OdW versteht sich nicht zuletzt als Forum wissenschafts- politischer und wissenschaftsethischer Fragen. Wir sind deshalb der Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Theresia Bauer, sehr dankbar, dass sie in dem nachfolgenden Beitrag zu der zentralen Frage Stellung nimmt, wie in der Gegen- wart Freiräume für Wissenschaft zu schaffen und zu schützen sind.
Manfred Löwisch
I. Leitbild Wissenschaftsfreiheit
Forschung und Wissenschaft sind Freiräume. Sie über- winden Grenzen. Ihre Gegenstände sind endlos, ihre Fragen berühren den Anfang von Zeit und Raum; Vor- gänge, die wir nicht erfahren, sondern oft nur simulieren oder rekonstruieren können. Forschung und Wissen- schaft behandeln die unendliche Vielzahl der Fragen des menschlichen Zusammenlebens. Sie entwickeln Dinge, die wir heute nicht mal denken können. Sie befassen sich damit, wie wir die Zukunft als Menschheit gestalten kön- nen. Der Kern der wissenschaftlichen Freiheit liegt dar- in, dass für sie das, was wir Überzeugungen und Wahr- heiten nennen, nicht fest gegeben ist. Was lange als Wahrheit galt, kann jederzeit durch neue Erkenntnisse, durch eine neue Wahrheit ersetzt werden.
Wissenschaft ist also Freiheit. Und gleichzeitig braucht Wissenschaft Freiheit, um sich entfalten zu kön- nen. Dass die Gesellschaft der Wissenschaft Freiheit bei der Auswahl von Forschungsgegenständen und von Me- thoden – in verfassungsrechtlichen Grenzen – einräumt, ist unabdingbare Grundvoraussetzung für wissenschaft- liche Innovationskraft und Qualität.
In Deutschland ist die Freiheit der Wissenschaft im Grundgesetz ungewöhnlich stark verankert. Während Meinungs- und Pressefreiheit Schranken in den Vor- schriften der allgemeinen Gesetze finden, wurde die Freiheit der Wissenschaft von den Vätern des Grundge- setzes vorbehaltslos garantiert.
Zentral ist dabei die Idee, dass Wissenschaft ein er- gebnisoffener und nicht unmittelbar Zwecken unterzu-
- 1 BVerfG 47, 327 – Hessisches Universitätsgesetz.
- 2 Gumbrecht, Hans Ulrich, Riskantes Denken. Intellektuelle als Kata-lystoren von Komplexität. In: Der kritische Blick. Über intellektu-
ordnender Prozess ist, so wie sie in der durch die Ideen Humboldts geprägten Universität des 19. Jahrhunderts ausgeprägt wurde.
Es gilt jedoch sich auch daran zu erinnern, dass in der Zeit der Gründung der ersten Universitäten, die Freiheit der Wissenschaft weniger auf einen freien, er- gebnisoffenen Forschungsprozess bezogen war, als auf die Freiheit der Lehrenden und Lernenden, sich als Ge- meinschaft eigene Regeln geben zu können. Diese Idee, dass Wissenschaft als institutioneller Freiraum mit eige- nen Regeln und Qualitätsmaßstäben ausgestaltet werden sollte, gehört heute ebenso zu einer modernen Vorstel- lung von Freiheit der Wissenschaft, wie die Idee, dass mit Freiheit eine besondere Verantwortung einhergeht.
In diesem Zusammenhang gelten die Sätze des Bun- desverfassungsgerichts aus den siebziger Jahren noch immer:
„Die Distanz, die der Wissenschaft um ihrer Freiheit wil- len zu Gesellschaft und Staat zugebilligt werden muss, enthebt sie auch nicht von vornherein jeglicher Ausein- andersetzung mit gesellschaftlichen Problemen. Dieser Freiraum ist nach der Wertung des Grundgesetzes nicht für eine von Staat und Gesellschaft isolierte, sondern für eine letztlich dem Wohle des Einzelnen und der Ge- meinschaft dienende Wissenschaft verfassungsrechtlich garantiert.“1
Ausgehend von diesem noch heute hochaktuellen Verständnis von Wissenschaftsfreiheit als Leitbild stellt sich die Frage, welche Rahmenbedingungen eine moder- ne Wissenschaftspolitik garantieren muss, um das tat- sächliche Leben von Wissenschaftsfreiheit zu ermögli- chen. Welche Gefährdungen bestehen heute für dieses Verständnis von Wissenschaftsfreiheit und was kann Wissenschaftspolitik tun, um diesen entgegenzutreten?
II. Wissenschaftsfreiheit heute bedeutet, Freiräume zu eröffnen
Ich schlage vor, diese Freiheit der Wissenschaft heute als Auftrag an die Wissenschaftspolitik zu verstehen, Frei- räume zu eröffnen und zu erhalten. Freiheit der Wissen-
elle Tätigkeiten und Tugenden, Uwe Justus Wenzel (Hrsg.), 2002, Frankfurt a. M., 140–147.
Theresia Bauer
Freiräume für Wissenschaft schaffen und schützen
Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
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schaft kann nicht allein als Abwehrrecht gegen unmittel- bare Eingriffe in die Wahrheitsorientierung von For- schung und Lehre verstanden werden, es ist vielmehr eine Kultur des Ermöglichens gefragt.
Moderne Wissenschaft muss die Möglichkeit des „ris- kanten Denkens“2 – auch des Scheiterns haben. Sie muss sowohl in Richtung der technischen und gesellschaftli- chen Umsetzung denken als auch ihrer eigenen inneren Logik ohne Zweckbindung folgen können. Sie muss eine sich selbst befeuernde Dynamik entwickeln können, bei der neue Erkenntnisse immer neue Fragestellungen her- vorbringen. Der Kern guter Wissenschaftspolitik ist, für die Wissenschaft Freiräume zu schaffen und zu schützen, die diese Dynamik ermöglichen.
Wissenschaft lebt in besonderer Weise von solchen Freiräumen, innerhalb derer hochqualifizierte und krea- tive Persönlichkeiten ihren eigenen Vorhaben nachge- hen. So können neue Ideen entstehen, so werden die Grundlagen für unsere Innovationskraft geschaffen – für die Bearbeitung der großen Herausforderungen. Freiheit ist dafür die Grundlage, denn Innovationen lassen sich nicht auf einen definierten Bereich einschränken. Was oft mit „zukunftsfähig machen“ beschrieben wird, sug- geriert, man könne sich durch Forschung auf eine vorge- gebene Zukunft vorbereiten. In Wahrheit kennen wir we- der unsere Zukunft noch ist sie festgelegt.3 Wir gestalten unsere Zukunft immer wieder neu und verändern sie – und zwar zu großen Teilen getrieben von unserer Wissenschaft.
III. Bedrohungen von Wissenschaftsfreiheit
Die Freiräume der Wissenschaft sind heute bedroht durch eine Reihe von mittelbaren Faktoren, die ich exemplarisch an den Begriffen Kurzatmigkeit, Abhän- gigkeit und Verzweckung festmachen möchte.
1. Kurzatmigkeit
Der Anteil der Drittmittelfinanzierung in der Forschung ist in den letzten Jahren bundesweit dramatisch ange- stiegen. Im Jahr 2012 wurden an den baden-württember- gischen Hochschulen 23,4% der Ausgaben durch Dritt- mittel gedeckt, zehn Jahre zuvor waren es noch 18% gewesen – Tendenz steigend.4 Gleichzeitig waren die letzten Jahrzehnte politisch zunehmend von kleinteili- gen Finanzierungsformaten und befristeten Sonderpro- grammen geprägt. Sonderprogramme für den Studie- rendenaufwuchs, Studiengebühren, Ersatzgelder für die Studiengebühren. Dieses kleinteilige System hat das
3 Vergleiche auch Prantl, Heribert, Wunderwort Zukunft, in: Süddeutsche Zeitung, 23.05.2015. Online abrufbar unter http:// www.sueddeutsche.de/politik/pfingsten-wunderwort-zu- kunft‑1.2490257–2 (2.6.2015).
finanzielle Fundament der Hochschulen angegriffen, die Möglichkeit der langfristigen Planung geschmälert und damit ihre Strategiefähigkeit geschwächt.
So richtig und wichtig die Impulse waren und sind, die Förderprogramme für die Wissenschaft setzen, so bedarf es einer guten Balance zwischen den Anreizwir- kungen projekt- und wettbewerbsbezogener Finanzie- rung und einer verlässlichen Grundfinanzierung. Denn das Privileg der Wissenschaft, in langen Linien denken zu können, Wege zu beschreiten, ohne zu wissen, wo sie enden werden, darf nicht durch eine zu umfangreiche Bindung von Finanzmitteln an kurze Zeitperioden ein- geschränkt werden.
2. Abhängigkeit
Karrierewege in der Wissenschaft sind mit großen Unsi- cherheiten behaftet. Es vergeht eine lange Zeit, bis Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftler in die Position kommen, eigenverantwortlich zu arbeiten. Auf diesem Weg gehen viele talentierte Köpfe für die Wissenschaft verloren. Denn im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe gibt es durchaus attraktive Alternativen. Die lange Phase der Unsicherheit gefährdet vor allem aber auch die Freiheit der Wissenschaft, weil Nachwuchswissenschaft- ler nicht ermutigt sind, Bestehendes gegen den Strich zu bürsten, neue Wege zu bestreiten.
Im Schnitt erreichen Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftler in Deutschland erst mit 42 ihre erste Le- benszeitprofessur – wenn überhaupt. Bis dahin sind sie häufig angehalten, sich an der Ausrichtung des Lehr- stuhls, oft auch am wissenschaftlichen Mainstream zu ori- entierenodersichdurchProjektezuhangeln,diezumEr- folg verdammt sind, da nur so die eigene Stelle gesichert werden kann.
Frühere akademische Eigenständigkeit und verlässli- chere Perspektiven sind notwendig, um Wissenschaft ge- rade für Querdenker und kreative Persönlichkeiten at- traktiv zu machen.
3.Verzweckung
Der gestiegene Anteil an Drittmitteln – aus privater und öffentlicher Hand – wirft immer stärker Fragen nach der Ökonomisierung und einer Verzweckung von Wissen- schaft auf. Diese Debatte muss geführt werden. Nicht weil Spenden und Projektgelder aus der Wirtschaft für Wissenschaft per se abzulehnen wären. Das Gegenteil ist der Fall. Die Annahme von Drittmitteln darf aber kein Ergebnis von Finanzierungsnot sein, weil der Staat sei-
4 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Stuttgart, 2.5.2014 – Pressemitteilung Nr. 156/2014.
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ner Finanzierungsverantwortung nicht ausreichend nachkommt.
Eine andere Form der Freiheitsbedrohung kann heu- te aber auch aus überschießenden Ideen entstehen, Wis- senschaft ausschließlich an den großen Herausforderun- gen unserer Zeit zu orientieren. So gibt es derzeit inten- sive Diskussionen darüber, Wissenschaft stärker auf ih- ren Beitrag für die nachhaltige Entwicklung zu verpflichten.5
Es ist unzweifelhaft richtig, dass die großen Fragen der Nachhaltigkeit nur mit Hilfe technischer und sozia- ler Innovationen gelöst werden, für die Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen unverzichtbar sind. Die Wissenschaft wird dafür gebraucht und Baden- Württemberg fördert entsprechend neue Formen der Wis- sensgenerierung, etwa hinsichtlich der besonderen inter- disziplinären Struktur der Nachhaltigkeitsproblematik.
Orientierung an großen gesellschaftlichen Heraus- forderungen darf jedoch nicht heißen, dass disziplinäre Forschung oder Grundlagenforschung an Legitimation verlieren oder dass nun jedes Forschungsprojekt außer- wissenschaftliche Akteure einbeziehen müsste. Es darf auch nicht bedeuten, Wissenschaft nur auf Anwen- dungsforschung zu fokussieren.
Bedenkenswert erscheint mir das jüngste Positions- papier des Wissenschaftsrats „Zum wissenschaftspoliti- schen Diskurs über große gesellschaftliche Herausforde- rungen“, in dem neue Formen der Wissensproduktion die Grundlagenforschung als besonderer Ausdruck der freien und ungerichteten Wissenschaft betont werden, die ihrem Namen entsprechend die Grundlage für die Bearbeitung der Herausforderungen unserer Zeit legt.6
Wir dürfen und wir müssen der Wissenschaft zumu- ten, sich mit den großen Fragen der Gesellschaft zu be- schäftigen. Wir dürfen Wissenschaft allerdings nicht engführen, weil wir sie dann ihrer spezifischen Stärke berauben. Denn wir wissen nicht, was die großen Fragen von morgen sein werden. Und es ist an der Wissenschaft ebenso wie an allen anderen Teilen der Gesellschaft, be- ständig darüber zu reflektieren, welche Fragen zu bear- beiten sind und auch immer wieder neu zu prüfen, ob es noch die richtigen sind.
- 5 Vergleiche u.a.: Schneidewind, Uwe und Singer-Brodowski, Mandy, Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissen- schafts- und Hochschulsystem, Marburg 2014; Jahn, Thomas, Wis- senschaft für eine nachhaltige Entwicklung braucht eine kritische Orientierung, in: GAIA — Ecological Perspectives for Science and Society, 22 (1), 2013, 29–33.
- 6 Wissenschaftsrat, Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über
IV. Wie eröffnen wir Freiräume für Wissenschaft?
Wie kann Wissenschaftspolitik Freiräume erweitern und gegen die genannten Bedrohungen schützen? Ich möch- te einige Beispiele nennen, wie die Landesregierung von Baden-Württemberg dieses Ziel verfolgt.
1. Finanzielle Verlässlichkeit
Die Philosophie, Freiräume zu eröffnen, findet sich im Hochschulfinanzierungsvertrag „Perspektive 2020“,7 den wir dieses Jahr in Baden-Württemberg auf den Weg gebracht haben. Nach Jahren des Stillstands haben wir durch die Erhöhung der Grundfinanzierung unserer Hochschulen die Balance zwischen projektorientierter Finanzierung und Grundfinanzierung verbessert. Wir geben den Hochschulen mehr finanzielle Spielräume, um eigenständige Strategien entwickeln und in längeren Horizonten agieren zu können.
Konkret überführen wir den Großteil der Qualitäts- sicherungsmittel, die als Ersatz der Studiengebühren an die Hochschulen geflossen sind, sowie Mittel aus dem Programm Hochschule 2012 in die Grundfinanzierung. Zusätzlich gibt das Land bis 2020 zusätzliche Mittel in Höhe von 1,1 Milliarden Euro. Damit realisieren wir den vom Wissenschaftsrat empfohlenen dynamischen Auf- wuchs der Grundfinanzierung um drei Prozent pro Jahr. Dieser Aufwuchs ermöglicht den Hochschulen, in den nächsten sechs Jahren bis zu 3800 Stellen in der Grund- finanzierung zu schaffen.
Wofür die Hochschulen das Geld konkret einsetzen, ist nun ihnen überlassen und nicht mehr an Vorgaben bestimmter Programmlinien gebunden. So entsteht ein Freiraum, eigene Schwerpunkte zu setzen, Neues auszu- probieren und die Möglichkeit, um die Persönlichkeiten zu werben, die die Wissenschaftsfreiheit am Ende mit Leben füllen.
2. Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs
Wir haben den Hochschulen mit der Erhöhung der Grundfinanzierung auch die Möglichkeit in die Hand gegeben, jungen hochqualifizierten Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftlern gute Bedingungen zu bieten.
große gesellschaftliche Herausforderungen, Positionspapier
April 2015, Drucksache 4594–15.
7 „Perspektive 2020“, Hochschulfinanzierungsvertrag Baden-Württem-
berg 2015–2020. Abrufbar unter https://www.baden-wuerttemberg.de/ fileadmin/redaktion/dateien/PDF/ 150109_Hochschulfinanzierungs- vertrag.pdf (am 2.6.2015).
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Unser Wissenschaftssystem basiert zu großen Teilen auf den hochproduktiven Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern, die eigene Ideen ent- wickeln und neue Projekte anstoßen. Die Besten wollen wir halten, sie dürfen nicht aus mangelnder Perspektive in die Wirtschaft oder ins Ausland abwandern.
Der Hochschulfinanzierungsvertrag ermöglicht län- gere Vertragszeiten und fordert diese von den Hoch- schulen in Form von Selbstverpflichtungen ein. Bereits 2014 haben wir zudem im neuen Landeshochschulgesetz den echten Tenure Track für Juniorprofessuren einge- führt. Ohne Stellenvorbehalt kann eine Juniorprofessur damit in eine Lebenszeitprofessur überführt werden, wenn die notwendige Qualität geprüft und gegeben ist. Die Juniorprofessur mit Tenure Track ermöglicht die frühere Eigenständigkeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und bietet eine verlässliche Karriere- perspektive.
Wir wollen den oft zu eng geratenen Takt, in dem Verträge für junge Wissenschaftler geschlossen werden, wieder entzerren. Wer stets nur mit der Bewerbung auf die nächste Stelle beschäftigt ist, kann keinen eigenen ambitionierten Projekten nachgehen. Wer unter so ho- hem Publikationsdruck steht, dass jedes Projekt zum Er- folg führen muss, kann nicht riskante Wege beschreiten.
3. Verankerung in der Gesellschaft
Weder Politik noch Wirtschaft dürfen Wissenschaft für ihre Ziele vereinnahmen. Freiräume sind jedoch keine Biotope, in denen Wissenschaft in Ruhe gelassen wird. Mit Freiheit geht Verantwortung einher. Wissenschaft muss sich in der Gesellschaft verankern, ohne sich jedem Trend anzupassen.
Um nur ein Beispiel zu nennen, wie dies gelingen kann, sei an dieser Stelle das Konzept der „Reallabore“ genannt. Um Wissenschaft näher an die Gesellschaft zu rücken, fördern wir Projekte, in denen Hochschulen mit zivilgesellschaftlichen und kommunalen Akteuren an konkreten Herausforderungen vor Ort arbeiten. Wir sind damit Empfehlungen einer vom Wissenschaftsmi- nisterium eingesetzten Expertengruppe zur „Wissen- schaft für Nachhaltigkeit“8 gefolgt, ohne diese generell als Leitbild für die Hochschulen vorzusehen.
Auf der Grundlage einer ersten Ausschreibung för- dert das Wissenschaftsministerium seit Januar 2015 be- reits sieben Projekte im Land, die sich in einem wettbe-
8 Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Würt- temberg (Hrsg.), Empfehlungen der Expertengruppe „Wissenschaft für Nachhaltigkeit“, Juni 2013, abrufbar unter https://mwk.baden- wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m‑mwk/intern/dateien/
werblichen Verfahren durchgesetzt haben. Eine zweite laufende Ausschreibung widmet sich dem Thema „Städte“ als Zukunftslabore unserer Gesellschaft.
Reallabore unterstützen angewandte Forschung vor Ort, deren Fragestellungen und Methoden interdiszipli- när und im Dialog mit Praxispartnern entwickelt wer- den. So sind Reallabore selbst Freiräume, in denen Neu- es entstehen kann.
Ebenso sind Kooperationen mit der Wirtschaft ge- wünscht. Sie sind kein Bruch mit der Wissenschaftsfrei- heit. Kooperation ist Nähe zur Praxis und immer auch Anstoß zu neuen Perspektiven und Innovationen. Ein Blick auf die derzeit bei Studierenden im Bereich Wirt- schaft und Informatik weltweit beliebteste Elite Univer- sität Stanford9 zeigt, welche Dynamik aus der Verbindung von exzellenter Lehre und Forschung und der Förderung des sogenannten „Entrepreneurship“ entstehen kann.
So kritisch manche Entwicklungen auch zu hinter- fragen sind – insbesondere in Bezug auf sozialstaatliche Einbettungen im amerikanischen System und Fragen der Datensicherung und des Dateneigentums – so sehr hat doch die enorme Dynamik des Silicon Valleys unse- re Gesellschaft verändert. Was bei uns bürokratisch Technologietransfer heißt, ist dort eine Start Up Kultur, die wir uns in Deutschland bislang noch schwer vorstel- len können.
Es kann nicht Ziel sein, kalifornische Verhältnisse ungefiltert in Deutschland zu kopieren. Doch es lohnt sich, darüber nachzudenken, was wir von Freiräumen, die dort in Form von offenen Räumen und internationa- ler und interdisziplinärer Begegnungskultur gelebt wer- den, lernen wollen.
V. Die Luft der Freiheit weht
Wissenschaftspolitik hat die Aufgabe, Freiräume zu eröff- nen. Wissenschaft übernimmt im Gegenzug Verantwortung.
Neben der wissenschaftlichen Redlichkeit per se geht es insbesondere um Verantwortung gegenüber der Ge- sellschaft. Die im Grundgesetz verbürgte Forschungs- freiheit und die Bereitstellung der Bedingungen für die- se Freiheit durch die Politik bringen die Pflicht mit sich, mit der Gesellschaft im engen Dialog zu sein.
Forschungsergebnisse müssen der Öffentlichkeit na- hegebracht werden und Forschungsnotwendigkeiten ge- rade in sensiblen Gebieten erläutert werden. Gerade weil
pdf/Wissenschaft_f%C3%BCr_Nachhaltigkeit/Expertenbericht_
RZ_MWK_Broschuere_Nachhaltigkeit_Web.pdf (2.6.2015).
9 U.S. News Ranking 2015, http://colleges.usnews.rankingsandre-
views.com/best-colleges/stanford-1305 (8.6.2015).
Bauer · Freiräume für Wissenschaft schaffen und schützen 1 3 5
Politik nicht regulierend sondern ermöglichend ein- greift, entsteht daraus die Verantwortung, sich von Sei- ten der Wissenschaft selbst öffentlich zu erklären und hinterfragen zu lassen.
Prominentes Beispiel sind hier die Neurowissen- schaften, die auf Tierversuche zurückgreifen, um das Gehirn zu verstehen. Zuletzt ist in Baden-Württemberg am Beispiel des Tübinger MPI für biologische Kyberne- tik wieder intensiv über das Für und Wider tierexperi- menteller Forschung mit Primaten diskutiert worden. Und diese Debatte ist notwendig. Forschung an Tieren ist immer eine schwere ethische Abwägung, die nicht pauschal in die eine oder andere Richtung entschieden werden kann. Daher werden in Deutschland Tierversu- che durch Ethikkommissionen geprüft und einzeln ge- nehmigt. Sie nehmen die Wissenschaft in die Pflicht, je- den einzelnen Versuch an Tieren zu begründen und zu rechtfertigen.
Hier geht es um das Abstecken ethischer Grenzen der Freiheit der Wissenschaft. Was die Art der Debatte in den letzten Monaten in Baden-Württemberg betrifft, muss aber auch festgehalten werden: Völlig inakzeptabel ist es, wie Wissenschaftler diffamiert, beleidigt und ge-
meinsam mit ihren Familien bedroht wurden. Es wäre ein herber Rückschlag, wenn Forschung aufgrund sol- cher Art Drucks eingestellt würde, ohne dass eine sachli- che Abwägung noch möglich wäre. In diesen oft unange- nehmen Konflikten muss Wissenschaft offener Position beziehen und sich der Gesellschaft erklären. Politik kann moderieren aber nicht die Wissenschaft aus der Pflicht entlassen, Forschungsmethoden zu erläutern und zu rechtfertigen.
Je besser Wissenschaft in der Gesellschaft verankert ist, desto besser kann Politik Wissenschaft die Freiheit garantieren, die sie benötigt. Die Landesregierung behält dieses Ziel fest im Blick. Nicht zuletzt bei der Delegati- onsreise im Mai 2015 nach Kalifornien wurde sie darin eindrucksvoll bestätigt. Denn dass Freiheit Grundvor- aussetzung für die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft ist, ist wohl nirgends so schön ausgedrückt wie an der Universität Stanford. Bis heute führt sie einen deutschen Leitspruch in ihrem Universitätswappen: „Die Luft der Freiheit weht“.
Theresia Bauer ist Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg.
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