Andreas Heldrich (1935–2007), 1979 bis 1982 Vorsitzen- der des Wissenschaftsrats und 1994 bis 2002 Rektor der LMU München wäre am 30. Januar 2015 80 Jahre alt geworden. Heldrich hat sich Zeit seines Lebens mit dem Verhältnis von Wissenschaftsfreiheit und Recht und des- sen praktischen Auswirkungen beschäftigt. Das heute im Wissenschaftszeitvertragsgesetz geregelte Hochschulbe- fristungsrecht geht maßgeblich auf seine Initiative zurück. Aber auch die zivilrechtlichen Implikationen der Wissenschaftsfreiheit haben ihn beschäftigt. So enthält sein 1987 vor Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe gehaltener Vortrag „Freiheit der Wissenschaft – Freiheit zum Irrtum? Haftung für Fehlleistungen in der For- schung“ ein ausführliches Kapitel zur zivilrechtlichen Haftung für Schäden durch wissenschaftliche Betäti- gung. Die dort angestellten Überlegungen sind heute so aktuell wie vor 28 Jahren.
Ergänzt um wenige Hinweise gibt OdW diese Über- legungen nachfolgend wieder. Auf den Abdruck des Fußnotenapparats wurde dabei verzichtet. Er kann in der Druckfassung des ganzen Vortrags in Heft 179 der Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karls- ruhe nachgelesen werden. Dem Verlag C. F. Müller ist für die Erlaubnis zum Nachdruck zu danken.
Manfred Löwisch
Die zivilrechtliche Haftung für Schäden durch wissenschaftliche Betätigung
In den Grundrechtsvorschriften der Verfassung verkör- pert sich zugleich eine objektive Werteordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Berei- che des Rechts, mithin auch für das Privatrecht gilt. Eine solche Wertentscheidung enthält auch Art. 5 III GG. Sie wirkt auf das Privatrecht bei der Anwendung von Gene- ralklauseln und sonstiger auslegungsfähiger und ausfül- lungsbedürftigerBegriffeein.DiesemittelbareDrittwir- kung des Grundrechts i.S. der Rechtsprechung des Bun- desverfassungsgerichts erfaßt insbesondere das private Haftungsrecht. Die Bedrohung mit einer Schadenser- satz- oder Unterlassungspflicht hat eine freiheitsein- schränkende Wirkung. Bei der Anwendung haftungs- rechtlicher Vorschriften ist daher auch der Ausstrah- lungswirkung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit
Rechnung zu tragen. Einschränkungen der Freiheit der Forschung durch haftungsrechtliche Vorschriften sind nur insoweit statthaft, als sie zum Schutz anderer verfas- sungsrechtlich geschützter Güter, wie Menschenwürde, Leben oder Gesundheit, erforderlich sind. Darüber hin- aus besitzt dieses Grundrecht auch unmittelbare Bedeu- tung als Rechtfertigungsgrund. Die Frage einer Haftung für Fehlleistungen in der Forschung stellt sich zivilrecht- lich vor allem in zwei Zusammenhängen: zum einen bei Schädigungen im Verlauf des Arbeitsprozesses der For- schung selbst, zum anderen bei Schäden, die durch Bekanntgabe oder Verwendung von Forschungsergeb- nissen entstehen.
1. Haftung gegenüber Dritten bei Forschungsunfällen
In der modernen naturwissenschaftlichen Forschung gelangen Materialien, Verfahren und Technologien zum Einsatz, die ein nicht unerhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. Dies gilt für die Kernforschung ebenso wie für die bakteriologische Forschung, die Hochenergie- physik ebenso wie für die Chemie oder Radiologie. Es spricht für das Verantwortungsbewußtsein und den hohen Sicherheitsstandard der deutschen Wissenschaft, daß Unfälle in der Forschung anscheinend trotzdem außerordentlich selten sind. Wo sie dennoch einmal auf- treten, gelten die allgemeinen haftungsrechtlichen Grund- sätze. Die Freiheit der Wissenschaft gewährt dem For- scher insoweit keinerlei Privilegien. Auch darf er sich – wie das Bundesverfassungsgericht [BVerfGE 47, 327 (369)] bemerkt – „bei seiner Tätigkeit, insbesondere bei etwaigen Versuchen, nicht über die Rechte seiner Mit- bürger auf Leben, Gesundheit und Eigentum hinweg- setzten“. Dabei gelten keinerlei Unterschiede zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung, zwischen HochschulEforschung und Industriefor- schung. Soweit durch einen Forschungsunfall die Rechts- güter Dritter betroffen werden, die am Forschungsvor- gang selbst nicht beteiligt sind (sog. Außenunfälle), wird Ersatz nach den allgemeinen deliktsrechtlichen Vor- schriften geschuldet. Bei der Begründung einer Scha- densersatzpflicht nach § 823 I BGB wird es in der Regel auf die Verletzung einer Verkehrspflicht ankommen. Bei deren Konkretisierung ist ein strenger Maßstab anzule- gen. Gerade von einer Forschungsanlage ist zu erwarten, daß sie sich an den durch den gegenwärtigen Stand von Wissenschaft und Technik gekennzeichneten Sicher-
Andreas Heldrich †
Die zivilrechtliche Haftung für Schäden durch wissenschaftliche Betätigung
Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
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heitsstandard hält. Die Verkehrssicherungspflicht trifft dabei grundsätzlich nicht den einzelnen Wissenschaftler, sondern den Unternehmer, der die Forschungsanlage betreibt, bei einem Hochschulinstitut also beispielsweise die Universität.
Ein Beispiel aus der Rechtsprechung bietet ein Urteil des OLG Frankfurt vom 28.2.1985 [NJW 1985, 2425 ff.]. Das Institut für Bienenkunde einer hessischen Universi- tät hatte seit 1969 zu Versuchszwecken Bienenvölker aus Indien, Afghanistan und Pakistan importiert. Im Früh- jahr 1977 stellte das Institut fest, daß auf seinen Bienen- ständen eine parasitäre Milbenart aufgetaucht war, wie sie bei den asiatischen Bienenvölkern häufig vorkommt. Die Milbe löste eine Bienenseuche aus, die sog. Varroa- tose. Wenig später wurde der Milbenbefall auch bei den Bienenvölkern eines Imkers festgestellt, dessen Bienen- haus in unmittelbarer Nähe des Universitätsinstituts stand. Sämtliche Bienenvölker des Imkers fielen der Var- roatose zum Opfer. Das Gericht gab der Schadensersatz- klage des Imkers gegen das Land Hessen statt, weil im Institut für Bienenkunde die mit der Bienenhaltung ver- bundene Verkehrssicherungspflicht schuldhaft verletzt worden sei. Zwar sei die Varroatose als Bienenseuche bis 1977 in Deutschland selbst in Fachkreisen nicht bekannt gewesen. Trotzdem sei vor dem Import der Bienen eine Untersuchung auf den Milbenbefall geboten gewesen, weil bei der asiatischen Bienenart Apis cerana mit dieser Bienenseuche immer zu rechnen sei und eine Übertra- gung auf die in Deutschland heimische Apis mellifera naheliegend gewesen sei. Ein wissenschaftliches Institut handele fahrlässig, wenn es sich beim Import eines Tie- res nicht darüber informiere, inwieweit das Tier zum In- fektionsherd für die inländischen Tiere werden könne. Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem In- verkehrbringen der aus Asien importierten Bienen und der bei den Bienenvölkern des Imkers ausgebrochenen Varroatose spreche der Beweis des ersten Anscheins.
Der Fall ist meines Erachtens richtig entscheiden [sic]. Der eingetretene Schaden hielt sich zum Glück für die Universität und Staat in bescheidenen Grenzen. Der Kläger machte insgesamt eine Ersatzforderung von 25 000,- DM geltend. Sehr viel gravierender erscheinen die Risiken, die mit gentechnologischen Experimenten verbunden sind. Indessen ist auch hier die Gefahr zu- nächst überschätzt worden. Vor diesem Hintergrund er- scheint die von der Enquete-Kommission des 10. Deut- schen Bundestages empfohlene Einführung einer Ge- fährdungshaftung für bestimmte Anwendungsbereiche der Gentechnologie nicht ganz überzeugend [Sie ist al- lerdings mit § 32 Abs. 1 GenTG v. 20.6.1990 eingeführt worden; s. dazu Luttermann, Gentechnik und zivilrecht- liches Haftungssystem, JZ 1998, 174 ff]. Die von der Bun-
desregierung beschlossenen „Richtlinien zum Schutz von Gefahren durch in-vitro neukombinierte Nuklein- säuren“ i. d. F. vom 28.5.1986 reichen als Konkretisierung von Verkehrspflichten für die Begründung einer delikti- schen Schadensersatzpflicht aus. Da die Richtlinien den Stand von Wissenschaft und Technik widerspiegeln, prä- gen sie den haftungsrechtlich maßgebenden Sicherheits- standard auch in den von ihrem Geltungsbereich nicht unmittelbar erfaßten Forschungseinrichtungen. Das ver- bleibende Restrisiko bei Einhaltung der Richtlinien ist anscheinend sehr gering. Deshalb besteht auch kein überzeugendes Bedürfnis für die ein wenig lächerlich anmutende Anwendung der Tierhalterhaftung nach § 833 S. 1 BGB auf laborgezüchtete Mikroorganismen. Sie könnte in der Konsequenz auch den gewöhnlichen Schnupfen-Patienten aus juristischer Sicht zum Tierhal- ter emporstilisieren.
2. Haftung gegenüber Versuchspersonen
Das Risiko außenstehender Dritter sind die Gefahren, die bei Experimenten für das Personal der Forschungseinrich- tungen selbst oder für mitwirkende Versuchspersonen erwachsen können. Indessen reicht das Instrumentarium der vertraglichen und deliktischen Haftungsauflösung der hier auftretenden Probleme grundsätzlich aus. Einige Besonderhei- ten gelten für den Schutz von Versuchspersonen.
Art. 5 Abs. 3 GG gewährt dem Forschungsstand tatbe- standsmäßig nicht das Recht, die Rechtsgüter Dritter zu Forschungszwecken in Anspruch zu nehmen. Die Freiheit der Forschung verleiht dem einzelnen Forscher nicht etwa das Privileg, nach Belieben andere Menschen in sein Ver- suchsprogramm einzuspannen. Man mag vielmehr im Gegenteil aus dem im Grundgesetz verbürgten Persön- lichkeitsschutz das Recht ableiten, von fremden For- schungsgelüsten verschont zu bleiben, also nicht ohne Einwilligung „beforscht“ zu werden. Bedeutung gewinnt dieses der Wissenschaftsfreiheit „widerstehende“ Per- sönlichkeitsrecht vor allem bei so genannten Humanex- perimenten.
Ihre Unentbehrlichkeit für die medizinische For- schung ist evident. Über die damit verbundenen Proble- me hat Deutsch vor zehn Jahren von dieser Gesellschaft referiert [Deutsch, Medizin und Forschung vor Gericht, Heft 135 der Schriftenreihe der juristischen Studienge- sellschaft 1978]. Sie seien deshalb hier nur kurz berührt.
Klinische Forschung am Menschen verlässt den gesi- cherten Boden des gegenwärtigen Erkenntnisstandes der Wissenschaft und stößt in medizinisches Neuland vor. Dabei unterscheidet man das der Krankenbehandlung im Einzelfall dienende therapeutische Experiment, z.B. eine Pionierleistung in der Chirurgie wie die erste Herz- transplantation, von dem zu Forschungszwecken vorge-
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nommenen rein wissenschaftlichen Experiment, wel- ches der Versuchspersonen selbst keinen unmittelbaren Vorteil bringen kann. Diese Unterscheidung liegt auch der Regelung der klinischen Prüfung von Medikamen- ten nach §§ 40, 41 des Partner Arzneimittelgesetzes zu- grunde. Sowohl der therapeutische als auch der rein wis- senschaftliche Versuch am Menschen setzt grundsätzlich eine auf ausreichender Aufklärung beruhende Einwilli- gung (informed consent) des Patienten bzw. Probanden voraus. Allerdings werden an den Inhalt der Aufklärung und die Notwendigkeit der Einwilligung beim Heilver- such geringere Anforderungen gestellt als bei einem Ex- periment zu Forschungszwecken. Jedenfalls bei diesem schuldet der Forscher seiner Versuchspersonen aber vollständige Aufklärung über Anlage, Durchführung, Zweck und mögliche Risiken des geplanten Versuchs. Diese Aufklärungspflicht gerät oft in Konflikt mit den Bedürfnissen der medizinischen Forschung. Um den Er- folg einer neuen Behandlungsmethode zuverlässig ab- schätzen zu können, muss einer Versuchsgruppe eine Kontrollgruppe von Patienten und Probanden gegen- übergestellt werden, welche unbehandelt bleibt oder an- ders therapiert wird.
Die Aufteilung der Betroffenen auf die beiden Grup- pen muss dabei möglichst dem Zufall überlassen bleiben (sog. Randomisation). Das Interesse der Forschung ge- bietet es, die Teilnehmer vor und während des Experi- ments darüber im Unklaren zu lassen, ob sie der Ver- suchsgruppe oder der Kontrollgruppe angehören (sog. Blindversuch). Die Aufklärung der Versuchspersonen muss sich aber gerade auch auf diese Begleitumstände des Experiments erstrecken. Handelt es sich um einen Ver- such an Kranken, so werden diese das Ansinnen, ihre Be- handlung dem Zufall zu überlassen, zumindest „als bedrü- ckende Zumutung empfinden“. Die Bereitschaft zur Mit- wirkung wird jedenfalls durch diese Aufklärung nicht ge- fördert. Für den Forscher ergibt sich daraus die Versuchung, den Patienten nähere Einzelheiten über den geplanten Ver- lauf des Experiments zu verschweigen. Die auf unvollstän- diger Information beruhende Einwilligung ist jedoch feh- lerhaft. Eine auf dieser Grundlage durchgeführte ärztliche Behandlung ist grundsätzlich rechtswidrig, auch wenn sie selbst kunstgerecht und fehlerfrei vorgenommen wird. Das Selbstbestimmungsrecht der Versuchsperso- nen hat also unbedingten Vorrang vor dem Erkennt- nisstreben des Forschers. Erleidet der unzureichend in- formierte Proband durch die Teilnahme an dem Experi- ment einen Gesundheitsschaden, so ist der Versuchslei- ter schadensersatzpflichtig nach § 823 Abs. 1 BGB. Dabei macht es m.E. keinen Unterschied, ob der Gesundheits- schaden auf die Behandlung im Rahmen der Versuchs- gruppe des Experiments zurückzuführen ist oder etwa
auch das Unterbleiben einer Erfolg versprechenden an- deren Behandlung im Rahmen der Kontrollgruppe.
Entsprechende Regeln gelten auch für die Forschung an Menschen in anderen Humanwissenschaften, insbe- sondere der Psychologie oder Soziologie. Ein berüchtig- tes Beispiel für ein solches Experiment ist die Gehor- sams-Studie des amerikanischen Sozialpsychologen Mil- gram. Ziel der Versuchsreihe war es, die Bereitschaft zu Befolgung verbrecherischer Befehle zu testen. Dabei be- rief sich Milgram ausdrücklich auf die auf Befehl began- genen Untaten des NS-Regimes. Die wirkliche Zielset- zung des Experiments wurde den Versuchspersonen ver- heimlicht. Ihnen wurde nur mitgeteilt, daß es sich um ein Lernexperiment handele, bei welchem die „Schüler“ mit Stromschlägen von zunehmender Stärke für falsche Antworten bestraft werden sollten. Es war Aufgabe der Versuchspersonen, diese Strafe zu verfolgen. Obwohl der angebliche Schüler vor Schmerz schrie, protestierte und den sofortigen Abbruch des Experiments verlangte, be- folgten etwa zwei Drittel der Versuchspersonen die ih- nen erteilten Befehle auch über die Grenze von 220 Volt hinaus, bei welcher Sie Lebensgefahr für das „Opfer“ an- nehmen mussten. Erst nach Beendigung des Versuches wurden die Probanden darüber aufgeklärt daß die Reak- tionen des „Opfers“ nur gespielt waren und in Wirklich- keit keine Stromschläge erfolgt waren.
Das Milgram-Experiment macht ein gravierendes Problem derartiger Versuche deutlich: Ihr wissenschaft- liches Gelingen setzt bis zu einem gewissen Grad die Täuschung der Versuchspersonen voraus. Würde diese nämlich die Versuchssituation voll durchschauen, so würde sie sich bewusst oder unbewusst darauf einstellen und damit den Erfolg des Experiments zunichte ma- chen. Dieses wissenschaftliche Interesse kann aber aus juristischer Sicht die Täuschung nicht legitimieren. Das Grundrecht der Forschungsfreiheit bietet dazu keine Handhabe, weil es schon tatbestandsmäßig nicht die Be- fugnis gewährt, andere Menschen als Forschungsobjekt zu benützen. Die Einwilligung der Versuchspersonen zur Mitwirkung an dem geplanten Experiment ist daher grundsätzlich unverzichtbar. Die Tragweite dieser Ein- willigung hängt aber von der Aufklärung über die Anla- ge des Experiments – einschließlich der Tatsache einer dabei geplanten Täuschung der Teilnehmer als solcher – ab. Die Aufklärung ist nur dann entbehrlich, wenn die Versuchsperson wirksam darauf verzichtet hat. Die De- mütigung der Probanden durch den Versuchsleiter im Milgram-Experiment war deshalb nicht von einer Ein- willigung gedeckt.
Das Fehlen einer wirksamen Einwilligung ist aller- dings so lange unerheblich, als der Versuch Rechtsgüter der Versuchspersonen nicht berührt. So braucht etwa bei
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einer demoskopischen Umfrage der Befragte nicht not- wendig im einzelnen über ihre Zielsetzung aufgeklärt zu werden. Mit der bloßen freiwilligen Beantwortung der gestellten Fragen werden seine Persönlichkeitsrechte je- denfalls dann nicht tangiert, wenn die Anonymität des Befragten gewährleistet ist. Soweit Forschung am Men- schen aber – wie im Milgram-Experiment – durch Er- niedrigung der Versuchspersonen die Menschenwürde angreift oder in unzulässiger Weise in die Privat- oder Intimsphäre der Probanden eindringt, verletzt sie deren allgemeines Persönlichkeitsrecht. Bei Fehlen einer recht- fertigenden Einwilligung, d.h. insbesondere bei unzurei- chender Aufklärung, ergibt sich daraus eine deliktische Schadensersatzpflicht, die bei schwerem Verschulden oder erheblicher Beeinträchtigung ein Schmerzensgeld einschließen kann.
Forschung am Menschen, die durch Täuschung von Versuchspersonen betrieben wird, birkt daher aus zivil- rechtlicher Sicht erhebliche Risiken.
3. Haftung aus der Bekanntgabe von Forschungsergebnissen
Das Schadenspotenzial im Arbeitsprozeß der Forschung wirkt verschwindend gering im Vergleich mit den Gefah- ren, die von den Arbeitsergebnissen der Forschung ausge- hen können. Die Erkenntnisse der Wissenschaft dienen nicht notwendig dem Nutzen der Gesellschaft. Verschiede- ne Anwendungsmöglichkeiten des naturwissenschaftlich- technischen Fortschritts bedrohen heute das Überleben der zivilisierten Menschheit. Oder um ein vergleichsweise harmloses Beispiel zu wählen – eine publikumswirksa- me soziologische Aufklärung hat in den letzten 20 Jah- ren die Wertordnung unserer Gesellschaft und die integ- rierende Kraft ihrer Institutionen nachhaltig erschüttert. „Risiken“ dieser Art sind in der Freiheit der Wissen- schaft notwendig mit angelegt.
a) Ausstrahlungen des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit
Zur grundgesetzlich verbürgten Freiheit der Forschung gehört auch und gerade die Freiheit der Weitergabe und Verbreitung des Forschungsergebnisses, gleichgültig ob es vom sozialen Standpunkt erwünscht oder uner- wünscht erscheint. Würde ein Wissenschaftler bei seiner Arbeit etwa zu dem Schluss kommen, daß zwischen Männern und Frauen genetisch bedingte Begabungsun- terschiede bestehen, so dürfte er diese Befunde veröf- fentlichen, auch wenn er die Verwirklichung der Gleich- berechtigung der Geschlechter erschwert. Das Privileg der Forschungsfreiheit unterscheidet auch nicht zwi- schen richtigen und unrichtigen Erkenntnissen. Wird das bekanntgegebene Forschungsergebnis alsbald von
anderen widerlegt, so bleibt es auch in der Rückschau von der Wissenschaftsfreiheit gedeckt. Diese garantiert im Prinzip auf die Freiheit des Irrtums.
Ebenso wie die Forschungsarbeit als solche kann aber auch die Verbreitung eines Forschungsergebnisses aus zivilrechtlicher Sicht einen haftungsbegründenden Tat- bestand bilden, wenn sie verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter Dritter verletzt. Die Grenze zwischen dem Grundrecht der Forschungsfreiheit und den mit ihm kollidierenden Verfassungswerten, d.h. die Grenze zwi- schen Haftungsfreiheit und Haftbarkeit, ist dabei jeweils durch Güterabwägung im Einzelfall zu bestimmen [hier- zu verweist Heldrich auf die in seinem Vortrag vorange- henden Ausführungen zur Verfassungsgarantie der Wis- senschaftsfreiheit und ihrer Schranken]. Dennoch lassen sich einige allgemeine Regeln zur Lösung der denkbaren Konflikte entwickeln.
b) Haftungsfreiheit bei lege artis gewonnenen Erkenntnissen
Die Bekanntgabe eines Forschungsergebnisses kann als solche grundsätzlich keine Haftungsfolge auslösen, wenn es in Übereinstimmung mit denjenigen Standards erar- beitet worden ist, die derzeit in der wissenschaftlichen Fachwelt anerkannt werden. Diese internen Standards der jeweiligen „scientific community“ sind naturgemäß von Fach zu Fach verschieden. Es läßt sich aber keine entwickel- te Wissenschaft denken, in welcher nicht wenigstens ein Grundkonsens über den bereits erreichten Stand der Erkenntnis und die – möglicherweise vielfältigen – Metho- den seiner Weiterentwicklung besteht. Auf dieser Grundla- ge „lege artis“ gewonnene Forschungsergebnisse können grundsätzlich auch dann ohne Haftungsrisiko verbreitet werden, wenn sie verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen Dritter beeinträchtigen. So darf etwa eine zeitgeschichtliche Untersuchung auch noch ein außerordentlich unerfreuliches Charakterbild eines noch lebenden oder jüngst verstorbenen Politikers zeichnen, wenn der Verfasser die derzeit zugänglichen Quellen unparteiisch und gewissenhaft ausgewertet hat und seine Analyse nach Konzeption, Methode und Formulierung den wissenschaftlichen „Zunftregeln“ entspricht. Die Frei- heit der Verbreitung einer diesem Standard genügenden wissenschaftlichen Erkenntnis besitzt den Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz des Betroffenen. Zwar hat das Bun- desverfassungsgericht in der bekannten Mephisto-Ent- scheidung [BVerfGE 30, 173 ff.] einen ähnlichen Konflikt zwischen der Freiheit der Kunst und dem verfassungsrecht- lich geschützten Persönlichkeitsbereich im Ergebnis zugunsten des letzteren entschieden. Die Begründung stellt jedoch ganz klar auf die Umstände des Einzelfalls ab, d.h. auf die Beurteilung eines Werks der erzählenden Kunst,
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das an Vorgänge der historischen Wirklichkeit anknüpft und dabei ein negativ-verfälschtes Porträt der dargestell- ten Person zeichnet. Zwar genießt auch eine solche „Schmähschrift in Romanform“ den Schutz der Kunts- freiheit gem Art. 5 III GG. Bei der Abwägung zwischen diesem Grundrecht und der Unverletzlichkeit der Men- schenwürde gem. Art. 1 I GG hat das Gericht jedoch dem besonderen Charakter eines nicht hinlänglich verfrem- deten Schlüsselromans Rechnung getragen. Ein „ten- denziöses“ Kunstwerk – so lässt sich daraus folgern – genießt im Konflikt mit anderen verfassungsrechtlichen garantierten Rechtsgütern geringeren Schutz als ein „rei- nes“ Kunstwerk. Diese Unterscheidung entspricht in den Grundzügen auch der hier vorgeschlagenen Wertung, die ein den Standards der wissenschaftlichen Fachwelt entsprechendes Forschungsergebnis höher stellt als andere wissenschaftliche Leistungen.
Der besondere Schutz lege artis gewonnener wissen- schaftlicher Erkenntnisse besteht unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch sind. Soweit sich ein Urteil darüber überhaupt fällen läßt – was in den Geisteswissenschaften problematisch erscheint – ist es häufig nur in der Rück- schau aus der Perspektive einer fortgeschrittenen Wis- senschaft möglich. Entscheidend ist deshalb allein, daß das Forschungsergebnis unparteiisch, in dem Bemühen um objektive Richtigkeit und in Übereinstimmung mit dem derzeitigen Stand der Wissenschaft erarbeitet wor- den ist. Auch die Bekanntgabe eines auf dieser Grundla- ge gewonnenen, zunächst nicht als solchen erkennbaren wissenschaftlichen Irrtums ist daher uneingeschränkt von der Forschungsfreiheit gedeckt. Unabhängig von den spezifischen Voraussetzungen deliktischer Scha- densersatz- oder Unterlassungsansprüche können sich keinerlei Haftungsfolgen daraus ergeben.
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat eine Senatskommission zur Prüfung gesundheitlicher Arbeitsstoffe eingerichtet, die jährlich eine Liste „Maximale Arbeitsplatzkonzentratio- nen und Biologische Arbeitsstofftoleranzwerte“ veröf- fentlicht. Diese sog. MAK-Werte-Liste hat erhebliche praktische Bedeutung für die Rechtssetzung im Bereich des Arbeitsschutzes. Sie wird u.a. vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in die von ihm erlassenen „Technischen Regeln für gefährliche Arbeitsstoffe (TRgA 900)“ übernommen. In der MAK-Werte-Liste 1985 wer- den erstmals Buchenholzstaub und Eichenholzstaub als eindeutig krebserregende Arbeitsstoffe ausgewiesen mit Hinweis: „Verursachendes krebserregendes Prinzip der- zeit noch nicht identifiziert“. Gegen diese Einstufung wendet sich eine Firma, die Holzgranulate und Hpöz- stäube herstellt und einen Marktanteil von etwa 60 % be- sitzt. Sie befürchtet erhebliche Absatzeinbußen und
macht eine Verletzung ihrer Grundrechte auf freie Be- rufsausübung und am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geltend.
Aus zivilrechtlicher Sicht erscheint zweifelhaft, ob ein einzelnes Unternehmen überhaupt aus diesem Sachver- halt einen Unterlassungs- oder Schadensersatzanspruch gegen die Deutsche Forschungsgemeinschaft als Träger der betreffenden Senatskommission herleiten kann. Zwar ist die Aufstellung und Veröffentlichung der MAK- Werte-Liste ein dem Privatrecht unterliegender Vor- gang. Die Einstufung bestimmter Stoffe als krebserzeu- gend ist aber kein unmittelbarer, auf den Betrieb eines einzelnen Unternehmens bezogener Eingriff. Eine Ver- letzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als sonstiges Recht i.S. von § 823 I BGB kommt daher nicht in Betracht. Auch für die Anwen- dung von § 824 BGB wäre erforderlich, daß die behaup- tete oder verbreitete (unwahre) Tatsache sich unmittel- bar mit diesem Unternehmen befasst oder doch in enger Beziehung zu seinen Verhältnissen, seiner Betätigung oder seiner gewerblichen Leistung steht. Diese Voraus- setzung scheint hier trotz des beachtlichen Marktanteils des betreffenden Unternehmens der holzverarbeitenden Industrie nicht erfüllt. Unabhängig davon kommt ein zi- vilrechtlicher Schadensersatz- oder Unterlassungsan- spruch aber schon deshalb nicht in Frage, weil – wie hier unterstellt werden darf – die Empfehlungen der Senats- kommission der DFG zur Prüfung gesundheitsschädli- cher Arbeitsstoffe nach dem derzeitigen Standards erar- beitet werden. Die Bekanntgabe der auf dieser Basis ge- wonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse ist unbe- dingtvomPrivilegderForschungsfreiheitgedeckt,selbst wenn sie schädliche Rückwirkungen auf Dritte hat. Aus diesem Grund müßte eine Haftung zum Beispiel auch dann entfallen, wenn ein Arbeitnehmer auf Grund eines irrtümlich zu hoch angesetzten MAK-Wertes durch Schadstoff-Exposition einen gesundheitlichen Schaden erleidet.
c) Verpflichtung zur Berichtigung eines anerkannten Irrtums
Eine andere Beurteilung wäre allerdings geboten, wenn ein nachträglich als falsch erkanntes Forschungsergebnis nicht alsbald nach Aufdeckung des Irrtums korrigiert wird. Zwar mag seine Bekanntgabe ursprünglich vom Grundrecht der Forschungsfreiheit gedeckt gewesen sein. Das daraus abgeleitete Haftungsprivileg entfällt aber mit der Erkenntnis des Irrtums. Wird die unrichti- ge Erkenntnis nicht umgehend in angemessener Form berichtigt, so setzt sich derjenige, der sie bekanntgege- ben hat, bei Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen des negatorischen Rechtsgüterschutzes einem Unterlas-
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sungsanspruch aus. Auch wäre er gegebenenfalls für den aus der Aufrechterhaltung des Irrtums entstandenen Schaden nach den Vorschriften des Deliktsrechts ersatz- pflichtig. Die Richtigstellung eines Dritten bekannt gewordenen Irrtums gehört zu den selbstverständlichen Grundsätzen der wissenschaftlichen Arbeit. Wer sie unterläßt, befindet sich nicht mehr im Einklang mit dem Arbeitsethos der wissenschaftlichen Arbeit. Verletzt er dadurch verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositio- nen anderer, so wiegen diese schwerer als die Garantie der Wissenschaftsfreiheit. Für den entdeckten Irrtum gelten die gleichen Regeln wie für die wissenschaftliche Erkenntnis, die fehlerhaft erarbeitet oder in unrichtiger Form mitgeteilt wird.
d) Haftungsprivileg bei leichter Fahrlässigkeit
Derartige fehlerhafte Erkenntnisse, deren Gewinnung oder Präsentation nicht den wissenschaftlichen Stan- dards entspricht, sind geläufige Begleiterscheinungen der Wissenschaft. Sie können z.B. auf Denkfehlern, ungenügender Datenbasis, methodischen Mängeln, nicht ausreichenden Literaturstudien oder ungenauer Formulierung beruhen. Die tatsächliche Bedeutung von Fehlerquellen dieser Art ist keineswegs gering. For- schung wird heute nicht mehr von einigen wenigen hochqualifizierten Gelehrten betrieben. Mit der breiten Vermehrung der Personalstellen im Wissenschaftsbe- reich dürfte auch die Zahl der nicht ausreichend talen- tierten oder engagierten Forscher gestiegen sein. Dabei ist zu beachten, daß die Teilhabe an der Forschung inzwischen zum Statussymbol geworden ist, welches schon aus Prestigebedürfnis angestrebt wird. Die anscheinend unaufhaltsame Einebnung der Unterschie- de zwischen Aufgabenstellung von Universitäten und Fachhochschulen gibt dafür ein beredtes Beispiel. Hinzu kommt die Flut von Dissertationen, welche die Akade- mikerschwemme mit sich bringt. Aber auch die Profilie- rungsbedürfnisse der eigentlichen Wissenschaftler aller Berufs- und Altersgruppen sorgen für eine wachsende Zahl oft eilig hingeworfener Publikationen, deren Quali- tät nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Bei realistischer Betrachtung des modernen Wissenschaftsbetriebs ist also auch in der Forschung keineswegs alles Gold, was glänzt.
(1) Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in- wieweit „dubiose“ Forschungsergebnisse zu einer Haf- tung für den daraus entstehenden Schaden führen kön- nen. Zwar gilt die Garantie der Wissenschaftsfreiheit un- abhängig von der Qualität der jeweiligen Forschung. Das Grundrecht schützt das einfältige Bemühen ebenso wie die anspruchsvollste Grundlagenforschung. Bei einer
Kollision mit anderen verfassungsrechtlich geschützten WertensindjedochDifferenzierungenstatthaft,dieauch der Qualität der Forschung Rechnung tragen.
Ein bekanntes Beispiel ist die Entscheidung des Bun- desgerichtshofs vom 7.7.1970 [BGH JZ 1971, 63ff. mit An- merkung von Deutsch] zu Haftung des Verlegers für die Folgen eines Druckfehlers in einem medizinischen Lehr- buch. In einem Werk über die „Differentialdiagnose in- nerer Krankheiten“ wurde die Konzentration der Koch- salzlösung, die beim sog. Carter-Robbins-Test infun- diert wird, statt richtig mit 2,5 % versehentlich mit 25 % angegeben. Ein junger Assistenzarzt hielt sich buchsta- bengetreu an diese falsche Anleitung. Die Infusion der hochprozentigen Lösung führte fast zum Tod des Patien- ten. Eine Schadensersatzklage gegen den Verleger des Buches hat der Bundesgerichtshof mit der Begründung abgewiesen, daß dieser die Korrektur auf Druckfehler ohne Verstoß gegen eine Verkehrssicherungspflicht – wie im Verlagswesen allgemein üblich – dem Autor überlassen durfte. Der Verfasser führe die Korrekturtä- tigkeit auch nicht als Verrichtungsgehilfe des Verlegers i.S. von § 831 BGB aus. Die Anleitung zur intravenösen Infusion einer Kochsalzlösung betreffe im übrigen keine besonders gefährliche oder ungewöhnliche ärztliche Maßnahme. Es habe deshalb für den Verleger auch kein Anlass zu außerordentlichen Vorkehrungen zur Vermei- dung von Druckfehlern bestanden.
Auf die Frage einer etwaigen Haftung des Autors, der den Druckfehler übersehen hat, geht das Urteil nicht ein, weil dieser nicht verklagt worden war. Immerhin be- merkt das Gericht, das Auftreten eines einzelnen Druck- fehlers gestatte nicht den Schluss, daß der für die Kor- rektur Verantwortliche die im Verkehr erforderliche Sorgfalt vernachlässigt habe. Eine Häufung von Druck- fehlern im Lehrbuch des Verfassers werde von der Revi- sion nicht behauptet. Hieraus wird man wohl den Schluss ziehen dürfen, daß auch nach Ansicht des Senats den Autor, der viele Druckfehler übersieht, ein Verschulden trifft. Was aber für vermeidbare Druckfehler gilt, muss füglich auch für vermeidbare inhaltliche Fehler gelten.
Spätestens an dieser Stelle stockt dem Verfasser wis- senschaftlicher Publikationen der Atem. Soll der Bear- beiter eines Praxiskommentars zum BGB, der exentri- sche Ansichten vertritt, eine neue höchstrichterliche Entscheidung übersieht oder phantasievoll Fehlzitat an Fehlzitat reiht, etwa für die Kosten des verlorenen Pro- zesses aufkommen müssen, der von einem Rechtsanwalt im Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Erläuterungen angestrengt wurde? Soll der gescheiterte Examenskandi- dat vom Verfasser eines in vieler Hinsicht überholten Lehrbuchs Schadensersatz verlangen können, weil sich
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dieser Unglücksrabe mit diesem Buch auf die Prüfung vorbereitet hat? Die bloße entfernte Möglichkeit einer solchen fast unübersehbaren Haftung könnte den wis- senschaftlichen Publikationsbetrieb nahezu zum Erlie- gen bringen. Ihre Voraussetzungen seien deshalb im fol- genden etwas genauer untersucht.
(2) Da eine Vertragsbeziehung zwischen Autor und Leser in der Regel ausscheiden dürfte, kommt nur eine deliktische Haftung in Betracht. Sie lässt sich schwerlich bereits mit dem Argument verneinen, den Verfasser tref- fe keine Verkehrspflicht, seine Leser oder deren Ver- tragspartner (z.B. die Patienten oder Mandanten) vor mittelbaren Schäden auf Grund fehlerhafter Informatio- nen zu bewahren. Wissenschaftliche Werke sind potenti- ell eine Gefahrenquelle für Dritte, weil sie beim Leser ein besonderes Vertrauen in ihre inhaltliche Richtigkeit er- wecken. Dieser wird gewöhnlich davon ausgehen, die betreffende Publikation entspreche den für das jeweilige Fachgebiet geltenden wissenschaftlichen Standards, be- ruhe also insbesondere auf dem aktuellen Stand der Wis- senschaft. Allein der Autor hat es auch in der Hand, den von ihm geschaffenen „Gefahrenherd“ zu kontrollieren, d.h. Abweichungen von diesen Standards soweit möglich zu vermeiden.
Auch das Erfordernis des adäquaten Kausalzusam- menhangs verspricht in der Regel keinen Haftungsaus- schluss. Zwar wendet sich ein wissenschaftliches Werk an einen sachkundigen Leserkreis, von dem erwartet werden darf, daß er seinen Inhalt nicht unbesehen über- nimmt. Es liegt aber keineswegs außerhalb aller Wahr- scheinlichkeit, daß zahlreiche Benutzer im „blinden Ver- trauen“ auf seine Richtigkeit handeln. Das unkritische Befolgen selbst offenkundig falscher Auffassungen ist zwar ein schuldhaftes Fehlverhalten des Lesers. So hätte in dem vom BGH entschiedenen Fall der behandelnde Arzt ohne weiteres die Unverträglichkeit von fast 160g binnen kurzer Zeit in den Blutkreislauf verbrachten Kochsalzes erkennen müssen. Ihn trifft deshalb ein er- hebliches Verschulden. Dennoch wird man nicht sagen können, daß eine solche sklavische Befolgung der in ei- nem anerkannten Lehrbuch enthaltenen Anweisung nach der Lebenserwartung vernünftigerweise nicht mehr in Betracht gezogen werden dürfte. Ebenso wird man zwar vom Anwalt bei der Beratung eines Mandan- ten verlangen können, daß er sich „in wesentlichen Rechtsfragen nicht mit der Fundstellenangabe im Pa- landt begnügt, sondern die angeführte BGH-Entschei- dung selbst überprüft“. Es erscheint aber immerhin zwei- felhaft, ob das unkritische Vertrauen auf den Kommen- tar ein so ungewöhnlich grobes Fehlverhalten darstellt, daß der adäquate Kausalzusammenhang unterbrochen wird. Der als Nebentäter mithaftende Assistenzarzt oder
Rechtsanwalt ist aber für den wissenschaftlichen Autor, der sich einen Fehltritt geleistet hat, nur ein schwacher Trost. Lediglich das mitwirkende Verschulden des Be- nutzers, der den Schaden selbst erlitten hat, z.B. die allzu große Naivität des am schlechten Lehrbuch gescheiter- ten Examenskandidaten, stellt wenigstens die Reduktion der Ersatzpflicht in Aussicht. Auch von Haftungsbegren- zung nach dem Schutzzweck der Norm ist Abhilfe kaum zu erwarten. In der Regel wird der geltend gemachte Schaden innerhalb des Schutzbereichs der Verkehrs- pflicht liegen, deren Verletzung dem Autor vorgeworfen wird. Obgleich der Verstoß gegen diese Verkehrspflicht nicht ohne weiteres mit einer Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinn des objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs gleichgesetzt werden kann, wird in der Praxis aus dem einen gewöhnlich auch das andere folgen.
Wenigstens den juristischen Autor rettet am Ende zwar eine der Segnungen unseres Haftpflichtrechts: das Fehlen einer allgemeinen deliktsrechtlichen General- klausel. Die bloße fahrlässige Beeinträchtigung fremder Vermögensinteressen, wie etwa die irrtümliche Verlei- tung zur nutzlosen Aufwendung von Prozeßkosten, ist als solche grundsätzlich kein haftungsbegründender Tat- bestand nach §§ 823 ff. BGB. Canaris hat diese Entschei- dung des Gesetzgebers wegen ihrer freiheitsschützenden Wirkung zu Recht eine Tat genannt [Canaris, Schutzge- setzverkehrspflichten, FS Larenz II, 1983, S. 27, 36]. Sie ist jedoch heute nicht mehr unumstritten. Eine im Vordrin- gen befindliche neuere Auffassung will bei Verletzung bestimmter vermögensbezogener Verkehrspflichten eine deliktische Haftung unabhängig von den in § 823 I BGB normierten Tatbestanden eintreten lassen. Eine solche Schutzpflicht für fremdes Vermögen wird dabei u.a. aus der Verantwortung gegenüber demjenigen abgeleitet, der auf professionell oder informationell Überlegenen angewiesen ist. Auf dieser schiefen Bahn wäre auch für die juristische Literatur kein Halten.
Anderen Wissenschaften, deren Fehler zu einer Rechtsgutsverletzung i.S. von § 823 I BGB führen kön- nen, ist das Deliktsrecht ohnehin weniger wohl geson- nen. So käme für den Autor eines medizinischen Lehr- buchs durchaus eine Haftung wegen Gesundheitsverlet- zung in Betracht, wenn ein Patient nach seinen Anwei- sungen falsch behandelt wird. Der Verfasser einer Anleitung zur Statik-Berechnung beim Brückenbau, der in der Aufregung Sinus und Kosinus verwechselt hat, müsste mit noch weit schlimmeren Haftungsfolgen rech- nen, wenn die fehlerhaft errichtete Brücke bei ihrem Einsturz Mensch, Tier und Gefährt in die Tiefe reißt.
(3) Daß das Risiko einer derartigen Schadensersatz- pflicht empfindliche Rückwirkungen auf die Bereitschaft
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zur Veröffentlichung auch ganz einwandfreier wissen- schaftlicher Bücher und auf deren Inhalt haben würde, liegt auf der Hand. jedenfalls potentiell schadensstiften- de Aussagen würden soweit wie möglich ausgemerzt, kühne Thesen, die den gesicherten Boden des allgemein geteilten Erkenntnisstandes verlassen, müßte der Verfas- ser für sich behalten. Die lebendige Vielfalt eines reichen Publikationswesens mit ihren Licht- und Schattenseiten würde verkümmern. Eine solche Entwicklung wäre mit der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung für Frei- heit der Wissenschaft unvereinbar. Die Bedrohung mit einer Schadensersatzpflicht darf im Ergebnis nicht dazu führen, daß der freie Austausch von wissenschaftlicher Meinung, Kritik und Gegenmeinung behindert oder gar unterbrochen wird. Dieser Kommunikationsprozeß ist für den Fortschritt der Wissenschaft unentbehrlich. Bei der gebotenen Abwägung zwischen Grundrecht der For- schungsfreiheit und anderen verfassungsrechtlich ge- schützten Werten ist also der Wissenschaft auch eine ge- wisse Fehlertoleranz zuzubilligen. Wissenschaftliche Pu- blikationen richten sich — wie bereits erwähnt – an den sachkundigen und kritischen Leser. Sie wollen ihm eige- ne Überprüfung und Würdigung nicht einfach abneh- men. Die Bekanntgabe eines Forschungsergebnisses, das nach Begründung oder Inhalt nicht dem in der jeweili- gen Wissenschaft akzeptierten Standard entspricht, ist daher auch dann von der Wissenschaftsfreiheit gedeckt, wenn die Abweichung auf einfacher Fahrlässigkeit be- ruht. Eine Schädigung Dritter durch eine leicht fahrlässi- ge wissenschaftliche Fehlinformation ist nach Art. 5 III GG nicht rechtswidrig und begründet deshalb auch kei- ne deliktische Haftung.
(4) Das Haftungsprivileg des wissenschaftlichen Au- tors gilt auch für dessen Verleger. Dieser übt eine „unent- behrliche Mittlerfunktion“ zwischen dem Verfasser und seinen Lesern aus. Ohne ihn wäre die angemessene Ver- breitung von Forschung nicht möglich. Die Garantie der Wissenschaftsfreiheit erstreckt sich deshalb auch auf sei- ne Tätigkeit. Eine Einschränkung der Publikationsfrei- heit des wissenschaftlichen Verlegers über die für den Autor geltenden Haftungsschranken hinaus müßte not- wendig nachteilige Auswirkungen auf den Kommunika- tionsprozeß haben, welcher die Grundlage der Wissen- schaft bildet.
Zwar gelten die allgemeinen Regeln der Produzenten- haftung grundsätzlich auch für den Hersteller eines Bu- ches [zur Produkthaftung für Druckwerke inzwischen auch Foerste, Die Produkthaftung für Druckwerke, NJW 1991, 1433]. Den Verleger trifft damit im Prinzip eine Ver- kehrspflicht, durch geeignete Maßnahmen dafür zu sor- gen, daß die von ihm produzierten Bücher in gefahrlo- sem Zustand auf den Markt gelangen. Eine fahrlässige
Verletzung dieser Pflicht könnte zu einer deliktsrechtli- chen Haftung nicht nur gegenüber dem Benutzer, son- dern auch gegenüber einem mittelbar geschädigten Drit- ten führen. Indessen bezieht sich die Verkehrspflicht des Verlegers in erster Linie auf die einwandfreie Herstellung des Werkes, d.h. insbesondere auf die Vermeidung von Druckfehlern. Für die inhaltliche Richtigkeit zu sorgen, ist bei wissenschaftlichen Büchern Sache des Autors. Vom Verleger wird man insoweit neben der sorgfältigen Auswahl nur eine Überprüfung auf eklatante Fehler ver- langen können, die auch ohne besonderes Fachwissen auf dem betreffenden Gebiet sofort auffallen. Eine Ver- letzung dieser eingeschränkten Verkehrspflicht kann aber nach der hier vertretenen Auffassung nur dann zu einer deliktischen Haftung des Verlegers führen, wenn sie grob fahrlässig oder gar vorsätzlich erfolgt ist. Unter diesen Umständen wird dem Verleger der Entlastungs- beweis des fehlenden Verschuldens verhältnismäßig leicht gelingen. Dabei kommt ihm auch zustatten, daß sich die Herkunft eines Fehlers an Hand von Manu- skript, Druck- und Korrekturfahnen in der Regel einfach aufklären lässt.
Die Haftung des Buchproduzenten unterscheidet sich also nicht unerheblich von der des gewöhnlichen Warenherstellers. Dieser muß sich bei Konstruktion, Fa- brikation und Instruktion nach dem neueren Stand von Wissenschaft und Technik richten, soweit er objektiv er- kennbar und ermittelbar ist. Lediglich für Gefahren, die in der Entwicklungs- und Konstruktionsphase bei aller nach diesem Standard gebotenen Sorgfalt nicht erkenn- bar waren, wird – von der Gefährdungshaftung im Pharmabereich nach § 84 AMG abgesehen – grundsätz- lich nicht gehaftet. Auch für solche Entwicklungsrisiken trifft den Hersteller jedoch eine Haftung bei Verletzung seiner Produktbeobachtungspflicht. Sie gebietet ihm, „laufend den Fortgang der Entwicklung von Wissen- schaft und Technik auf dem einschlägigen Gebiet zu ver- folgen“. Bei Großunternehmen, die ihre Erzeugnisse in der ganzen Welt vertreiben, gehören dazu auch „die Ver- folgung der Ergebnisse wissenschaftlicher Kongresse und Fachveranstaltungen sowie die Auswertung des ge- samten internationalen Schrifttums“. Konsequenterwei- se wird dem Hersteller daher auch angesonnen, sich nicht auf den vermeintlich gesicherten Stand der Wis- senschaft allein zu verlassen, sondern auch abweichende Außenseiter- und Mindermeinungen zu berücksichti- gen, die wissenschaftlich vorgetragen und begründet werden.
Die daraus resultierenden Anforderungen sind sehr hoch. Sie kontrastieren auffällig zu der Großzügigkeit, mit welcher der Bundesgerichtshof die Haftung des Ver- legers eines medizinischen Lehrbuchs beurteilt hat. Bei
Heldrich · Haftung für Schäden durch wissenschaftliche Betätigung 1 6 3
ihr soll es – wie gesagt – auf ein paar Druckfehler hin oder her nicht ankommen. Dies läßt sich mit der Erwä- gung begründen, daß für den Produzenten eines wissen- schaftlichen Buches im Interesse der Forschungsfreiheit die gleiche Fehlertoleranz gelten muß wie für den Autor. Dagegen wird die Frage, ob und inwieweit sich der Wa- renhersteller bei seiner Haftung auf das auch für ihn gel- tende Grundrecht der Forschungsfreiheit berufen könn- te, soweit ersichtlich nicht einmal diskutiert. Dabei ist nicht zu bezweifeln, daß in der Entwicklung vieler hö- herwertiger Produkte eine Forschungskomponente ent- halten ist, deren freie Entfaltung durch das Haftungsrisi- ko empfindlich beeinträchtigt wird. Die für die EG- Richtlinie [gemeint ist die EG-Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG] ursprünglich vorgeschlagene Gefähr- dungshaftung für Entwicklungsrisiken ist daher wegen ihrer innovationshemmenden Wirkung nicht in die Tat umgesetzt worden. Aber auch die geltende verschulden- sunabhängigeRegelungderProduzentenhaftungerrich- tet für die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit in der Industrie gewisse Barrieren. Dennoch ist ihre Verfas- sungsmäßigkeit nicht zu bezweifeln. Bei einer kommer- ziell verflochtenen Forschung tritt das Grundrecht des Art. 5 III GG im Konflikt mit anderen verfassungsrecht- lich geschützten Werten, wie Leben, Gesundheit oder Ei- gentum der Verbraucher, zurück (vgl. oben IV. 4.). Der Haftungsausschluß für die auf einfacher Fahrlässigkeit beruhende Fehlinformation gilt nur für die von politi- schen, weltanschaulichen oder wirtschaftlichen Interes- sen unabhängige Forschung, wie sie etwa in Universitä- ten, Max-Planck-Instituten oder Großforschungsein- richtungen betrieben wird.
e) Haftung bei bewußter Fälschung
Für eine leichtfertige oder gar vorsätzliche Schädigung Dritter versagt im Übrigen auch dieses Haftungsprivileg. Insoweit bleibt es bei der Anwendung der allgemeinen deliktsrechtlichen Vorschriften. Die daraus erwachsen- den Haftungsrisiken sind mit der Freiheit der Wissen- schaft zu vereinbaren. Sie werden allenfalls mittelbar der Qualität der Forschung zugute kommen, weil sie krasse Abweichungen von den Regeln sorgfältiger, besonnener gewissenhafter wissenschaftlicher Arbeit verhindern helfen.
Daß solche dennoch immer wieder vorkommen, ist kein Geheimnis. Auch die Geschichte der Wissenschaft ist nicht frei von Skandalen. Ein Astronom erfindet sich
einen Komet, ein berühmter Psychologe belegt seine Theorie der Vererblichkeit der Intelligenz mit erdichte- ten Untersuchungen an eineiigen Zwillingen, ein Physi- ker entdeckt eine neue Art von Strahlung, die es gar nicht gibt und hält damit für ein Jahr die Fachwelt zum Narren, ein Krebsforscher beweist die Überwindung der Immunbarriere an Hand von weißen Mäusen mit her- vorragend angewachsenen schwarzen Hautimplantaten, die das Produkt eines Filzstifts waren. Besondere Be- rühmtheit hat in den USA vor einigen Jahren der Fall John Darsee erlangt, der als einer der erfolgreichsten Fäl- scher der Geschichte der Wissenschaft gilt. Im Alter von 31 Jahren war er an die renommierte Harvard Medical School berufen worden und konnte mit 33 Jahren bereits über hundert wissenschaftliche Publikationen auf expe- rimenteller Grundlage vorweisen, die allerdings zum Teil auf geschickte Mehrfach-Veröffentlichungen zu- rückzuführen waren. Seine Fälschungen mußten in mühsamer Kleinarbeit durch andere Wissenschaftler aufgedeckt werden. Herausgeber wissenschaftlicher Fachzeitschriften und Mitautoren hatten nichts davon bemerkt, obgleich Unstimmigkeiten nicht zu übersehen waren. So findet sich anscheinend in einem Stamm- baum, mit dem Darsee den Erbgang einer seltenen Herz- krankheit beschreibt, ein 17jähriger Mann mit vier Kin- dern im Alter von acht, sieben, fünf und vier Jahren, was zumindest auf eine höchst ungewöhnliche Akzeleration der Geschlechtsreife des Vaters hindeutet.
Fälle dieser Art beweisen, daß Ehrgeiz und Karriere- streben auch Wissenschaftler korrumpieren können. Selbst Nobelpreisträger sind dagegen anscheinend nicht gefeit. Zugleich sind solche Affären aber auch die uner- freuliche Begleiterscheinung eines harten Wettbewerbs um die knapp gewordenen Stellen und Forschungsmit- tel. Sie deuten damit auf strukturelle Mängel unseres Wissenschaftsbetriebes hin. Die Maxime „publish or pe- rish“ entwickelt sich zur Geißel der Forschung.
Aus juristischer Sicht ist zu derlei Skandalen nur we- nig anzumerken. Das Grundrecht der Wissenschaftsfrei- heit deckt die bewußte Fälschung nicht (vgl. oben IV 1). Für die daraus entstehenden Schäden, etwa von For- schungsorganisationen oder von Fachkollegen, die sich vergeblich abmühen, die gefälschten Experimente zu re- produzieren, wird nach den allgemeinen deliktsrechtli- chen Vorschriften gehaftet. Dabei ist insbesondere auch eine Ersatzpflicht wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB in Betracht zu ziehen.
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