Übersicht
I. Einführung: Besitzt das Vorsorgeprinzip normative Kraft? II. Das Vorsorgeprinzip bei Biosicherheitsfragen
III. Das Verantwortungsprinzip bei Biosicherheitsfragen
IV. Ausblick – Wie können Biosecurity-Fälle bewertet werden?
I. Einführung: Besitzt das Vorsorgeprinzip normative Kraft?
In seiner im Mai vergangenen Jahres veröffentlichten Stellungnahme zur Sicherheitsproblematik in den Bio- wissenschaften mit dem Titel Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft nimmt der Deutsche Ethikrat Bezug auf zwei Prinzipien, die bei der Beurtei- lung von Biosicherheitsmaßnahmen sowie der Begrün- dung von Schutzmaßnahmen eine Rolle spielen kön- nen.1 Diese Prinzipien sind, erstens, das in der öffentli- chen Diskussion zur Umweltproblematik weit verbreitete Vorsorgeprinzip, das auch in der Politik der Europäi- schen Union eine wichtige Rolle spielt, und, zweitens, das in der philosophischen Risikoethik viel diskutierte Verantwortungsprinzip.2 Das Vorsorgeprinzip besagt, dass es bei Anwendung einer neuen Technologie auch ohne das Vorliegen einer konkreten Risikoabschätzung möglich sein muss, vorsorglich Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Das Verantwortungsprinzip bezieht sich auf unsere Verantwortung für das Fortbestehen menschli- chen Lebens und besagt, dass alle Handlungen (und ins- besondere Anwendungen neuer Technologien) dieses Fortbestehen nicht gefährden dürfen. Beide Prinzipien werden im Folgenden näher erläutert.
Die Erwägungen des Ethikrats beziehen sich primär auf das Vorsorgeprinzip; das Verantwortungsprinzip spielt in der Stellungnahme des Ethikrats eine deutlich untergeordnete Rolle. In Frage steht für den Ethikrat ins-
* Ich danke Herrn Simon Lohse, Herrn Gero Kellermann und Herrn Constantin Teetzmann für hilfreiche Kommentare zu einer frühe- ren Fassung dieses Artikels.
- 1 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft (Stellungnahme), Berlin: Deutscher Ethikrat, 2014, 12 ff., http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme- biosicherheit.pdf (21.1.2015).
- 2 In ihrer Mitteilung zum Vorsorgeprinzip misst die Europäische Kommission dem Vorsorgeprinzip eine zentrale Rolle mit Bezug auf den Schutz von Menschen, Tieren, Pflanzen sowie der Umwelt
besondere die Tauglichkeit des Vorsorgeprinzips als nor- mative Bewertungsgrundlage für Biosicherheitsfragen sowie als argumentatives Element für die Begründung weitgehender Schutzmaßnahmen, darunter auch Ein- schränkungen der Forschungsfreiheit in der Form von Forschungs- oder Publikationsverboten.
Während der Ethikrat dem Vorsorgeprinzip eine Rolle als normative Bewertungsgrundlage von Biosi- cherheitsfragen beimisst, möchte ich im Folgenden zei- gen, dass in wichtigen Fällen weder das Vorsorgeprinzip noch das Verantwortungsprinzip eine gute Grundlage für die Bewertung von Biosicherheitsfragen oder die Be- gründung von Schutzmaßnahmen sein können.
Wie in der internationalen Diskussion üblich, macht der Ethikrat einen grundlegenden Unterschied zwischen Biosafety und Biosecurity als zwei Problembereiche, die unterschiedliche Regulierungsfragen aufwerfen.3 Beide Wörter lassen sich zwar im Deutschen mit „Biosicher- heit“ übersetzen, sie besitzen jedoch deutlich unter- schiedliche Konnotationen. Die Biosafety-Problematik bezieht sich auf die Möglichkeit von (unbeabsichtigten) Unfällen in der biowissenschaftlichen Forschung oder bei der Anwendung von neuen Biotechnologien bzw. neuen Produkten biowissenschaftlicher Forschung. Biosecurity-Fragen hingegen beziehen sich auf die Mög- lichkeit, dass Ergebnisse biowissenschaftlicher For- schung oder auch neue biotechnologische Anwendun- gen und Produkte absichtlich missbraucht werden, z. B. für terroristische Zwecke. Solche Fälle werden üblicher- weise auch als „Dual-Use“-Fälle bezeichnet, da es um eine mögliche doppelte Verwendung wissenschaftlicher Forschung – den intendierten Gebrauch und einen mög- lichen Missbrauch – geht. Der Missbrauchsaspekt bringt in Biosecurity-Fällen die Absichten und Interessen ver- schiedenster Individuen und Gruppierungen als – typi- scherweise kaum einschätzbare – Faktoren ins Spiel. Diese Faktoren, so die Überlegung, spielen in Biosafety-
bei – dazu: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mit- teilung der Kommission COM 2000(1): Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, Brüssel, 12–13.
3 Zum Hintergrund der Begriffe ‚Biosafety’ und ‚Biosecurity’ siehe z. B. das Hintergrunddokument Biosafety and Biosecurity der Vereinigten Nationen, http://www.unog.ch/80256EDD006B8954/ (httpAssets)/46BE0B4ACED5F0E0C125747B004F447E/$file/ biosafety+background+paper+-+advanced+copy.pdf (12.07.2014).
Thomas A. C. Reydon
Epistemologische Aspekte der Anwendung
des Vorsorgeprinzips bei Biosicherheitsfragen*
Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
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Fällen hingegen keine Rolle, sodass die zwei Arten von Biosicherheitsproblemen unterschiedliche Arten der Re- gulierung erfordern würden.
Der Unterschied zwischen einer Biosafety-Problema- tik und einer Biosecurity-Problematik soll zwei Arten von Situationen des Unwissens widerspiegeln. Fälle der Biosafety-Problematik werden dadurch gekennzeichnet, dass es im Rahmen biowissenschaftlicher Forschung oder bei der Anwendung neuer Biotechnologien zu ver- heerenden Unfällen kommen kann. Wenn die mögli- chen Unfallszenarien gut bekannt sind und die Eintritts- wahrscheinlichkeiten dieser verschiedenen Szenarien gut eingeschätzt werden können (in der Entscheidungs- theorie spricht man dann von Risikosituationen), kön- nen die etablierten Regelwerke des Risikomanagements eingesetzt werden. Man befindet sich in solchen Fällen zwar in einer Situation der begrenzten Unwissenheit be- züglich zukünftiger Ereignisse (man weiß ziemlich ge- nau, was auftreten kann, aber nicht, was tatsächlich auf- treten wird), jedoch sind die bestehenden Risiken gut abschätzbar. Bestehen zu den Unfallszenarien oder de- ren Eintrittswahrscheinlichkeiten jedoch größere Unsi- cherheiten, sodass eine Risikoabschätzung nicht gut möglich ist (die Entscheidungstheorie spricht von Situa- tionen der Ungewissheit), dann kann auf das Vorsorge- prinzip zurückgegriffen werden, das Schutzmaßnahmen auch ohne eine hinreichende Risikoabschätzung ermög- lichen würde. In Biosecurity-Fällen hingegen hat man immer mit grundlegenden Unsicherheiten bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Szena- rien zu tun: Es geht hier schließlich um die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Forschungser- gebnisse, materielle Produkte biowissenschaftlicher For- schung (wie z. B. Toxine oder hochpathogene Viren) oder Technologien absichtlich für terroristische oder sonstige kriminelle Zwecke missbraucht werden. Aber wie will man solche Wahrscheinlichkeiten einschätzen? Eine Risikoeinschätzung ist in den meisten Biosecurity-
4 Dual-Use-Fälle sind wesentlich Fälle der Unsicherheit, nicht eines wissenschaftlich abschätzbaren Risikos. Das heißt jedoch, dass in solchen Fällen die bekannte Risikoethik auch nicht zum Tragen kommen kann. Dazu: Ethikrat, op. cit., 168–170. Zum Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit bzw. Ungewissheit, siehe z. B.
J. Nida-Rümelin, Ethik des Risikos, in: ders. (Hg.), Angewandte Ethik: Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1996, 807–830, 810; J. Nida- Rümelin, Ethik des Risikos, in: ders., Ethische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, 344–368, 347; J. Nida-Rümelin, B. Rath / J. Schulenburg, Risikoethik, Berlin: De Gruyter, 2012; D. Birnbacher
/ B. Wagner, Risiko, in: M. Düwell / K. Steigleder (Hg.): Bioethik: Eine Einführung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, 435–446; T.A.C. Reydon, Wissenschaftsethik: Eine Einführung, Stuttgart: Ulmer/ UTB, 2013, 87–93.
Fällen nur sehr unvollständig möglich, sodass Biosecuri- ty-Fälle im Gegensatz zu Biosafety-Fällen grundsätzlich immer Unsicherheitssituationen sind, für die – so der Ethikrat – das Vorsorgeprinzip eine besondere Bedeu- tung hat.4
Bezüglich Biosecurity-Fragen kommt der Ethikrat dementsprechend zu dem Schluss, dass sich „[f]ür die normative Beurteilung solcher Szenarien […] in Erman- gelung besser geeigneter Prinzipien das Vorsorgeprinzip heranziehen“ lässt.5 Es ließen sich, so der Ethikrat, „kei- ne Argumente erkennen, die zu einer Aufgabe des Vor- sorgeprinzips […] als normativen Bewertungsmaßstab für die Gewährleistung von Biosecurity zwingen“ würden.6 Vielmehr ließen sich „plausible Gründe darstellen, die mit Blick auf Biosecurity auf der Grundlage des Vorsor- geprinzips in Verbindung mit den Schutzpflichten des Staates für seine Bürger ein weitreichendes Spektrum von Vorsorge- und Abwehrmaßnahmen bis hin zur Ein- schränkung oder dem Verbot von Forschungsvorhaben im Prinzip rechtfertigen können“.7 In der Tat wird das Vorsorgeprinzip (zumindest in einigen der vorliegenden Formulierungen) auch von einigen Philosophinnen und Philosophen als normatives Prinzip gesehen, das zu Ent- scheidungsprozessen in Situationen von Unsicherheit hinzugezogen werden kann.8 Mit Bezug auf eine solche Anwendung des Vorsorgeprinzips bei Biosecurity-Fra- gen stellt sich jedoch die Frage, ob das Vorsorgeprinzip überhaupt in der Lage ist, eine wirkliche normativ-be- gründende Rolle als Bewertungsmaßstab für die Ge- währleistung von Biosecurity zu spielen. Bei der Erörte- rung dieser Frage müssen die Entstehungsgeschichte des Vorsorgeprinzips, die verschiedenen Formulierungen dieses Prinzips sowie die mit diesen Formulierungen verknüpften Inhalte mit in Betracht gezogen werden.
Ich möchte in diesem Beitrag dafür argumentieren, dass das Vorsorgeprinzip in Fällen eines möglichen Missbrauchs biowissenschaftlicher Forschung nicht als normative Grundlage für die Bewertung solcher Fälle
5 Ethikrat, op. cit., 170; eigene Kursivierung.
6 Id., 173; eigene Kursivierung.
7 Id. Der Ethikrat schreibt außerdem: „Da andererseits bioterroris-
tische Anschläge und sonstige Schädigungen von Menschen und der Lebenswelt, die vom Verursacher als solche intendiert sind, durch den Missbrauch von lebenswissenschaftlicher Forschung und Forschungsergebnissen nicht ausgeschlossen werden können, muss sich eine normative Bewertung in diesen Fällen insbesondere auf das Vorsorgeprinzip stützen.“ (Id., 169; eigene Kursivierung).
8 Z. B. D.B. Resnik, Is the precautionary principle unscientific?, Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Science 34, 2003, 329–344, 330; F. Kuhlau, A.T. Höglund, K. Evers / S. Eriksson, A precautionary principle for dual use research in the life sciences, Bioethics 25, 2011, 1–8, 2.
geeignet ist. Dabei beziehe ich mich insbesondere auf die Bewertung der Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen oder gar von Maßnahmen zur Einschränkung der Frei- heit der Forschung. Der Grund ist, dass das Vorsorge- prinzip im Wesentlichen auf die Existenz epistemischer Lücken hinweist: Gerade weil wir nicht genug über die möglichen Anwendungen eines bestimmten Wissensbe- stands bzw. einer bestimmten Technologie wissen, d. h. uns in einer Situation epistemischer Unsicherheit befin- den, gebietet das Vorsorgeprinzip uns, mit größter Vor- sicht vorzugehen. Allerdings sind in Biosecurity-Fällen diese epistemischen Lücken nicht von einer solchen Art, dass das Vorsorgeprinzip tatsächlich ein Werkzeug sein könnte, um mit diesen Lücken umzugehen – so meine These. Darüber hinaus werde ich versuchen zu zeigen, dass sowohl die moralphilosophische Begründung des Vorsorgeprinzips als auch dessen Formulierungen mit Problemen behaftet sind, die das Prinzip in der Praxis schwer anwendbar machen.
II. Das Vorsorgeprinzip bei Biosicherheitsfragen
Das Vorsorgeprinzip wurde in den 1970er und 1980er Jahren als politisches Entscheidungsprinzip in der öffentlichen und politischen Diskussion über den Umgang mit Umweltproblemen eingeführt.9 Seine Wur- zeln liegen nicht in der Moralphilosophie – das Vorsor- geprinzip tritt erst nach seiner Veröffentlichung in poli- tischen Dokumenten als Diskussionsobjekt in der moral- philosophischen Literatur auf.10 Dementsprechend wird das Vorsorgeprinzip oft primär als politisches Steue- rungsprinzip – als „a guide for using scientific conside- rations in social/legal decision-making contexts“11 – und nicht so sehr als moralische bzw. moralphilosophische
- 9 Die Geschichte des Vorsorgeprinzips ist in der Literatur verbreitet diskutiert worden. Siehe z. B.: A. Jordan / T. O’Riordan, The precautionary principle in contemporary environmental policy and politics, in: C. Raffensperger / J. Tickner (Hg.), Protecting Public Health & the Environment: Implementing the Precautio- nary Principle, Washington, DC: Island Press, 1999, 15–35, 19 ff.; S.M. Gardiner, A core precautionary principle, Journal of Political Philosophy 14, 33–60, 35 ff.; M. Ahteensu / P. Sandin, The precau- tionary principle, in: S. Roeser, R. Hillerbrand, P. Sandin / M. Peterson (Hg.), Handbook of Risk Theory, Dordrecht: Springer, 2012, 961–978, 965–966; Nida-Rümelin, Rath / Schulenburg, op. cit., 105ff.; Reydon, op. cit., 87–93.
- 10 Nida-Rümelin, Rath / Schulenburg, op. cit., 105–106.
- 11 C.F. Cranor, Learning from the law to address uncertainty in the precautionary principle, Science and Engineering Ethics 7, 2001,313–326, 315.
- 12 Eine gegenteilige Meinung vertritt z. B. Gardiner, op. cit., 40.
- 13 Gardiner, op. cit., 33.
- 14 „[T]he Precautionary Principle still has neither a commonly
Maxime angesehen.12 Durch diese Entstehungsgeschich- te sowie die fehlende Verankerung in der moralphiloso- phischen Diskussion genießt das Vorsorgeprinzip inner- halb der philosophischen Gemeinschaft nach Ansicht einiger Autoren keinen sehr guten Ruf: „it remains ill- defined, and its philosophical reputation is low“.13 Kurz zusammengefasst ist das Problem, dass das Vorsorge- prinzip sowohl (1.) einer eindeutigen moralphilosophi- schen Fundierung als auch (2.) einer eindeutigen For- mulierung und (3.) eindeutiger moralischer bzw. regula- tiver Implikationen entbehrt. Das heißt: Während sich die meisten Personen für das Vorsorgeprinzip ausspre- chen und es allgemein als eine gute Sache angesehen wird, weiß letztlich niemand so genau, worin das Prinzip begründet ist, was es beinhaltet und was es genau für die Praxis bedeutet.14
Um die mögliche Bedeutung des Vorsorgeprinzips für die normative Bewertung von Biosafety- und Biose- curity-Fällen beurteilen zu können, sollen zuerst einige allgemeine Grundzüge des Prinzips skizziert werden. Obwohl keine eindeutige Formulierung des Vorsorge- prinzips existiert und das Prinzip in stark unterschiedli- chen Formulierungen vorliegt (dazu später mehr), be- ziehen sich alle Formulierungen des Prinzips auf die Fra- ge, ob in Fällen epistemischer Unsicherheit Schutzmaß- nahmen gegen eventuelle Schäden ergriffen werden können oder gar sollen. So spricht die Weltkommission für Ethik in Wissenschaft und Technologie der UNESCO, COMEST, in ihrer Arbeitsdefinition des Vorsorgeprin- zips von Fällen, in denen das Auftreten von Schäden auf Grund einer wissenschaftlichen Analyse als plausibel aber ungewiss erachtet werden muss, und erklärt, dass in sol- chen Fällen Schutzmaßnahmen geboten sind.15 Für die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips gelten dement-
accepted definition nor a set of criteria to guide its implementa- tion. […] While it is applauded as a ‘good thing,’ no one is quite sure about what it really means or how it might be implemen- ted.“ Siehe Jordan / O’Riordan, op. cit., 22. Das Vorsorgeprinzip wurde in der Literatur stark kritisiert und ist nach wie vor Gegenstand einer kontroversen Debatte. Für eine Übersicht einiger weit verbreiteten Einwände gegen das Vorsorgeprinzip sowie Verteidigungen gegen diese Einwände, siehe P. Sandin, M. Peterson, S.O.Hansson, C. Rudén / A. Juthe, Five charges against the precautionary principle, Journal of Risk Research 5, 2002, 287- 299; M. Ahteensu, Defending the precautionary principle against three criticisms, Trames 11, 2007, 366–381; P. Sandin, Common- sense precaution and varieties of the precautionary principle,
in: T. Lewens (Hg.), Risk: Philosophical Perspectives, Abingdon: Routledge, 99–112; A. Stirling, The precautionary principle, in: J.K. Berg Olsen, S.A. Pedersen / V.F. Hendricks (Hg.), A Companion to the Philosophy of Technology, Chichester: Wiley-Blackwell, 2009, 248–262; Nida-Rümelin, Rath / Schulenburg, op. cit., 119–122.
15 COMEST, The Precautionary Principle, Paris: UNESCO, 2005, 14.
Reydon · Vorsorgeprinzip bei Biosicherheitsfragen 7 5
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sprechend zwei Voraussetzungen: (i) Es muss eine Situa- tion epistemischer Unsicherheit vorliegen – d.h., wir müs- sen uns in einer Wissenslage befinden, die an und für sich nicht als Grundlage für eine schlüssige Risikoab- schätzung ausreicht, die wiederum Schutzmaßnahmen begründen würde.16 (ii) Es muss allerdings auch eine be- gründete Gefährdungsvermutung vorliegen, d.h., die Annahme einer Gefährdung darf nicht lediglich auf blo- ßen Befürchtungen oder Ängsten beruhen.17 Die Ge- fährdungsvermutung darf also nicht rein hypothetischer Natur sein, sondern muss aus einer Wissenslage hervor- gehen, die ausreichend ist, um eine potentielle Gefähr- dung zu begründen, aber nicht ausreichend, um auch entsprechende Schutzmaßnahmen begründen zu kön- nen. Eine solche Situation liegt z. B. vor, wenn konkrete Gefahren benannt und plausibel gemacht werden kön- nen, aber es nicht möglich ist, die entsprechenden Ein- trittswahrscheinlichkeiten einzuschätzen.
Hier zeigt sich bereits ein wesentlicher Unterschied zwischen Biosafety-Fällen und Biosecurity-Fällen. In Fäl- len der ersteren Kategorie beziehen sich die beiden Vor- aussetzungen(i)und(ii)aufdenGegenstandderbetref- fenden biowissenschaftlichen Forschung. Wenn in Biosafe- ty-Fällen die Wissenslage über den Forschungsgegenstand ausreichend ist, um eine gute Gefährdungseinschätzung (d. h. eine Einschätzung der Unfallrisiken) zu ermöglichen und Schutzmaßnahmen zu begründen, liegt eine Risikosi- tuation vor. Folgt aus der Wissenslage hingegen, dass von einer wirklichen Gefährdung gesprochen werden kann, ohne dass jedoch die Wahrscheinlichkeiten von Unfällen oder das zu erwartende Ausmaß der Schäden konkret an- gegeben werden können, so kann das Vorsorgeprinzip ins Spiel gebracht werden. In solchen Situationen der Ungewissheit können unter Rückgriff auf das Vorsorge- prinzip dennoch Schutzmaßnahmen eingeleitet werden. Es muss hervorgehoben werden, dass in solchen Fällen die getroffenen Schutzmaßnahmen lediglich vorläufig sein können: Sie gehen ja paradoxerweise aus der Tatsa- che hervor, dass die Wissenslage gerade keine Schutz- maßnahmen begründen kann, sodass sie den Status von nicht hinreichend begründeten Maßnahmen haben. Diese allerdings können nur vorläufig als legitim angese- hen werden, nämlich so lange bis eine hinreichende Be-
- 16 Siehe auch Kuhlau et al., op. cit., 5; Nida-Rümelin, Rath / Schulen- burg, op. cit., 108.
- 17 Siehe auch Cranor, op. cit., 318; Die Europäische Kommission sieht den Anwendungsbereich des Vorsorgeprinzips in „Fällen,
in denen aufgrund einer objektiven wissenschaftlichen Bewertung berechtigter Grund für […] Besorgnis besteht“, siehe: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, op. cit., 2–3 (eigene Kursivie- rung). Auch die COMEST-Definition des Vorsorgeprinzips geht
gründung bzw. eine hinreichende wissenschaftliche Analyse der Gefährdungssituation vorliegt. Die argu- mentative Rolle des Vorsorgeprinzips liegt hier also dar- in, dass es in solchen Situationen ein Gebot zur weiteren Forschung impliziert, d. h. ein Gebot, durch weitere Un- tersuchungen am Forschungsgegenstand Situationen der Unsicherheit in Risikosituationen umzuwandeln, in de- nen Schutzmaßnahmen durch die Wissenslage begrün- det werden können.18
In Biosecurity-Fällen wäre ein ähnliches Argumenta- tionsschema unter Einbeziehung des Vorsorgeprinzips jedoch nur mit großen Schwierigkeiten anwendbar. Hier beziehen sich die Voraussetzungen (i) und (ii) primär auf externe Umstände, wie z. B. die geopolitische Lage, konkrete Informationen über Aktivitäten terroristischer Gruppen, usw. – es geht ja um die Möglichkeit absichtli- chen Missbrauchs – und erst in zweiter Linie auf den Forschungsgegenstand. In Biosecurity-Fällen wird eine Anwendung des Vorsorgeprinzips in Situationen der Ungewissheit dementsprechend nicht darauf ausgerich- tet sein können, solche Situationen durch weitere wis- senschaftliche Forschung an dem eigentlichen For- schungsgegenstand in Risikosituationen umzuwandeln. Außerdem wird davon auszugehen sein, dass eine solche Umwandlung in den meisten Fällen nicht erreichbar sein wird, da die Wahrscheinlichkeiten eines absichtli- chen Missbrauchs eines Gegenstands nie gut abschätz- bar sind. Somit stellt sich die Frage, welche argumentati- ve bzw. begründende Rolle das Vorsorgeprinzip bei der Beurteilung von Biosecurity-Fällen spielen könnte.
Um die mögliche Rolle des Vorsorgeprinzips in Biose- curity-Fällen zu klären, sollen zuerst die verschiedenen Formulierungen des Vorsorgeprinzips näher betrachtet werden. Obwohl das Vorsorgeprinzip mittlerweile in vielen politischen Dokumenten enthalten ist, existiert keine eindeutige Formulierung des Prinzips. Allgemein wird zwischen starken und schwachen Varianten des Prinzips unterschieden.19 Laut der stärksten Variante, die z. B. in der sog. Erd-Charta aufgenommen ist, dürfen Handlungen nur dann ausgeführt werden, wenn ihre Unschädlichkeit explizit nachgewiesen ist.20 Mit Bezug auf biosicherheitsrelevante Forschungsprojekte würde die stärkste Version des Vorsorgeprinzips die Durchfüh-
davon aus, dass die Begründung wissenschaftlicher Natur sein muss. Dies scheint mir jedoch nicht unbedingt notwendig, so lange die Begründung als ausreichend erachtet wird.
18 Vgl. Kuhlau et al., op. cit., 7.
19 Nida-Rümelin, Rath / Schulenburg, op. cit., 118–119; Ethikrat, op.
cit., 79 ff.
20 Siehe den Text der Erd-Charta von 2005, Grundsatz 6, http://erd-
charta.de/fileadmin/Materialien/Erd-Charta_Text.pdf (21.1.2015).
rung eines Projekts erst dann erlauben, wenn der Nach- weis der Unschädlichkeit der zu erwartenden Ergebnisse erbracht ist. Für biosafety-relevante Projekte würde ein solcher Nachweis allerdings durch weitere Forschung ge- liefert werden müssen: Um die potenzielle Schädlichkeit der Ergebnisse gut einschätzen zu können, müsste die betreffende Forschung zumindest zum Teil tatsächlich ausgeführt werden.21 Da die stärkste Version des Vorsor- geprinzips dies allerdings gerade verbietet, kann es in diesem Rahmen leicht einen nicht erfüllbaren Anspruch darstellen. In Biosecurity-Fällen sind die Anforderungen der stärksten Version des Vorsorgeprinzips gleicherma- ßen unerfüllbar, jedoch aus anderen Gründen: Hier stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich wäre nachzuwei- sen, dass der Missbrauch von bestimmten Forschungser- gebnissen unwahrscheinlich oder gar ausgeschlossen ist. Die stärkste Version des Vorsorgeprinzips ist dement- sprechend weder in Biosafety-Fällen noch in Biosecurity- Fällen anwendbar.
Die weit verbreitete schwache Formulierung des Vor- sorgeprinzips, die z. B. in der Rio-Erklärung der Verei- nigten Nationen von 1992 enthalten ist, besagt, dass eine unsichere Wissenslage nicht gegen Schutzmaßnahmen sprechen darf.22 Angewendet bei der Bewertung von bi- osicherheitsrelevanten Forschungsprojekten würde die schwache Version also lediglich die Möglichkeit von Schutzmaßnahmen (darunter ggf. auch Einschränkun- gen der Forschungsfreiheit) begründen, ohne jedoch spezifische Maßnahmen zu fordern oder gar zu fordern, dass überhaupt irgendwelche Maßnahmen getroffen werden sollten. In Biosafety-Fällen folgen auch diesem schwachen Prinzip keine konkreten Maßnahmen – ins- besondere kann auch kein Forschungsgebot aus diesem Prinzip abgeleitet werden, da das Prinzip ja lediglich die bloße Möglichkeit von Maßnahmen offen zu halten ver- sucht. Konkrete Maßnahmen müssen anderweitig be- gründet werden, z.B. durch die unter Punkt (ii) geforder- te, begründete Gefährdungsvermutung in Verbindung mit den Schutzpflichten des Staates (z. B. mit Bezug auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit). Das Gleiche gilt für Biosecurity-Fälle. Auch hier können
- 21 Der Philosoph Hans Jonas sowie der Soziologe Ulrich Beck haben auf ähnliche Probleme hingewiesen. Siehe dazu Abschnitt III.
- 22 Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, Grundsatz 15; http://www.un.org/depts/german/conf/agenda21/rio.pdf (21.1.2015).
- 23 Gardiner, op. cit., 33: „[T]he recent literature tends to distinguish between weak and strong versions of the principle, and to regard the first as vacuous and the second as extreme, myopic and irrati- onal.“
- 24 Kuhlau et al., op. cit., 8; eigene Kursivierung. Die bekannteste moderate Formulierung ist zu finden in der Abschlusserklärung
konkrete Schutzmaßnahmen nicht aus dem Vorsorge- prinzip hergeleitet werden. Allerdings ergibt sich – an- ders als in Biosafety-Fällen – hier die Notwendigkeit von bestimmten konkreten Schutzmaßnahmen bereits aus Analysen der momentanen geopolitischen, wirtschaftli- chen usw. Situation, die belegen, dass die Möglichkeit des Missbrauchs von bestimmten Forschungsergebnis- sen mehr als eine bloße Befürchtung ist. Weil die mo- mentane geopolitische Lage uns bereits gute Gründe gibt um anzunehmen, dass eine tatsächliche Missbrauchsge- fahr besteht (ohne dass jedoch Informationen über kon- krete Absichten einzelner Personen oder Gruppierun- gen, z. B. zu einem geplanten Attentat, vorliegen), ergibt sich die Möglichkeit (ebenso wie die Notwendigkeit) von Schutzmaßnahmen hier bereits aus der Gefährdungsver- mutung in Verbindung mit den Schutzpflichten des Staa- tes. Das schwache Vorsorgeprinzip fügt dieser Begrün- dung nichts hinzu. Man braucht daher das Vorsorge- prinzip (in der schwachen Formulierung) nicht noch zu- sätzlich ins Spiel zu bringen und es erfüllt in Biosecurity-Fällen keine weitere argumentative Rolle.
Statt der stärksten Version des Vorsorgeprinzips, die oft als extrem und sogar irrational angesehen wird, und der schwachen Version, die oft als leer und zahnlos abge- lehnt wird, enthalten viele politischen Dokumente eine zwischen diesen beiden Extremen liegende, moderate Version des Vorsorgeprinzips.23 Laut dieser moderaten Version des Vorsorgeprinzips sind in unsicheren Wis- senslagen Schutzmaßnahmen geboten. Eine solche For- mulierung lautet z. B.: „When and where serious and cre- dible concern exists that legitimately intended biological material, technology or knowledge in the life sciences pose threats of harm to human health and security, the scientific community is obliged to develop, implement and adhere to precautious measures to meet the con- cern.“24 Auch der Deutsche Ethikrat lehnt in seiner Stel- lungnahme zu Biosicherheit die stärkste Lesart des Vor- sorgeprinzips ab und scheint stattdessen eine eher mo- derate Version des Vorsorgeprinzips anzunehmen, ob- wohl auch die Anwendung einer schwachen Version nicht ausgeschlossen wird.25 Der Ethikrat spricht diesbe-
Reydon · Vorsorgeprinzip bei Biosicherheitsfragen 7 7
25
der sog. Wingspread Conference von 1998: „When an activity raises threats of harm to human health or the environment, pre- cautionary measures should be taken even if some cause and effect relationships are not fully established scientifically“ (Wingspread Statement on the Precautionary Principle, vielfach veröffent- licht, z. B.: http://www.sehn.org/wing.html (21.1.2015), eigene Kursivierung). Eine andere bekannte moderate Formulierung ist in der bereits zitierten Stellungnahme zum Vorsorgeprinzip der Weltkommission für Ethik in Wissenschaft und Technologie der UNESCO zu finden (COMEST, op. cit., 14).
Ethikrat, op. cit., 78–81, 173.
78 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2015), 73–82
züglich von dem „Grundsatz, dass in Situationen der Ungewissheit zwar Maßnahmen der Schadensabwehr ge- boten sind, wenn schwerwiegende negative Folgen für hochrangige Güter wie Menschenleben oder die Umwelt durch risikoreiche Handlungen drohen, darüber hinaus jedoch nicht per se eine Pflicht zum Unterlassen der Handlung abgeleitet werden kann.”26 Obwohl das mode- rate Vorsorgeprinzip die Ergreifung von Schutzmaßnah- men in Unsicherheitssituationen gebietet statt diese le- diglich zu ermöglichen, erfüllt es – wie das schwache Vorsorgeprinzip auch – m. E. in Biosecurity-Fällen keine wirkliche argumentative Funktion. Der Grund ist auch hier, dass die unter Punkt (ii) gelieferten Daten und Ar- gumente gegen den Hintergrund der üblichen Schutz- pflichten des Staates an und für sich bereits eine hinrei- chende Begründung von Schutzmaßnahmen darstellen und ein zusätzliches, allgemeines Gebot, Maßnahmen zu ergreifen, dieser Begründung nichts hinzufügt.
Der Punkt ist, dass in Situationen der Ungewissheit Schutzmaßnahmen nicht durch die Gefährdungsvermu- tung allein begründet werden können, sondern es zu- sätzlicher Begründungsprinzipien bedarf. Weil in Biose- curity-Fällen die Schutzpflichten des Staates diese ergän- zende Rolle bereits erfüllen, bedarf es nicht noch zusätz- lich des Vorsorgeprinzips. Darüber hinaus eignet sich das Vorsorgeprinzip nicht zur Begründung konkreter Maßnahmen (außer einem Gebot zur weiteren For- schung an dem Forschungsgegenstand zur Überführung einer Situation der Ungewissheit in eine Risikosituation, das allerdings in Biosecurity-Fällen keine Anwendung finden kann). In beiden Fällen – im Falle des bei Biosecu- rity-Fragen angewendeten schwachen Vorsorgeprinzips sowie im Falle des bei solchen Fragen angewendeten moderaten Vorsorgeprinzips – Schutzmaßnahmen (dar- unter ggf. auch Einschränkungen der Forschungsfreiheit oder Publikationsverbote) bereits durch das Bestehen ei- ner Missbrauchsgefahr begründet, ohne dass die bloße Ermöglichung solcher Maßnahmen durch das Vorsorge- prinzip noch zusätzlich benötigt wäre. Der Grund dafür liegt darin, so möchte ich zumindest behaupten, dass das Vorsorgeprinzip – zwar nicht explizit, aber zumindest seinem Geiste nach – ein Streben nach Selbstaufhebung beinhaltet. Das Prinzip kommt dann ins Spiel wenn die Situation eine solche ist, dass zwar eine begründete Ge- fährdungswahrnehmung existiert, aber dennoch die
- 26 Ethikrat, op. cit., 80; eigene Kursivierung.
- 27 Zu einem solchen Forschungsgebot, siehe auch Ethikrat, op. cit.,81, 85 & 181.
- 28 Maßgeblich: H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer
Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen nicht aus der vorliegenden Wissenslage abgeleitet werden kann. Eine solche Situation sollte allerdings nicht fortdauern: Weil das Vorsorgeprinzip (in der moderaten Formulierung) die Möglichkeit von Schutzmaßnahmen begründet, so lange keine bessere Begründung vorliegt, enthält es im- plizit auch die Aufforderung, nach einer solchen besse- ren Begründung zu suchen. Das Vorsorgeprinzip ist also im Wesentlichen auf die Überwindung von Situationen ausgerichtet, in denen es erst Gültigkeit bekommt. Wäh- rend in Biosafety-Fällen hieraus ein Gebot zu weiteren Forschung abgeleitet werden kann, gibt es in Biosecurity- Fällen keine solche Möglichkeit zur Selbstaufhebung des Vorsorgeprinzips.27 Hinzu kommen die oben bereits an- gesprochene fehlende moralphilosophische Fundierung des Vorsorgeprinzips sowie die Frage nach der besten Formulierung des Prinzips, die eine Anwendung des Vorsorgeprinzips in Biosecurity-Fällen zusätzlich er- schweren.
Gibt es moralphilosophisch besser fundierte Prinzi- pien, die das Vorsorgeprinzip bei der Bewertung von Bi- osicherheitsfragen ersetzen könnten? Im Folgenden möchte ich mich kurz einer möglichen Alternative zum Vorsorgeprinzip zuwenden, nämlich dem in der Philo- sophie breit diskutierten Verantwortungsprinzip.
III. Das Verantwortungsprinzip bei Biosicherheitsfragen
Das „Prinzip Verantwortung“, das durch den Philoso- phen Hans Jonas in seinem 1979 zuerst erschienenen Hauptwerk mit dem gleichen Titel formuliert wurde, kann als impliziter Vorgänger des Vorsorgeprinzips gel- ten.28 Jonas’ Verantwortungsprinzip war und ist nach wie vor ein einflussreiches Element in der moralphiloso- phischen Diskussion. Obwohl es eine ähnliche Stoßrich- tung hat wie das etwa zur gleichen Zeit formulierte Vor- sorgeprinzip und es in der Literatur oft zusammen mit dem Vorsorgeprinzip diskutiert wird, spielte das Verant- wortungsprinzip weder bei der Formulierung der Vor- sorgeprinzips eine explizite Rolle, noch wird es üblicher- weise in der moralphilosophischen oder rechtsphiloso- phischen Literatur zur Begründung dieses Prinzips hinzugezogen. Die beiden Prinzipien sind daher geson- dert zu betrachten.
Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984; H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987. Siehe dazu auch: Reydon, op. cit., 84- 87.
Jonas’ Ausgangspunkt bei der Formulierung seines Verantwortungsprinzips war die rasante Entwicklung von Wissenschaft und Technologie im 20. Jahrhundert, die laut Jonas durch einen grundlegenden Wandel im Charakter von Wissenschaft und Technologie gekenn- zeichnet war. Jonas argumentierte, dass das Aufkommen der industriellen Massenproduktion im 20. Jahrhundert sowie vielfältiger Möglichkeiten zur großflächigen An- wendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Technologien einen Verlust der Selbstkontrolle von Wis- senschaft und Technologie zur Folge gehabt hat. Jede Anwendung einer neuen Technologie, so Jonas, neige jetzt dazu „ins ‚Große’ zu wachsen“, indem die lokale An- wendung einer neuen Technologie – zu einem bestimm- ten Ort und einem bestimmten Zeitpunkt begrenzt – nicht nur für die lokale Bevölkerung gravierende Folgen haben könne, sondern auch für weit vom Ort der An- wendung entfernt lebende Menschen sowie für zukünfti- ge Generationen. Während üblicherweise nur die lokale Bevölkerung bzw. die unmittelbar betroffenen Personen über die Anwendung einer neuen Technologie mitbe- stimmen dürfen, hätten die mittelbar Betroffenen, die, wie Jonas hervorhebt, „hierbei keine Stimme hatten“, al- lerdings auch ein Recht darauf, bei der Beschlussfassung über die Anwendung einer neuen Technologie zumin- dest in Vertretung berücksichtigt zu werden.29 Entschei- dend in Jonas’ Analyse ist der Gedanke, dass die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgetretene Skalen- vergrößerung mit Bezug auf wissenschaftliche und tech- nologische Anwendungen eine Skalenvergrößerung un- seres Verantwortungsbereichs mit sich gebracht hat: Im Gegensatzzur„klassischen“Technik,beiderdieFolgen der Anwendung wissenschaftlichen und technischen Wissens üblicherweise auf die unmittelbare Umgebung beschränkt blieben, betrifft heute fast jede Anwendung einer neuen Technologie große Teile der gegenwärtigen und zukünftigen Weltbevölkerung.30 Und weil die meis- ten der tatsächlich betroffenen Menschen im Beschluss- prozess über die Anwendung keine Stimme haben, sind diejenigen mit einer Stimme im Beschlussprozess dazu verpflichtet, die Interessen aller betroffenen stellvertre- tend für sie zu vertreten, so Jonas.
- 29 Jonas, 1987, op. cit., 45.
- 30 Jonas’ Überlegungen waren maßgeblich durch das Aufkommender Atomtechnologie in der Energieproduktion sowie durch
die Möglichkeit eines eskalierenden Konflikts mit Einsatz von Atomwaffen geprägt. In diesen Beispielen geht es primär um die Unbegrenztheit der Folgen des Gebrauchs neuer Technologien. Ein ähnlicher Gedanke ist enthalten in der These der „Welt als Labor“ des Soziologen Ulrich Beck, in der es allerdings vielmehr um die Unbegrenztheit der möglichen Folgen der wissenschaft- lichen Forschung geht: Um die Sicherheit von Atomkraftwerken
Jonas weist nun darauf hin, dass diese neue Sachlage einen neuen Umgang mit Naturwissenschaft und Tech- nologie, d. h. neue moralischen Regeln und Richtlinien und vielleicht sogar eine neue Wissenschafts- und Tech- nologieethik erfordere.31 Wie er am Anfang seines Buchs Das Prinzip Verantwortung schreibt: „Der endgültig ent- fesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie genannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden.“32 Jonas’ Projekt ist dementsprechend die Ent- wicklung einer neuen „Ethik für die technologische Zi- vilisation“ (wie der Untertitel seines Buchs Das Prinzip Verantwortung lautet), in dessen Zentrum ein Bewusst- sein der Verantwortung steht, welche die Menschheit für ihr eigenes Fortbestehen trägt – ein Element, das nach Jo- nas in der seinerzeit gängigen Ethik nicht präsent war. Jonas weist darauf hin, dass die bestehende Ethik sich primär auf zwischenmenschliche Beziehungen richtet, d. h., dass sie erörtert, wie Menschen miteinander umge- hen sollen (oder auch, mehr allgemein, wie Menschen mit anderen Lebewesen umgehen sollten).33 Hier kriti- siert Jonas nicht nur die Tatsache, dass durch den Fokus auf zwischenmenschliche Beziehungen „[a]lle Gebote und Maximen überlieferter Ethik [eine] Beschränkung auf den unmittelbaren Umkreis der Handlung“ zeigen,34 sondern auch, dass dabei die Existenz der Menschheit einfach vorausgesetzt wird und nicht selbst als Objekt moralischer Reflexion hervortritt. Der kategorische Im- perativ der kantischen Ethik, z. B., ist laut Jonas mit der Nicht-Existenz der Menschheit vereinbar: „Es liegt aber kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, dass die Menschheit einmal aufhöre zu existieren, und somit auch kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, dass das Glück gegenwärtiger und nächstfolgender Generationen mit dem Unglück oder gar Nichtexistenz späterer Gene- rationen erkauft wird.“35 Die kantische Ethik sagt uns also, wie Menschen miteinander umgehen sollten, unter der Voraussetzung, dass es überhaupt Menschen gibt – sie sagt uns nicht, dass wir für das Fortbestehen der Menschheit auch eine Verantwortung tragen würden. Die durch Jonas diagnostizierte Charakterwandlung der
empirisch feststellen zu können, muss zuerst ein funktionierendes Atomkraftwerk gebaut werden, das als Experiment dienen kann. Siehe dazu U. Beck, Die Welt als Labor, in: ders., Politik in der Ri- sikogesellschaft: Essays und Analysen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, 154–166.
31 Jonas, 1984, op. cit., 15, 58.
32 Id., 7.
33 Id., 23. Jonas’ Kritik galt in erster Linie der kantischen Ethik. 34 Id.
35 Id., 35; Kursivierung im Original.
Reydon · Vorsorgeprinzip bei Biosicherheitsfragen 7 9
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Naturwissenschaft und der Technologie im 20. Jahrhun- dert zeigt jedoch, dass insbesondere die Existenz der Menschheit selbst auch in den Bereich des Moralischen fallen sollte, da die neue Naturwissenschaft und Techno- logie uns die Möglichkeit gegeben hat, die Existenz der Menschheit mit unseren Handlungen (negativ, aber auch positiv) zu beeinflussen.
Jonas möchte dementsprechend die bestehende Ethik um einen neuen Imperativ ergänzen, der in einer be- kannten Formulierung lautet: „Handle so, dass die Wir- kungen deiner Handlung verträglich sind mit der Per- manenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“36 Die- se Formulierung zeigt, dass es Jonas nicht um das bloße Fortbestehen der Art Homo sapiens geht, sondern um das Fortbestehen einer Menschheit, deren Mitglieder ein menschenwürdiges Leben führen – es geht Jonas um „echtes“ menschliches Leben, um die menschliche Le- bensform. Dementsprechend beinhaltet das Verantwor- tungsprinzip das Gebot, Maßnahmen zu ergreifen, die gewährleisten, dass es auch für nachfolgende Generatio- nen möglich ist, ein menschenwürdiges Leben zu füh- ren. Der moralische Imperativ des Verantwortungsprin- zips kann laut Jonas in der Praxis mittels einer „Heuris- tik der Furcht“ umgesetzt werden, die beinhaltet, dass in Fällen von Ungewissheit über die Wahrscheinlichkeiten der möglichen – positiven wie negativen – Folgen einer neuen Technologie der pessimistischsten Prognose im- mer das größte Gewicht beigemessen werden sollte.37 Das heißt, in Fällen in denen es mehrere Szenarien gibt und wir die Eintrittswahrscheinlichkeiten der verschie- denen Szenarien schlecht einschätzen können, sollten wir vorsichtshalber vom schlechtesten Szenario ausgehen.
In einer ähnlichen Weise wie das Vorsorgeprinzip be- ruht also auch das Verantwortungsprinzip wesentlich auf der Unterscheidung zwischen Risiko und Ungewiss- heit bzw. Unsicherheit, und besagt, dass in Unsicher- heitssituationen vorsichtshalber von dem schlechtesten Szenario ausgegangen werden sollte. Einerseits macht die Tatsache, dass das Verantwortungsprinzip durch eine philosophische Argumentation begründet ist, es zu ei- nem eigenständigen und damit stärkeren Prinzip als das Vorsorgeprinzip. Andererseits sorgt genau diese Grund- lage bei der Anwendung des Prinzips in Biosicherheits- fällen für unerwünschte Konsequenzen. Dadurch dass
- 36 Id., 36.
- 37 Id., 8, 70 ff., 392; Jonas, 1987, op. cit., 67.
- 38 Diese Kritik bezieht sich allerdings nur auf die Anwendbarkeitdes Verantwortungsprinzips bei Biosicherheitsfragen und darf nicht als allgemeine Kritik am Verantwortungsprinzip verstanden werden. Wie bereits angemerkt, hat Jonas das Verantwortungs- prinzip als Ergänzung der bereits bestehenden Ethik eingeführt, um einen besonderen Fall abzudecken, der von der vorhandenen Ethik nicht abgedeckt wird. Da die Vermeidung von Schäden für
die philosophische Begründung auf die Permanenz menschenwürdigem Leben abzielt, greift das Verantwor- tungsprinzip lediglich in Fällen, in denen genau diese Permanenz bedroht ist – d. h., in solchen Fällen, in de- nen tatsächlich die Gefahr besteht, dass in Zukunft kein menschenwürdiges Leben auf Erden mehr möglich ist. Bei den meisten Biosicherheitsfragen geht es jedoch um die Gefahr, dass durch Unfälle im Labor oder bei der An- wendung einer Technologie oder auch durch Missbrauch von biowissenschaftlichem Wissen oder Produkten er- hebliche Schäden für einzelne Personen oder Personen- gruppen entstehen. Zu denken wäre an das Entweichen eines genetisch modifizierten Bakteriums aus einem Hochsicherheitslabor oder den Gebrauch von Biomate- rialien für terroristische Anschläge. An sich ist in sol- chen Fällen jedoch nicht unbedingt die weitere Existenz der Menschheit oder das Forstbestehen „echten“ menschlichen Lebens bedroht. Selbst bei terroristischen Anschlägen von extremer Brutalität ist die Reichweite des Anschlags typischerweise beschränkt und ist nicht die gesamte Menschheit oder das „echte“ menschliche Leben als solches bedroht. Das heißt, dass in solchen Fäl- len das Verantwortungsprinzip gar nicht greifen würde – oder stärker, dass der Missbrauch von Biomaterialien für einen terroristischen Anschlag mit einer beschränkten Reichweite mit dem Jonasschen Verantwortungsprinzip vereinbar ist. Das Verantwortungsprinzip hat, so könnte man sagen, ein zu großes Ziel im Blick und ignoriert die Verantwortung, die wir dafür haben, Schäden für einzel- ne Personen oder Gruppen von Personen zu vermei- den.38 Dadurch lässt es sich bei den meisten Biosicher- heitsfragen nicht anwenden.
IV. Ausblick – Wie können Biosecurity-Fälle bewertet werden?
Zusammenfassend lässt sich zu der Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips und des Verantwortungsprinzips bei Biosicherheitsfragen Folgendes sagen: Das Vorsorge- prinzip kann bei Biosicherheitsfragen im Prinzip ange- wendet werden, stößt dann allerdings auf erhebliche Probleme, wie ich zu zeigen versucht habe. Erstens wür- de es, abhängig von der gewählten Formulierung, ledig- lich die Möglichkeit von Schutzmaßnahmen begründen
Einzelpersonen und Gruppen von Personen bereits durch die vorhandene zwischenmenschliche Ethik abgedeckt wird, braucht das Verantwortungsprinzip solche Fälle nicht noch zusätzlich abzudecken. Dass das Jonas‘sche Verantwortungsprinzip bei Biosicherheitsfragen schlecht anwendbar ist, liegt demnach daran, dass die meisten Biosicherheitsfälle gar nicht erst in den Bereich von Tatbeständen fallen, für die das Verantwortungsprinzip überhaupt gedacht war.
(darunter auch Maßnahmen zur Einschränkung der Forschungsfreiheit), aber es würde keine konkreten Maß- nahmen legitimieren. Es würde höchstens begründen, dass Maßnahmen getroffen werden können oder gar sol- len, aber nicht in welcher Weise solche Maßnahmen rea- lisiert werden könnten oder sollten. Zweitens würde das Vorsorgeprinzip in Biosafety-Fällen ein Gebot zur weite- ren Erforschung der Thematik begründen, um die Unsi- cherheitssituation in eine Risikosituation zu überführen, und damit gerade gegen Einschränkungen der For- schungsfreiheit sprechen. Drittens würde das Vorsorge- prinzip bei Anwendung auf Biosecurity-Fragen über- haupt nichts begründen: Schutzmaßnahmen zur Abwen- dung von Schäden werden in solchen Fällen bereits durch allgemeine Erwägungen, Grundsätze und Pflich- ten zum Schutz von Leib, Leben, Freiheit usw. im Zusam- menhang mit Analysen der momentanen geopolitischen wirtschaftlichen usw. Lage ausreichend begründet. Das Vorsorgeprinzip fügt dieser Begründung nichts hinzu. Hinzu kommen die Probleme bezüglich der Formulie- rung des Vorsorgeprinzips: Was genau das Prinzip leis- ten kann, hängt stark von seiner Formulierung ab. Wel- che Formulierung in einem Dokument gewählt wird, scheint aber primär eine Sache des politischen Willens sowie der erfolgten Verhandlungen zu sein und von der Tatsache abzuhängen, dass das Vorsorgeprinzip ein pri- mär politisches Prinzip ist, das nicht ausreichend durch philosophische Argumente begründet ist. Als normati- ver Bewertungsmaßstab für die Gewährleistung von Biosecurity, wie der Ethikrat es vorschlägt, ist das Vor- sorgeprinzip demnach nicht geeignet.39 Zusätzlich habe ich versucht zu zeigen, dass auch das philosophisch bes- ser begründete Jonas‘sche Verantwortungsprinzip bei Biosicherheitsfragen schlecht anwendbar ist.
Wenn die im Vorangegangenen vorgestellten Überle- gungen richtig sind, stellt sich unmittelbar die Frage, wie Biosicherheitsfragen denn bewertet werden können. Insbesondere für Biosecurity-Fragen ist dies ein gravie- rendes Problem, weil dort die Plausibilität der Gefähr- dungseinschätzung nicht aus rein wissenschaftlichen Er- wägungen abgeleitet werden kann. Dementsprechend
39 Ethikrat, op. cit., p. 173. Laut Ethikrat „lassen sich plausible Grün- de darstellen, die mit Blick auf Biosecurity auf der Grundlage
des Vorsorgeprinzips in Verbindung mit den Schutzpflichten
des Staates für seine Bürger ein weitreichendes Spektrum von Vorsorge- und Abwehrmaßnahmen bis hin zur Einschränkung oder dem Verbot von Forschungsvorhaben im Prinzip rechtferti- gen können”, 173. Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass das Vorsorge- prinzip hier keine argumentative Rolle spielt und keinerlei über die aus den Schutzpflichten des Staates folgende Begründung
von Maßnahmen hinausgehenden, zusätzlichen Begründungen liefert.
kann hier nicht die Hoffnung bestehen, dass die beste- hende Unsicherheitssituation durch zusätzliche wissen- schaftliche Forschung am eigentlichen Forschungsge- genstand in eine Risikosituation umgewandelt werden kann, die dann mit Hilfe der bewährten Instrumente der Risikoethik und des Risikomanagements bearbeitet wer- den kann.
Als Antwort auf diese Frage möchte ich für Biosecuri- ty-Fragen die folgende Herangehensweise vorschlagen.40 Der Vorschlag beruht auf dem Gedanken, dass die Suche nach allgemeingültigen Bewertungsmaßstäben für Bio- sicherheitsfragen, wie das Vorsorgeprinzip oder das Ver- antwortungsprinzip, eine fehlgeleitete Suche sein könn- te, weil Biosicherheitsfälle einzigartig sind. Es gibt selbst- verständlich einzelne Gemeinsamkeiten zwischen ver- schiedenen Fällen, aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es auch Gemeinsamkeiten gibt, die für den gesamten Problembereich der Biosicherheit gelten. Biosicherheitsfälle, so möchte ich vorschlagen, konstitu- ieren eine Gruppe von Fällen, zwischen denen höchstens Familienähnlichkeiten existieren, aber die als Gruppe nicht ausreichend homogen ist, um mit Hilfe von allge- meinen Prinzipien, Maximen, Regeln usw. reguliert wer- den zu können.41 Statt der Suche nach allgemeinen Grundsätzen für Bewertung und Regulierung könnte vielmehr der Aufbau einer Bibliothek von Präzedenzfäl- len in Betracht genommen werden, in der Orientie- rungswissen für spezifische Fälle gesammelt wird.42 Fäl- le, für die es bislang noch keine solchen Präzedenzfälle gibt, würden dabei als Testfälle für bereits existierende sowie mögliche Regulierungsmaßnahmen fungieren. Bei späteren Fällen, die eine Ähnlichkeit zu vorliegenden Präzedenzfällen aufweisen, könnte dann auf dokumen- tierte Präzedenzfälle zurückgegriffen und versucht wer- den, aus diesen positive Lehren zu ziehen und frühere Fehler zu vermeiden. Eine solche Herangehensweise mag nicht befriedigend sein und Gefahren nicht ausrei- chend vermeiden können, da mit jedem neuen Präze- denzfall Neuland betreten wird, für das wir in nicht aus- reichendem Maße Orientierungswissen besitzen. Aber diesbezüglich scheint die vorgeschlagene Herangehens-
40 Aus Platzgründen muss dieser Vorschlag hier unbegründet und unausgearbeitet bleiben.
41 Der Begriff der Familienähnlichkeit als terminus technicus der Philosophie geht auf den Philosophen Ludwig Wittgenstein zurück.
42 Z. B. im Rahmen der ELSI 2.0‑Initiative – siehe J. Kaye, E.M. Meslin, B.M. Knoppers, E.T. Juengst, M. Deschênes, A. Cambon- Thomsen, D. Chalmers, J. de Vries, K. Edwards, N. Hoppe, A. Kent, C. Adebamowo, P. Marshall & K. Kato, ELSI 2.0 for genomics and society, Science 336, 673–674.
Reydon · Vorsorgeprinzip bei Biosicherheitsfragen 8 1
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weise zumindest nicht schlechter dazustehen als die ver- fügbaren Alternativen.
Abschließend sollte die Rolle der einzelnen Wissen- schaftlerin bzw. des einzelnen Wissenschaftlers noch kurz beleuchtet werden. Die Frage, wie schwerwiegend die zu erwartenden Schäden eines möglichen Miss- brauchs von biowissenschaftlichem Wissen oder von Biomaterialien wären, ist auch eine biowissenschaftliche Frage. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben somit eine Rolle bei der Beantwortung dieser Frage. Ich möchte dafür plädieren (ohne hier jedoch eine argu- mentative Begründung zu liefern), aus dieser Tatsache eine „Pflicht zur Expertentätigkeit“ abzuleiten, die als Teil des wissenschaftlichen Berufsethos aufgefasst wer- den sollte. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hätten dementsprechend als Mitglieder der wissen- schaftlichen Community eine (nicht festgeschriebene, oder gar juristisch begründete) Verpflichtung, gefragt oder auch ungefragt ihre relevante Fachexpertise in die Bewertung von Biosicherheitsfällen einzubringen. Als Teil des wissenschaftlichen Berufsethos wäre eine solche Verpflichtung z. B. mit der Verpflichtung zur Teilnahme als Gutachterin bzw. Gutachter an Peer-Review-Prozes- sen vergleichbar: Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler sind selbstverständlich nicht dazu verpflichtet, jeder einzelnen Anfrage zum Peer Review eines zur Ver-
öffentlichung eingereichten Artikels zu entsprechen, aber als Mitglied einer bestimmten Community haben sie dennoch eine implizite Pflicht, einen eigenen Beitrag zum Peer-Review-Prozess zu liefern indem sie regelmä- ßig Manuskripte beurteilen. Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die selbst an einem Biosecurity-re- levanten Forschungsprojekt beteiligt sind, könnte z. B. auch die (implizite) Verpflichtung in Erwägung gezogen werden, begleitend zum eigentlichen Forschungsprojekt wissenschaftliche und technologische Voraussetzungen hypothetischer Missbrauchsszenarien zu erforschen.43 Bei der Erwägung solcher Verpflichtungen sollte jedoch immer bedacht werden, dass diese nicht durch allgemei- ne Prinzipien wie das Vorsorgeprinzip oder das Verant- wortungsprinzip begründet werden können – solche Verpflichtungen liegen vielmehr im Bereich des ethi- schen Handelns als Mitglied einer Berufsgemeinschaft als im Bereich des moralischen Handelns.
Thomas Reydon ist Juniorprofessor für Philosophie der Biologie am Institut für Philosophie der Leibniz Univer- sität Hannover und Vorstandsmitglied des Centre for Ethics and Law in the Life Sciences (CELLS) der Leibniz Universität Hannover. Informationen und Kontakt: www.reydon.info; reydon@ww.uni-hannover.de.
43 Dies parallel zu der Abschätzung von Risiken in biosafety- relevanten Projekten. Allerdings müsste in biosecurity-relevanten Projekten mit hypothetischen Szenarien gearbeitet werden, da keine Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeiten möglich ist.