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Es liegt in der mensch­li­chen Natur, daß man von jeder Ein­rich­tung die Dor­nen stär­ker emp­fin­det als die Rosen und daß die ers­te­ren gegen das zur Zeit Bestehen­de ver­stim­men. Die alten Regie­rungs­be­am­ten zeig­ten sich, wenn sie mit der regier­ten Bevöl­ke­rung in unmit­tel­ba­re Berüh­rung tra­ten, pedan­tisch und durch ihre Beschäf­ti­gung am grü­nen Tisch den Ver­hält­nis­sen des prak­ti­schen Lebens ent­frem­det, hin­ter­lie­ßen aber den Ein­druck, da sie ehr­lich und gewis­sen­haft bemüht waren, gerecht zu sein. Das­sel­be läßt sich von den Orga­nen der heu­ti­gen Selbst­ver­wal­tung in Land­stri­chen, wo die Par­tei­en ein­an­der schär­fer gegen­über­ste­hen, nicht in allen Stu­fen vor­aus­set­zen; das Wohl­wol­len für poli­ti­sche Freun­de, die Stim­mung bezüg­lich des Geg­ners wer­den leicht ein Hin­der­nis unpar­tei­ischer Hand­ha­bung der Ein­rich­tun­gen. Nach mei­nen Erfah­run­gen aus jener und der spä­te­ren Zeit möch­te ich übri­gens den Vor­zug der Unpar­tei­lich­keit im Ver­glei­che zwi­schen rich­ter­li­chen und admi­nis­tra­ti­ven Ent­schei­dun­gen nicht den ers­te­ren allein ein­räu­men, wenigs­tens nicht durch­gän­gig. Ich habe im Gegen­teil den Ein­druck behal­ten, daß Rich­ter an den klei­nen und loka­len Gerich­ten den star­ken Par­tei­strö­mun­gen leich­ter und hin­ge­ben­der unter­lie­gen als Ver­wal­tungs­be­am­te; und es ist auch kein psy­cho­lo­gi­scher Grund dafür erfind­lich, daß bei glei­cher Bil­dung die letz­te­ren a prio­ri für weni­ger gerecht und gewis­sen­haft in ihren amt­li­chen Ent­schei­dun­gen gehal­ten wer­den soll­ten als die ers­te­ren. Wohl aber neh­me ich an, daß die amt­li­chen Ent­schlie­ßun­gen an Ehr­lich­keit und Ange­mes­sen­heit dadurch nicht gewin­nen, daß sie kol­le­gia­lisch gefaßt wer­den; abge­se­hen davon, daß Arith­me­tik und Zufall bei dem Majo­ri­täts­vo­tum an die Stel­le logi­scher Begrün­dung tre­ten, geht das Gefühl per­sön­li­cher Ver­ant­wort­lich­keit, in wel­cher die wesent­li­che Bürg­schaft für die Gewis­sen­haf­tig­keit der Ent­schei­dung liegt, sofort ver­lo­ren, wenn die­se durch anony­me Majo­ri­tä­ten erfolgt.
Otto von Bismarck
Unparteilichkeit1
1 Otto von Bis­marck, Gedan­ken und Erin­ne­run­gen, Aus­ga­be Ver­lag Herbig Mün­chen, 1. Buch, S. 25 f.
Ord­nung der Wis­sen­schaft 2020, ISSN 2197–9197