su- chung, denn irgend­wie hat­te ich das Gefühl, dass ich in dem letz­ten hal­ben Jahr­hun­dert auf einem ande­ren Pla- neten gelebt hat­te als Pro­fes­sor Eng­ler.

II.

Wil­helm von Hum­boldt gehört unstrei­tig mit der Sum­me sei­ner Bega­bun­gen und her­aus­ra­gen­den Tätig­kei­ten zu dem Typus der Uni­ver­sal­ge­nies des 17. und 18. Jahrhun- derts. Das außer­halb sei­nes jahr­zehn­te­lan­gen preu­ßi- schen Staats­diens­tes bear­bei­te­te For­schungs­feld ist uner- mess­lich groß. Er gilt als der Begrün­der der ver­glei­chen- den Sprach­for­schung, hat unzäh­li­ge Spra­chen, auch exo­ti­sche, unter sprach­sys­te­ma­ti­schen Gesichts­punk­ten unter­sucht, Schrif­ten über das grie­chi­sche Alter­tum ver- fasst, eben­so über staats­theo­re­ti­sche, anthro­po­lo­gi­sche, geschlechts­un­ter­schei­den­de, his­to­ri­sche, lite­ra­tur­wis- sen­schaft­li­che und archi­tek­tur­äs­the­ti­sche Themen.

Alles zusam­men ein rie­si­ges Lebens­werk eines Man- nes, der aller­dings in der kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung stark auf eine Art Sankt Hum­boldt der Bil­dungs­welt kano­ni- siert wird. Bei nähe­rem Hin­se­hen muss dabei hin­sicht- lich sei­nes über­aus reich­hal­ti­gen Lebens­lau­fes über­ra- schen, dass die Zeit als Lei­ter der „Sek­ti­on Kul­tus “, einer Abtei­lung des preu­ßi­schen Innen­mi­nis­te­ri­um, ver- gleichs­wei­se sehr kurz bemes­sen war. Er wur­de am 20. Febru­ar 1809 als Sek­ti­ons­lei­ter ernannt, gab die­ses Amt aber auf eige­nen Wunsch schon im Juni 1810 wie­der ab, ver­bun­den mit der Bit­te wie­der in den diplo­ma­ti­schen Dienst zurückzukehren.

Rich­tig ist aber, dass er in die­ser kur­zen Zeit sich mit Nach­druck vor allem um eine Reform des Schul­we­sens kümmerte,dieLehrerausbildungprofessionalisierteund

* Vor­trag gehal­ten am 6.2.2018 im Rota­ry Club Freiburg-Zähringen.

ein drei­stu­fi­ges Bil­dungs­sys­tem anstreb­te, dem aber kein unmit­tel­ba­rer Erfolg beschie­den war, da sei­ne Schul­re- form noch in sei­ner kur­zen Amts­zeit 1809 abge­lehnt wurde.

Rich­tig ist wei­ter­hin dass die Grün­dung der Ber­li­ner Uni­ver­si­tät im Jah­re 1809, die ja den Namen des dama­li- gen Königs Fried­rich-Wil­helm erhielt, in sei­ne Amts­zeit fiel. Die Annah­me, dass Wil­helm von Hum­boldt die neue Ber­li­ner Uni­ver­si­tät gestal­tet und geprägt hat, ist im Hin- blick auf die Kür­ze sei­ner Amts­zeit äußerst spe­ku­la­tiv. Die Grün­dungs­do­ku­men­te geben jeden­falls dafür kei- nen Hin­weis. Man darf aber davon aus­ge­hen, dass Hum- boldt, los­ge­löst von sei­ner berühm­ten Uni­ver­si­täts-Idee, mit Schaf­fens­kraft und libe­ra­lem Impe­tus die Grün- dungs­pha­se kurz aber inten­siv beglei­tet hat.

Schon an die­ser Stel­le müs­sen wir uns von der tra­di- tio­nel­len Über­lie­fe­rung Abschied neh­men, dass Wil­helm von Hum­boldt in sei­ner sehr kur­zen Amts­zeit qua­si die gan­ze moder­ne Bil­dungs­welt geschaf­fen hat ein­schließ- lich des Gym­na­si­ums, des Abiturs und der neu­hu­ma­nis- tischen Uni­ver­si­tät. Die­se in fast jedem Lexi­kon auf­ge- zeig­te Tra­di­ti­on hat kei­ner­lei rea­le Basis. Wil­helm von Hum­boldt war gewiss ein gro­ßer Geist und Gene­ra­list. Beruf­lich war er aber die weit­aus längs­te Zeit als Diplo- mat im aus­wär­ti­gen Dienst tätig, u.a. auch beim Wie­ner Kon­gress, und schloss sei­ne Kar­rie­re als eine Art Ver­fas- sungs­mi­nis­ter ab, ein Amt aus dem er wegen sei­ner libe- ralen Ideen ent­las­sen wurde.

Für die Umset­zung einer nach­hal­ti­gen Uni­ver­si­täts- reform fehl­te Hum­boldt auch nicht nur die Zeit son­dern wohl auch ein hin­rei­chend auf­ge­schlos­se­nes staat­li­ches Umfeld. Nicht nur König Fried­rich-Wil­helm III, son- dern auch der viel­ge­lob­te Refor­mer Har­den­berg ver­tra- ten deut­lich kon­ser­va­ti­ve­re Positionen.

III.

Man kann in der Uni­ver­si­täts­re­form des 18. und 19. Jahr- hun­derts grob gesagt zwei Reform­strän­ge untersch­ei- den: Fach­lich-inhalt­lich war die spät­mit­tel­al­ter­li­che Uni- ver­si­tät noch stark geprägt von scho­las­ti­schen Lehr­plä- nen und theo­lo­gi­schem Dog­ma­tis­mus. For­schung fand im 17. und 18. Jahr­hun­dert eher unter dem Dach der Aka­de­mien statt. Die Explo­si­on des Erfah­rungs­wis­sens und die damit ver­bun­de­nen Aus­dif­fe­ren­zie­rung der

Die Vor­trags­form ist beibehalten.

Jür­gen Heß

250. Geburts­tag von Wil­helm von Hum­boldt Eine Iko­no­gra­fie mit alter­na­tiv­fak­ti­scher Einfärbung*

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2018, ISSN 2197–9197

240 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2018), 239–242

Fächer, vor allem auch die Ein­rich­tung natur­wis­sen- schaft­li­cher Fakul­tä­ten, führ­te dann im 19. Jahr­hun­dert zu einer weit­ge­hen­den Ver­la­ge­rung der For­schung auf die Uni­ver­si­tä­ten – womit der Boden für die Ent­wick- lung des deut­schen Mar­ken­zei­chens in Gestalt der For- schungs­uni­ver­si­tät gelegt wur­de. Der ande­re Strang der Reform war die Orga­ni­sa­ti­on der Uni­ver­si­tät als Kör­per- schaft des Staa­tes. Ohne die damit ver­bun­de­ne Finan­zie- rung wären die neu­en For­schungs­auf­ga­ben nicht zu meis­tern gewe­sen. Der Preis dafür war der Ver­lust der frü­her umfas­sen­den Selbst­stän­dig­keit. Das The­ma ist bekannt­lich heu­te noch aktuell.

Die in den Quel­len vor allem genann­ten Prot­ago­nis- ten der inhalt­li­chen Reform­be­we­gung waren Leu­te wie WolffSchlei­er­ma­cherFich­teSchel­ling und Stef­fens. Ich habe kei­nen Zwei­fel dass Wil­helm von Hum­boldt als ge- nia­ler Den­ker und Wis­sen­schaft­ler sich in die­se Reform- dis­kus­si­on ein­brach­te. In den Schrif­ten zur Uni­ver­si­täts- reform des 19. Jahr­hun­derts taucht aller­dings sein Name nicht auf. Auch die neu gegrün­de­te Ber­li­ner Uni­ver­si­tät stand nicht an der Spit­ze der Reform­be­we­gung. Als Leit- bil­der der Reform­uni­ver­si­tät wer­den von den His­to­ri- kern heu­te vor allem die Uni­ver­si­tä­ten Hal­le und Göt­tin- gen genannt.

Wie ist der sog. Hum­boldt-Mythos dann über­haupt entstanden?

Aus­gangs­punkt ist offen­kun­dig die im Zusam­men- hang mit der Uni­ver­si­täts­grün­dung in Ber­lin ent­stan­de- ne Schrift mit dem Titel: „Über die inne­re und äuße­re Or- gani­sa­ti­on der höhe­ren wis­sen­schaft­li­chen Anstalt in Ber- lin“. Sie ist aber als pro­gram­ma­ti­sches Grün­dungs­ma­ni- fest der Akt einer nach­träg­lich kon­stru­ier­ten Tra­di­ti­on. Sie wur­de näm­lich erst rund 100 Jah­re nach ihrer Abfas- sung im Jah­re 1903 ver­öf­fent­licht. Erst ab die­sem Zeit- punkt wur­de Hum­boldt zum Säu­len­hei­li­gen der deut- schen Gelehr­ten­re­pu­blik. Wie immer bei der Instru­men- tali­sie­rung eines Mythos wur­de Hum­boldt je nach Zeit- geist und Inter­es­se für höchst unter­schied­li­che Zwe­cke ein­ge­setzt, begin­nend mit einer natio­na­len Kom­po­nen- te, wonach sei­ne Idee im „deut­schen Wesen“ wur­ze­le, bis hin in jün­ge­rer Zeit, wo Hum­boldt wie ein gro­ßes Kreuz in der Schlacht gegen den mephis­to­phe­li­schen Bolo­gna- Pro­zess hoch­ge­hal­ten wur­de und viel­leicht noch wird.

IV.

Phä­no­typ und Kon­struk­ti­ons­mus­ter des von Hel­mut Eng- ler hoch gehal­te­nen Hum­boldt-Ide­als las­sen sich in vier Punk­ten charakterisieren:

Kei­ne berufs­spe­zi­fi­sche Aus­bil­dung, son­dern der Er- werb einer breit geglie­der­ten, inter­dis­zi­pli­när ausgerich-

teten und an den huma­nis­ti­schen Bil­dungs­grund­la­gen- der Anti­ke ori­en­tier­ten Bildung.

Bil­dung als Selbst-bewusst-wer­den-durch-täti­ges Da- sein ohne cur­ri­cu­la­re Einzwängung.

Kein Ein­fluss des Staa­tes auf Leh­re und For­schung - daher kei­ne reli­giö­se oder sons­ti­ge Zweckbildung

Ein­heit von For­schung und Leh­re als for­schen­des Leh- ren in der Gemein­schaft der Pro­fes­so­ren und Stu­die­ren- den im For­schen und im Lehren.

Das ist gewiss die bes­te aller denk­ba­ren aka­de­mi- schen Wel­ten, aber sie hat nicht viel mit Wil­helm von Hum­boldt und fast nichts mit der Wirk­lich­keit zu tun. Die Rea­li­tät sah zu allen Zei­ten anders aus:

Nimmt man die oben dar­ge­stell­ten Humboldt’schen Leit­ge­dan­ken sei­ner Uni­ver­si­täts­idee im enge­ren Sinn zum Maß­stab, so kommt man nicht an der Fest­stel­lung vor­bei, dass sie im 19. Jahr­hun­dert schon des­halb kei­ne Rol­le spiel­ten, weil sie gar nicht ver­öf­fent­licht wur­den. Soweit es Quel­len zur Dis­kus­si­on um die Reform der Uni­ver­si­tät im 19. Jahr­hun­dert gibt, taucht der Name Hum­boldt nicht auf. Selbst los­ge­löst von den Humboldt’schen Leit­ge­dan­ken spricht wenig dafür, dass das neu­hu­ma­nis­ti­sche Bil­dungs­ide­al die Uni­ver­si­täts- land­schaft ent­schei­dend geprägt hat.

Ein sol­ches idea­lis­ti­sches Men­schen­bild hät­te im Üb- rigen auch mit der Tat­sa­che zu kämp­fen, dass der Zu- gang zur Uni­ver­si­tät ein offen­kun­dig schich­ten­spe­zi­fi- scher war, denn nur knapp ein Pro­zent eines Jahr­gangs beka­men den Zugang zur Uni­ver­si­tät. Selbst die­se klei­ne Stu­den­ten­schaft bot nicht das Bild einer neu­hu­ma­nis­ti- schen Eli­te. Berich­te spre­chen von ver­bum­mel­te Stu­di- en, Stu­di­en­ori­en­tie­rungs­pro­ble­men und Stu­di­en­ab­brü- chen. Zuge­spitzt gesagt hat der Bil­dungs­be­griff nicht das Men­schen­bild einer gesam­ten Gesell­schaft geprägt, er wur­de eher zum sozio­lo­gi­schen Abgren­zungs­merk­mal einer „Eli­te“, die bei Füh­rungs­auf­ga­ben neben den Adel trat.

Was war dann der Grund, der nament­lich am Ende des 19. Jahr­hun­derts und am Beginn des 20. Jahrhun- derts der deut­schen Uni­ver­si­tät zur Welt­gel­tung ver­half? Hier sei allen Hum­boldt-Ver­eh­rern gesagt, dass be- stimm­te Ele­men­te sei­ner Idee, ohne dass man sie unmit- tel­bar kau­sal auf sein “Grün­dungs­do­ku­ment“ zurück- füh­ren kann, suk­zes­si­ve Wir­kung ent­fal­tet haben. Wenn man Hum­boldt aus dem Gra­vi­ta­ti­ons­feld sei­ner ideell über­höh­ten Idee her­aus­nimmt und ihn in eine geis­ti­ge Strö­mung ein­ord­net, die letzt­lich eine Fol­ge der Auf­klä- rung ist und an der vie­le gro­ße Geis­ter mit­ge­wirkt ha- ben, so kann man erken­nen, dass in der Uni­ver­si­täts­welt im 19. Jahr­hun­dert ein Ratio­na­lis­mus Platz gegrif­fen hat,

der Raum für eine indi­vi­dua­lis­ti­sche Welt­an­eig­nung ge- schaf­fen hat. Das Ler­nen wur­de von einem scho­las­ti- schen Bil­dungs­ka­non befreit und die dem Men­schen in- newoh­nend Neu­gier konn­te sich in einer For­schung ent- fal­ten, die sich von theo­lo­gi­schen und staat­li­chen Ein- grif­fen frei ent­wi­ckel­te. Die Frei­heit der For­schung ist in der Tat ein nicht hoch genug zu schät­zen­des Merk­mal gera­de der deut­schen Uni­ver­si­tät um die Jahr­hun­dert- wen­de. Hin­zu kommt der Sie­ges­zug des Semi­nars als Ver­an­stal­tungs­struk­tur des for­schen­den Leh­rens, der der deut­schen Uni­ver­si­tät Erfolg und Welt­ruhm einbrachte.

V.

Wel­che Rol­le spielt die Humboldt’sche Uni­ver­si­täts­idee nun aber im jet­zi­gen ter­tiä­ren Bil­dungs­sys­tem in Deutsch- land? Hier muss ich sogleich die Ein­schrän­kung machen, dass sich mei­ne eige­ne unmit­tel­ba­re und mit belast­ba­ren Fak­ten fun­dier­te Beob­ach­tung auf einen Zeit­raum bis vor ca. 10 Jah­ren bezieht. Seit­her hat sich man­ches geän- dert. Man muss als Pen­sio­när auf­pas­sen dass man nicht frü­he­re Befun­de unge­prüft fort­schreibt. Ich bin aber kühn genug zu behaup­ten dass ich zumin­dest die zwei­te Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts seit den sech­zi­ger Jah­ren rea­lis­tisch beschrei­be. Mit die­ser Ein­schrän­kung wage ich fol­gen­de durch­aus pro­vo­ka­ti­ve, schar­fe Aussage:

Wer im Rah­men eines Hoch­schul­re­form­pro­zes­ses, damit mei­ne ich nicht nur die Bolo­gna- Dis­kus­si­on, auf- schreit, man mache mit die­ser Reform die deut­sche Hum­boldt-Uni­ver­si­tät kaputt, ist intel­lek­tu­ell unred­lich oder in sei­ner Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit schwer­wie­gend ein­ge­schränkt. Nicht nur, dass es die Hum­boldt- Uni­ver- sität sys­te­misch nie gab. Auf der Grund­la­ge der bil- dungs­po­li­ti­schen Para­me­ter und auch in Anse­hung ei- ner struk­tu­rell schief gelau­fe­nen Hoch­schul­ent­wick­lung in den ers­ten fünf Jahr­zehn­ten nach Kriegs­en­de ist der Gedan­ke, das Hum­boldt-Ide­al als typen­prä­gen­des Bil- dungs­ide­al der Uni­ver­si­tät zu ret­ten oder zu revi­ta­li­sie- ren, schlicht wahn­haft. Lei­der nimmt sich kei­ner der rhe­to­risch so über­aus beein­dru­cken­den Grals­hü­ter der Hum­boldt-Idee die Mühe, sich mit den har­ten bil­dungs- sozio­lo­gi­schen Fak­ten zu befassen.

Zu Zei­ten Hum­boldts haben wie gesagt weni­ger als ein Pro­zent eines Jahr­gangs den Weg zur Hoch­schu­le ge- fun­den. Nimmt man alle Hoch­schul­ar­ten zusam­men so haben wir heu­te in Deutsch­land eine Über­gangs­quo­te von über 50 % bezo­gen auf alle Hoch­schul­ar­ten. Der­zeit sind über 2,9 Mio. Stu­die­ren­de an deut­schen Hoch­schu- len. Teilt man die­se Zahl auf die bei­den gro­ßen Hoch- schul­ar­ten Uni­ver­si­tät und Fach­hoch­schu­le (unter Ver- nach­läs­si­gung der klei­nen Hoch­schul­ar­ten) auf, so er-

gibt sich das struk­tu­rell höchst ver­wun­der­li­che Bild, dass die Fach­hoch­schu­len, deren Fokus auf qua­li­fi­zier­te Be- rufs­aus­bil­dung und auf anwen­dungs­be­zo­ge­ne For- schung gerich­tet ist, mit ca. 900 000 Stu­die­ren­den nur ein knap­pes Drit­tel der Stu­die­ren­den unter ihrem Dach haben, wäh­rend die Uni­ver­si­tä­ten, die einen ver­tie­fen- den wis­sen­schaft­lich-metho­di­schen Fokus haben soll­ten und ver­stärkt Grund­la­gen­for­schung betrei­ben, rund 1,9 Mio. Stu­die­ren­de betreu­en. Das Betreu­ungs­ver­hält­nis an deut­schen Uni­ver­si­tä­ten bezo­gen auf Stu­die­ren­de und Pro­fes­so­ren weist die kata­stro­pha­le Quo­te von 1: 66 auf wäh­rend angel­säch­si­sche Spit­zen­uni­ver­si­tä­ten ein sol- ches von ca. 1:9 haben. Zudem hat sich die Kom­ple­xi­tät der wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nen seit Hum­boldts Zei- ten um einen Quan­ten­sprung ver­grö­ßert und ver­dich­tet. Es muss also mit einer defi­zi­tä­ren Per­so­nal­aus­stat­tung – neu­deutsch gespro­chen – ein weit­aus kom­ple­xe­rer Wis- sens­trans­fer und Erkennt­nis­trans­fer an Stu­die­ren­de ge- leis­tet wer­den. Dar­über hin­aus ste­hen Wis­sen­schaft­ler und Wis­sen­schaft­le­rin­nen durch Selbst­ver­wal­tungs­auf- gaben, durch Dritt­mit­te­lein­wer­bung und durch Eva­lu­ie- rungs­auf­ga­ben unter per­ma­nen­tem Zeitdruck.

Wer will da noch von Ein­sam­keit und Frei­heit im wis­sen­schaft­li­chen Wir­ken spre­chen oder davon, dass Pro­fes­so­ren und Stu­die­ren­de Sei­te an Sei­te ihren For- schungs­in­ter­es­sen nach­ge­hen? Wer will behaup­ten, dass 1,9 Mio. Uni­ver­si­täts-Stu­die­ren­de wirk­lich die men­ta­le Dis­po­si­ti­on haben. um auf der einen Sei­te durch einen qua­si frei­schwe­ben­den aka­de­mi­schen Dis­kurs und einen zweck­frei­en Bil­dungs­ge­winn ihre Per­sön­lich­keit rei­fen zu las­sen und ande­rer­seits ein Höchst­maß an wis­sen- schaft­li­cher Metho­den­kom­pe­tenz zu erwer­ben, die es ihnen erlaubt, in der spä­te­ren Berufs­pra­xis Pro­ble­me ge- wis­ser­ma­ßen aus der Sicht einer Meta­ebe­ne zu lösen. Sol­che Erwar­tun­gen sind schlich­te Fik­ti­on und Aus- druck eines Rea­li­täts­ver­lus­tes. 1,9 Mio. Stu­die­ren­de ha- ben nicht alle die Absicht, den ehren­wer­ten Beruf eines Pro­fes­sors bzw. einer Pro­fes­so­rin zu erlan­gen. Sie wol­len auch nicht alle obers­te Bun­des­rich­ter oder Indus­trie­for- scher wer­den. Sie wol­len vor allem eines: Gute Wett­be- werbs­chan­cen auf einem schwie­ri­gen und her­aus­for- dern­den Arbeits­markt erlan­gen um ihrem Leben eine gute oder zumin­dest aus­kömm­li­che mate­ri­el­le Grund­la- ge zu ver­schaf­fen. Es führt kein Weg dar­an vor­bei: Die Uni­ver­si­tä­ten tra­gen unmit­tel­ba­re Ver­ant­wor­tung für das auch prak­tisch gelin­gen­de Leben ihrer Schützlinge.

Mit­hin gilt: Der Aus­bil­dungs­aspekt – im huma­nis­ti- schen Uni­ver­si­täts­ide­al als Nütz­lich­keits­aspekt dis­kri­mi- niert – muss in Anse­hung der genann­ten tat­säch­li­chen Ver­hält­nis­se gegen­über dem vom Ergeb­nis her durchaus

Heß · Wil­helm von Hum­boldt 2 4 1

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ehren­wer­ten aber auch recht wol­ki­gen Ver­such einer bil- dungs­ge­tra­ge­nen Selbst­ver­wirk­li­chung den Vor­rang ha- ben. Frei­lich ist eine gute Leh­re dadurch gekenn­zeich- net, dass sie immer auch die Ver­bin­dung eines fach­li- chen The­men­krei­ses zu über­grei­fen­den Bil­dungs­aspek- ten oder zu inter­dis­zi­pli­nä­ren Fra­ge­stel­lun­gen her­stellt. Und ger­ne for­de­re ich ganz im Sin­ne von Wil­helm von Hum­boldt: In jedem Stu­di­en­gang wel­cher Dis­zi­plin auch immer müss­te eine Vor­le­sung Prak­ti­sche Phi­lo­so­phie bzw. Erkennt­nis­theo­rie obli­ga­to­risch sein.

Bleibt da über­haupt noch Raum für Hum­boldt in der Jetzt­zeit? Bezo­gen auf die gro­ße Flä­che des ver­mass­ten uni­ver­si­tä­ren Bil­dungs­ge­sche­hens sicher nicht. Aber es gibt bestimm­te klei­ne­re und spe­zi­fi­sche Struk­tur­kom­po- nen­ten, die Tei­le der Hum­boldt-Idee wie­der auf­grei­fen und zwar auf ganz unter­schied­li­chen Stu­fen des ter­tiä­ren Sys­tems. In Bay­reuth gibt es z.B. seit län­ge­rer Zeit einen sehr erfolg­rei­chen Bache­lor-Stu­di­en­gang Phi­lo­so­phy and Eco­no­mics, wo man offen­bar weiß, dass Mana­ger nicht nur Effi­zi­enz son­dern auch ein Quan­tum Ethos im Kopf haben soll­ten. Chan­cen für eine bes­se­re Inter­ak­ti­on zwi­schen Pro­fes­so­ren und Stu­die­ren­den gäbe es auch in den Mas­ter­stu­di­en­gän­gen, sofern der Staat deut­lich mehr Geld für die­ses Seg­ment aus­gibt und man damit ein bes­se­res Betreu­ungs­ver­hält­nis ver­wirk­licht. Wei­ter- hin ist das For­mat der Gra­du­ier­ten­kol­legs schon seit län- gerer Zeit eine Erfolgs­sto­ry. Es gäbe eine wei­te­re Idee mit

der ich Wil­helm von Hum­boldt ganz auf mei­ner Sei­te hät- te. Als Gene­ral­se­kre­tär der Hoch­schul­rek­to­ren­kon­fe­renz habe ich ganz förm­lich einen Antrag auf Ein­füh­rung ei- nes struk­tu­rier­ten Dok­to­ran­den­stu­di­ums ein­ge­bracht und bin damit völ­lig an die Wand gefah­ren. Das wäre nun wirk­lich ein gemein­sa­mes wis­sen­schaft­li­ches Wir- ken von Pro­fes­so­ren und Dok­to­ran­den auf höchs­tem Ni- veau und wir hät­ten das Pro­blem der Pro­mo­ti­ons­pla­gia- te ein für alle Mal aus der Welt geschafft. Viel­leicht gibt es ja spä­ter noch einen neu­en Ver­such in die­se Richtung.

VI.

Damit kom­me ich zum Aus­gang zurück: Die Hum­boldt- Idee ist ein wun­der­schö­ner Traum. In der his­to­ri­schen Rea­li­tät gab es sie als Gesamt­kon­zept nie und als Modell für die der­zei­ti­ge deut­sche Uni­ver­si­täts­si­tua­ti­on geht sie an allen rea­len Gege­ben­hei­ten vor­bei. Nur für ganz bestimm­te Seg­men­te in einem aus­dif­fe­ren­zier­ten Uni- ver­si­täts­sys­tem ist das Hum­boldt-Kon­zept in Teil­aspek- ten immer noch eine vor­züg­li­che Leitidee.

Jür­gen Heß war von 1988 bis 1994 Kanz­ler der Uni­ver- sität Kon­stanz, von 1994 bis 2000 Kanz­ler der Uni­ver­si- tät Frei­burg und von 2000 bis 2003 Gene­ral­se­kre­tär der Hochschulrektorenkonferenz.