Von der Herkunft der Gelehrten. – Der Gelehrte wächst in Europa aus aller Art Stand und gesellschaftlicher Bedingung heraus, als eine Pflanze, die keines spezifi- schen Erdreichs bedarf: darum gehört er, wesentlich und unfreiwillig, zu den Trägem des demokratischen Gedan- kens. Aber diese Herkunft verräth sich. Hat man seinen Blick etwas dafür eingeschult, an einem gelehrten Buche, einer wissenschaftlichen Abhandlung die intellektuelle Idiosynkrasie des Gelehrten – jeder Gelehrte hat eine solche – herauszuerkennen und auf der Tat zu ertappen, so wird man fast immer hinter ihr die „Vorgeschichte“ des Gelehrten, seine Familie, in Sonderheit deren Berufs- arten und Handwerke zu Gesicht bekommen. Wo das Gefühl zum Ausdruck kommt „das ist nunmehr bewie- sen, hiermit bin ich fertig“, da ist es gemeinhin der Vor- fahr im Blute und Instinkte des Gelehrten, welcher von seinem Gesichtswinkel aus die „gemachte Arbeit“ gut- heißt, – der Glaube an den Beweis ist nur ein Symptom davon, was in einem arbeitsamen Geschlechte von Alters her als „gute Arbeit“ angesehn worden ist. Ein Beispiel: die Söhne von Registratoren und Bureauschreibern jeder Art, deren Hauptaufgabe immer war, ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schubfächer zu vertheilen, über- haupt zu schematisiren, zeigen, falls sie Gelehrte werden, eine Vorneigung dafür, ein Problem beinahe damit für gelöst zu halten, daß sie es schematisirt haben. Es gibt Philosophen, welche im Grunde nur schematische Köpfe sind – ihnen ist das Formale des väterlichen Handwerks zum Inhalte geworden. Das Talent zu Klassifikationen, zu Kategorientafeln verräth etwas; man ist nicht unge-
straft das Kind seiner Eltern. Der Sohn eines Advokaten wird auch als Forscher ein Advokat sein müssen: er will mit seiner Sache in erster Rücksicht Recht behalten, in zweiter, vielleicht, recht haben. Die Söhne von protestan- tischen Geistlichen und Schullehrern erkennt man an der naiven Sicherheit, mit der sie als Gelehrte ihre Sache schon als bewiesen nehmen, wenn sie von ihnen eben erst nur herzhaft und mit Wärme vorgebracht worden ist: sie sind eben gründlich daran gewöhnt, daß man ihnen glaubt, – das gehörte bei ihren Vätern zum, „Handwerk“! Ein Jude, umgekehrt, ist, gemäß dem Geschäftskreis und der Vergangenheit seines Volks, gerade daran – daß man ihm glaubt – am wenigsten gewöhnt: man sehe sich darauf die jüdischen Gelehrten an, – sie alle halten große Stücke auf die Logik, das heißt auf das Erzwingen der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, daß sie mit ihr siegen müssen, selbst wo Rassen- und Klassen-Widerwille gegen sie vorhanden ist, wo man ihnen ungern glaubt. Nichts nämlich ist demokrati- scher als die Logik: sie kennt kein Ansehn der Person und nimmt auch die krummen Nasen für gerade. (Nebenbei bemerkt: Europa ist gerade in Hinsicht auf Logisirung, auf reinlichere Kopfgewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine beklagenswert deraisonnable Rasse, der man auch heute immer noch zuerst „den Kopf zu waschen“ hat. Überall, wo Juden zu Einfluß gekommen sind, haben sie ferner zu scheiden, schärfer zu folgern, heller und saube- rer zu schreiben gelehrt: ihre Aufgabe war es immer, ein Volk „zur raison“ zu bringen.)
1 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft
(«LA GAYA SCIENZA») in Kröners Taschenausgabe Band 74, 1941, Nummer 348, S 246 f.
Ausgegraben:
Friedrich Nietzsche
Die fröhliche Wissenschaft1
Ordnung der Wissenschaft 2014, ISSN 2197–9197
102 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2014), 101–102