Übersicht
I. Macht (und) Überstunden!
II. Vermessen? Messen.
III. But some are more Jedermann than others
IV. Unproduktive Subjekte. Leben für die Wissenschaftsautonomie
Unbezahlte Überstunden stellen eine gerechte und effektive Steuerung organisatorischer Abläufe in Frage. Die sich darin äußernden Machtverhältnisse betreffen nicht nur die Wirtschaft, sondern auf spezifische Weise auch die Wissenschaft. Ausgehend vom Urteil des EuGH C‑55/18 vom 14. Mai 2019 zur Arbeitszeiterfassung fragt der Artikel nach dessen Auslegungsmöglichkeiten und etwaigen Auswirkungen auf ein arbeitsrechtlich kontrovers aufgeladenes Terrain. Die arbeitsrechtliche Ausnahmestellung der Professorinnen als ein wesentliches Merkmal des deutschen Wissenschaftssystems kollidiert nämlich mit den Grundrechtsansprüchen befristeter Mitarbeiterinnen. Inwiefern eine dem EuGH-Urteil entsprechende Beachtung der Grundrechte möglichst aller Beteiligten Erfolg haben kann, hängt aber nicht nur von der Dynamisierbarkeit etablierter Machtstrukturen einzelner Personengruppen ab. Sie ist maßgeblich auch an die Frage gekoppelt, inwiefern sich habitualisierte Karrieremuster einer leistungsorientieren Forschungs- und Publikationspraxis in der Breite des Wissenschaftssystems verändern lassen können.
I. Macht (und) Überstunden!
Unbezahlte Überstunden sind Governanceproblem und Herrschaftsinstrument in einem. Sie stellen eine Herausforderung an eine gerechte und effektive Steuerung organisatorischer Abläufe, und sie forcieren Abhängigkeitsverhältnisse. Sie sind eine systemische Dauerbaustelle der deutschen Wirtschaft,1 und sie tangieren Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeitgestaltungen, die historisch betrachtet „immer wieder […] [in den] Fokus öffentlicher Debatten“2 rücken. Wie sich jüngst am Urteil des EuGH C‑55/18 vom 14. Mai 2019 beobachten ließ, geht es dabei um Machtkämpfe zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden, die im Wissenschaftssystem auf das Verhältnis der Mitglieder unterschiedlicher Statusgruppen ausstrahlen.3 Sowohl gesamtgesellschaftlich als auch wissenschaftsintern rief die arbeitnehmerfreundliche Entscheidung des EuGH kontroverse Reaktionen hervor, an die hier kurz erinnert sei. Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßte sie als ein passables Mittel gegen „Flatrate-Arbeit“4, das zudem gegen Burn-Out schützen könne.5 Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitergeberverbände hingegen sprach von der anachronistischen Einführung einer „Arbeitszeiterfassung 1.0“ in Zeiten einer „Arbeitswelt 4.0“.6 Im Wissenschaftssystem zeigten sich ähnliche Einschätzungen. Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, betonte die Relevanz geleisteter Arbeit als Grundlage der Bezahlung und kritisierte unbezahlte Mehrarbeit.7 Peter-André Alt hingegen, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, bezeichnete die „grotesk[e] Regelung“ als einen historischen „Rückfall“.8 Die mangelnde Flexibilität dieser Regelung mache sie unbrauchbar, die Wissenschaft sei eben kein „Nine-to-Five-Job“.9 In ihrer dichotomen Rhetorik und Stereotypie erinnern diese Kontroversen an arbeitsrechtliche
Thomas Skowronek
Arbeitszeit im deutschen Wissenschaftssystem im Lichte des EuGH-Urteils zur Arbeitszeiterfassung
1 Regelmäßig wird in der Presse über das Ausmaß bezahlter und unbezahlter Überstunden berichtet; so seien 2018 rund 1 Mrd. unbezahlter Überstunden geleistet worden; vgl. Brauner, Wöhrmann, Michel, BAuA-Arbeitszeitbefragung: Arbeitszeitwünsche von Beschäftigten in Deutschland, 2018, DOI: 10.21934/baua:bericht20181005, 5 und 9f.
2 Ebd., 8.
3 Wie im Weiteren skizziert, geht der EuGH davon aus, dass der Arbeitnehmer die schwächere Partei ist, und fordert eine Stärkung seiner Position (vgl. Rn 44 und 55). Zu den asymmetrischen Kräfteverhältnissen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vgl. Lörcher, Das soziale Grundrecht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen, in: Kohte, Faber, Feldhoff (Hg.), Gesamtes Arbeitsschutzrecht. Arbeitsschutz, Arbeitszeit, Arbeitssicherheit, Arbeitswissenschaft. Handkommentar, 2018, 27, 43.
4 Vgl. DGB, EuGH schiebt Flatrate-Arbeit einen Riegel vor (14.5.2019), PM 034, https://www.dgb.de/presse/++co++5bb4337a-7622–11e9-9e41-52540088cada.
5 Vgl. Montanari, Mahlzeit, Big Brother!, in: freitag.de (21/2019), https://www.freitag.de/autoren/johanna-montanari/mahlzeit-big-brother.
6 BDA, Anlässlich der heutigen EuGH-Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung erklärt die BDA (14.5.2019), https://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/de_eugh-entscheidung-zur-arbeitszeiterfassung.
7 Vgl. Wiarda, Zeiterfassung: HRK-Präsident Alt fordert eine „Lex Wissenschaft“ (17.5.2019), https://www.jmwiarda.de/2019/05/17/zeiterfassung-hrk-präsident-alt-fordert-eine-lex-wissenschaft/.
8 Ebd.
9 Ebd.
Ordnung der Wissenschaft 2020, ISSN 2197–9197
2 4 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 0 ) , 2 4 5 — 2 5 2
10 „Prominente Beispiele sind die Aushandlung des Achtstundentages,
Arbeitszeitverlängerungen in Kriegs- und Arbeitszeitverkürzungen
in Krisenzeiten sowie die Einführung der
40-Stunden-Woche […].“ Brauner, Wöhrmann, Michel, BAuAArbeitszeitbefragung,
8.
11 Vgl. Montanari, Mahlzeit, Big Brother!.
12 Inwiefern diese Regelung durch Gesetz geschehen kann, muss
bzw. sollte, vgl. Thüsing, Flink, Jänisch, Arbeitszeiterfassung als
europarechtliche Pflicht, in: ZFA 4 (2019), 456, 481–485.
13 Vgl. Heuschmid, Neujustierung des Arbeitszeitrechts und des
Systems der Arbeitszeiterfassung durch den EuGH, in: NJW 2019,
1853, 1. Den Hintergrund des Urteils bildet die Klage einer spanischen
Gewerkschaft gegen ein Zeiterfassungssystem der Deutschen
Bank, welches zwar Fehlzeiten, aber keine Überstunden
erfassen konnte. Dadurch war es nicht möglich zu überprüfen,
inwiefern die vereinbarte Arbeitszeit durch den Arbeitnehmer
eingehalten wurde.
14 Zu den Auslegungsmöglichkeiten dieser Begriffe vgl. Thüsing,
Flink, Jänisch, Arbeitszeiterfassung als europarechtliche Pflicht,
464–468.
15 Vgl. Lörcher, Das soziale Grundrecht auf gesunde, sichere und
würdige Arbeitsbedingungen, 32.
16 Vgl. Hurley, Wolf, Revision to the European working time directive:
recent Eurofound research. Background paper. 2008, https://
www.eurofound.europa.eu/sites/default/files/ef_publication/
field_ef_document/ef08101en.pdf, 8.
17 Zu den Varianten der Arbeitszeitflexibilisierung vgl. Reim,
Arbeitszeitgesetz (ArbZG), in: Kohte, Faber, Feldhoff (Hg), Gesamtes
Arbeitsschutzrecht. Arbeitsschutz, Arbeitszeit, Arbeitssicherheit,
Arbeitswissenschaft. Handkommentar, 2018, 872, 876.
18 Vgl. Brauner, Wöhrmann, Michel, BAuA-Arbeitszeitbefragung, 59.
19 Vgl. o. A., Stärkere Zufriedenheit dank flexibler Arbeitszeiten?
(8.5.2018), https://www.wissenschaftsjahr.de/2018/neues-ausden-
arbeitswelten/alle-aktuellen-meldungen/mai-2018/flexiblearbeitszeiten-
koennen-die-arbeitszufriedenheit-steigern/.
20 DGB, EuGH schiebt Flatrate-Arbeit einen Riegel vor (14.5.2019).
21 Jansen, Burn-out an Hochschulen — ein Interview, in: Forschung
& Lehre 11 (2011), zitiert nach: Burnout — Anzeichen erkennen
und Strategien zur Vermeidung, in: academics.de, https://www.
academics.de/ratgeber/anzeichen-burnout-erkennen-vermeiden.
22 Vgl. Arnold, Steffes, Wolter, Mobiles und entgrenztes Arbeiten
(12.10.2015), Forschungsbricht 460, hg. vom Bundesministerium
für Arbeit und Soziales (BMAS), 2.
23 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6.11.2018, Max-
Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C‑684/16,
EU:C:2018:874; vgl. Rn. 30, 44 und 45.
24 Vgl. Heuschmid, Neujustierung des Arbeitszeitrechts.
25 Alts Anliegen deckt sich mit den Forderungen des Deutschen
Hochschulverbandes; vgl. Wiarda, Zeiterfassung.
Auseinandersetzung früherer Tage.10 Ungeachtet der
mechanischen Reaktion der Beteiligten, die weitreichende
Veränderungen nicht unbedingt erwarten lassen,
könnte das Urteil des EuGH im Wissenschaftssystem
sich zu einem arbeitsrechtlichen Klassiker entwickeln,
werden Überstunden hier doch meist nicht weiter thematisiert,
ebenso wie prekäre Arbeitsverhältnisse weit
verbreitet sind.11 Das Wissenschaftssystem bietet sich
also beispielhaft an, um einige der möglichen Auswirkungen
des EuGH-Urteils auf einem arbeitsrechtlich
kontrovers aufgeladenem Terrain durchzuspielen. Ob
und wie es zu Bewegung im Umgang mit Arbeitszeit,
Überstunden und Abhängigkeitsverhältnissen in der
Wissenschaft kommen könnte, hängt nicht zuletzt von
einer Dynamisierbarkeit sowohl der Machtposition einzelner
Personengruppen als auch habitualisierter Karrieremuster
in der Gesamtbreite des wissenschaftlichen
Systems ab. Im Folgenden seien einige arbeitsrechtliche
Bruchlinien näher betrachtet, an deren Verlaufsänderungen
sich ein dem Urteil des EuGH entsprechender,
grundlegender Wandel im deutschen Wissenschaftssystem
ablesen ließe.
Der EuGH verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten bekanntlich,
Regelungen12 zu treffen, die Arbeitgeber zur
systematischen Aufzeichnung und Überprüfung der gesamten
Arbeitszeit veranlassen.13 Insbesondere geht es
um die Einrichtung eines zweckdienlichen „objektive[n],
verlässliche[n] und zugängliche[n] System[s]“14 (Rn.
60). In seiner Entscheidung gegen die Deutsche Bank
bezog sich der EuGH maßgeblich auf Art. 31 Abs. 2
GRCh und die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 04.11.2003, in der es u.a.
heißt, der „Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer“ dürfe
„keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen“ (zitiert
nach Rn. 7) untergeordnet werden. Die Verbesserung
der Lebensqualität der Arbeitnehmer ist erklärtes Ziel
des EuGH.15 Intensive Arbeitsbelastung ist gesundheitsschädlich,
16 lässt sich durch eine Flexibilisierung17 der
Arbeitszeit aber reduzieren,18 insbesondere wenn ein
hoher Grad an Selbstbestimmung damit einhergeht.19
Anderseits kann Vertrauensarbeitszeit auch Selbstausbeutung
bedeuten so wie „[p]ermanenter Standby-Modus
und Entgrenzung“20 gesundheitsschädlich sein können.
Entsprechend spricht Stephan A. Jansen von einer
ambivalenten „Belustbarkeit“21. Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit
sind daher nicht allein Fragen der Quantität,
sondern vor allem auch der Qualität,22 die sich jedoch
nicht allgemeingültig bestimmen lässt. Es kommt
auf den Einzelfall bzw. den spezifischen Kontext an.
Es ist hervorzuheben, dass der EuGH seine Entscheidung
unter Verweis auf ein arbeitsrechtliches Urteil23 gegen
die Max-Planck-Gesellschaft gefällt und als Ausgangspunkt
einer generalisierenden Erörterung darüber
genommen hat, wie die Europäische Grundrechtecharta
gestärkt werden könnte.24 Diese Grundrechtsebene interessiert
im Weiteren. Sollte der Gesetzgeber bei seiner
Umsetzung des EuGH-Urteils keine arbeitsrechtlichen
Ausnahmen für die Wissenschaft vorsehen, in Form einer
„Lex Wissenschaft“ etwa, wie von Peter-André Alt
angemahnt,25 dürfte das Kritik von Seiten der Wissenschaft
auslösen. Die Aufzeichnung der Arbeitszeit ist für
Forschende meist nur schwer mit ihren Vorstellungen
Skrowronek · Arbeitszeit im deutschen Wirtschaftssystem 2 4 7
26 Vgl. Roetteken, Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines
Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit
(12.6.2019), in: jurisPR-ArbR 23 (2019), https://www.fachportalsteuerrecht.
de/jportal/portal/page/fpsteuerrecht.psml?nid=jpr-
NLAR000014919&cmsuri=%2Ffachportal_steuerrecht%2Fde%2Fr
17%2Fnachrichten_1%2Fzeige_nachricht.jsp (30.11.2019).
27 Vgl. Heuser, Entleertes Füllhorn — Wie stark sind Wissenschaftler
vom Burnout betroffen?, in: Forschung & Lehre 2 (2014), zitiert
nach: Burnout — Anzeichen erkennen und Strategien zur Vermeidung,
in: academics.de, https://www.academics.de/ratgeber/
anzeichen-burnout-erkennen-vermeiden.
28 „Eine App könnte zum Beispiel ein Signal geben, das anzeigt, dass
die Höchstarbeitszeit erreicht ist, und die Beschäftigten ermutigen,
Feierabend zu machen.“ Montanari, Mahlzeit, Big Brother!.
29 Vgl. Dymczak, Schwalbe, Einsichtige Arbeitszeit. Transparenz
in der elektronischen Personalzeiterfassung, in: Transparenz.
Schlüsselbegriff einer politischen Anthropologie der Gegenwart.
Berliner Blätter SH 76 (2018), 76–91, 76. Vergleichbare Zeiterfassungssysteme
sind beispielsweise an den Hochschulen bzw. Universitäten
Magdeburg, Mainz, Trier, Vechta und Wien verbreitet;
vgl. https://www.hs-magdeburg.de/hochschule/einrichtungen/
personalangelegenheiten/single-news/single/informationenzur-
neuen-zeiterfassung.html; https://www.blogs.uni-mainz.
de/verwaltung-personal/files/2018/10/Dienstvereinbarung_Arbeitzeiterfassung.
pdf; https://www.uni-trier.de/fileadmin/organisation/
personalrat/personalrat/Dienstvereinbarungen/DV_Arbeitszeitregelung_
18.8.2017.pdf; https://www.uni-vechta.de/
dezernat-1-personal/personalverwaltung/zeiterfassung/; https://
brwup.univie.ac.at/personal-recht/arbeitszeitrecht/.
30 Heuser, Entleertes Füllhorn. Zugleich sind die Schattenseiten
dieser positiven Perspektiven zu bedenken, auf die im späteren
Verlauf eingegangen wird. Sie zielen in Richtung einer Kritik
primär leistungsorientierter Selbstregulierung, zu deren Verwirklichung
auch technische Mittel herangezogen werden können; vgl.
Dymczak, Schwalbe, Einsichtige Arbeitszeit, 77 und 86.
31 Vgl. Dörfler, Das bedeutet das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung,
in: https://www.marktundmittelstand.de/technologie/
arbeitszeiterfassung-im-mittelstand/eugh-urteil-zur-arbeitszeiterfassung-
1287741/.
32 Neuschmid, Neujustierung des Arbeitszeitrechts, 1853.
33 Vgl. Thüsing, Flink, Jänisch, Arbeitszeiterfassung als europarechtliche
Pflicht, 475.
34 Vgl. Hoff, Das Ende der Vertrauensarbeitszeit, wie viele sie
kennen (14.5.2019), https://arbeitszeitsysteme.com/wp-content/
uploads/2012/05/Das-Ende-der-Vertrauensarbeitszeit-wieviele-
sie-kennen-2019.pdf, 2; Kohte, Arbeitszeitgesetz (ArbZG),
in: Kohte, Faber, Feldhoff (Hg.), Gesamtes Arbeitsschutzrecht.
Arbeitsschutz, Arbeitszeit, Arbeitssicherheit, Arbeitswissenschaft.
Handkommentar, 2018, 1103, 1107.
35 Vgl. Wiarda, Zeiterfassung.
36 Vgl. Anlage zu § 9 des BDSG alt: „Werden personenbezogene
Daten automatisiert verarbeitet oder genutzt, ist die innerbehördliche
oder innerbetriebliche Organisation so zu gestalten, dass sie
den besonderen Anforderungen des Datenschutzes gerecht wird.“
37 Zu weiteren Auslegungsmöglichkeiten dieser Begriffe vgl.
Thüsing, Flink, Jänisch, Arbeitszeiterfassung als europarechtliche
Pflicht, 464–468.
wissenschaftlicher Autonomie, geistiger Kreativität und
arbeitsrechtlicher Unabhängigkeit in Einklang zu bringen.
26 Denkt man jedoch an die mit einer Überlastung
einhergehende Fehleranfälligkeit, beispielsweise an einem
Universitätsklinikum27, dann ist eine Kontrolle der
Arbeitszeiten wohl nicht nur im Sinne etwaiger Patienten,
sondern könnte, verstanden als Teil eines Qualitätsmanagements
etwa, auch Forschende und die Leitungsebene
interessieren. Was aber heißt Arbeit in der Wissenschaft?
Wie könnte Zeiterfassung hier praktisch aussehen?
In welchem Verhältnis stehen Arbeit und
Autonomie der Forschung?
II.Vermessen? Messen.
Wie das vom EuGH geforderte System auszusehen hat,
ist den EU-Mitgliedstaaten unter Beachtung branchenund
unternehmensspezifischer Umstände zur Klärung
aufgegeben (Rn 63). Dies gilt auch für die Wissenschaften
mit ihren besonderen Arbeitsbedingungen, auf die
später näher eingegangen wird. Als konkrete Umsetzungsmöglichkeiten
kommen technische Lösungen in
Form einer App oder einer Anmeldung im Client in Frage,
die die Erfassung – und auch Kontrolle28 – der tatsächlichen
Arbeitszeiten übernehmen könnten.29 Eine
App auf dem eigenen Smartphone könnte „ein hohes
Maß an Eigenverantwortung sowie Kontrolle über die
Tätigkeit“30 vermitteln. Der organisatorische Mehraufwand31
ließe sich mit effizienter Technik womöglich in
Grenzen halten, so dass „die praktischen Schwierigkeiten
überschaubar sein“32 dürften. Da das EuGH-Urteil
eine Selbstdokumentation gestattet,33 wäre auch
Vertrauensarbeitszeit weiterhin möglich.34 Mit so einem
technischen System ließe sich dem Wunsch nach Flexibilität
in der Wissenschaft zumindest partiell entgegenkommen.
35 Zugleich hätte man aber eine Reihe rechtlicher,
technischer, sicherheitsrelevanter und praktischer
Fragen zu beantworten. Ginge man beispielsweise von
einer App-Lösung aus, so wäre zu klären, inwiefern private
Handys für dienstliche Zwecke verwendet werden
dürfen, inwiefern die Einwahl in ein geschütztes System
mit privaten Geräten vertretbar und wie mit Fällen
umzugehen wäre, in denen Beschäftige kein Smartphone
besitzen. Würde man Diensttelefone zur Verfügung stellen
oder elektronische Schlüssel aufrüsten? Wie groß
wäre die Gefahr, dass Informationen gesammelt und
Profile erstellt werden, die über die zur Erfassung der
Arbeitszeit notwendige Datenverarbeitung hinausgehen
bzw. aufgrund etwaiger proprietärer Schranken bei
nicht-freier Software nicht vollständig nachvollziehbar
wären?36 Die durch das EuGH-Urteil geforderte Einrichtung
eines „objektive[n], verlässliche[n] und
zugängliche[n] System[s]“ (Rn. 60) scheint den datenschutzrechtlichen
Aspekt zu betonen.37 Das App-Bei2
4 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 0 ) , 2 4 5 — 2 5 2
38 Schröder, Ringen um humane Arbeitszeiten – Erfahrungen und
Perspektiven, in: Schröder/Urban (Hg.), Gute Arbeit. Streit um
Zeit – Arbeitszeit und Gesundheit, 2017, 35, 48.
39 Vgl. zu den Kontrollinstanzen und ‑prozessen o. A., Die Arbeitszeiterfassung
der Mitarbeiter (o. D.), https://www.arbeitsrechte.
de/arbeitszeiterfassung/.
40 Vgl. Dymczak, Schwalbe, Einsichtige Arbeitszeit, 78.
41 Vgl. Dörfler, Das bedeutet das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung;
Wiarda, Zeiterfassung.
42 Pautsch, Dillenburger, Kompendium zum Hochschul- und Wissenschaftsrecht.
2016, 168.
43 Dies gilt etwa bei einer Nebentätigkeit der Forschenden; vgl. ebd.
169
44 Vgl. ebd., 124.
45 Rosenberger, EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung: Arbeitnehmer
werden profitieren, sagt der Ex-Rektor der Uni Freiburg
(14.5.2019), in: https://www.suedkurier.de/ueberregional/
wirtschaft/EuGH-Urteil-zur-Arbeitszeiterfassung-Arbeitnehmer-
werden-profitieren-sagt-der-Ex-Rektor-der-Uni-
Freiburg;art416,10148097.
46 Vgl. Montanari, Endlich Feierabend! (16.5.2019), in: freitag.de,
https://www.freitag.de/autoren/johanna-montanari/endlichfeierabend.
47 Vgl. Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017 (BUWIN
2017), hg. v. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs,
2017, 100.
48 Vgl. Detmer, Arbeitszeit für Professoren?, in: hochschulverband.
de, https://www.hochschulverband.de/faq_rechtliches.
html#. Ähnliche Ausnahmen finden sich auch in Belgien und Frankreich; vgl. Recent ECJ Judgement on daily working time’s measurement – an overview on the current situation in Europe (13.6.2019), https://www.dentons.com/en/insights/articles/2019/ june/13/recent-ecj-judgement-on-daily-working-times-measurement. 49 Wiarda, Zeiterfassung. 50 Ebd. 51 Die Zahlen schwanken zwischen etwa 75 und 90 Prozent, und sie sind nicht unumstritten. Dieter Kaufmann, beispielsweise, Bundessprecher der Kanzlerinnen und Kanzler der Universitäten Deutschlands, zweifelt an ihrer Richtigkeit bzw. Aktualität. In der Hochschulverwaltung liegt die Zahl bei etwa 23 Prozent. In der freien Wirtschaft hingegen liegt die Zahl bei etwa sieben bis acht Prozent. Neben den drittmittelfinanzierten Beschäftigten ist auch „der Befristungsanteil der grundfinanzierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Zeitverlauf gestiegen [….]“ (BUWIN 2017, 102). Vgl. Leendertz, Schlimm, Troelenberg, Seeliger, Goldmann, Etzemüller, Höpner, Flexible Dienstleister der Wissenschaft (27.3.2018), in: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/akademischer- mittelbau-flexible-dienstleister-der-wissenschaft-15502492. html, Wiarda, „Bewusste Provokation!“ –“Nein, eine einseitige Debatte!“ (15.11.2019), in: https://www.jmwiarda.de/2019/11/15/ bewusste-provokation-nein-eine-einseitige-debatte/. spiel impliziert eine Bedrohung von „Persönlichkeitsund Souveränitätsrechte[n] der Beschäftigen“38, der jedoch mit einer effektiven Zutritts- und Zugangskontrolle womöglich begegnet werden könnte.39 Angesichts steigender Drittmittelabhängigkeit und fortschreitender Projektförmigkeit der Forschung könnte eine Erfassung der Arbeitszeiten administrative Entlastung bedeuten.40 Projektabrechnungen ließen sich leichter bewerkstelligen und vergleichbare Vorhaben in Zukunft besser planen und kalkulieren.41 Konflikte aufgrund der „Inanspruchnahme von Personal- und Sachmitteln und sonstigen Einrichtungen der Hochschule“42 ließen sich vermutlich leichter lösen.43 Ähnliches träfe auf Patentstreitigkeiten und Versicherungsfälle zu. Auch in der Lehre könnte die Erfassung der Arbeitszeit bei der Ermittlung der Kapazitäten helfen.44 Erfassungssysteme schaffen nämlich Transparenz, so Manfred Löwisch, ehemaliger Rektor der Uni Freiburg und Professor an der Forschungsstelle für Hochschularbeitsrecht, „die von den Mitbestimmungsgremien genutzt werden kann, Missstände anzuzeigen, und es verschafft auch dem Arbeitszeitgesetz eine neue Wirkung.“45 Insgesamt wären als positiver Effekt also erhöhte Planungssicherheit, reibungsloser Projektablauf und, mit Blick auf die genannten Beispiele, auch eine solidere Finanzplanung denkbar. Auch das Wohlbefinden der Beschäftigten könnte sich erhöhen.46 III.But some are more Jedermann than others Mögen die Argumente für die Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems in der Wissenschaft auch vielfach überzeugen, so unwahrscheinlich ist dessen vollständige Realisierung. Dagegen sprechen etablierte Machstrukturen im deutschen Wissenschaftssystem, für die beispielhaft die systemische Dominanz der Professorinnen und ihre arbeitsrechtliche Ausnahmestellung steht. Im Kern geht es hierbei um die sozial zementierte Exklusivität eines Jedermann-Grundrechtes. Nur Hochschullehrerinnen gelten als arbeitsrechtlich satisfaktionsfähige
Personifikation der Wissenschaftsfreiheit,
obwohl sie nur rund 20 % der Gesamtzahl der Forschenden
bilden.47 Zeitlich und räumlich weitestgehend ungebunden,
sind sie von den „Vorschriften des Beamtenrechtsrahmengesetzes
über die Arbeitszeit“ (§ 50 HRG)
ausgenommen.48 Wenn von „flexible[n] Regelungen“49
gesprochen wird, um die „Freiheit, Kreativität und
Eigeninitiative“50 der Wissenschaft zu sichern, so DHVPressesprecher
Matthias Jaroch, dann haben (nur)
Professorinnen die institutionellen und, prinzipiell zumindest, auch die finanziellen Mittel dazu. Diesen 20 Prozent stehen 80 Prozent wissenschaftliche Mitarbeiterinnen gegenüber, die ihrerseits zu 80 Prozent
befristet beschäftigt sind.51 Hochschullehrerinnen Skrowronek · Arbeitszeit im deutschen Wirtschaftssystem 2 4 9 52 Vgl. BUWIN 2017, 224. Ohne verlässliches Zahlenmaterial lässt sich der Beitrag der befristet Beschäftigten zur Forschung nicht genau bemessen. Er dürfte aber ebenfalls signifikant sein; vgl. Bahrdt, Professorale Oligarchen, prekärer Mittelbau (2.5.2019), https:// www.freitag.de/autoren/der-freitag/professorale-oligarchenprekaerer- mittelbau. 53 Vgl. Gärditz, Die äußeren und inneren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. Zur politischen Struktur von Forschung und Lehre, in: WissR 51:1 (2018), 5, 8. 54 Dies gilt sowohl innerhalb als auch – aufgrund einer häufig nicht als marktgerecht erachteten Qualifikation der Postdocs – außerhalb der Wissenschaft, zumindest auf einem der Ausbildung angemessenen Niveau; vgl. BUWIN 2017, 101 und 188f. 55 Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems (Drs. 3228–13), hg. v. Wissenschaftsrat, Juli 2013, 45; vgl. ebd. 11. 56 Der Anteil der Leitungsstellen im Verhältnis Professur-wissenschaftliche Mitarbeiterin ist im Zeitraum Anfang 2000er bis
Mitte 2010er Jahre um etwa 20 Prozent gesunken. Zudem gab es
einen Anstieg befristet beschäftigter Wissenschaftlerinnen um knapp 60 Prozent; vgl. BUWIN 2017, 100, 102 und 121f. 57 Vgl. BUWIN 2017, 130. 58 Vgl. Ambrast, Bezahlt oder unbezahlt? Überstunden im akademischen Mittelbau, in: Forschung & Lehre 2 (2019), 152–154, https:// www.forschung-und-lehre.de/fileadmin/user_upload/Rubriken/ Karriere/2019/2–19/FuL_2-19_Ambrast.pdf, 152. 59 Vgl. Deutscher Hochschulverband, Im Schnitt 11,9 Überstunden pro Woche im Mittelbau (Bonn, 29.1.19), https://www.pressebox. de/inaktiv/deutscher-hochschulverband/Im-Schnitt-11–9‑Ueberstunden- pro-Woche-im-Mittelbau/boxid/940107. 60 Vgl. Belau, Forschungsmanagement. Ein praktischer Leitfaden, Oldenburg 2017, 115; Krempkow, Sembritzki, Schürmann, Winde, Personalentwicklung für den wissenschaftlichen Nachwuchs, 2016, https://www.stifterverband.org/medien/personalentwicklung
2016.
61 Lörcher, Das soziale Grundrecht auf gesunde, sichere und würdige
Arbeitsbedingungen, 29. Jedoch: „Zur Prävalenz von Burnout
oder Depression bei Wissenschaftlern gibt es kaum publizierte
Untersuchungen […].“ Heuser, Entleertes Füllhorn.
62 „Und selbstverständlich umfasst die ‚Mutter aller Grundrechte‘,
die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, auch
kulturelle Betätigungen. […] Bei der Wissenschaft steht die Suche
nach Erkenntnis und Wahrheit und nach dem, was zu wissen
der Einzelne für wichtig hält, im Vordergrund.“ Gramm, Pieper,
Grundgesetz. Bürgerkommentar, 2015, 186; vgl. Pautsch, Dillenburger,
Kompendium zum Hochschul- und Wissenschaftsrecht, 5.
63 „Um sich auf das Grundrecht der Religionsfreiheit, der Kunstfreiheit
oder der Wissenschaftsfreiheit zu berufen, muss man
keineswegs ein professioneller Künstler, Wissenschaftler oder
Religionsdiener sein.“ Gramm, Pieper, Grundgesetz, 188.
64 Pautsch, Dillenburger, Kompendium zum Hochschul- und Wissenschaftsrecht,
10.
vergleichbar halten sie knapp 40 Prozent der Lehrveranstaltungen52
und haben somit einen wesentlichen Anteil
an der Verknüpfung von Wissenschaft und Gesellschaft.
53 Ihre Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten
sind jedoch eingeschränkt.54 Die pyramidale Struktur
des deutschen Wissenschaftssystems bietet „kaum
attraktive Entwicklungsmöglichkeiten für eine Karriere
neben einer Professur.“55 Soziodemographische und
finanzpolitische Verschiebungen erhöhen die Kompetitivität
in einem System,56 das aufgrund jener Befristungsstruktur
seine wissenschaftliche Leistungsfähigkeit
gefährdet.57 Angesichts dieser – allseits bekannten,
möchte man meinen – systemischen Missstände
erscheint es geradezu konsequent, dass auch Überstunden
im Wissenschaftsbetrieb besonders hoch und
zumeist unbezahlt sind.58 Nachwuchswissenschaftler
kommen auf etwa dreimal mehr Überstunden als der
Bevölkerungsdurchschnitt und sind darin leitenden
Angestellten vergleichbar.59 Sowohl aus Gründen der
Effizienz als auch des Arbeits- und Gesundheitsschutzes
erscheint es geboten,60 zumeist befristete und prekäre
Beschäftigungsverhältnisse nicht auch noch mit Überstunden
zu belasten. „Arbeit darf Menschen nicht in
ihrer Gesundheit beinträchtigen oder gar schädigen.
Ebenso wie die Demokratie darf die Gesundheit nicht an
den Werkstoren aufhören.“61 Dies gilt auch für Hörsäle,
Labore und Kliniken.
Im Wissenschaftssystem kommt zum Gesundheitsrisiko
allerdings noch eine Grundrechtsgefährdung hinzu.
Es sei daran erinnert, dass aus grundrechtlicher Perspektive
bei der Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis
der einzelne Mensch im Vordergrund steht.62 Die Freiheit
von „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre“
(Art. 5 Abs. 3 GG) ist ein Jedermann-Grundrecht.63
Das skizzierte Missverhältnis zwischen entfristeten und
befristeten Stellen, zwischen Hochschullehrerinnen
und Nachwuchswissenschaftlerinnen scheint zu einer Kollisionen von Grundrechten auszuarten, bei der die professorale Wissenschaft der Einen gegen die prekäre Wissenschaft der Anderen ausgespielt zu werden droht. Die Feststellung, dass „aus der Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit eine bestimmte Rechts- oder Organisationsform der Hochschule [nicht] abzuleiten“64 sei, dürfte für beide hier angeführten Parteien gelten. Hätten somit beide Seiten ein Anrecht auf raumzeitliche Ungebundenheit bzw. karrierefördernde Entfristung? Mag der hier skizzierte Gegensatz zwischen arrivierten Wissenschaftlerinnen und Inhaberinnen befristeter Stellen auch schematisch sein, verweist er doch auf charakteristische Merkmale gerade des deutschen, im internationalen Vergleich eher dichotomen und verkrusteten Wissenschaftssystems und seiner akademischen Beschäftigungspfade, die es bei der Umsetzung des EuGHUrteils zu beachten gilt. Der Staat ist verpflichtet, eine 2 5 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 0 ) , 2 4 5 — 2 5 2 65 Reim, Arbeitszeitgesetz (ArbZG), 888. 66 Beim Arbeitsschutz handelt es sich um ein „Grundrecht […], […] das auch jedem Einzelnen eine Rechtsposition vermittelt, auf die er sich unmittelbar berufen kann.“ Lörcher, Das soziale Grundrecht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen, 45. 67 Ambrast, Bezahlt oder unbezahlt?, 153. 68 Vgl. Montanari, Endlich Feierabend!. 69 Vgl. Arnold, Steffes, Wolter, Mobiles und entgrenztes Arbeiten, 6. 70 „War das Arbeiten zu ‚unüblichen Arbeitszeiten‘ zunächst auf einige wenige Berufsgruppen beschränkt, insbesondere medizinisches Personal bzw. Arbeiter der Industrie; sind zusehends auch Beschäftigte anderer Sektoren, insbesondere der Dienstleistung, betroffen (Kümmerling, 2007). […] Zudem zeigt sich auch eine zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeit, die seit einigen Jahrzehnten an Bedeutung gewinnt und sich in den meisten Tarifverhandlungen wiederfindet (Bispinck, 2014).“ Brauner, Wöhrmann, Michel, BAuA-Arbeitszeitbefragung, 9. 71 „Brennen für ihre Arbeit, das tun fast alle Wissenschaftler — auch wenn die Gefahr des Ausbrennens sehr hoch ist.“ Grün, Mit Anfang 40 werden viele Forscher nicht mehr gebraucht (23.6.2019), https://www.sueddeutsche.de/karriere/wissenschaft-karrierebefristet- 1.4484574–0. 72 Ambrast, Bezahlt oder unbezahlt?, 153. 73 „Bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird unausgesprochen vorausgesetzt, dass sie intrinsisch motiviert sind und Überstunden zu ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis gehören.“ Schmermund, Knapp zwölf Überstunden pro Woche sind üblich (28.1.2019), in: https://www.forschung-und-lehre.de/ knapp-zwoelf-ueberstunden-pro-woche-sind-ueblich-1455/. 74 „Wissenschaft ist ein Kreativberuf: Man braucht ständig neue Ideen, um die aktuelle Forschungsfrage zu bearbeiten und um eigene Projekte anzustoßen und mithin die Welt um einige Erkenntnisse zu bereichern. Man kann nicht kreativ sein von Mo-Fr von 10 bis 18 Uhr.“ Hoffmann, Beruf Wissenschaft und der EuGH (10.6.2019), https://scilogs.spektrum.de/uhura-uraniae/unsinnder- eugh-arbeitszeiterfassung/. 75 Vgl. Wiarda, Zeiterfassung. 76 Thiel, Lob der Zeiterfassung (29.5.2019), in: https://www.faz.net/ aktuell/karriere-hochschule/stechuhr-urteil-zur-zeiterfassung-istgut- fuer-die-wissenschaft-16209686.html; vgl. Kommentar von Thomas P. (11.6.2019, 08:10 Uhr), in: Hoffmann, Beruf Wissenschaft und der EuGH. 77 Wicht, Arbeitszeit als Privileg, in: Spektrum.de SciLogs (17.05.2019), https://scilogs.spektrum.de/anatomisches-allerlei/ arbeitszeit-als-privileg/. 78 Kommentar von bote19 (17.5.2019, 18:14 Uhr) in: Wicht, Arbeitszeit als Privileg. Lösung im Namen sowohl grundrechtlicher Wissenschaftsfreiheit als auch des Arbeitszeitgesetzes als eines „öffentlich-rechtliche[n] Schutzgesetz[es]“65 zu finden.66 Auf eine diversitätssensible und Machtverhältnisse ausgleichende Auslegung des EuGH-Urteils entsprechend der Personalstruktur ist daher zu achten. IV. Unproduktive Subjekte. Leben für die Wissenschaftsautonomie Wissenschaftlerinnen sind zeitlich und räumlich in der
Regel weniger gebunden als Beschäftigte anderer Branchen.
67 Doch auch jenseits des Wissenschaftsbetriebes
lassen sich genügend Beispiele für entgrenzte Arbeitsmodalitäten
finden,68 die nicht nur Leitungsangestellten69
vorbehalten sind.70 Mag das sprichwörtliche Brennen71
ein zentrales Charakteristikum genuinen Forschungsdranges
sein, mögen idealistische Leitbilder
– Humboldtianischer Provenienz etwa, gern zitiert –
auch dominieren, hohe Motivation, projektive Kompetenz
und eine Credo der Selbstoptimierung wird man
sogenannten High Potentials in der Wirtschaft aber nur
bedingt absprechen können. Die Bereitschaft, Überstunden
„oft zuvorkommend und freiwillig“72 zu erbringen,
lässt sich also vielerorts antreffen, nicht nur, wenn es um
Aufstiegsmobilität geht, sondern gerade auch dann,
wenn das ökonomische Überleben nackt daran hängt.
Intrinsische Motivation hat daher ein Klischeepotential,
wenn nicht gar ausgewachsene Qualitäten eines Herrschaftsinstruments.
73 Dies gilt insbesondere für das
Schlagwort Kreativität74, das häufig bemüht wird, um
zur selbsternannten Verteidigung wissenschaftlicher
‚Freigeistigkeit‘ auszurücken. Das Argument, Kreativität
lasse sich zeitlich nicht reglementieren, klingt zunächst
plausibel. Kreativität sinkt aber durch lange Arbeitszeiten
und verkürzte Erholungsphasen. Geistige Arbeit
braucht einen Rahmen, um der Fehleranfälligkeit von
Forschenden entgegenzuwirken.75 Zuverlässigkeit in der
Planung und materielle Sicherheit stellen sogar eine
wesentliche Grundvoraussetzung für „geistig[e] [B]
eweglich[keit]“76 dar. Last but not least, auch in der Wissenschaft
gilt vielfach „98% Transpiration, 2% Inspiration“.
Wenn in Debatten über Arbeit und Arbeitszeit in
der Wissenschaft von Kreativität explizit gesprochen
wird, dann geht es wohl eher um die Verteidigung von
Selbstbildern denn um gesicherte Schaffenskraft für alle,
eher um die Verteilung ausgewählter Ressourcen und
Optionsscheine denn um Zugangsmöglichkeiten für
Jedermann, geschweige denn für Jedefrau.
Wissenschaft funktioniert als Distinktionsdispositiv.
Durch die Arbeit in der Wissenschaft, insbesondere in
der Forschung, setzt man sich ab von Beschäftigten in
vermeintlich weniger geistigen Berufen. Auf mittelbarem
Wege dienen grundrechtliche Freiheiten, derer man
sich affirmativ versichert und zum Aushängeschild individuellen,
Partikularinteressen dienendem Befindens erhebt
– „Ich arbeite nicht als Akademiker, ich bin Akademiker.“
77 –, dazu, Personengruppen auszugrenzen, bisweilen
unter Zuschreibung einer „Sklavengesinnung“78
und damit unter Umständen (nur) an der Grenze zum
Rassismus, womöglich jedoch (weit) darüber hinaus.
Zum Glück lässt sich die Habitualisierung der Wissenschaftsfreiheit
nicht pauschal auf einen so drastischen
Nenner bringen. Man sollte aber nicht aus dem Blick
Skrowronek · Arbeitszeit im deutschen Wirtschaftssystem 2 5 1
79 Vgl. Wicht, Arbeitszeit als Privileg.
80 Burchard, Angst vor der akademischen Abbruchkante (10.7.2019),
in: https://www.tagesspiegel.de/wissen/prekaere-arbeitsverhaeltnisse-
an-der-uni-angst-vor-der-akademischen-abbruchkante/
24574060.html.
81 Bayreuther Erklärung zu befristeten Beschäftigungsverhältnissen
mit wissenschaftlichem und künstlerischem Personal in Universitäten,
https://www.uni-kanzler.de/fileadmin/user_upload/05_Publikationen/
2017_-2010/20190919_Bayreuther_Erklaerung_der
Universitaetskanzler_final.pdf.
82 Lörcher, Das soziale Grundrecht auf gesunde, sichere und würdige
Arbeitsbedingungen, 53; vgl. ebd., 40.
83 Vgl. Gärditz, Die äußeren und inneren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit,
30.
84 Kommentar von Bernstorff (Mittwoch, 22.5.2019 09:30) in:
Wiarda, Zeiterfassung.
85 Vgl. Leist, Unionsrecht gebietet Pflicht zur systematischen Arbeitszeiterfassung
(5.6.2019), in: jurisPR-ArbR 22 (2019),
https://www.fachportal-steuerrecht.de/jportal/portal/page/fpsteuerrecht.
psml?nid=jpr-NLAR000014219&cmsuri=%2Ffachpo
rtal_steuerrecht%2Fde%2Fr17%2Fnachrichten_1%2Fzeige_nachricht.
jsp (30.11.2019).
86 Schareika, „Arbeitszeit-Erfassung schützt vor Selbstausbeutung“
(14.5.2019), in: https://www.wiwo.de/erfolg/trends/eugh-urteilarbeitszeit-
erfassung-schuetzt-vor-selbstausbeutung/24340670.
html.
87 Vgl. Kolatzki, Was Zeiterfassung mit Gleichstellung zu tun hat
(28.5.2019), in: https://www.jmwiarda.de/2019/05/28/was-zeiterfassung-
mit-gleichstellung-zu-tun-hat/.
verlieren, dass man es mit strategisch einsetzbaren „Privilegien“
79 zu tun hat, die einer Pflege des sozialen Friedens
entgegenstehen können. Interdependent mit weiteren
Diskriminierungsmechanismen können sie zusätzliche
destruktive Kräfte entfalten. Diese Distinktionsdynamik
verläuft nicht nur nach außen, sondern
strukturiert auch wissenschaftssystemische Binnenverhältnisse.
So werden Befristungen häufig damit befürwortet,
die Wissenschaft müsse sich immer wieder erneuern,
„um wissenschaftlich kreativ und produktiv zu
bleiben.“80 Unproduktivität als Malus der Zu-kurz-Gekommenen,
so klingt der substantiierende Grundtenor
dieser Behauptung. Die Produktivität der Einen müsse
vor der Unproduktivität der Anderen geschützt werden.
Mag im obigen Zitat eine mit dem Schlagwort Kreativität
potentiell einhergehende Ausgrenzung nicht intendiert
sein, so konturiert sie dennoch dessen Verwendung
und strahlt darauf aus, was in der Wissenschaft unter Arbeit
verstanden wird, nämlich eine als individuell zuschreibbar
bzw. absprechbar verstandene Kreativitätsleistung.
Während explizit von einer Produktivität des
Gesamtsystems die Rede ist, die mit grundrechtlicher
Autonomie aufgeladen wird, geht es implizit auch um
den Schutz von Privilegien. Man versucht, die Gefahr
der Unproduktivität im befristet Beschäftigten zu verankern,
den man als ein generationenverträgliches Verschleißteil
begreift – „Qualifizierungschancen der nächsten
Generationen.“81 – und autonomiemoralisch integer
zu eskamotieren habe. Dabei blendet man die Kontingenz
dieser partikularinteressengeleiteten Setzung und
ihren strukturellen Charakter ebenso aus wie den Missbrauch
grundrechtlicher Werte. Um so wichtiger ist es
daher, die durch das EuGH-Urteil eingeforderte Stärkung
der Arbeitnehmerrechte zu realisieren. Denn angemessene
Arbeitsbedingungen tragen zur „Verwirklichung
[der Menschenwürde] im Arbeitsverhältnis“
bei.82
Arbeit in der Wissenschaft und wissenschaftliche Autonomie
sind vergleichbare historische Konstrukte, die
in ihren Freiheiten und Grenzen gesellschaftlich bestimmt
werden.83 Angesichts der aktuellen und allem
Anschein nach auch zukünftigen Dominanz leistungsorientierter
Mittelvergabe und Hierarchiebildung im
Wissenschaftssystem, die Sichtbarkeit und Legitimität
nur ausgewählten Repräsentationsformen wissenschaftlichen
Arbeitens verleiht, erscheint es fraglich, inwieweit
ein Zeiterfassungssystem, sollte es je kommen, zur Verbesserung
der Lebensbedingungen der (Nachwuchs-)
Wissenschaftler effektiv beitragen könnte. Aus Wettbewerbsgründen
würde man wahrscheinlich
„den Sonntag zum regulären Arbeitstag und die Abende
und Nächte zur regulären Arbeitszeit des wissenschaftlichen
Nachwuchs [sic] machen. Man wäre ja schön blöd,
wenn man diese Ressource ungenutzt ließe, um sich von
anderen abzuheben oder zumindest im Wettbewerb zu
bleiben.“84
Zur Selbstausbeutung könnte eine Verzerrung aufgezeichneter
Arbeitszeiten hinzukommen, mit der
Wissenschaftler*innen sich als besonders produktiv darstellen
wollten.85 Daher ist „[d]ie Erfassung der Arbeitszeit
[…] sicherlich kein Allheilmittel.“86 Größere Linderung
brächte eine generelle Überarbeitung der Arbeitsbedingungen
jenseits strikter Reputationslogiken. Mit
einer Hinterfragung der Arbeitskultur könnten auch andere
Praktiken im Wissenschaftssystem neu bedacht
werden,87 die das Verhältnis von Arbeit und Menschenbild
betreffen.
„Vielleicht wird das EUGH-Urteil so zur Chance, generell die
Kultur, in der wir Wissenschaft betreiben, zu hinterfragen.
Und nicht nur die Kultur in der Wissenschaft: Ein offener
Diskurs über die Bedeutung und Art von Arbeit, über Le2
5 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 0 ) , 2 4 5 — 2 5 2
88 Ebd.
89 Vgl. Gärditz, Die äußeren und inneren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit,
7 und 9f.
90 Hoffmann, Die Arbeit der Wissenschaften, 2013, 158.
bensqualität und Lebensentwürfe ist längst überfällig. Ein
Zeiterfassungsgesetz könnte ein guter Ausgangspunkt für
solche Diskussionen sein. Ansätze für die Gleichstellung
von Frauen in der Wissenschaft bekämen wir höchstwahrscheinlich
gratis dazu.“88
Das EuGH-Urteil hat mit seinem fundamentalen Bezug
auf die Europäische Grundrechtecharta dazu implizit
aufgerufen. In Anlehnung an die epistemische Offenheit89
der Wissenschaftsfreiheit ließe sich daher fragen,
„ob die Arbeit der Wissenschaften als Praxis unter anderen
Praktiken in jedem Fall“ dazu beitragen muss, „dass
wir eine Sache besser verstehen und ein besseres Leben
führen können […].“90 Denkbar wäre eine Arbeit der
Wissenschaft, die nicht (primär) von der Negation des
Eigenen im quantifizierenden Druck der Konkurrenz
ausgeht und nicht (primär) von einer Verwertbarkeit ihrer
Prozesse und Praktiken, sondern sich (mehr) Zeit ließe
für unbekanntes Unbekanntes. Diese Entschleunigung
wäre eine passable Möglichkeit, dem Grundrechtsansinnen
des EuGH-Urteils zu entsprechen, und sie
könnte nicht nur ungewohnte wissenschaftliche Perspektiven
eröffnen, sondern würde vermutlich auch neue
Steuerungsfragen aufwerfen und Gestaltungsmöglichkeiten
eröffnen. Welche neuen Einsichten die Coronabedinge
Entschleunigung und Verkomplizierung des
akademischen Lebens anno 2020 mit sich gebracht hat,
wäre dabei gesondert zu bedenken.
Thomas Skowronek war von 2004 bis 2011 wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Slawistik der
Humboldt-Universität zu Berlin und von 2013 bis 2016
Forschungskoordinator am Exzellenzcluster Topoi in
Berlin. Seit 2019 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen
Europa (GWZO) in Leipzig und studiert Wissenschaftsmanagement
an der Deutschen Universität für
Verwaltungswissenschaften in Speyer.
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