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OdW ver­steht sich nicht zuletzt als Forum wis­sen­schafts- poli­ti­scher und wis­sen­schafts­ethi­scher Fra­gen. Wir sind des­halb der Minis­te­rin für Wis­sen­schaft, For­schung und Kunst des Lan­des Baden-Würt­tem­berg, The­re­sia Bau­er, sehr dank­bar, dass sie in dem nach­fol­gen­den Bei­trag zu der zen­tra­len Fra­ge Stel­lung nimmt, wie in der Gegen- wart Frei­räu­me für Wis­sen­schaft zu schaf­fen und zu schüt­zen sind.

Man­fred Löwisch

I. Leit­bild Wissenschaftsfreiheit

For­schung und Wis­sen­schaft sind Frei­räu­me. Sie über- win­den Gren­zen. Ihre Gegen­stän­de sind end­los, ihre Fra­gen berüh­ren den Anfang von Zeit und Raum; Vor- gän­ge, die wir nicht erfah­ren, son­dern oft nur simu­lie­ren oder rekon­stru­ie­ren kön­nen. For­schung und Wis­sen- schaft behan­deln die unend­li­che Viel­zahl der Fra­gen des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens. Sie ent­wi­ckeln Din­ge, die wir heu­te nicht mal den­ken kön­nen. Sie befas­sen sich damit, wie wir die Zukunft als Mensch­heit gestal­ten kön- nen. Der Kern der wis­sen­schaft­li­chen Frei­heit liegt dar- in, dass für sie das, was wir Über­zeu­gun­gen und Wahr- hei­ten nen­nen, nicht fest gege­ben ist. Was lan­ge als Wahr­heit galt, kann jeder­zeit durch neue Erkennt­nis­se, durch eine neue Wahr­heit ersetzt werden.

Wis­sen­schaft ist also Frei­heit. Und gleich­zei­tig braucht Wis­sen­schaft Frei­heit, um sich ent­fal­ten zu kön- nen. Dass die Gesell­schaft der Wis­sen­schaft Frei­heit bei der Aus­wahl von For­schungs­ge­gen­stän­den und von Me- tho­den – in ver­fas­sungs­recht­li­chen Gren­zen – ein­räumt, ist unab­ding­ba­re Grund­vor­aus­set­zung für wis­sen­schaft- liche Inno­va­ti­ons­kraft und Qualität.

In Deutsch­land ist die Frei­heit der Wis­sen­schaft im Grund­ge­setz unge­wöhn­lich stark ver­an­kert. Wäh­rend Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit Schran­ken in den Vor- schrif­ten der all­ge­mei­nen Geset­ze fin­den, wur­de die Frei­heit der Wis­sen­schaft von den Vätern des Grundge- set­zes vor­be­halts­los garantiert.

Zen­tral ist dabei die Idee, dass Wis­sen­schaft ein er- gebnis­of­fe­ner und nicht unmit­tel­bar Zwe­cken unterzu-

  1. 1  BVerfG 47, 327 – Hes­si­sches Universitätsgesetz.
  2. 2  Gum­brechtHans Ulrich, Ris­kan­tes Den­ken. Intel­lek­tu­el­le als Kata-lys­to­ren von Kom­ple­xi­tät. In: Der kri­ti­sche Blick. Über intellektu-

ord­nen­der Pro­zess ist, so wie sie in der durch die Ideen Hum­boldts gepräg­ten Uni­ver­si­tät des 19. Jahr­hun­derts aus­ge­prägt wurde.

Es gilt jedoch sich auch dar­an zu erin­nern, dass in der Zeit der Grün­dung der ers­ten Uni­ver­si­tä­ten, die Frei­heit der Wis­sen­schaft weni­ger auf einen frei­en, er- gebnis­of­fe­nen For­schungs­pro­zess bezo­gen war, als auf die Frei­heit der Leh­ren­den und Ler­nen­den, sich als Ge- mein­schaft eige­ne Regeln geben zu kön­nen. Die­se Idee, dass Wis­sen­schaft als insti­tu­tio­nel­ler Frei­raum mit eige- nen Regeln und Qua­li­täts­maß­stä­ben aus­ge­stal­tet wer­den soll­te, gehört heu­te eben­so zu einer moder­nen Vorstel- lung von Frei­heit der Wis­sen­schaft, wie die Idee, dass mit Frei­heit eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung einhergeht.

In die­sem Zusam­men­hang gel­ten die Sät­ze des Bun- des­ver­fas­sungs­ge­richts aus den sieb­zi­ger Jah­ren noch immer:

„Die Distanz, die der Wis­sen­schaft um ihrer Frei­heit wil- len zu Gesell­schaft und Staat zuge­bil­ligt wer­den muss, ent­hebt sie auch nicht von vorn­her­ein jeg­li­cher Ausein- ander­set­zung mit gesell­schaft­li­chen Pro­ble­men. Die­ser Frei­raum ist nach der Wer­tung des Grund­ge­set­zes nicht für eine von Staat und Gesell­schaft iso­lier­te, son­dern für eine letzt­lich dem Woh­le des Ein­zel­nen und der Ge- mein­schaft die­nen­de Wis­sen­schaft ver­fas­sungs­recht­lich garantiert.“1

Aus­ge­hend von die­sem noch heu­te hoch­ak­tu­el­len Ver­ständ­nis von Wis­sen­schafts­frei­heit als Leit­bild stellt sich die Fra­ge, wel­che Rah­men­be­din­gun­gen eine moder- ne Wis­sen­schafts­po­li­tik garan­tie­ren muss, um das tat- säch­li­che Leben von Wis­sen­schafts­frei­heit zu ermög­li- chen. Wel­che Gefähr­dun­gen bestehen heu­te für die­ses Ver­ständ­nis von Wis­sen­schafts­frei­heit und was kann Wis­sen­schafts­po­li­tik tun, um die­sen entgegenzutreten?

II. Wis­sen­schafts­frei­heit heu­te bedeu­tet, Frei­räu­me zu eröffnen

Ich schla­ge vor, die­se Frei­heit der Wis­sen­schaft heu­te als Auf­trag an die Wis­sen­schafts­po­li­tik zu ver­ste­hen, Frei- räu­me zu eröff­nen und zu erhal­ten. Frei­heit der Wissen-

elle Tätig­kei­ten und Tugen­den, Uwe Jus­tus Wen­zel (Hrsg.), 2002, Frank­furt a. M., 140–147.

The­re­sia Bauer

Frei­räu­me für Wis­sen­schaft schaf­fen und schützen

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2015, ISSN 2197–9197

132 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2015), 131–136

schaft kann nicht allein als Abwehr­recht gegen unmit­tel- bare Ein­grif­fe in die Wahr­heits­ori­en­tie­rung von For- schung und Leh­re ver­stan­den wer­den, es ist viel­mehr eine Kul­tur des Ermög­li­chens gefragt.

Moder­ne Wis­sen­schaft muss die Mög­lich­keit des „ris- kan­ten Denkens“2 – auch des Schei­terns haben. Sie muss sowohl in Rich­tung der tech­ni­schen und gesell­schaft­li- chen Umset­zung den­ken als auch ihrer eige­nen inne­ren Logik ohne Zweck­bin­dung fol­gen kön­nen. Sie muss eine sich selbst befeu­ern­de Dyna­mik ent­wi­ckeln kön­nen, bei der neue Erkennt­nis­se immer neue Fra­ge­stel­lun­gen her- vor­brin­gen. Der Kern guter Wis­sen­schafts­po­li­tik ist, für die Wis­sen­schaft Frei­räu­me zu schaf­fen und zu schüt­zen, die die­se Dyna­mik ermöglichen.

Wis­sen­schaft lebt in beson­de­rer Wei­se von sol­chen Frei­räu­men, inner­halb derer hoch­qua­li­fi­zier­te und krea- tive Per­sön­lich­kei­ten ihren eige­nen Vor­ha­ben nach­ge- hen. So kön­nen neue Ideen ent­ste­hen, so wer­den die Grund­la­gen für unse­re Inno­va­ti­ons­kraft geschaf­fen – für die Bear­bei­tung der gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen. Frei­heit ist dafür die Grund­la­ge, denn Inno­va­tio­nen las­sen sich nicht auf einen defi­nier­ten Bereich ein­schrän­ken. Was oft mit „zukunfts­fä­hig machen“ beschrie­ben wird, sug- geriert, man kön­ne sich durch For­schung auf eine vor­ge- gebe­ne Zukunft vor­be­rei­ten. In Wahr­heit ken­nen wir we- der unse­re Zukunft noch ist sie festgelegt.3 Wir gestal­ten unse­re Zukunft immer wie­der neu und ver­än­dern sie – und zwar zu gro­ßen Tei­len getrie­ben von unse­rer Wissenschaft.

III. Bedro­hun­gen von Wissenschaftsfreiheit

Die Frei­räu­me der Wis­sen­schaft sind heu­te bedroht durch eine Rei­he von mit­tel­ba­ren Fak­to­ren, die ich exem­pla­risch an den Begrif­fen Kurz­at­mig­keit, Abhän- gig­keit und Ver­zwe­ckung fest­ma­chen möchte.

1. Kurz­at­mig­keit

Der Anteil der Dritt­mit­tel­fi­nan­zie­rung in der For­schung ist in den letz­ten Jah­ren bun­des­weit dra­ma­tisch ange- stie­gen. Im Jahr 2012 wur­den an den baden-würt­tem­ber- gischen Hoch­schu­len 23,4% der Aus­ga­ben durch Dritt- mit­tel gedeckt, zehn Jah­re zuvor waren es noch 18% gewe­sen – Ten­denz steigend.4 Gleich­zei­tig waren die letz­ten Jahr­zehn­te poli­tisch zuneh­mend von klein­tei­li- gen Finan­zie­rungs­for­ma­ten und befris­te­ten Son­der­pro- gram­men geprägt. Son­der­pro­gram­me für den Stu­die- ren­den­auf­wuchs, Stu­di­en­ge­büh­ren, Ersatz­gel­der für die Stu­di­en­ge­büh­ren. Die­ses klein­tei­li­ge Sys­tem hat das

3 Ver­glei­che auch Prantl, Heri­bert, Wun­der­wort Zukunft, in: Süd­deut­sche Zei­tung, 23.05.2015. Online abruf­bar unter http:// www.sueddeutsche.de/politik/pfingsten-wunderwort-zu- kunft‑1.2490257–2 (2.6.2015).

finan­zi­el­le Fun­da­ment der Hoch­schu­len ange­grif­fen, die Mög­lich­keit der lang­fris­ti­gen Pla­nung geschmä­lert und damit ihre Stra­te­gie­fä­hig­keit geschwächt.

So rich­tig und wich­tig die Impul­se waren und sind, die För­der­pro­gram­me für die Wis­sen­schaft set­zen, so bedarf es einer guten Balan­ce zwi­schen den Anreiz­wir- kun­gen pro­jekt- und wett­be­werbs­be­zo­ge­ner Finan­zie- rung und einer ver­läss­li­chen Grund­fi­nan­zie­rung. Denn das Pri­vi­leg der Wis­sen­schaft, in lan­gen Lini­en den­ken zu kön­nen, Wege zu beschrei­ten, ohne zu wis­sen, wo sie enden wer­den, darf nicht durch eine zu umfang­rei­che Bin­dung von Finanz­mit­teln an kur­ze Zeit­pe­ri­oden ein- geschränkt werden.

2. Abhän­gig­keit

Kar­rie­re­we­ge in der Wis­sen­schaft sind mit gro­ßen Unsi- cher­hei­ten behaf­tet. Es ver­geht eine lan­ge Zeit, bis Wis- sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler in die Posi­ti­on kom­men, eigen­ver­ant­wort­lich zu arbei­ten. Auf die­sem Weg gehen vie­le talen­tier­te Köp­fe für die Wis­sen­schaft ver­lo­ren. Denn im glo­ba­len Wett­be­werb um die bes­ten Köp­fe gibt es durch­aus attrak­ti­ve Alter­na­ti­ven. Die lan­ge Pha­se der Unsi­cher­heit gefähr­det vor allem aber auch die Frei­heit der Wis­sen­schaft, weil Nach­wuchs­wis­sen­schaft- ler nicht ermu­tigt sind, Bestehen­des gegen den Strich zu bürs­ten, neue Wege zu bestreiten.

Im Schnitt errei­chen Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis- sen­schaft­ler in Deutsch­land erst mit 42 ihre ers­te Le- bens­zeit­pro­fes­sur – wenn über­haupt. Bis dahin sind sie häu­fig ange­hal­ten, sich an der Aus­rich­tung des Lehr- stuhls, oft auch am wis­sen­schaft­li­chen Main­stream zu ori- entierenodersichdurchProjektezuhangeln,diezumEr- folg ver­dammt sind, da nur so die eige­ne Stel­le gesi­chert wer­den kann.

Frü­he­re aka­de­mi­sche Eigen­stän­dig­keit und ver­läss­li- che­re Per­spek­ti­ven sind not­wen­dig, um Wis­sen­schaft ge- rade für Quer­den­ker und krea­ti­ve Per­sön­lich­kei­ten at- trak­tiv zu machen.

3.Verzweckung

Der gestie­ge­ne Anteil an Dritt­mit­teln – aus pri­va­ter und öffent­li­cher Hand – wirft immer stär­ker Fra­gen nach der Öko­no­mi­sie­rung und einer Ver­zwe­ckung von Wis­sen- schaft auf. Die­se Debat­te muss geführt wer­den. Nicht weil Spen­den und Pro­jekt­gel­der aus der Wirt­schaft für Wis­sen­schaft per se abzu­leh­nen wären. Das Gegen­teil ist der Fall. Die Annah­me von Dritt­mit­teln darf aber kein Ergeb­nis von Finan­zie­rungs­not sein, weil der Staat sei-

4 Sta­tis­ti­sches Lan­des­amt Baden-Würt­tem­berg, Stutt­gart, 2.5.2014 – Pres­se­mit­tei­lung Nr. 156/2014.

Bau­er · Frei­räu­me für Wis­sen­schaft schaf­fen und schüt­zen 1 3 3

ner Finan­zie­rungs­ver­ant­wor­tung nicht aus­rei­chend nachkommt.

Eine ande­re Form der Frei­heits­be­dro­hung kann heu- te aber auch aus über­schie­ßen­den Ideen ent­ste­hen, Wis- sen­schaft aus­schließ­lich an den gro­ßen Her­aus­for­de­run- gen unse­rer Zeit zu ori­en­tie­ren. So gibt es der­zeit inten- sive Dis­kus­sio­nen dar­über, Wis­sen­schaft stär­ker auf ih- ren Bei­trag für die nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung zu verpflichten.5

Es ist unzwei­fel­haft rich­tig, dass die gro­ßen Fra­gen der Nach­hal­tig­keit nur mit Hil­fe tech­ni­scher und sozia- ler Inno­va­tio­nen gelöst wer­den, für die Hoch­schu­len und wis­sen­schaft­li­che Ein­rich­tun­gen unver­zicht­bar sind. Die Wis­sen­schaft wird dafür gebraucht und Baden- Würt­tem­berg för­dert ent­spre­chend neue For­men der Wis- sen­s­ge­ne­rie­rung, etwa hin­sicht­lich der beson­de­ren inter- dis­zi­pli­nä­ren Struk­tur der Nachhaltigkeitsproblematik.

Ori­en­tie­rung an gro­ßen gesell­schaft­li­chen Her­aus- for­de­run­gen darf jedoch nicht hei­ßen, dass dis­zi­pli­nä­re For­schung oder Grund­la­gen­for­schung an Legi­ti­ma­ti­on ver­lie­ren oder dass nun jedes For­schungs­pro­jekt außer- wis­sen­schaft­li­che Akteu­re ein­be­zie­hen müss­te. Es darf auch nicht bedeu­ten, Wis­sen­schaft nur auf Anwen- dungs­for­schung zu fokussieren.

Beden­kens­wert erscheint mir das jüngs­te Posi­ti­ons- papier des Wis­sen­schafts­rats „Zum wis­sen­schafts­po­li­ti- schen Dis­kurs über gro­ße gesell­schaft­li­che Her­aus­for­de- run­gen“, in dem neue For­men der Wis­sens­pro­duk­ti­on die Grund­la­gen­for­schung als beson­de­rer Aus­druck der frei­en und unge­rich­te­ten Wis­sen­schaft betont wer­den, die ihrem Namen ent­spre­chend die Grund­la­ge für die Bear­bei­tung der Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Zeit legt.6

Wir dür­fen und wir müs­sen der Wis­sen­schaft zumu- ten, sich mit den gro­ßen Fra­gen der Gesell­schaft zu be- schäf­ti­gen. Wir dür­fen Wis­sen­schaft aller­dings nicht eng­füh­ren, weil wir sie dann ihrer spe­zi­fi­schen Stär­ke berau­ben. Denn wir wis­sen nicht, was die gro­ßen Fra­gen von mor­gen sein wer­den. Und es ist an der Wis­sen­schaft eben­so wie an allen ande­ren Tei­len der Gesell­schaft, be- stän­dig dar­über zu reflek­tie­ren, wel­che Fra­gen zu bear- bei­ten sind und auch immer wie­der neu zu prü­fen, ob es noch die rich­ti­gen sind.

  1. 5  Ver­glei­che u.a.: Schnei­de­wind, Uwe und Sin­ger-Bro­dow­ski, Man­dy, Trans­for­ma­ti­ve Wis­sen­schaft. Kli­ma­wan­del im deut­schen Wis­sen- schafts- und Hoch­schul­sys­tem, Mar­burg 2014; Jahn, Tho­mas, Wis- sen­schaft für eine nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung braucht eine kri­ti­sche Ori­en­tie­rung, in: GAIA — Eco­lo­gi­cal Per­spec­ti­ves for Sci­ence and Socie­ty, 22 (1), 2013, 29–33.
  2. 6  Wis­sen­schafts­rat, Zum wis­sen­schafts­po­li­ti­schen Dis­kurs über

IV. Wie eröff­nen wir Frei­räu­me für Wissenschaft?

Wie kann Wis­sen­schafts­po­li­tik Frei­räu­me erwei­tern und gegen die genann­ten Bedro­hun­gen schüt­zen? Ich möch- te eini­ge Bei­spie­le nen­nen, wie die Lan­des­re­gie­rung von Baden-Würt­tem­berg die­ses Ziel verfolgt.

1. Finan­zi­el­le Verlässlichkeit

Die Phi­lo­so­phie, Frei­räu­me zu eröff­nen, fin­det sich im Hoch­schul­fi­nan­zie­rungs­ver­trag „Per­spek­ti­ve 2020“,7 den wir die­ses Jahr in Baden-Würt­tem­berg auf den Weg gebracht haben. Nach Jah­ren des Still­stands haben wir durch die Erhö­hung der Grund­fi­nan­zie­rung unse­rer Hoch­schu­len die Balan­ce zwi­schen pro­jekt­ori­en­tier­ter Finan­zie­rung und Grund­fi­nan­zie­rung ver­bes­sert. Wir geben den Hoch­schu­len mehr finan­zi­el­le Spiel­räu­me, um eigen­stän­di­ge Stra­te­gien ent­wi­ckeln und in län­ge­ren Hori­zon­ten agie­ren zu können.

Kon­kret über­füh­ren wir den Groß­teil der Qua­li­täts- siche­rungs­mit­tel, die als Ersatz der Stu­di­en­ge­büh­ren an die Hoch­schu­len geflos­sen sind, sowie Mit­tel aus dem Pro­gramm Hoch­schu­le 2012 in die Grund­fi­nan­zie­rung. Zusätz­lich gibt das Land bis 2020 zusätz­li­che Mit­tel in Höhe von 1,1 Mil­li­ar­den Euro. Damit rea­li­sie­ren wir den vom Wis­sen­schafts­rat emp­foh­le­nen dyna­mi­schen Auf- wuchs der Grund­fi­nan­zie­rung um drei Pro­zent pro Jahr. Die­ser Auf­wuchs ermög­licht den Hoch­schu­len, in den nächs­ten sechs Jah­ren bis zu 3800 Stel­len in der Grund- finan­zie­rung zu schaffen.

Wofür die Hoch­schu­len das Geld kon­kret ein­set­zen, ist nun ihnen über­las­sen und nicht mehr an Vor­ga­ben bestimm­ter Pro­gramm­li­ni­en gebun­den. So ent­steht ein Frei­raum, eige­ne Schwer­punk­te zu set­zen, Neu­es aus­zu- pro­bie­ren und die Mög­lich­keit, um die Per­sön­lich­kei­ten zu wer­ben, die die Wis­sen­schafts­frei­heit am Ende mit Leben füllen.

2. Per­spek­ti­ven für den wis­sen­schaft­li­chen Nachwuchs

Wir haben den Hoch­schu­len mit der Erhö­hung der Grund­fi­nan­zie­rung auch die Mög­lich­keit in die Hand gege­ben, jun­gen hoch­qua­li­fi­zier­ten Wis­sen­schaft­le­rin- nen und Wis­sen­schaft­lern gute Bedin­gun­gen zu bieten.

gro­ße gesell­schaft­li­che Her­aus­for­de­run­gen, Positionspapier

April 2015, Druck­sa­che 4594–15.
7 „Per­spek­ti­ve 2020“, Hoch­schul­fi­nan­zie­rungs­ver­trag Baden-Württem-

berg 2015–2020. Abruf­bar unter https://www.baden-wuerttemberg.de/ fileadmin/redaktion/dateien/PDF/ 150109_Hoch­schul­fi­nan­zie­rungs- vertrag.pdf (am 2.6.2015).

134 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2015), 131–136

Unser Wis­sen­schafts­sys­tem basiert zu gro­ßen Tei­len auf den hoch­pro­duk­ti­ven Nach­wuchs­wis­sen­schaft­le­rin­nen und Nach­wuchs­wis­sen­schaft­lern, die eige­ne Ideen ent- wickeln und neue Pro­jek­te ansto­ßen. Die Bes­ten wol­len wir hal­ten, sie dür­fen nicht aus man­geln­der Per­spek­ti­ve in die Wirt­schaft oder ins Aus­land abwandern.

Der Hoch­schul­fi­nan­zie­rungs­ver­trag ermög­licht län- gere Ver­trags­zei­ten und for­dert die­se von den Hoch- schu­len in Form von Selbst­ver­pflich­tun­gen ein. Bereits 2014 haben wir zudem im neu­en Lan­des­hoch­schul­ge­setz den ech­ten Ten­ure Track für Juni­or­pro­fes­su­ren ein­ge- führt. Ohne Stel­len­vor­be­halt kann eine Juni­or­pro­fes­sur damit in eine Lebens­zeit­pro­fes­sur über­führt wer­den, wenn die not­wen­di­ge Qua­li­tät geprüft und gege­ben ist. Die Juni­or­pro­fes­sur mit Ten­ure Track ermög­licht die frü­he­re Eigen­stän­dig­keit von Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­lern und bie­tet eine ver­läss­li­che Kar­rie­re- perspektive.

Wir wol­len den oft zu eng gera­te­nen Takt, in dem Ver­trä­ge für jun­ge Wis­sen­schaft­ler geschlos­sen wer­den, wie­der ent­zer­ren. Wer stets nur mit der Bewer­bung auf die nächs­te Stel­le beschäf­tigt ist, kann kei­nen eige­nen ambi­tio­nier­ten Pro­jek­ten nach­ge­hen. Wer unter so ho- hem Publi­ka­ti­ons­druck steht, dass jedes Pro­jekt zum Er- folg füh­ren muss, kann nicht ris­kan­te Wege beschreiten.

3. Ver­an­ke­rung in der Gesellschaft

Weder Poli­tik noch Wirt­schaft dür­fen Wis­sen­schaft für ihre Zie­le ver­ein­nah­men. Frei­räu­me sind jedoch kei­ne Bio­to­pe, in denen Wis­sen­schaft in Ruhe gelas­sen wird. Mit Frei­heit geht Ver­ant­wor­tung ein­her. Wis­sen­schaft muss sich in der Gesell­schaft ver­an­kern, ohne sich jedem Trend anzupassen.

Um nur ein Bei­spiel zu nen­nen, wie dies gelin­gen kann, sei an die­ser Stel­le das Kon­zept der „Real­la­bo­re“ genannt. Um Wis­sen­schaft näher an die Gesell­schaft zu rücken, för­dern wir Pro­jek­te, in denen Hoch­schu­len mit zivil­ge­sell­schaft­li­chen und kom­mu­na­len Akteu­ren an kon­kre­ten Her­aus­for­de­run­gen vor Ort arbei­ten. Wir sind damit Emp­feh­lun­gen einer vom Wis­sen­schafts­mi- nis­te­ri­um ein­ge­setz­ten Exper­ten­grup­pe zur „Wis­sen- schaft für Nachhaltigkeit“8 gefolgt, ohne die­se gene­rell als Leit­bild für die Hoch­schu­len vorzusehen.

Auf der Grund­la­ge einer ers­ten Aus­schrei­bung för- dert das Wis­sen­schafts­mi­nis­te­ri­um seit Janu­ar 2015 be- reits sie­ben Pro­jek­te im Land, die sich in einem wettbe-

Minis­te­ri­um für Wis­sen­schaft, For­schung und Kunst Baden-Würt- tem­berg (Hrsg.), Emp­feh­lun­gen der Exper­ten­grup­pe „Wis­sen­schaft für Nach­hal­tig­keit“, Juni 2013, abruf­bar unter https://mwk.baden- wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m‑mwk/intern/dateien/

werb­li­chen Ver­fah­ren durch­ge­setzt haben. Eine zwei­te lau­fen­de Aus­schrei­bung wid­met sich dem The­ma „Städ­te“ als Zukunfts­la­bo­re unse­rer Gesellschaft.

Real­la­bo­re unter­stüt­zen ange­wand­te For­schung vor Ort, deren Fra­ge­stel­lun­gen und Metho­den inter­dis­zi­pli- när und im Dia­log mit Pra­xis­part­nern ent­wi­ckelt wer- den. So sind Real­la­bo­re selbst Frei­räu­me, in denen Neu- es ent­ste­hen kann.

Eben­so sind Koope­ra­tio­nen mit der Wirt­schaft ge- wünscht. Sie sind kein Bruch mit der Wis­sen­schafts­frei- heit. Koope­ra­ti­on ist Nähe zur Pra­xis und immer auch Anstoß zu neu­en Per­spek­ti­ven und Inno­va­tio­nen. Ein Blick auf die der­zeit bei Stu­die­ren­den im Bereich Wirt- schaft und Infor­ma­tik welt­weit belieb­tes­te Eli­te Uni­ver- sität Stanford9 zeigt, wel­che Dyna­mik aus der Ver­bin­dung von exzel­len­ter Leh­re und For­schung und der För­de­rung des soge­nann­ten „Entre­pre­neur­ship“ ent­ste­hen kann.

So kri­tisch man­che Ent­wick­lun­gen auch zu hin­ter- fra­gen sind – ins­be­son­de­re in Bezug auf sozi­al­staat­li­che Ein­bet­tun­gen im ame­ri­ka­ni­schen Sys­tem und Fra­gen der Daten­si­che­rung und des Daten­ei­gen­tums – so sehr hat doch die enor­me Dyna­mik des Sili­con Val­leys unse- re Gesell­schaft ver­än­dert. Was bei uns büro­kra­tisch Tech­no­lo­gie­trans­fer heißt, ist dort eine Start Up Kul­tur, die wir uns in Deutsch­land bis­lang noch schwer vorstel- len können.

Es kann nicht Ziel sein, kali­for­ni­sche Ver­hält­nis­se unge­fil­tert in Deutsch­land zu kopie­ren. Doch es lohnt sich, dar­über nach­zu­den­ken, was wir von Frei­räu­men, die dort in Form von offe­nen Räu­men und inter­na­tio­na- ler und inter­dis­zi­pli­nä­rer Begeg­nungs­kul­tur gelebt wer- den, ler­nen wollen.

V. Die Luft der Frei­heit weht

Wis­sen­schafts­po­li­tik hat die Auf­ga­be, Frei­räu­me zu eröff- nen. Wis­sen­schaft über­nimmt im Gegen­zug Verantwortung.

Neben der wis­sen­schaft­li­chen Red­lich­keit per se geht es ins­be­son­de­re um Ver­ant­wor­tung gegen­über der Ge- sell­schaft. Die im Grund­ge­setz ver­bürg­te For­schungs- frei­heit und die Bereit­stel­lung der Bedin­gun­gen für die- se Frei­heit durch die Poli­tik brin­gen die Pflicht mit sich, mit der Gesell­schaft im engen Dia­log zu sein.

For­schungs­er­geb­nis­se müs­sen der Öffent­lich­keit na- hege­bracht wer­den und For­schungs­not­wen­dig­kei­ten ge- rade in sen­si­blen Gebie­ten erläu­tert wer­den. Gera­de weil

pdf/Wissenschaft_f%C3%BCr_Nachhaltigkeit/Expertenbericht_

RZ_MWK_Broschuere_Nachhaltigkeit_Web.pdf (2.6.2015).
9 U.S. News Ran­king 2015, http://colleges.usnews.rankingsandre-

views.com/best-colleges/stanford-1305 (8.6.2015).

Bau­er · Frei­räu­me für Wis­sen­schaft schaf­fen und schüt­zen 1 3 5

Poli­tik nicht regu­lie­rend son­dern ermög­li­chend ein- greift, ent­steht dar­aus die Ver­ant­wor­tung, sich von Sei- ten der Wis­sen­schaft selbst öffent­lich zu erklä­ren und hin­ter­fra­gen zu lassen.

Pro­mi­nen­tes Bei­spiel sind hier die Neu­ro­wis­sen- schaf­ten, die auf Tier­ver­su­che zurück­grei­fen, um das Gehirn zu ver­ste­hen. Zuletzt ist in Baden-Würt­tem­berg am Bei­spiel des Tübin­ger MPI für bio­lo­gi­sche Kyber­ne- tik wie­der inten­siv über das Für und Wider tier­ex­pe­ri- men­tel­ler For­schung mit Pri­ma­ten dis­ku­tiert wor­den. Und die­se Debat­te ist not­wen­dig. For­schung an Tie­ren ist immer eine schwe­re ethi­sche Abwä­gung, die nicht pau­schal in die eine oder ande­re Rich­tung ent­schie­den wer­den kann. Daher wer­den in Deutsch­land Tier­ver­su- che durch Ethik­kom­mis­sio­nen geprüft und ein­zeln ge- neh­migt. Sie neh­men die Wis­sen­schaft in die Pflicht, je- den ein­zel­nen Ver­such an Tie­ren zu begrün­den und zu rechtfertigen.

Hier geht es um das Abste­cken ethi­scher Gren­zen der Frei­heit der Wis­sen­schaft. Was die Art der Debat­te in den letz­ten Mona­ten in Baden-Würt­tem­berg betrifft, muss aber auch fest­ge­hal­ten wer­den: Völ­lig inak­zep­ta­bel ist es, wie Wis­sen­schaft­ler dif­fa­miert, belei­digt und ge-

mein­sam mit ihren Fami­li­en bedroht wur­den. Es wäre ein her­ber Rück­schlag, wenn For­schung auf­grund sol- cher Art Drucks ein­ge­stellt wür­de, ohne dass eine sach­li- che Abwä­gung noch mög­lich wäre. In die­sen oft unan­ge- neh­men Kon­flik­ten muss Wis­sen­schaft offe­ner Posi­ti­on bezie­hen und sich der Gesell­schaft erklä­ren. Poli­tik kann mode­rie­ren aber nicht die Wis­sen­schaft aus der Pflicht ent­las­sen, For­schungs­me­tho­den zu erläu­tern und zu rechtfertigen.

Je bes­ser Wis­sen­schaft in der Gesell­schaft ver­an­kert ist, des­to bes­ser kann Poli­tik Wis­sen­schaft die Frei­heit garan­tie­ren, die sie benö­tigt. Die Lan­des­re­gie­rung behält die­ses Ziel fest im Blick. Nicht zuletzt bei der Dele­ga­ti- ons­rei­se im Mai 2015 nach Kali­for­ni­en wur­de sie dar­in ein­drucks­voll bestä­tigt. Denn dass Frei­heit Grund­vor- aus­set­zung für die Leis­tungs­fä­hig­keit von Wis­sen­schaft ist, ist wohl nir­gends so schön aus­ge­drückt wie an der Uni­ver­si­tät Stan­ford. Bis heu­te führt sie einen deut­schen Leit­spruch in ihrem Uni­ver­si­täts­wap­pen: „Die Luft der Frei­heit weht“.

The­re­sia Bau­er ist Minis­te­rin für Wis­sen­schaft, For­schung und Kunst in Baden-Württemberg.

136 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2015), 131–136