Übersicht I. Zwischen Wettbewerb und Mangelverwaltung 1. Hochschulen im Wettbewerb um Studierende 2. Mangelverwaltung von Studienplätzen II. Das Verhältnis von Schule und Hochschule im Wandel 1. Werbung und Selektion 2. Das Verhältnis von Schule und Hochschule 3. Selektion und Ertüchtigung 4. Das Abitur als Grundrechtszertifikat 5. Der Bedeutungsverlust des Abiturs 6. Studierendenvorbereitung und Studierendenauswahl III. Diagnose und Ausblick 1. Beabsichtigte Planung oder ungesteuerte Entwicklung? 2. Prognosen 3. Auswirkungen auf die Institution Hochschule I. Zwischen Wettbewerb und Mangelverwaltung Nach erfolgreichem Schulabschluss2 wechselt ein junger Mensch an die Hochschule. Das ist nach wie vor der Normalfall einer akademischen Biografie, auch wenn sich neue Wege in die Hochschulbildung eröffnet haben, wissenschaftliche Weiterbildung eine immer wichtigere Rolle spielt und sich immer mehr erfahrene und ältere Menschen an den Hochschulen einschreiben. Obgleich der (fast) bruchlose Übergang von Schule zur Hochschule in der Post-Adoleszenz nach wie vor die Regel ist, ist das Verhältnis von Schule zu Hochschule gravierenden Veränderungen unterworfen. Weitgehend von der Öffentlichkeit unbeachtet kommt es zu einer allmählichen Umstrukturierung, die am Ende auf eine folgenreiche Neuordnung im Bildungsbereich hinausläuft. Und damit ändern sich auch die Bildungsinstitutionen Schule und Hochschule. Insbesondere auf Seiten der Hochschulen sind – langfristig betrachtet – bemerkenswerte Entwicklungen eingetreten, die allerdings widersprüchlich sind. Diese sollen im Folgenden genauer beleuchtet werden. 1. Hochschulen im Wettbewerb um Studierende Auf der einen Seite stehen die Hochschulen vermehrt im Wettbewerb um Studierende, sie richten Marketingstellen ein, werben um Studienanfänger/innen und machen auf vielfältige Weise Reklame für ihre Studiengänge, sie richten sogenannte Kinder- und Jugendunis aus, präsentieren sich auf Bildungsmessen, veranstalten Informationstage für Studieninteressierte, verteilen Werbe- und Info-Broschüren und rüsten ihre Internetauftritte auf; sie fahnden gar mit Hilfe von „Talent-Scouts“ nach hochschulgeeigneten Schülerinnen und Schülern mit bildungsfernem familiären Hintergrund.3 Und wenn es den Studieninteressierten nicht an Talent, sondern an notwendigen Fähigkeiten und Wissensbeständen mangelt, dann kümmern sich die Hochschulen um die Beseitigung dieser Defizite – sei es im Vorfeld des Studiums oder studienbegleitend. Die Hochschulen selbst sorgen somit für die Hochschulreife – zumindest für den „letzten Schliff “ zur Studierfähigkeit. Studienvorbereitung wird in diesem Zusammenhang auch als ein wichtiger Faktor der Studierendengewinnung begriffen. Die grundlegende Voraussetzung für den Einsatz von Studienwerbung und Marketing an einer Hochschule ist, dass diese sich als – mehr oder weniger – eigenständiger korporativer Akteur und damit als handlungsfähige Organisation definiert. Dazu wurden in den letzten 30 Jahren mit dem Transfer von Elementen aus dem New Public Management in den Hochschulbereich die Voraussetzungen geschaffen: starke Leitungspositionen, die Verantwortung der Hochschule über einen Globalhaushalt (und damit zumeist einhergehend: eine formelbasierte Mittelzuweisung), relativ eigenständige Steuerungskompetenzen in verschiedenen Bereichen (Studiengänge, Personal, Liegenschaften etc.), damit Martin Winter Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule1 1 Der Artikel ist in einer erheblich kürzeren Version unter dem Titel „Zwischen Wettbewerb um Studierende und Mangelverwaltung von Studienplätzen“ in dem Sammelband von Driesen und Ittel auf den Seiten 77–90 erschienen: Driesen, Cornelia / Ittel, Angela (Hg.) (2019): Der Übergang in die Hochschule. Strategien, Organisationsstrukturen und Best Practices an deutschen Hochschulen. Münster: Waxmann. 2 Genauer: nach dem Erwerb der Hochschulreife (Abitur), Fachhochschulreife (Fachabitur) oder der fachgebundenen Hochschulreife. 3 So das Talent-Scouting-Programm der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen: https://www.mkw.nrw/hochschule-und-for schung/studium-und-lehre/talentscouting, https://nrw-talentzen trum.de/. Auf alle in den Fußnoten angegebenen Internetadressen wurde das letzte Mal am 7. Juni 2019 zugegriffen. Ordnung der Wissenschaft 2019, ISSN 2197–9197 184 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2019), 183–194 4 Bekannt wurde der Begriff der unternehmerischen Hochschule („entrepreneurial university“) mit einer Studie des amerikanischen Hochschulforschers Burton R. Clark über fünf Universitäten in Europa: Clark, Burton R. (1998): Creating Entrepreneurial Universities. Organizational Pathways of Transformation. Surrey: Pergamon Press. Vgl. Maasen, Sabine / Weingart, Peter (2006): Unternehmerische Universität und neue Wissenschaftskultur. S. 19–45 in: Krücken, Georg (Hg.): Universitäre Forschung im Wandel. die hochschule, Vol. 15, Heft 1. 5 Zur bundesdeutschen Historie des Wettbewerbs im Hochschulbereich siehe: Winter, Martin (2012): Wettbewerb im Hochschulbereich, S. 17–45 in: Winter, Martin / Würmann, Carsten (Hg.): Wettbewerb und Hochschulen. die hochschule, Vol. 21, Heft 2. 6 Zum Hochschulpakt 2020 siehe: Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (2017): Hochschulpakt 2020: Umsetzung in der zweiten Programmphase 2011–2015. Bonn: Heft 54. URL: https://www. gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Papers/GWKHeft-54-Hochschulpakt-Umsetzung-Programmphase-2011–2015. pdf. Siehe auch die Internetseite der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz: https://www.gwk-bonn.de/themen/foerderung-vonhochschulen/hochschulpakt/. 7 Quelle der genannten hochschulstatistischen Zahlen: Statistisches Bundesamt (Destatis), Fachserie 11, Reihe 4.1 (Studierende), 4.4. (Personal) und 4.3.1. (nichtmonetäre hochschulstatistische Kennzahlen). Die Tabellenbände sind auf der Internetseite von Destatis verfügbar: https://www.destatis.de/DE/Themen/GesellschaftUmwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/_inhalt.html. 8 Vgl. Christensen, Björn / Christensen, Sören (2017): Falsche Prognosen. Wo kommen all die Studierenden her? Spiegel-Online. URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/falsche-progno sen-wo-kommen-all-die-studierenden-her-a-1126487.html. 9 Gehrke, Birgit / Kerst, Christian (2018): Bildung und Qualifikation als Grundlage der technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2018 (Kurzstudie): Studien zum deutschen Innovationssystem. Berlin: EFI, S. 8. URL: https://www.e‑fi.de/fileadmin/Innova tionsstudien_2018/StuDIS_01_2018.pdf. zusammenhängend die Möglichkeit zum Abschluss von Zielvereinbarungen mit der Regierung, aber auch mit hochschulinternen Akteuren (Kontraktmanagement), und last but not least: Wettbewerbsmechanismen. Wettbewerbsverfahren simulieren einen (Bildungs-)Markt, auf dem sich die „unternehmerischen Hochschulen“4 tummeln. Wettbewerb zwischen Hochschulen wird also nicht mehr rein wissenschaftlich als „Wettbewerb der Ideen“, sondern auch ökonomisch als „Wettbewerb um Ressourcen“ praktiziert.5 Wettbewerb um Ressourcen impliziert nicht nur Konkurrenz um Drittmittel zu Forschungszwecken, sondern auch einen Wettbewerb um Studierende. Auch wenn Studierende derzeit in der Regel keine Gebühren für ihr Studium zahlen, so ist deren Anzahl für die Finanzierung der Hochschulen durchaus relevant, sei es im Kontext von formelgebundenen Mittelzuweisungsmodellen der Länder oder auch im Anreizmodell des von Bund und Länder gemeinsam finanzierten Hochschulpakts 2020.6 Vereinfacht gesagt bestimmt hier die Anzahl der Studienanfänger/innen den Umfang der Mittelzuweisung. Sollten allerdings wieder Studiengebühren eingeführt werden und diese maßgeblich zur Hochschulfinanzierung beitragen, so dürfte dies weitere Anstrengungen zur Studienwerbung anspornen und damit den Wettbewerb um Studierende anfachen. Weil sich die Hochschulen im Rahmen des neuen Steuerungsmodells immer stärker als eigenständige Organisationen wahrnehmen oder gar im Selbst- wie auch im Fremdverständnis unternehmerisch auftreten, gilt Werbung um Studierende für lohnend oder zumindest legitimationsförderlich. Der Anspruch, für sich zu werben, wird insbesondere von außen – von der Politik und den Ministerien – an die Hochschulen herangetragen und auch finanziell – insbesondere im Rahmen des Hochschulpakts 2020 – gefördert. 2. Mangelverwaltung von Studienplätzen Auf der anderen Seite zeugt die Studierendenstatistik, insbesondere die Zahlen zu den Zulassungsbeschränkungen, von einem Mangel an Studienplätzen, der von den Hochschulen offenbar nur notdürftig verwaltet wird. Blickt man auf die Zeitreihen der Studierendenstatistik, so ist festzustellen, dass die Zahlen in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind. Die Anzahl der Studienanfänger/innen hat sich in zwanzig Jahren fast verdoppelt. Lag deren Anzahl 1995/96 bei etwas mehr als einer viertel Million Personen pro Studienjahr, so sind es seit gut fünf Jahren rund eine halbe Million Erstsemester.7 Entsprechend mehr geworden sind auch insgesamt die Studierenden; um rund ein Drittel hat deren Anzahl innerhalb der letzten zehn Jahre zugenommen. Die Erklärung für diese nicht so vorhergesagte Entwicklung liegt insbesondere im Wachstum der Studienanfängerquote.8 Diese Quote ist in zehn Jahren um rund 20 Prozentpunkte gestiegen, von rund 36 auf 57 Prozent (2006– 2016). Dazu kommt noch, dass die Anzahl der (Fach-) Abiturient/innen von 415.267 im Jahr 2006 auf 453.622 im Jahr 2016 gestiegen ist.9 Immer mehr Angehörige eines Jahrgangs streben ein Studium an. Der Quotensprung hat die Diskussion darüber angefacht, wie viele Menschen einer Alterskohorte tatsächlich für ein Hochschulstudium geeignet sind, ob es so etwas wie eine natürliche Quote der Begabungsverteilung gebe und ob nicht diese Akademisierung zur Abwertung der beruflichen Ausbildung führe – eine These, die unter dem Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule 185 10 Nida-Rümelin, Julian (2014): Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. In: Profil, Heft 9. S. 18–27. URL: https://hsg-eberbach.de/wp-content/up loads/2015/11/Akademisierungswahn.pdf. 11 Mit einer Laufzeit von 2007 bis 2020 und einer Auslauffinanzierung bis 2023 wird der Pakt ein Gesamtvolumen von 38,5 Mrd. Euro aufweisen. Siehe: https://www.bundesbericht-forschunginnovation.de/de/Hochschulpakt-2020–1792.html. 12 Ein Vergleich der Verwendung von Grundmitteln und HSP-Mitteln in den Jahren 2011 bis 2015 durch das Institut für Innovation und Technik (iit) in Berlin ergab: 80 % des hauptberuflichen wissenschaftlichen und künstlerischen Hochschulpersonals, das über HSP-Mittel finanziert wurde, ist befristet beschäftigt; beim Hochschulpersonal, das über Grundmittel finanziert wird, sind es demgegenüber nur 55 %. Siehe: Winterhager, Nicolas (2018): Auswirkungen des Hochschulpakts 2020. Vortrag auf dem Forum Hochschulsteuerung des HIS-Instituts für Hochschulentwicklung am 09. und 10. April 2018, Hannover. URL: https://his-he.de/ fileadmin/user_upload/Veranstaltungen_Vortraege/2018/Forum_ HS-Steuerung_2018/HIS-HE_09-04–2014_Winterhager_final. pdf. 13 Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, S. 18, siehe Fußnote 6. 14 Hochschulrektorenkonferenz (2017): Statistische Daten zu Studienangeboten an Hochschulen in Deutschland. Studiengänge, Studierende, Absolventinnen und Absolventen. Wintersemester 2017/2018. Statistiken zur Hochschulpolitik 2/2017. Berlin, S. 19 f. URL: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02- Dokumente/02–02-PM/HRK_Statistik_BA_MA_UEbri ge_WiSe_2017_18_Internet.pdf. Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) hat die Zahlen der Hochschulrektorenkonferenz nochmals weiter aufgeschlüsselt: Gehlke, Anna / Hachmeister, Cort-Denis / Hüning, Lars (2018): Der CHE Numerus ClaususCheck 2018/19. Eine Analyse des Anteils von NC-Studiengängen in den einzelnen Bundesländern. Gütersloh: CHE-Arbeitspapier 211. URL: http://www.che.de/downloads/CHE_AP_211_Nume rus_Clausus_Check_2018_19.pdf. 15 Siehe Artikel 1 des Staatsvertrags über die Vergabe von Studienplätzen von 20. Oktober 1972. 16 Zur Geschichte des Hochschulzugangs in Deutschland einschließlich Zahlen zu ZVS-Studiengängen siehe Wissenschaftsrat (2004): Empfehlungen zur Reform des Hochschulzugangs. Drs. 5920–04. Berlin, 30. Januar 2004, S. 64 ff. sowie S. 140 ff. URL: http://www. wissenschaftsrat.de/download/archiv/5920–04.pdf. 17 Hochschulrektorenkonferenz, S. 20, siehe Fußnote 14. Schlagwort „Akademisierungswahn“ Eingang in die Massenmedien gefunden hat und insbesondere von Julian Nida-Rümelin10 nachhaltig vertreten wird. Angesichts der genannten Zahlen kann ohne Übertreibung von einer neuerlichen Welle der Hochschulexpansion in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gesprochen werden. Das Wachstum um ein Drittel in den letzten zehn Jahren wurde insbesondere durch die Mittel des Hochschulpakts 2020 finanziert. Zwar bewirkte das Bund-Länder-Programm einen massiven Ausbau der Lehrkapazitäten;11 die zeitliche Befristung dieser Paktmittel führte jedoch zwangsläufig zur befristeten Einstellung von Lehrpersonal.12 Dennoch wurden auch von Jahr zu Jahr weitere Professor/innen eingestellt, wobei darunter auch befristete Anstellungen fallen. Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Professuren um rund ein Viertel von 37.694 im Jahr 2006 auf rund 46.835 im Jahr 2016 gestiegen. Die Betreuungsrelation, das Verhältnis von Studierenden zu wissenschaftlichem Hochschulpersonal, ist an den Universitäten zwischen 2005 und 2015 leicht gestiegen – sprich: etwas schlechter geworden –, an den Fachhochschulen hingegen leicht gesunken – sprich: etwas besser geworden.13 Ein deutlicher Hinweis auf den Mangel an Studienplätzen ist die Anzahl bzw. Quote der zulassungsbeschränkten Studiengänge. Die Zulassung zum Studium darf nach rechtlichen Maßgaben nur dann beschränkt werden, wenn die Nachfrage nach Studienplätzen absehbar höher ist als das Angebot an vorhandenen Studienplätzen. Um eine Überfüllung zu vermeiden, kann ein Numerus clausus (NC) eingeführt, die Zulassung also quantitativ beschränkt werden. Dies geschieht bei rund zwei Fünftel der Studiengänge: Im Wintersemester 2017/18 waren 44,2% aller grundständigen und 38,8% aller Master-Studiengänge zulassungsbeschränkt.14 Die Zulassungsbeschränkung ist das eine, die Verteilung der Studieninteressenten auf die knappen Studienplätze das andere Problem. Ab Ende der 1960er Jahre wurden die zulassungsbeschränkten Studiengänge in der Regel zentral vergeben, der Numerus Clausus eingeführt. Dazu wurde eine große behördenähnliche Einrichtung – in Form einer Anstalt des öffentlichen Rechts15 – geschaffen, die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze ZVS in Dortmund.16 Mit der Bologna-Studienreform ist ihre Bedeutung gesunken. Denn in den Verteilmechanismus der Dortmunder „Behörde“ werden keine Studiengänge mit Bachelor oder Master-Abschluss aufgenommen, sondern nur Studiengänge mit Abschluss Staatsexamen und Diplom (die im Laufe der Jahre immer weniger wurden). Nach ihrer Stufung in Bachelor und Master fielen deshalb immer mehr Studiengänge aus dem zentralen Vergabemechanismus und wurden lokal (das heißt von den Hochschulen vor Ort) zulassungsbeschränkt. Mittlerweile unterliegt nur noch ein knappes Prozent der grundständigen Studiengänge in Deutschland einem zentralen Vergabeverfahren.17 Dieser so nicht vorhergesehene Effekt der Bologna-Reform hatte zur Folge, dass sich Studieninteressenten an vielen Hochschulen bewerben, was wiederum den Verwaltungsaufwand der Hochschulen erhöhte. Hinzu kam die aus Hochschulsicht große Herausforderung, dass sich nun viele Studieninteressenten vorsorglich an mehreren Standorten bewerben und dann wieder absagen, weil sie einen Studienplatz andernorts vorziehen. Aber auch für die Studierenden ist mit der Verlagerung der Vergabe von zentraler Stelle auf die vielen lokalen Hochschulen mit zum Teil unter- 186 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2019), 183–194 18 Ratifiziert im Staatsvertrag zur Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 5. Juni 2008. Zur Internetseite der Einrichtung: https://hochschulstart.de/. 19 Selbstverständlich müsste hier genauer zwischen den Hochschularten – Universität, Fachhochschule etc. – und auch zwischen den verschiedenen Fächern (mit ihren spezifischen Fachkulturen) differenziert werden. 20 In diesem Zusammenhang wird beispielsweise auch das Kurssystem in der gymnasialen Oberstufe diskutiert. 21 Thema auf Schulseite war in den letzten Jahren die Dauer der Gymnasialzeit zwischen acht und neun Jahren. 22 Leicht modifizierte Darstellung aus: Winter, Martin (2008): Die neuen Studienstrukturen und der Übergang von Schule zu Universität. Sieben Thesen und eine Frage. S. 149–155 in: Das Hochschulwesen, Vol. 56, Heft 5, S. 153. schiedlichen Fristen und Voraussetzungen der Bewerbungsaufwand gewachsen. Um die Studienplatzverteilung zu reorganisieren, sollte die ZVS zu einer Informations- und Verteilbörse umgebaut werden. 2008 löste die Stiftung für Hochschulzulassung (SfH) die ZVS ab.18 Andauernde technische Probleme, insbesondere die schwierige Synchronisierung der speziellen hochschuleigenen Studien- und Zulassungssoftware (und der damit verbundenen speziellen hochschuleigenen Zulassungsverfahren und ‑konditionen) haben über viele Jahre die Verbreitung eines neuen elektronisch gesteuerten Verteilverfahrens – das sogenannte Dialogorientierte Serviceverfahren (DoSV) – erschwert. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Mangelverwaltung auch organisatorisch und technisch an ihre Grenzen stößt – auch deshalb, weil die lokalen Zulassungsbeschränkungen der Hochschulen so zahlreich und vielfältig sind. II. Das Verhältnis von Schule und Hochschule im Wandel 1. Werbung und Selektion Um beide Tendenzen – Wettbewerb und Mangelverwaltung – deuten zu können, muss das Verhältnis zwischen Schule und Hochschule genauer beleuchtet werden. Eine sich autonom wähnende Hochschule möchte nicht nur um neue Studierende werben, sondern auch selbst ihre Studierenden auswählen. Es geht nicht nur darum, möglichst viele Studierende zu rekrutieren, sondern dass sich möglichst gute bzw. geeignete Abiturient/innen für die Hochschule interessieren. Mehr noch als die gesteigerten Aktivitäten zur Studienwerbung wirkt sich das Ansinnen, Studierende auszuwählen, auf das Verhältnis von Schule und Hochschule aus. Dieses Ansinnen berührt direkt die Schnittstelle zwischen den beiden Bildungsinstitutionen. Um diese Zusammenhänge zu erläutern, muss etwas weiter ausgeholt und ein Modell zur Veranschaulichung vorstellt werden. Grundsätzlich lässt sich die Schnittstellenproblematik in zwei Dimensionen unterteilen, die sich wechselseitig beeinflussen: Erstens hat der Übergang von der Schule zur Hochschule eine quantitative Dimension. Diese ist vorrangig eine Frage von Nachfrage, Kapazitäten und Quoten, also des Ausmaßes der Selektivität. Zweitens gibt es die Dimension der Qualität des Übergangs. Dahinter verbirgt sich die Frage, wie der Übergang gestaltet wird, welche Institution welche Bildungsaufgaben übernimmt und schließlich: wer, wann und wie selektiert. Insbesondere mit Blick auf die Auswahlprozesse zeigt sich, dass sich Qualitätsaspekte auf die quantitative Dimension des Übergangs auswirken: Je nachdem wie selektiert wird, welche Kriterien angewandt werden, wird sich dies auch auf die Anzahl der Auserwählten auswirken. 2. Das Verhältnis von Schule und Hochschule Die qualitative Dimension des Übergangs thematisiert die folgende Grafik. Der einfache Gedanke, der diesem Schaubild zugrunde liegt, ist: Auf einem Kontinuum zwischen den beiden idealtypischen Polen der Bildungswelt „Schule“ und der Bildungswelt „Hochschule“ mit ihren spezifischen Aufgaben und Funktionen, Arbeitsund Denkweisen bewegen sich die historisch konkreten Institutionen Schule und Hochschule bzw. ihre jeweiligen Unterrichtsformen.19 Je nach Ausrichtung bzw. Kompetenzen der Bildungseinrichtungen20 sowie der vorgesehenen Aufenthaltszeit (Schulzeit, Studiendauer)21 decken sie realiter einen Teil des Kontinuums ab oder eben nicht (dies entspricht der Länge des hellgrauen und des dunkelgrauen Balkens). Mit Hilfe dieses Modells kann man sich den verschiedenen Möglichkeiten heuristisch nähern. Abbildung: Idealtypische Bildungswelten und reale Formen des Unterrichts22 Die Abbildung gibt das komplexe Gefüge von Schule und Hochschule freilich nur eindimensional wieder. Sie soll Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule 187 23 Winter, Martin / Rathmann, Annika / Trümpler, Doreen / Falkenhagen, Teresa (2012): Entwicklungen im deutschen Studiensystem. Analysen zu Studienangebot, Studienplatzvergabe, Studienkapazität, Studienwerbung und Marketing. Wittenberg: HoF-Arbeitsbericht 7/2012. URL: http://www.hof.uni-halle.de/ dateien/ab_7_2012.pdf. 24 Vgl. Winter, Martin (2015): Bologna – die ungeliebte Reform und ihre Folgen. Beitrag für die Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema „Zukunft Bildung“. URL: http:// www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/204075/bolo gna-folgen. 25 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Dezember 2017 – 1 BvL 3/14 – Rn. (1–253), URL: http://www.bverfg.de/e/ ls20171219_1bvl000314.html. lediglich dazu einladen, mit der Länge der Balken zu experimentieren und so mögliche Szenarien durchzuspielen. Letztlich ist es eine empirische Frage, wie lang die einzelnen Balken ausfallen, das heißt: wie groß die qualitative Lücke zwischen den beiden Bildungseinrichtungen ist bzw. wie eng Schulunterricht und Hochschullehre inhaltlich aufeinander abgestimmt sind. Der Abstand zwischen den beiden Balken weist darauf hin, wie die Statuspassage institutionell gerahmt ist. Innerhalb dieses Rahmens findet die individuelle „Bewältigung des Übergangs“ statt, die einen Abschnitt im Lebenslauf eines Menschen markiert. Je größer der Abstand ausfällt, desto gravierender dürften die Übergangs- bzw. Schnittstellenprobleme im Verhältnis von Schule und Hochschule ausfallen. 3. Selektion und Ertüchtigung Die These ist, dass sich das Verhältnis von Schule und Hochschule – genauer: von Schulbildung und Hochschulbildung – derzeit grundlegend ändert. Der dunkelgraue Balken „Hochschullehre“ in der oben abgebildeten Grafik wird länger. Die Kompetenzbereiche der Institutionen haben sich soweit verschoben (und werden sich wohl noch weiter verschieben), dass von einem Funktionswandel gesprochen werden kann. Diese Veränderungen betreffen insbesondere die Hochschulen, die auf (vermeintliche) Niveauabsenkungen bzw. (vermeintliche) Fehlpassungen der Schulabgänger/innen reagieren. Aus Sicht der Hochschulen sind Defizite der Schulbildung auszugleichen. Dies geschieht auf zwei Wegen: Erstens, indem nicht alle, sondern nur ausgewählte Schulabgänger/innen zum Studium zugelassen werden. Es gibt sogar aus rechtlicher Sicht – um es vorsichtig auszudrücken – eine erstaunliche Tendenz, die Erfüllung gewisser Kriterien für die Zulassung vorauszusetzen, obwohl gar keine kapazitären Engpässe und damit auch keine kapazitär bedingte Zugangsbeschränkung bei den Studienplätzen vorliegen. Bei unseren Untersuchungen an 20 Hochschulen im Jahr 2012 war es jeder fünfte Bachelor-Studiengang, für den – obgleich nicht vollständig ausgelastet und daher nicht mit einem NC versehen – besondere Zulassungsvoraussetzungen verlangt wurden.23 Besonders häufig werden für das Studium einschlägige Sprachkenntnisse vorausgesetzt. Darüber hinaus werden auch erfolgreich bestandene Testverfahren oder vor dem Studium absolvierte Praktika zu Vorbedingungen der Studienaufnahme gemacht. Warum diese Praxis an den Hochschulen einen Bruch in der bundesdeutschen Übergangslogik darstellt, wird unten erläutert. Erstaunlich ist, dass diese Entwicklung nicht weiter öffentlich diskutiert wird.24 Offenbar reicht den Hochschulen das Abitur nicht mehr als Qualifikationsausweis und damit als Nachweis für die Studierfähigkeit aus – und dies wird stillschweigend so akzeptiert. Im Übrigen teilt das Bundesverfassungsgericht die Einschätzung offenbar, dass neben dem Abitur weitere Auswahlkriterien benötigt werden, wenn es – wie in seinem aktuellen Urteil zum Mediziner-NC25 – neben dem Abitur weitere Eignungskriterien nicht nur für MedizinStudiengänge, sondern für alle zulassungsbeschränkten Studiengänge verlangt. Zwar beschränkt sich dieser Sinneswandel des Gerichts auf die zulassungsbeschränkten Studiengänge. Dennoch kann das Urteil des BVerfG durchaus als eine Neuakzentuierung in seiner bisherigen Rechtsprechung interpretiert werden, die erstaunlich wenig in der Öffentlichkeit diskutiert wird (dazu später mehr). Zweitens ergreifen die Hochschulen Maßnahmen, um die Schulabgänger/innen besser auf ein Hochschulstudium vorzubereiten (siehe unten). Auch dahinter steckt die Einschätzung bzw. die Erfahrung, dass mit dem Abitur keine hinreichende Studierfähigkeit gegeben ist. Infolge dieser Veränderungen wandelt sich seit ein paar Jahren das Verhältnis von Schule und Hochschule grundlegend. Diese Entwicklung verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihr bislang zuteilwurde. Im Kern geht es insbesondere um die Schnittstelle zwischen beiden Institutionen und damit auch die Frage, wie der Übergang von Schulabsolvent/innen zur Hochschule gestaltet ist. Letztendlich läuft es auf eine Abwertung des Abiturs als Berechtigungsausweis zum Hochschulzugang und auf einen Bedeutungsgewinn der Hochschule im Bildungssystem hinaus. Der zentrale Punkt in dieser Funktionsverschiebung im deutschen Bildungswesen ist der sinkende Wert des Abiturs. Um dies näher zu erläutern, muss erst das deutsche Modell des Übergangs von Schule zu Hochschule, wie es bislang vorherrschte, beschrieben werden. 188 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2019), 183–194 26 Hailbronner, Kay (1995): Verfassungsrechtliche Grenzen einer Neuregelung des Rechts auf Zugang zu den Hochschulen. Gutachten für das Centrum für Hochschulentwicklung. Gütersloh, CHE-Arbeitspapier Nr. 7, S. 33. 27 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 1972 — 1 BvL 32/70, BVerfGE 33, 303. URL: http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv033303. html. 28 Vgl. Oelkers, Jürgen (2009): Hochschulreife und Studierfähigkeit. Bemerkungen zur Entwicklung des Gymnasiums. Vortrag in der Kantonsschule Wettingen am 11. Juni 2009. URL: https:// www.ife.uzh.ch/dam/jcr:00000000–4a53-efb4-ffff-ffffae788661/ Wettingen.pdf sowie Wolter, Andrä (1989): Von der Elitenbildung zur Bildungsexpansion. Zweihundert Jahre Abitur (1788–1988). Oldenburg: Oldenburger Universitätsreden. URL: http://oops. uni-oldenburg.de/1193/ sowie: Wolter, Andrä (2016): Gymnasium und Abitur als „Königsweg“ des Hochschulzugangs: Historische Entwicklungslinien und institutionelle Transformationen. S. 1–27 in: Kramer, Jochen / Neumann, Marko / Trautwein, Ulrich (Hg.): Abitur und Matura im Wandel. Historische Entwicklungslinien, aktuelle Reformen und ihre Effekte. Berlin: Springer. 29 Umgangssprachlich bezeichnet der NC die Abiturgesamtnote, die erreicht sein muss, um einen Studienplatz zu bekommen. 30 Ausführlich dargestellt ist die Logik von Studienplatzvergabe und Kapazitätsermittlung in: Winter, Martin (2013): Studienplatzvergabe und Kapazitätsermittlung. Berechnungs- und Verteilungslogiken sowie föderale Unterschiede im Kontext der Studienstrukturreform. S. 241–273 in: Wissenschaftsrecht, Vol. 46, Heft 3, S. 245 ff. 4. Das Abitur als Grundrechtszertifikat Aufnahmeprüfungen vor Studienbeginn sind die prinzipielle Alternative zur „Reifeprüfung“ am Ende der Schulzeit. Grundsätzlich bzw. verfassungsrechtlich sind beide Wege zur Hochschule möglich: das Schulabitur als Eintrittskarte in die Hochschulwelt oder hochschuleigene Eingangstests. Das Grundgesetz gebietet nicht zwingend die „Koppelung von Abitur und Hochschulzugangsberechtigung“, wie Kay Hailbronner26 betont. Grundsätzlich schreibt Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz (Ausbildungs- und Berufswahlfreiheit) nicht vor, wie die Anforderungen an die Qualifikation zum Eintritt ins Studium zu definieren sind. Das Bundesverfassungsgericht hat – in seinem NC-Urteil vom 18. Juli 197227 – ausdrücklich die Reformbedürftigkeit des Erwerbs der Hochschulreife offengelassen. Der Streit um die beiden Alternativen ist so alt wie das Abitur selbst.28 1834 wurden die bestehenden universitären Eingangsprüfungen durch das schulische Abitur ersetzt – wohl auch zur Aufwertung der Gymnasien und zur Entlastung der Universitäten. Seit nun fast 200 Jahren bereitet das Gymnasium auf die Universität vor; der Auftrag an die Gymnasien lautet: die jungen Menschen sollen studierfähig „gemacht“ werden; die Schüler/innen erhalten dann ein Zeugnis, das ihnen Hochschulreife bescheinigt und das gleichzeitig als Berechtigungsschein fungiert, einen Studienplatz zu erhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem NC-Urteil von 1972 diesen Berechtigungsschein zu einem Papier gewordenen Grundrecht auf einen Studienplatz aufgewertet und zugleich die Modalitäten des Hochschulzugangs geregelt. Das Prinzip lautet: Die Hochschulen müssen – solange sie die Kapazitäten in der Lehre aufweisen – Interessenten mit zertifizierter Studierfähigkeit aufnehmen. Hierauf haben die Abiturient/innen einen Anspruch, der auf dem Grundrecht auf Ausbildungsund Berufswahlfreiheit gründet (in Verbindung mit dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip). Erst wenn diese studiengangsspezifischen Kapazitäten an der Hochschule ausgeschöpft sind, verstößt eine Beschränkung der Zulassung zum Studium nicht gegen dieses Grundrecht. Die Zulassung wird beschränkt, indem man nur diejenigen Abiturient/innen aufnimmt, die ein gewisses Niveau der Abiturnote aufweisen. Damit erhält nur eine beschränkte Anzahl an Bewerber/innen einen Studienplatz – das ist der sogenannte Numerus clausus (NC).29 Für die Fächer, in denen die Kapazitäten der Hochschule ausreichen, ist lediglich ein Abiturzeugnis erforderlich, die Note ist irrelevant.30 Deshalb widerspricht – wie bereits oben angemerkt – die Praxis in einigen Ländern, weitere Zulassungsvoraussetzungen für nicht zulassungsbeschränkte Studiengänge zu verlangen, dem Ausschöpfungsgebot des Bundesverfassungsgerichts – auch wenn diese Praxis hochschulgesetzlich ermöglicht wurde. Verfassungsrechtlich tatsächlich möglich ist eine Beschränkung der Zulassung ohne „Not“ (einer zu starken Nachfrage) eigentlich allein in den Fächern, für deren Studium ein besonderes Talent, eine besondere Begabung jenseits der Hochschulreife vonnöten ist: in der Regel also Musik, Kunst und Sport. Dort ist die Eignung der Bewerber/innen zu prüfen, sie müssen vorspielen bzw. vorsingen, ihre Kunstwerke präsentieren oder sportliche Leistungen vollbringen. In diesen Fächern können auch Bewerber/innen mit diagnostiziertem Talentmangel abgelehnt werden, obwohl die Kapazitäten der Hochschule noch nicht ausgeschöpft sind. Die Aufgabenaufteilung zwischen Schule und Hochschule ist in diesem Modell klar geregelt: Das Abitur bezeugt die Studierfähigkeit, die Universität knüpft mehr oder weniger nahtlos daran an. Die Hochschulen nehmen jede/n auf – solange es keine kapazitätsbedingte Zulassungsbeschränkung gibt. Klagen seitens der Hochschulen über minderkompetente Abiturient/innen mag es indes seit jeher gegeben haben. Die Annahme einer generellen Studierfähigkeit nach erfolgreichem Schulabschluss ist allerdings schon immer unterlaufen worden. Statt vorab in Aufnahmetests die passenden oder geeigneten Studierenden auszuwählen, werden (vermeint- Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule 189 31 Zahlen zu den Abiturnoten in den Bundesländern sind der Internetseite der Kultusministerkonferenz zu entnehmen: https:// www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/ abiturnoten.html. 32 Letzte Frage unterstellt, Intelligenz und andere relevante Kompetenzen seien in einem bestimmten Ausmaß unter den (jungen) Leuten verteilt. 33 Siehe beispielsweise: Asdonk, Jupp / Kuhnen Sebastian. U. / Bornkessel, Philipp (Hg.) (2013): Von der Schule zur Hochschule. Analysen, Konzeptionen und Gestaltungsperspektiven des Übergangs. Münster: Waxmann sowie Asdonk, Jupp / FiedlerEbke, Wiebke / Glässing, Gabriele (Hg.) (2009): Übergang Schule – Hochschule. TriOS, Vol. 4, Heft 1. 34 Zum Zentrum für Studierendengewinnung und Studienvorbereitung „College+“ an der BTU Cottbus siehe: Erdmann, Kathrin / Koziol, Matthias / Meißner, Marlen (2019): Collegestrukturen für den erfolgreichen Übergang. S. 213–224 in: Driesen, Cornelia / Ittel, Angela (Hg.) (2019): Der Übergang in die Hochschule. Strategien, Organisationsstrukturen und Best Practices an deutschen Hochschulen. Münster: Waxmann. 35 In der Projektdatenbank des Qualitätspakts Lehre finden sich mehr als 110 Projekte zur Studieneingangsphase, die sowohl in der ersten (2011/12–2016) als auch in der zweiten Förderphase (2016/17–2020) finanziert wurden. Siehe: https://www.qualitaet spakt-lehre.de/de/projekte-im-qualitatspakt-lehre-suchen-undfinden.php. Vorgestellt werden einige Beispiele in der Broschüre des Projekts „nexus“ der HRK: Hochschulrektorenkonferenz, Projekt nexus (2018): Übergänge gestalten, Studienerfolg verbessern. Berlin. URL: https://www.hrk-nexus.de/fileadmin/redakti on/hrk-nexus/07-Downloads/2018_nexus_Broschuere_UEberga enge_gestalten__Studienerfolg_verbessern_WEB.pdf. 36 Insbesondere gefördert durch das Bund-Länder-Programm „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ (2011–2020). Siehe: https://www.wettbewerb-offene-hochschulen-bmbf.de/. lich) leistungsschwächere Studierende in Zwischenprüfungen in den ersten Semestern „ausgesiebt“. 5. Der Bedeutungsverlust des Abiturs Das Erstaunliche an dem Wandel ist, dass er nicht offen programmatisch erklärt wird, sondern dass vielmehr schleichend Fakten geschaffen werden. Diese Formulierung unterstellt allerdings, es gebe identifizierbare absichtsvoll handelnde Urheber dieser Veränderungen. Wurde die Entwicklung tatsächlich gewollt vorangetrieben oder handelt es sich dabei lediglich um eine Reaktion ohne dahinterliegende absichts- oder gar interessengeleitete Strategie? Eine grundsätzliche politische Debatte über das Verhältnis von Hochschule und Schule sowie über die Funktion des Abiturs hat nicht stattgefunden, wohl aber eine Diskussion über die Qualität des Abiturs – sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Fachkreisen. Denn kritische Fragen gibt es viele: Ist das Leistungsniveau des Abiturs tatsächlich gesunken? Werden im Abitur zu viele Fächer belegt (und diese damit zu oberflächlich gelernt) oder sind es gar die „falschen“ Fächer? Geben die Abiturnoten belastbare Hinweise auf die Leistungsfähigkeit der Schulabgänger/innen? Weshalb ist die Anzahl sehr guter Abiturnoten in den letzten Jahren gestiegen?31 Warum ist eine Erhöhung der Abiturquote bzw. der Studierquote politisch wünschenswert? Ist die (vermeintlich) mangelnde Hochschulreife das Ergebnis einer Schulpolitik, die kaum noch Schüler/innen auf dem Weg zum Abitur scheitern lassen, sondern möglichst viele Jugendliche zum Abitur führen will?32 Oder mangelt es schlicht an der Abstimmung der Lerninhalte zwischen Schule und Hochschule? Zwar wird über die Studierfähigkeit von Abiturient/innen und den Übergang von Schule zu Hochschule geforscht,33 die Gestaltung des Übergangs und die Neuordnung der Aufgaben der beteiligten Bildungseinrichtungen sind allerdings noch nicht in den Fokus der Diskussion gerückt. Die oben vorgestellte Abbildung könnte hierzu vielleicht eine kleine Hilfe sein. 6. Studierendenvorbereitung und Studierendenauswahl Die Entwicklung ist bereits fortgeschritten, der Wandel ist schon eingetreten. Insgesamt stellen sich die Veränderungen allerdings widersprüchlich dar: Auf der einen Seite finden studienvorbereitende Kurse, zum Teil vor dem Studium, zum Teil in der ersten Studienphase statt. Die Hochschulen übernehmen nicht nur die Schulabgänger/innen und spulen ihr Studienprogramm ab, sondern holen sie dort ab, wo sie hinsichtlich ihrer Kompetenzen gerade stehen. An vielen Hochschulen wird eine Art Nachhilfeunterricht angeboten, insbesondere im Fach Mathematik. Eigentlich übernehmen die Hochschulen damit Aufgaben der Studienvorbereitung, die bislang von der Schule erfüllt werden sollten, die dies aber offenbar nicht mehr leistet bzw. nicht leisten kann. Mit der Studienvorbereitung für vermeintlich noch nicht hochschulreife Studienbewerber/innen gewinnt die Propädeutik an der Hochschule wieder an Bedeutung. Was in der mittelalterlichen Universität die Artistenfakultät und später die Philosophische Fakultät, zu DDR-Zeiten die Arbeiter- und Bauernfakultät war, sind heute Zentren für Studienvorbereitung, wie sie beispielsweise an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus34 eingerichtet worden sind. Mit beträchtlichem Ressourceneinsatz werden derartige Projekte im Rahmen des aus Bundesmitteln finanzierten Qualitätspakts Lehre gefördert.35 Zudem werden die Hochschulen geöffnet für Menschen ohne Abitur, indem ihnen andere bereits erbrachte Leistungen angerechnet werden.36 So verfügen „nichttraditionelle“ Studierende zwar über berufliche Qualifikationen, aber kein Abitur. Gerade für diese Studieren- 190 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2019), 183–194 37 Einschränkend dazu – formuliert das Bundesverfassungsgericht – solle aber bei einem hinreichenden Teil der Studienplätze neben der Abiturdurchschnittsnote keine weiteren Auswahlkriterien verlangt werden. 38 Siehe: Lindner, Josef Franz (2018): Das NC-Urteil des BVerfG vom 19.12.2017 aus grundrechtsdogmatischer Sicht. S. 275–280 in: Ordnung der Wissenschaft, Vol. 5, Heft 4, S. 276. URL: https://www.ordnungderwissenschaft.de/2018–4/ge samt/35_2018_04_lindner_nc_urteil_odw.pdf. den bzw. Studieninteressenten sind die genannten studienvorbereitenden bzw. studienbegleitenden Maßnahmen sinnvoll. Auf der anderen Seite reicht das Abitur nicht mehr aus, um einen Studienplatz zu bekommen. Es sind weitere Voraussetzungen zu erfüllen, um zum Studium zugelassen zu werden. Dieser Trend wird durch das Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Hochschulzulassung vom 19. Dezember 2017 (1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14) nochmals angeschoben. Das Bundesverfassungsgericht verlangt nun neben der Abiturnote weitere Zulassungskriterien für zulassungsbeschränkte Studiengänge. Umgekehrt heißt dies: Bei Studiengängen, die nicht zulassungsbeschränkt sind, sollte nach wie vor das Abitur reichen. Grundsätzlich – so das Gericht – müsse sich die Vergabe knapper Studienplätze an dem Kriterium der Eignung (!) orientieren. Diese Maßgabe gilt nicht nur für zulassungsbeschränkte Medizin-Studiengänge, sondern grundsätzlich für alle zulassungsbeschränkten Studiengänge, also auch für Studiengänge mit ortsgebundenem Numerus clausus. Dies bedeutet, dass aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts die Abiturnote als alleiniges Zulassungskriterium nicht mehr ausreicht:37 „Geboten ist insoweit, dass der Gesetzgeber die Hochschulen dazu verpflichtet, die Studienplätze nicht allein und auch nicht ganz überwiegend nach dem Kriterium der Abiturnoten zu vergeben, sondern zumindest ergänzend ein nicht schulnotenbasiertes, anderes eignungsrelevantes Kriterium einzubeziehen.“ (1 BvL 3/14, Rn. 209) Begründet wird dies – angesichts der Inflation sehr guter Noten und der mangelnden Vergleichbarkeit der Abiturnoten zwischen den Ländern – mit der beeinträchtigten Aussagekraft des Abiturs hinsichtlich der Studieneignung. Dem Bundesverfassungsgericht fehlt offenbar der Glaube, das Abitur – so wie es derzeit durchgeführt werde – könne die Studierfähigkeit bezeugen. Im Endeffekt wird mit diesem Urteil die Abwertung des Abiturs höchstrichterlich betrieben. Einerseits wird damit die Rolle der Hochschule beim Übergang von Schule zu Hochschule gestärkt. Andererseits begrenzt das Gericht zugleich den Einfluss der Hochschulen auf das Auswahlverfahren. Denn die Definition von Eignungskriterien dürfe nicht allein den Hochschulen überlassen werden, so das Gericht: „Grundsätzlich ist es verfassungsrechtlich unzulässig, den Hochschulen ein eigenes Kriterienerfindungsrecht zu überlassen.“ (1 BvL 3/14, Rn. 119) Das Gericht verlangt vom Gesetzgeber eine Standardisierung und Strukturierung hochschuleigener Eignungsprüfungsverfahren; die Hochschulen dürfen diese Verfahren nur insofern konkretisieren, indem sie die Verfahren fachspezifisch ausgestalten und Schwerpunkte unter Einbeziehung hochschulspezifischer Profilbildungen setzen. Folglich haben die Hochschulen hinsichtlich dieser Konkretisierungsbefugnis einen gewissen Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum. Obgleich das Urteil den Wert des Abiturs relativiert, sollte es nicht als Plädoyer für seine Abwertung gelesen werden. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, das Abitur und sein Leistungsmaßstab, die Abiturnote, böten aus Sicht des Gerichts durchaus den richtigen Verteilschlüssel an, nur leider könne das Abitur – so wie es sich derzeit darstellt – diese Aufgabe nicht erfüllen. So kritisiert das Gericht die eingeschränkte länderübergreifende Vergleichbarkeit des Abiturs. Da also das Abitur nicht das leistet, was es eigentlich leisten könnte, ist verfassungsrechtlich ein Mechanismus gefordert, der zwischen den verschiedenen Länderstandards ausgleicht. Gesucht wird ein anderes eignungsrelevantes Kriterium, das nicht auf Schulnoten basiert. Ansonsten bleibt das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich bei seiner Argumentation aus seinem NCUrteil von 1972, nach der das Grundrecht der Berufsfreiheit in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium gewährleistet.38 Nur eben, dass aktuell das Abitur nicht die alleinige Eintrittskarte in die Hochschulwelt sein kann. In den vielen nicht-zulassungsbeschränkten, offenen Studiengängen hat das Abitur hingegen nach wie vor seine Funktion als „zertifiziertes Hochschulbildungsrecht“ inne. In den zulassungsbeschränkten Studiengängen dagegen muss nun ein alternatives Auswahlkriterium vorliegen, das hochschulübergreifend gilt. Die Öffnung der Hochschulen für nicht-traditionelle Studierende, die Ausweitung der hochschulischen Studienvorbereitung und Studierendenauswahl – all diese Entwicklungen laufen auf die besagte Relativierung der Funktion des Abiturs als Zugangsberechtigungsschein für die Hochschule hinaus. Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule 191 39 Siehe: Winter, Martin / Falkenhagen, Teresa (2013): Marketing an Hochschulen. Zur organisatorischen Verortung von Marketingstellen an Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen. S. 8–16 in: Hochschulmanagement, Vol. 8, Heft 1. Von Brüser (aus dem Jahr 2003) sowie von Schwetje, Hauser & Leßmöllmann (aus dem Jahr 2017) liegen ebenfalls empirische Studien vor, die auf Befragungen von Hochschulen bzw. Hochschulmitarbeitenden basieren. Siehe: Brüser, Rene (2003): Perspektiven des Hochschulmarketing. Eine theoretische und empirische Bestandsaufnahme des deutschen Hochschulsystems. Halberstadt, Hochschule Harz, Fachbereich Verwaltungswissenschaft. URL: http://hsdbs.hof.uni-halle.de/documents/t1370. pdf sowie Schwetje, Thorsten / Hauser, Christiane / Leßmöllmann, Annette (2017): Hochschulkommunikation erforschen. HochIII. Diagnose und Ausblick 1. Beabsichtigte Planung oder ungesteuerte Entwicklung? Das Abitur gilt zwar nach wie vor als die Eintrittskarte in die Hochschulwelt, jedoch nur (noch) mit gewissen Einschränkungen. Die Hochschulen wählen selbst ihre Studierenden für kapazitär beschränkte Studiengänge aus, allerdings unter der Vorgabe der Vergleichbarkeit bzw. Standardisierung der Eignungskriterien. Immerhin dürfen die Hochschulen diese Verfahren fach- und hochschulspezifisch ausgestalten, erhalten folglich einen nicht unerheblichen Spielraum. Generell werden die Hochschulen dafür verantwortlich gemacht, dass ihre Kapazitäten in Studium und Lehre genutzt werden. Zum einen müssen sie bei erhöhter Nachfrage ihre Kapazitäten ausschöpfen; zum anderen ist es politisch erwünscht, dass auch in Studiengängen mit geringerer Nachfrage eine ausreichende Anzahl Einschreibungen vorliegt. Nicht zuletzt deshalb stehen die Hochschulen im Wettbewerb zueinander und werben um Studierende bzw. um die besten bzw. „passenden“ Studierenden. Gleichwohl stellen die Hochschulen selbst – auch wenn dies der Nachfrage nicht dienlich sein könnte – bei nicht zulassungsbeschränkten Studiengängen neben dem Abitur eigene Auswahlkriterien auf. Kurz, es handelt sich um eine komplexe Mischung aus staatlichen Reglements und Ansprüchen sowie (hochschul-)unternehmerischem Organisationsinteresse und Engagement. Wie ist es zu dem Bedeutungsverlust des Abiturs und dem Bedeutungsgewinn der Hochschulbildung gekommen? Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 2017 einmal ausgeklammert: Steckt dahinter tatsächlich ein langfristiger Plan? Oder handelt es sich um das Ergebnis unbeabsichtigter Nebeneffekte hochschulpolitischer Absichten? Für letztere Erklärung spricht: Programmatisch wird nicht von einer beabsichtigten Abwertung des Abiturs gesprochen. Dies würde wohl auch einen Affront gegenüber der Schulseite erzeugen. Eher handelt es sich um eine Reaktion auf eine negative (bzw. negativ wahrgenommene) Entwicklung des Abiturs. Aktiv hingegen wird eine Öffnung der Hochschulen proklamiert und gefördert. Zudem werden Projekte massiv finanziell unter stützt, die beim Studieneinstieg helfen. Hohe Studierendenzahlen sind politisch erwünscht: zum einen, weil seit Jahren von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit vergleichendem Blick auf andere Länder angemahnt; zum anderen, und dies ist wohl das gewichtigere Argument, weil eine Auslastung der Hochschulen als politisch notwendig erachtet wird. Dies ist insbesondere im Interesse des jeweils zuständigen Wissenschaftsministeriums. Generell konkurrieren die Ministerien einer Landesregierung um die knappen Finanzmittel des Landeshaushalts. Nicht ausgelastete Hochschulen schaffen wiederum Begehrlichkeiten anderer Ressorts. Eine mangelnde Auslastung kann kritische Nachfragen – z.B. des Finanzministeriums – zur Folge haben oder gar Mittelverschiebungen zwischen den Ressorts begründen helfen. Dies gilt es aus Sicht der Wissenschaftsressorts zu vermeiden. Daher werden über die Formeln der Mittelzuweisung für die Hochschulen zusätzlich Anreize geschaffen, mehr Studienanfänger/innen bzw. Studierende aufzunehmen. Insbesondere über die Studierendenzahlen rechtfertigen die Hochschulen politisch ihre Existenz. Sinken die Zahlen, reagieren die Wissenschaftsministerien schnell alarmiert, da sie ihre Hochschuletats gegenüber ihrem Finanzministerium verteidigen müssen. In diesem Sinne agieren die Wissenschaftsministerien auch als regierungsinterne Lobby für Wissenschaft und Hochschulen. Die Hochschulen sind daher gehalten, ihre vorhandenen Studienplätze zu vergeben. Auch deshalb konkurrieren sie um Studierende, richten Marketing-Stellen ein und werben mit viel Aufwand um Schulabgänger/innen. Im Rahmen einer Vollerhebung (Internetrecherche plus Nachfragen) hat das Institut für Hochschulforschung HoF in Wittenberg alle staatlichen Hochschulen in der Bundesrepublik – ausgenommen die Kunst- und Musikhochschulen sowie die Verwaltungshochschulen – daraufhin untersucht, ob sie Marketing-Stellen bzw. Stellen aufweisen, die Marketingaufgaben übernehmen. An nur 15 der 188 Hochschulen gab es – im Jahr 2012 – keine derartigen Stellen; das sind weniger als acht Prozent.39 Schließlich passen diese Handlungsmuster zu einer hochschulpolitischen Rhetorik, die Hochschulen als Unternehmen begreift, die im Wettbewerb zueinander stehen. Die Vorstellung von der Hochschule als korporati- 192 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2019), 183–194 schulkommunikatoren als Akteure. Karlsruhe: Karlsruher Institut für Technologie KIT. URL: http://www.geistsoz.kit.edu/germ anstik/downloads/Projektbericht-Hochschulkommunikationerforschen‑2.Welle-Schwetje-Hauser-Lessmoellmann.pdf. 40 Vgl. Winter, Fußnote 5. 41 „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ aus: Thomas, William I. / Thomas, Dorothy Swaine (1928): The Child in America: Behavior Problems and Programs. New York: Knopf, S. 572. 42 Vgl. Winter, S. 37 f., siehe Fußnote 5. 43 Allerdings kann man mit Prognosen auch ziemlich falsch liegen, wie Björn Christensen und Sören Christensen mit Blick auf die bisherigen KMK- und CHE-Prognosen zu den Studienanfängerzahlen feststellen. Siehe: Christensen, Björn / Christensen, Sören (2017): Falsche Prognosen. Wo kommen all die Studierenden her? Spiegel-Online. URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/ mensch/falsche-prognosen-wo-kommen-all-die-studierendenher-a-1126487.html. vem Akteur steckt im politischen Programm der unternehmerischen Hochschule.40 Sie ist eine Ableitung aus der Ideenwelt des New Public Management. Dies wirkt sich wiederum auf die Hochschulen aus – und zwar nicht nur auf die Gestaltung der rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen „hochschulischen Unternehmens“, sondern auch auf die Mentalität der beteiligten Akteure, was wiederum diesen Wandel befördert. Offenbar bestätigt sich auch hier das bekannte ThomasTheorem:41 Die Hochschulen wähnen sich im Wettbewerb, also befinden sie sich im Wettbewerb; infolgedessen gibt es Gewinner und Verlierer. Die Hochschulen – ihre Mitglieder und insbesondere ihre Leitungen – glauben daran, auch weil es von ihnen so verlangt wird bzw. sie kritisiert werden, wenn sie nicht entsprechend agieren. Weil sie als korporative Akteure auftreten (sollen), glauben sie unternehmerisch, also wettbewerblich handeln zu müssen. Ob hinter den langfristigen Entwicklungen im Verhältnis von Schule und Hochschule ein planerisches Vorgehen steckt, kann bezweifelt werden. Wenn es sich um unbeabsichtigte Folgen absichtsgeleiteten Handelns handelt, dann ist zu fragen, welche politischen Absichten dahinterstehen. Zum einen dürften der Wunsch nach hohen Studierendenzahlen und einer hohen Studierquote und zum anderen die erwünschte Ausrichtung der Hochschulen als unternehmerisch agierende Organisationen diese Entwicklung gefördert haben. Auf schulpolitischer Seite bemüht man sich angesichts steigender Abiturientenquoten und der Inflation guter Noten um eine Wieder-Aufwertung des Abiturs. Das geschieht bereits, indem die Länder gemeinsame Abituraufgabenpools schaffen. Zudem soll dazu eine gewisse Vergleichbarkeit der Abiturnoten über ein Prozentrangverfahren, das Aussagen über die Notenverteilung in einem Bundesland erlaubt, hergestellt werden. Der radikalste Schritt zur Aufwertung des Abiturs wäre indes die Schaffung eines nationalen Zentralabiturs und eine Notenvergabe, die sich an der Normalverteilung der Gaußschen Glockenkurve orientiert (wenige sehr gute, viele durchschnittliche und wenige sehr schlechte Noten). Ersterem steht allerdings der Bildungsföderalismus in Deutschland entgegen; letzteres ist generell umstritten. 2. Prognosen Wie könnte die Entwicklung weitergehen? Die Antwort hängt wohl auch von verschiedenen Faktoren ab. Die Studierendenzahlen sowie die Studierquote sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Allerdings fällt der Andrang der Studierenden räumlich und fächerspezifisch sehr unterschiedlich aus. Obgleich das Hochschulwesen in Deutschland generell als überlastet und unterfinanziert gilt, sind an manchen Orten und in manchen Fächern Studienbewerber/innen „Mangelware“ und werden Lehrkapazitäten nicht ausgeschöpft. Wie stark die Hochschulen im Wettbewerb stehen bzw. wie intensiv sie mit der Mangelverwaltung beschäftigt sind, ist demnach von Region zu Region sowie von den unterschiedlichen Studienfächern abhängig. In manchen Regionen und in manchen Fächern wird es in erster Linie darum gehen, die Studienplätze überhaupt zu besetzen; in anderen dagegen wird sich der Wettbewerb darauf konzentrieren, die „besten“ oder zumindest die „passenden“ Studierenden zu gewinnen.42 Neben den quantitativen Aspekten (Anzahl der Studienplätze, Anzahl der potenziellen Studieninteressierten) spielt demnach das Leistungsniveau der Abiturient/innen bei der Studienplatzverteilung eine zentrale Rolle. Besonders im Master-Bereich werden sich Angebot und Nachfrage erheblich unterscheiden: In manchen Fächern und an manchen Standorten werden die Hochschulen Probleme haben, überhaupt genügend Studierende zu finden; an anderen führt die große Anzahl von Bewerber/innen zu hochselektiven Auswahl- und Zulassungsverfahren. Hinsichtlich der Anwendung von Zulassungs- und Auswahlverfahren ist folglich zu erwarten, dass sich die Studienplatzvergabe in den Fächern und an den Hochschulstandorten unterschiedlich entwickeln wird. Dies gilt es genauer empirisch zu untersuchen. Angesichts des aktuellen Rekordhochs der Studierendenzahlen und der Not mancher Hochschulen, die vielen Studierwilligen aufzunehmen, mag die Prognose43 erstaunlich klingen, dass es mittel- bis langfristig mehr Wettbewerb um Studierende zwischen den Hochschulen geben wird. Doch aller Voraussicht nach wird sich in den Regionen mit sinkenden Abiturientenzahlen der Trend der letzten Jahrzehnte umdrehen: Nicht mehr die Studi- Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule 193 enplätze sind knapp, sondern die Studieninteressenten werden weniger, so dass nicht mehr die Studierwilligen in Konkurrenz um die Studienplätze, sondern die Hochschulen in Konkurrenz um die Studieninteressenten stehen. Marktwirtschaftlich ausgedrückt wird – nach Regionen und Fächern differenziert – ein Überhang im Angebotsbereich festzustellen sein, wo zuvor ein Gleichgewicht oder gar ein Überhang in der Nachfrage bestanden hat. Bewahrheiten sich diese Prognosen, ist als politische Reaktion auch mit Kürzungen in den Hochschuletats und demzufolge mit „schrumpfenden Hochschulen“ zu rechnen. In der Konsequenz wird ein Wettbewerb der Hochschulen und der Fakultäten um die knappe „Ressource“ Studierende bzw. gute Studierende stattfinden. So hat das Hochschulberatungsunternehmen CHE Consult44 Daten der Bevölkerungsentwicklung in den einzelnen Landkreisen mit den Einzugsgebieten der Hochschulen miteinander verrechnet. Die Ergebnisse zeigen, dass viele westdeutsche Universitäten in den nächsten 20 Jahren (2014–2035) mit Einbußen um die zehn Prozent rechnen müssen. Wenn die Hochschulen überhaupt für dieses Problem sensibilisiert sind, dann werden zwei strategische Ansätze gewählt: Zum einen wird aktiv um Studierende aus dem Ausland geworben. Zum anderen wird der Weiterbildungsbereich, z.B. das berufsbegleitende Studium, stärker ausgebaut. 3. Auswirkungen auf die Institution Hochschule Die Hochschulen betreiben Studienwerbung und Hochschulmarketing, sie wählen ihre Studierenden aus, sie bereiten die Anfänger auf das Studium vor und begleiten sie in der Studieneingangsphase.45 Sie kümmern sich um Angelegenheiten, für die sie bislang nicht zuständig waren. Die Hochschulen erweitern ihr Funktionsspektrum als Bildungseinrichtung, sie werden immer stärker aktiv auf dem Feld der Weiterbildung – eine Aufgabe, die auch in den Landeshochschulgesetzen festgeschrieben ist – sowie in der beruflichen Bildung (wobei beides nicht voneinander zu trennen ist). Die höhere Studierquote führt nicht nur zu einer Akademisierung der Berufsausbildung, sie führt auch zu einer Verberuflichung der akademischen Bildung.46 Dies zeigt sich insbesondere in der aktuellen Hochkonjunktur der dualen Studiengänge, die große berufspraktische Anteile aufweisen bzw. im Rahmen derer parallel ein beruflicher und ein akademischer Abschluss erworben werden kann. Hier verstärken die Hochschulen ihren Charakter als Stätten berufspraktischer Ausbildung. Eine Ausrichtung auf die Berufswelt hat es an der Universität im Übrigen gleichwohl seit jeher gegeben. Bereits das Studium an den drei „oberen“ Fakultäten der alten Universität diente der Ausbildung von Professionen: in der theologischen zum Priester, in der medizinischen zum Arzt und in der juristischen Fakultät zum Richter oder Anwalt; später im 19. Jahrhundert kam dann auch die Lehrerausbildung in der philosophischen Fakultät dazu.47 Nun rückt die „Welt der Berufsbildung“ noch näher an die „Welt der Hochschulbildung“ heran. Mit der (erwünschten) Entstandardisierung und Flexibilisierung von Bildungsbiografien verschwinden gleichzeitig auch die Grenzen zwischen akademischer und beruflicher Bildung. Deren Angebote nähern sich qualitativ an bzw. werden miteinander verschmolzen. Das Aufgabenrepertoire der Hochschule wird folglich ausgeweitet: Sie ist Schule, Berufsschule und Hochschule in einem. Dieser Trend ist sicherlich noch nicht an seinem Ende angelangt. Der institutionelle Wandel der Hochschule kann mit dem Begriff der Multiversität48 umschrieben werden: Die Hochschule übernimmt vielfältige Aufgaben und ist entsprechend organisationsintern differenziert. Dies gilt im Übrigen auch für die Forschung. Auch hier kommen neue Aufgaben jenseits des Kernbereichs wissenschaftlicher Arbeit hinzu. Beispielsweise werden höhere Anfor44 Siehe: Agarwala, Anant (2016): Große Leere. ZEIT Campus. URL: https://www.zeit.de/2016/48/universitaeten-hochschulenstudenten-demografischer-wandel sowie Mader, Fabian (2016): Stehen manche Unis bald leer? ARD alpha Bildungskanal. URL: https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campusmaga zin/rueckgang-studienanfaenger-leere-unis-100.html. 45 Dazu kommt noch die Entwicklung, dass die Hochschulen (in Bremen, Nordrhein-Westfalen und in Brandenburg) auch die Studienvorbereitung für Ausländer/innen übernehmen – eine Aufgabe, die bislang von den Studienkollegs wahrgenommen wurde. 46 Zu dieser Diskussion sowie allgemein zum Verhältnis von akademischer und beruflicher Bildung siehe die beiden Sammelbände von Severing & Teichler sowie Kuda, Strauß, Spöttl & Kaßebaum: Severing, Eckart / Teichler, Ulrich (Hg.) (2013): Akademisierung der Berufswelt? Verberuflichung der Hochschulen? Bielefeld: Bertelsmann; Kuda, Eva / Strauß, Jürgen / Spöttl, Georg / Kaßebaum, Bernd (Hg.) (2012): Akademisierung der Arbeitswelt? Zur Zukunft der beruflichen Bildung. Hamburg: VSA-Verlag. 47 Vgl. Stock, Manfred (2013): Hochschulentwicklung und Akademisierung beruflicher Rollen. Das Beispiel der pädagogischen Berufe. S. 160–172 in: die hochschule, Vol. 22, Heft 1. 48 Den Begriff der multiversity gibt es schon seit mehr als einem halben Jahrhundert. Er stammt ursprünglich von Clark Kerr: Clark, Burton R. (1998): Creating Entrepreneurial Universities. Organizational Pathways of Transformation. Surrey: Pergamon Press. Zwei Jahre später erreichte der Begriff über Ralf Dahrendorfs bekannte Streitschrift „Bildung ist Bürgerrecht“ die bundesdeutsche Debatte: Dahrendorf, Ralf (1965): Bildung ist Bürgerrecht: Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Nannen-Verlag. 194 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2019), 183–194 derungen an die Wissenschaftskommunikation gestellt; die Hochschulen sollen ihre Befunde für die Öffentlichkeit vermitteln. Die Steigerung von Transferleistungen in Wirtschaft und Gesellschaft wird zudem vermehrt gefordert. In Bezug auf ihr Verhältnis zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der Industrieforschung sieht der Wissenschaftsrat die Hochschulen, genauer: die Universitäten gar als „Organisationszentren der Wissenschaft“.49 Vielleicht geschieht im Bildungsbereich Ähnliches: Die Hochschule – insbesondere die Universität – rückt immer mehr ins Zentrum des Bildungssystems? Martin Winter ist derzeit Professor an der Hochschule für Musik Detmold. Er hat an der Universität Erlangen-Nürnberg Sozialwissenschaften studiert und anschließend an der Universität Halle promoviert. Bevor er ins Grundsatzreferat des Brandenburger Wissenschaftsministeriums wechselte, arbeitete er rund zwölf Jahre am Institut für Hochschulforschung HoF Wittenberg. 49 Wissenschaftsrat (2006): Empfehlungen zur künftigen Rolle der Universitäten im Wissenschaftssystem. Drs. 7067–06. Köln, 27. Januar 2006, S. 31. URL: https://www.wissenschaftsrat.de/down load/archiv/7067–06.pdf.