Einleitung
Juris weist für die Zeit vom 1.1.2013 bis 28.2.2015 39 Ent- scheidungen unter „Prüfungsrücktritt“ und 41 Entschei- dungen unter „Rücktritt von der Prüfung“ aus. Elimi- niert man die Doppel, verbleiben immerhin noch 56 Entscheidungen. Darunter sind eine von Verfassungsge- richten, 22 von Obergerichten und 33 von Verwaltungs- gerichten. Bereits aus dieser Zahl ist ersichtlich, welche praktische Bedeutung diese Möglichkeit, nicht zur Prü- fung antreten zu müssen bzw. im Falle eines befürchte- ten oder tatsächlich negativen Ausgangs der Prüfung die Möglichkeit eines Rücktritts bzw. – terminologisch rich- tig – die Möglichkeit des Antrags auf Genehmigung des Rücktritts von der Prüfung hat. Wir wollen anhand eini- ger konkreter Fälle den Stand der gegenwärtigen Recht- sprechung – die nach unserer Ansicht leider nicht immer rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht – deutlich machen:
Fall 1: Das Problem von Gutachten von Amts- bzw. Polizeiarzt (VG Potsdam, Beschl. v. 25.2.2014 –
1 L 6/14 (n.v.) / OVG OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.7.2014 – OVG 10 S 5/14, juris = NVwZ-RR 2014, 889)
Das VG Potsdam hatte den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller, der nach der Prüfungsordnung kei- nen weiteren Prüfungsversuch hatte, nicht zu der ihm aufgrund Prüfungsanfechtung eingeräumten letzten Möglichkeit einer Modulprüfung im Rahmen des Fach- hochschul-Studiums angetreten war, die Fortsetzung der begonnenen Laufbahnausbildung und des begonnenen Studiums durch die Teilnahme an den Lehrveranstaltun- gen und Prüfungen vorläufig zu ermöglichen. Das OVG Berlin-Brandenburg hat den Beschluss aufgehoben und den Antrag des Prüflings zurückgewiesen, weil er seine krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit nicht hinreichend nachgewiesen habe. Die Anforderungen an einen Prüfling, der von einer Prüfung zurücktreten will, sind hoch.1
1 Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl., 2014, Rn. 249ff, 267ff.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 3. Auflage, 2007
Rn. 428ff.; Vgl. aus neuerer Zeit auch OVG Münster, Beschl. v. 20.10.2014 – 14 A 699/14, juris.
Niemand zweifelt daran, dass diese dann nochmals höher sind, wenn ein Prüfling nach einer nicht bestande- nen Prüfung zurücktreten will gegenüber dem Fall, dass er – wegen (angeblicher) Prüfungsunfähigkeit – gar nicht zur Prüfung angetreten ist.
Das OVG Berlin-Brandenburg hat im konkreten Fall den Nachweis der Prüfungsunfähigkeit durch – unstrei- tig vorgelegte – Bescheinigungen von Polizeiärzten ver- neint.
Diese Entscheidung ist – u.a. wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht der entsprechenden Prüfungsbehör- de – fehlerhaft ist. Zwar traf den Prüfung die Pflicht, die Prüfungsunfähigkeit „auf Verlangen der Fachhochschule der Polizei durch ein polizei- oder amtsärztliches Gutachten zu belegen“, nachdem die Fachhochschule den Ast. schriftlich aufgefordert hatte, „bei jeder weiteren Erkrankung an Prü- fungstagen“ ein solches Gutachten vorzulegen.
Zurücktretende Prüflinge unterliegen bei den Prü- fungsbehörden zunächst einmal einem „Simulations- „Generalverdacht“, der umso intensiver wird, je öfter ein Rücktritt erfolgt (oft unter Vorlage von Attesten immer des gleichen Arztes). Hat nun ein Prüfling – sei es durch mehrfachen Rücktritt, sei es durch Prüfungsanfechtung – die Prüfungsbehörde nun „hinreichend geärgert“ schaut diese bei gleichem Sachverhalt bei einem “Wie- derholungstäter“ um so genauer auf die vorgelegten At- teste. Dies wissen auch die Gerichte.
Offensichtlich sind viele Prüfungsbehörden nicht in der Lage, „ihre“ Amts- oder Polizeiärzte dazu zu bewe- gen, Atteste oder Ärztliche Gutachten auszustellen, die den Ansprüchen der Prüfungsbehörden – und vor allem auch der Gerichte, die oft strenger sind als die Prüfungs- behörden – genügen. Aber: Ist dafür der Prüfling verant- wortlich zu machen? Ist er insbesondere verantwortlich dafür, dass – wie in der Regel – die Amts- und die Poli- zeiärzte die Diagnose des Privatarztes in dem vom Prüf- ling vorgelegten Attest in der Regel ohne eigene Untersu- chung bestätigen? Oder überspitzt gefragt: Ist der Prüf- ling für das „Amtsarzt- bzw. Polizeiarztsystem“ und sei- ne seit langem bekannten Probleme verantwortlich?
Robert Brehm und Wolfgang Zimmerling
Der Rücktritt von der Hochschul- oder Staatsprüfung — ein „Dauerbrenner“ für die Gerichte — aufgezeigt an sechs Beispielen
Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
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Einige Zitate aus diesem Beschluss (zitiert aus juris, Rn. 13) machen das Dilemma des Prüflings deutlich:
„Die Bescheinigung des Polizeiarztes O vom 12.11.2013 erschöpft sich in der Aussage „AU-schreibung vom 7.11.2013 wird bestätigt!“, ohne nähere Angaben zu der Art der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Ast. und deren Auswirkungen auf sein Leistungsvermögen am Prüfungstag zu enthalten. Auch die Bescheinigung des Polizeiarztes D vom 19.11.2013 gibt keine inhaltlichen Informationen zum Gesundheitszustand des Ast., son- dern lautet: „Ein GA wird nicht erstellt. Eine reguläre At- testierung durch Herrn O liegt Ihnen vor. Bei Rückfragen wenden Sie sich an das Ref. 43 = Md I“.
Dies hat die Fachhochschule trotz der deutlichen Aufforderung des Polizeiarztes D. nicht getan. Aber die Konsequenz des OVG Berlin-Brandenburg war nun nicht, dem Prüfungsamt der Fachhochschule ein paar deutliche Worte zur Mitwirkungspflicht der Prüfungsbe- hörde „ins Stammbuch zu schreiben“. Nein: Das OVG Berlin-Brandenburg schreibt folgendes:
„Diese Aussagen sind ersichtlich nicht geeignet, eine krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit des Ast. am Prü- fungstag polizeiärztlich nachzuweisen“.
Uns stellt sich die Frage, warum hat die Fachhoch- schule nicht – entsprechend der Aufforderung des Poli- zeiarztes D. – beim Polizeiarzt O nachgefragt und freut sich statt dessen, dass der Prüfling von nichts eine Ah- nung hat und deshalb auch nicht die Polizeiärzte um „Nachbesserung der Bescheinigung“ bittet bzw. diese dazu auffordert? Das VG Potsdam hatte insoweit zu Recht geschrieben: „Es ist insbesondere nicht seine (des Prüflings) Sache, den aufgesuchten Polizeiarzt darüber aufzuklären, wie das Gutachten erstellt werden muss.“
2. Fall: Das Problem des nachträglichen Rücktritts – nicht nur in Bayern – der Tod der Großmutter (VGH München, Beschluss vom 10.11.2014 –
7 ZB 14.1922, juris)
Grundsätzlich kann – teilweise über den Wortlaut der jeweiligen prüfungsrechtlichen Vorschriften hinausge- hend (konkret § 10 der Bayerischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 13.10.2003 eine tatsächlich unerkannte Prüfungsunfähigkeit auch noch nach Abschluss der Prüfung und nach Ablauf materiell-rechtlicher Ausschlussfristen geltend gemacht werden.2
2 Vgl. z. B. VGH München, B. v. 15.11.2004 – 7 ZB 04.1308 – juris Rn. 10.
Es ist aber Sache des Prüfungsteilnehmers, sich vor Beginn der Prüfung zu vergewissern, ob seine Leistungs- fähigkeit durch Krankheit beeinträchtigt ist und dass dann, wenn ein Prüfling wegen Prüfungsunfähigkeit von einer Prüfung zurücktritt, er (und nicht das Prüfungs- amt) die materielle Beweislast für den Rücktrittsgrund und die Unverzüglichkeit des Rücktritts trägt.
An diese sind nach der Rechtsprechung strenge An- forderungen zu stellen. Nimmt der Prüfling an der Prü- fung teil und erklärt er erst nach deren Beendigung sei- nen Rücktritt unter Berufung auf eine zunächst uner- kannte Prüfungsunfähigkeit, muss er die Gründe, wes- halb er seine Prüfungsunfähigkeit zuvor nicht erkennen konnte, in gleicher Weise nachweisen wie die Prüfungs- unfähigkeit selbst.3
Im konkreten Fall war das Verwaltungsgericht Würz- burg4 erstinstanzlich zur Überzeugung gekommen, dass die Klägerin ihre Prüfungsunfähigkeit während der Ers- ten Juristischen Staatsprüfung ebenso in der erforderli- chen Weise nachgewiesen hatte wie den Umstand, dass sie ihre Prüfungsunfähigkeit erst unmittelbar vor ihrem sodann unverzüglich erklärten Prüfungsrücktritt erken- nen konnte.
Der VGH München geht – entgegen der Annahme des verklagten Prüfungsamts – davon aus, dass der Prüf- ling den Tod ihrer Großmutter wenige Tage vor der Prü- fung und die sich daran anschließende „Trauerreaktion“ nicht zum Anlass nehmen musste, ihre Prüfungsfähig- keit vor Teilnahme an der Prüfung ärztlich überprüfen zu lassen. Die Klägerin habe bereits im behördlichen Verfahren vortragen lassen, dass sie zwar anlässlich des Todes ihrer Großmutter Trauer empfunden habe, jedoch nicht habe erkennen können, dass sie tatsächlich in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei. Der die Klägerin behandelnde Facharzt für Psychiatrie und Neu- rologie habe in seinem Attest bestätigt, dass die Klägerin ohne nervenärztliche Behandlung nicht erkennen konn- te, dass der Tod ihrer Großmutter bei ihr einen neuen krankheitswertigen Zustand auslöste, „der über das nor- mal übliche einer Trauerphase hinausgeht“. Die Gerichte hatten keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser fachärztlichen Feststellung: Die Klägerin sei bei dem Facharzt seit Mitte 2011 wegen einer depressiven Störung in ambulanter Behandlung und die Erkrankung unter medikamentöser Therapie zu Beginn des Sommers 2012 vollständig remittiert. In Kenntnis der anstehenden Prü- fung habe die Klägerin in Absprache mit dem Facharzt zur Rückfallprophylaxe weiterhin eine antidepressive Medikation erhalten. Aus der Vorgeschichte und Ent-
3 Vgl. z. B. VGH München, B. v. 4.3.2013 – 7 CE 13.181 – juris Rn. 14 f.
Brehm/Zimmerling · Rücktritt von der Hochschul- oder Staatsprüfung 2 1 3
wicklung der depressiven Störung ergäben sich keine Hinweise, dass die Klägerin – entgegen der fachärztli- chen Feststellung im Attest vom 14.1.2013 – ein Ereignis wie den Tod ihrer Großmutter ohne weiteres zum Anlass nehmen musste, um erneut den sie behandelnden Fach- arzt aufzusuchen. Zudem habe der Landgerichtsarzt (Amtarzt), der als Facharzt für Psychiatrie und Psycho- therapie ebenfalls sachkundig sei, in seiner amtsärztli- chen Stellungnahme nach persönlicher Vorstellung der Klägerin bestätigt, „dass das beschriebene Verlaufsbild vor dem Hintergrund der bekannten depressiven Vulnera- bilität“ der Klägerin „durchaus mit dem klinischen Erfah- rungswissen konform geht“.
Das Verwaltungsgericht habe nach alledem seine Aufklärungspflicht nicht verletzt. Weitere Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts drängten sich nach den Umständen des Einzelfalls nicht auf, insbesondere habe für das Verwaltungsgericht kein zwingender Anlass be- standen, weitere sachverständige Beurteilungen einzu- holen oder den die Klägerin behandelnden Facharzt in der mündlichen Verhandlung persönlich zu befragen, weil die der gerichtlichen Überzeugungsbildung dienen- den sachverständigen Äußerungen insoweit bereits ein- deutig und unmissverständlich gewesen seien. Folglich wurde der Antrag auf Zulassung der Berufung der Prü- fungsbehörde zurückgewiesen.
Fall 3: Prüfungsrücktritt aufgrund äußerlicher Umstände der Prüfung (VGH Mannheim, Beschl. v. 24.4.2014 – 9 S 1292/13 – n.v.)
In diesem Fall geht es wie bei der Nr. 1 um die Mitwir- kungspflicht einer Prüfungsbehörde, allerdings im Zusammenhang mit einem durch äußerliche Umstände gerechtfertigten Rücktritt von einer juristischen Staats- prüfung.
Die Rechtsfrage nach dem Vorliegen eines wichtigen Rücktrittsgrundes kann nur so beantwortet werden, dass ein Rücktrittsrecht dann gegeben ist, wenn ansonsten der das Prüfungsrecht beherrschende Grundsatz der Chancengleichheit verletzt würde.5 Die im Rahmen des Berufungszulassungsantrags von der Prüfungsbehörde thematisierte „Frage nach der bei Prüfungen noch zumut- baren Temperatur“ ist einer Beantwortung in allgemei- ner Form nicht zugänglich und daher nicht klärungsfä- hig. Die Grenzen des bei Wahrung der prüfungsrechtli- chen Chancengleichheit noch Zumutbaren können nur im Einzelfall bestimmt werden. Dies gilt insbesondere
- 4 Beschl. v. 23.7.2014 – W 2 K 13.166 – n.v.
- 5 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, aaO, Rn. 251 und 467ff.
- 6 Niehues/Fischer/Jeremias, aaO Rn. 467.
deshalb, weil zwar einerseits objektive Kriterien, wie etwa die Temperatur im Prüfungsraum, auch objektiv zu bestimmen sind, es für die – maßgebliche – Verletzung der Chancengleichheit indes nicht darauf ankommt, ob eine objektiv feststellbare Grenze überschritten ist, son- dern ob die äußeren Einwirkungen dazu geeignet sind, etwa die Konzentration eines Prüflings nicht nur uner- heblich zu erschweren und ihn dadurch abzuhalten, sei- ne wahre Befähigung nachzuweisen.6 Die Abgrenzung einer solchen Situation von „normalen Bedingungen“, bei denen eine erhebliche Störung nicht anzunehmen ist, ist nur bei Bewertung sämtlicher relevanter Umstände des Einzelfalls möglich (zusätzlich relevante Faktoren können z.B. Kleidung, Luftfeuchtigkeit, Raumgröße, Lüftungsmöglichkeiten und Beschattung sein) und ent- zieht sich daher einer grundsätzlichen Klärung.7
Hinsichtlich der während der Prüfung im Prüfungs- raum herrschenden Temperaturen und ihren Folgen für die Wahrung der Chancengleichheit unter den Prüflin- gen kommt es – entgegen der Auffassung des Prüfungs- amts – nicht maßgeblich darauf an, ob sich aus einem Vergleich der vorgelegten Prüfungsergebnisse eine Be- einflussung dieser Ergebnisse durch die Raumtempera- tur ablesen lässt oder nicht. Entscheidend ist allein, ob diese Temperaturen noch als „normal“ und damit auch in Prüfungssituationen hinzunehmen anzusehen sind oder nicht. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen herrschten im fraglichen Prüfungsraum unstreitig am ersten Prüfungstag zur Prüfungszeit zwischen 9.00 Uhr und 13.00 Uhr Temperaturen zwischen 25,8°C und 30,7° C, davon über zwei Stunden oberhalb von 28°C, am zweiten Prüfungstag noch zwischen 26,1°C und 28,0°C. Dabei hat es zusätzlich auch die für den 21.08.2012 regis- trierte Luftfeuchtigkeit berücksichtigt. Soweit die Be- klagte meinte, der Mensch müsse im Stande sein, „Hitze- beanspruchung im Interesse einer mentalen Leistung zu kompensieren“, spricht nach zutreffender Auffassung des VGH Mannheim bereits das Erfordernis einer solchen „Kompensation“ dafür, die „Normalität“ eines entspre- chenden Zustandes im Sinne von „die Chancengleich- heit wahrend“ in Frage zu stellen. Wenn einerseits bei Temperaturen deutlich unter 18°C auch die Kompensati- on durch weitere Kleidungsstücke nicht als ausreichen- der Ausgleich für eine bestehende Beeinträchtigung durch zu niedrige Raumtemperatur anzusehen ist8, so kann für eine Kompensation einer Beeinträchtigung durch (zu) hohe Temperaturen durch entsprechend leichte Bekleidung und vermehrtes Trinken nichts ande-
7 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias aaO
8 Vgl. BVerwG, Urteil vom 6.9.1995 – 6 C 16/93 -, BVerwGE 99,
172, 179 und juris, Rn. 41[insoweit nicht in BVerwGE].
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res gelten. Der VGH Mannheim nimmt Bezug auf das Ergebnis einer von der Prüfungsbehörde angeführten Untersuchung zur Leistungsfähigkeit in Büroräumen bei erhöhten Außentemperaturen: Danach sollen (schon) bei Lufttemperaturen über 26°C in Arbeitsräumen zu- sätzliche Maßnahmen ergriffen werden, zu denen neben der Lockerung von Bekleidungsregeln und der Bereit- stellung geeigneter Getränke auch die Nutzung von Gleitzeitregelungen zur Arbeitszeitvertagerung gehören. Bei Überschreitung der Lufttemperatur von 30° C müss- ten „wirksame Maßnahmen“ ergriffen werden, „welche die Beanspruchung der Beschäftigten (lediglich) redu- zieren“.9 Dabei beziehen sich diese Feststellungen auf Ar- beitsstätten, an die betriebstechnisch keine spezifischen raumklimatischen Anforderungen gestellt werden. Sie sind damit mit Prüfungsräumen schriftlicher Prüfungen grundsätzlich vergleichbar. Die für „Arbeitsräume“ gel- tenden Maßstäbe können indes nicht generell auf Prü- fungsräume übertragen werden. Dies folgt aus der Be- deutung, die berufsbezogene Prüfungen für das Grund- recht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) haben, aber auch aus der prüfungsspezifischen Funktion nachzuwei- sen, ob bzw. inwieweit der Prüfling über bestimmte, für das Erreichen eines Ausbildungsziels erforderliche Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt. So erfordern Prü- fungssituationen – anders als das bloße „Arbeiten“ in Arbeitsräumen – jedenfalls ein besonderes Maß an Auf- merksamkeit und Konzentrationsfähigkeit über – im vorliegenden Fall – vier Stunden hinweg und an zwei aufeinander folgenden Tagen. Dies bedeute – so der VGH Mannheim -, dass „normale“ Prüfungsbedingun- gen keinesfalls hinter den in ASR A 3.5. genannten Ar- beitsbedingungen zurückbleiben dürfen, insoweit viel- mehr tendenziell eher strengere Anforderungen gelten. Daher hat der VGH die Annahme des Verwaltungsge- richts, im vorliegenden Fall hätten mit Blick auf die von ihm festgestellten Temperaturen und weiteren Faktoren keine „normalen“ Verhältnisse mehr geherrscht, nicht beanstandet.
Der Umstand, dass der Kläger seine konkrete Beein- trächtigung nicht beweisen könne, sei zur Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils nicht geeignet. Eine Verletzung der Chancen- gleichheit liegt nämlich bereits dann vor, wenn unge- wöhnliche äußere Einwirkungen „geeignet sind“, die
- 9 Technische Regeln für Arbeitsstätten, Raumtemperatur – ASR A3.5 – in der Fassung des GMBI. 2012, S. 660, Punkt 4.4 mit Tabelle 4.
- 10 Vgl. BVerwG, Urteil vom 6.9.1995 – 6 C 16/93 -, aaO S. 179; Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias aaO Rn. 251 und 467.
- 11 Im vorliegenden Prüfungsverfahren hatte die Klägerin früher etwa eine „Erkältung“ oder eine „Zahnentzündung“geltend ge-
Konzentration eines Prüflings nicht nur unerheblich zu erschweren und ihn dadurch abzuhalten, seine wahre Befähigung nachzuweisen“.10 Eines Nachweises, dass die hohe Raumtemperatur eine Einschränkung der Leis- tungsfähigkeit des Klägers im konkreten Einzelfall ver- ursacht hat, bedürfe es nicht.
Fall 4: Dauerleiden und Prüfungsrücktritt (VG Ber- lin, Urteil vom 11.2.2015 – VG 12 K 100.14, juris)
Prüfungsunfähigkeit im Rechtssinne liegt nicht vor und damit ist ein Fernbleiben vom Prüfungstermin nicht entschuldigt, wenn die Leistungseinschränkungen auf einem aus prüfungsrechtlicher Sicht unerheblichen „Dauerleidens“ beruhen. Ein solches hatte die Prüfungs- behörde in diesem Fall – nach Ansicht des Gerichts zu Recht – angenommen.
Ein „Dauerleiden“ im prüfungsrechtlichen Sinne ist eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszu- standes zum Zeitpunkt der Prüfung, die die Einschrän- kung der Leistungsfähigkeit des Prüflings nicht nur vor- übergehend, sondern prognostisch auf unbestimmte Zeit mit offenen Heilungschancen bedingt. Ein „Dauer- leiden“ prägt die Leistungsfähigkeit des Prüflings auch dann, wenn dieses ein schwankendes Krankheitsbild mit Stadien, in denen das Leistungsvermögen des Prüflings nicht eingeschränkt ist, aufweist. Liegt ein solches „Dau- erleiden“ vor, ist es zwecklos, die Prüfung zu verschie- ben, weil es auch im nächsten Prüfungstermin bei der Beeinträchtigung bliebe. Zudem ist ein „Dauerleiden“ inhaltlich prüfungsrelevant, weil es das reguläre Leis- tungsbild des Prüflings prägt, und der Prüfling unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit und dem Ge- sichtspunkt der Eignung für den Beruf auf der Grundla- ge dieses regulären Leistungsbildes zu prüfen ist. Liegt ein schwankendes Krankheitsbild vor, ist es Sache des Prüflings zu zeigen, dass er seine Krankheit so im Griff hat, dass er den Belastungen von Prüfung und Beruf (hier Lehrer) trotz der Krankheit gewachsen ist. Gelingt ihm dies nur teilweise, muss er die Beeinträchtigung hinnehmen. Abzugrenzen ist ein solches „Dauerleiden“ von einer akuten Beeinträchtigung des Gesundheitszu- standes, auch wenn akute Erkrankungen häufiger auftre- ten, ohne dass sie auf ein „Dauerleiden“ zurückzuführen sind.11
macht; vgl. grundlegend zu den Fragen und den Rechtsproblemen des „Dauerleidens“ im prüfungsrechtlichen Sinne mwN Niehues/ Fischer/Jeremias, aaO Rn. 258; Zim-merling/Brehm, Rn. 466ff.; BVerwG, Beschl. vom 13.12.1985 – 7 B 210.85 – DÖV 1986,
S. 477 f., Juris Rn. 5ff.; BVerwG, Beschluss vom 5.7.1983 – 7 B 135.82 – Juris Rn. 6 f.; VGH Mannheim, Beschluss vom 2.4.2009– 9 S 502.09 – MedR 2009, 616 f., Juris Rn. 4.
Brehm/Zimmerling · Rücktritt von der Hochschul- oder Staatsprüfung 2 1 5
Es geht dabei nicht um eine fachärztliche Einschät- zung, die ärztlichen Sachverstand erfordert, sondern um die prüfungsrechtliche Würdigung der von den Ärzten mitgeteilten Umstände und Auswirkungen einer Er- krankung auf die Leistungsfähigkeit des Prüflings nach den oben beschriebenen rechtlichen Kriterien.12
Fall 5: Prüfungsrücktritt wegen Befangenheit des Prüfers – VGH Kassel, Urt. v. 18.5.2009- 8 A 336/09 juris = MedR 2010, 48 ff.- Bearbeitung Dr. Robert Brehm)
Anders als bei einem Rücktritt wegen Prüfungsunfähig- keit stellt sich die Sachlage dar, wenn der Prüfling bei einem Rücktrittsantrag auf einen Prüfer trifft, der ihm nicht wohl gesonnen ist. Auch hier obliegt es in der Regel dem Prüfling, die Befangenheit des Prüfers oder jeden- falls seine Besorgnis einer solchen Befangenheit unver- züglich geltend zu machen.13 Allerdings macht die Rechtsprechung hierfür eine Ausnahme bei den seltenen Fällen der „objektiven Befangenheit“ von Prüfern, also dann, „wenn außerhalb jeden vernünftigen Zweifels steht, dass ein Prüfer nicht über die gebotene Distanz verfügt“.
Bei dem nunmehr besprochenen Verfahren handelt es sich um eine krasse Ausnahme, bei der sich bereits aufgrund des Akteninhalts die Befangenheit des Prüfers zeigte. Der Prüfling machte als Rücktrittsgrund geltend, sein Vater liege auf der Intensivstation und ringe um sein Leben. Dazu meinte der Prüfer man könne die Angaben nicht überprüfen und äußerte: „Mal sei es die Tante, mal die Großmutter oder der Hund“.
Während das VG Gießen14 den Prüfling noch zu- rückwies, rückte der VGH Kassel im Berufungsurteil die Maßstäbe zurecht: Er wies – insoweit zutreffend – auf die Amtsermittlungspflicht der Prüfungsbehörden als Be- standteil ihrer Fürsorge- und Hinweispflicht in einem bestehenden Prüfungsrechtsverhältnis hin, die – aus- nahmsweise – unverzügliche Geltendmachung nicht er- forderten.15
Fall 6: Vergleiche im Falle von zahlreichen Rücktrit- ten (OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 7.4.2014 – OVG 10 N 90/11 NVwZ-RR 2014, 686)
In ständiger Rechtsprechung billigt das OVG Berlin- Brandenburg die Wirksamkeit gerichtlicher oder außer-
- 12 Vgl. zB BVerwG, Beschluss vom 6.8.1996 – 6 B 17.96 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 371, juris Rn. 6.
- 13 Sehr streng OVG Koblenz, Urt. v. 15.1.1999- 2 A 10946/98, DVBl 1999, 1597, zutreffend dagegen Abramenko, DVBl 1999,1599.
gerichtlicher Vergleiche, mit dem einem Prüfling, der eine Prüfung nicht bestanden hatte, eine weitere – letzte – Wiederholungsprüfung zugestanden wird. In der besprochenen Entscheidung weist das OVG die Angriffe gegen derartige Vergleiche nach einem erneu- ten Rücktritt zurück.
Im konkreten Fall wandte sich der Kl. nach rund 13 Jahren des Studiums der Humanmedizin, gegen die Feststellung des endgültigen Nichtbestehens des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung, also der Prüfung, zu der man sich erstmals nach zwei Jahren melden kann. Zuvor war er zahlreiche Male mit oder ohne Attest nicht zum Ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung angetre- ten oder hatte die Prüfungsversuche aus gesundheitli- chen Gründen abgebrochen. Nachdem die Approbati- onsbehörde das Nichtbestehen der mündlich-prakti- schen sowie der schriftlichen Prüfung festgestellt und der Kläger Klage erhoben hatte, schlossen die Beteiligten im April 2009 einen Vergleich, wonach der Kl. die Klage zurücknahm und der Bekl. ihm zwei weitere Prüfungs- möglichkeiten bis spätestens zum 31.3.2010 einräumte. Nachdem der Kläger auch diese auf der Grundlage des Vergleichs eingeräumten Wiederholungsprüfungen im Juli/August/September 2009 und im Februar 2010 nicht absolviert bzw. nicht bestanden hatte, stellte der Bekl. das endgültige Nichtbestehen der Prüfung fest. Zu ei- nem in der Folge dennoch eingeräumten weiteren Prü- fungsversuch im Juli 2010 erschien der Kl. wiederum nicht. Die Klage blieb – zu Recht – in zwei Instanzen er- folglos:
Insbesondere scheiterte er mit „erheblichen rechtli- chen Bedenken“ im Hinblick auf seinen mit dem Bekl. am 23.4.2009 geschlossenen Vergleich. Bei der Klage, die diesem außergerichtlichen Vergleich zugrunde lag, in dessen Folge der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ging es um die zwischen den Bet. streitige Frage, ob der Kl. von der schriftlichen wie auch der mündlich-prakti- schen Prüfung im Februar und März 2008 wirksam zu- rückgetreten ist. Zur Beendigung dieser Unsicherheit haben sich die Bet. darauf geeinigt, dass der Kl. die Kla- ge zurücknimmt und noch zwei weitere Prüfungsversu- che erhalten solle, die er im dritten Quartal 2009 bzw. – bei Nichtbestehen oder Nichterscheinen – spätestens im ersten Quartal 2010 abzulegen hatte. Dieser Vergleich unterlag nach Auffassung des VG Berlin und des OVG Berlin-Brandenburg keinen rechtlichen Bedenken.
14 Beschl. v. 15.11.2007 – 5 E 1521/07, n.v.
15 Zur Fürsorge- und Hinweispflicht Zimmerling/Brehm, aaO,
Rn. 144ff.
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Der Abschluss des Vergleichs verstößt insbesondere nicht gegen § 2 Abs. 2 Nr.3 VwVfG, der gem. § 1 Abs. 1 BlnVwVfG auch für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden Berlins gilt und ua die Geltung der den öffentlich-rechtlichen Vertrag be- treffenden Vorschriften der §§ 54 ff. VwVfG für die Tä- tigkeit der Behörden bei Leistungs‑, Eignungs- und ähn- lichen Prüfungen von Personen ausschließt. Der Grund für den teilweisen Ausschluss von Regelungen des Ver- waltungsverfahrensgesetzes liege in den Besonderheiten des Prüfungsrechtsverhältnisses, insbesondere im höchstpersönlichen Charakter der Prüfung. Daher gelte er nur für die Prüfung im engeren Sinne, also die prü- fungsspezifischen Teile eines Verwaltungsverfahrens. Außerhalb der spezifischen Prüfungssituation, wenn es nicht um die Leistungsbewertung selbst, sondern um all- gemeine Verfahrensfragen geht, bestehe dagegen die Möglichkeit des Abschlusses eines Vergleichs nach den allgemeinen Grundsätzen fort, so dass bspw. im Falle von Streitigkeiten über den äußeren Verfahrensablauf, den Rücktritt von einer Prüfung wegen Prüfungsunfä- higkeit oder die Gestaltung einer Wiederholungsprü- fung Vereinbarungen getroffen werden dürften.16
Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus § 2 Abs. 2 Bln- VwVfG, wonach „im Übrigen“ für den Bildungsbereich nur bestimmte Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgeset- zes und ua nicht die §§ 54 ff. VwVfG gelten. Jedenfalls könne der zitierte Ausschluss nicht umfassend in der Weise verstanden werden, dass im gesamten Schul- und Hochschulbereich die nicht ausdrücklich genannten Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes grund- sätzlich keine Anwendung finden dürfen. Der außerge- richtliche Vergleich vom 23.04.2009 sei danach in nicht zu beanstandender Weise geschlossen worden, um Strei-
tigkeiten über das Vorliegen von Prüfungsunfähigkeit als Voraussetzung für die Genehmigung eines Rücktritts von der Prüfung oder die Anerkennung eines wichtigen Grundes für das Versäumen eines Prüfungs-teils zu be- enden. Der Kl. sei seit Zulassung zur Prüfung zu zahlrei- chen Prüfungsterminen nicht erschienen und habe sich auf Prüfungsunfähigkeit berufen. In der Vereinbarung vom 23.4.2009 habe die Prüfungsbehörde ihre in den Be- scheiden vom März 2008 getroffene Be-wertung, dass der Kl. von den vorangegangenen Prüfungsterminen nicht wirksam zurückgetreten sei, zurückgestellt und ihm zwei weitere Wiederholungsmöglichkeiten zuge- standen. Im Gegenzug hat sich der Kl. zu einem Absol- vieren der Prüfung innerhalb eines bestimmten zeitli- chen Rahmens verpflichtet. Der Kläger. habe nicht dar- getan, dass es sich um ein unzulässiges Koppelungsge- schäft gehandelt habe, weil sich der Bekl. eine unzulässige Gegenleistung außerhalb der Approbations- ordnung habe versprechen lassen.
Zusammenfassung
Wenn auch die meisten der zahlreichen Verfahren zu Lasten des jeweiligen Prüflings ausgehen, so zeigen doch die genannten Fälle, dass es sich für den Anwalt oft lohnt, genauer hinzuschauen und für die Gerichte, den Einzel- fall genau zu betrachten.
Den Prüflingen ist anzuraten, sich so früh wie mög- lich einem fachkundigen Anwalt anzuvertrauen – mög- lichst nicht erst, wenn das Prüfungsergebnis bereits fest- steht und bekanntgemacht worden ist.
Robert Brehm und Wolfgang Zimmerling, Rechtsan- wälte in Frankfurt und Saarbrücken
16 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 16.10.2013 – , BeckRS 2013, ; Beschl. v. 11.6.2012 – OVG 10 M 4/12; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 15. Aufl. 2014, § 2 Rn. 42; Schliesky in Knack/Henneke,
VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 2 Rn. 35; Ziekow, VwVfG, 2. Aufl. 2010, § 2 Rn. 26; Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 2 Rn. 125; Niehues/Fischer/Jeremias, aaO, Rn. 918.