I. Einführung
Das Jurastudium in Polen steht auch 30 Jahre nach der Wende von 1989 am Scheideweg. Einerseits bleibt es der Linie einer typischen akademischen Ausbildung treu verhaftet, andererseits jedoch versucht es, sowohl dem internationalen Bologna-Umfeld als auch dem nationalen Druck nach mehr pragmatischer Flexibilität gerecht zu werden. Denn die grundsätzliche Frage bleibt weiterhin offen: Geht es um eine solche juristische Ausbildung, in Folge deren auf den Arbeitsmarkt bloß reine Fachleute kommen? Oder, doch anders, sollen diejenigen kommen, die zusätzlich, über breitere geistige Horizonte verfügen? Also kurz gefragt, will man die juristischen „Technokraten“, oder, um sich des obsoleten Wortes zu bedienen, die Zugehörigen einer Klasse von Staatsdienern bzw., um nach dem modernen Begriff zu greifen, Gesellschaftsdienern?
Das Dilemma ist natürlich nicht neu und ganz bestimmt nicht nur ein polnisches. Dennoch lohnt es sich, gerade am Beispiel des polnischen Ausbildungsmodells der Juristen in spe, nochmals Gedanken darüber zu machen, was wir eigentlich von einem Kandidaten zum Juristen erwarten? Wer darf sich ausgebildeter Jurist nennen und was für Eigenschaften sollten ihn dann auszeichnen? Vor allem muss uns jedoch stets eine andere Frage vor Augen stehen: Wie will man eine Ausbalancierung zwischen der Sicherung des notwendigen Grundwissens all dieser Kandidaten und zugleich dem Drang nach Freiraum bei der Spezialisierung, um einen eigenen beruflichen Weg zu gehen, gewährleisten?
II. Zur Vorgeschichte: Eine Reform des polnischen Jurastudiums im Geiste der europäischen Flexibilität
Es klingt nach einer banalen Feststellung, wenn hier angemerkt wird, dass die Ausbildungsmodelle, nach denen man heutzutage in Europa die Adepten des Jurastudiums formt, sich in zweierlei Hinsicht unterscheiden: Zum einen in historischer, zum anderen in politisch-gesellschaftlicher. Dennoch, unabhängig von all solch artikulierten Prämissen, Eins ist sicher: Im europäischen Kulturraum stützt sich das juristische Studieren auf dem Fundament des römischen Rechts. Und daran, was von Relevanz für dessen Verständnis ist, hat in Mittel- und Osteuropa auch der Kommunismus nichts geändert. Dies soll aber nicht bedeuten, dass der Kommunismus spurlos in Bezug auf den Inhalt und die Form des Jurastudiums vorbeigegangen ist. Auch im Fall von Polen.
Zweifelsohne ist der Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahre 2004 eine der markanten Zäsuren in der neuesten Geschichte des Landes. Auch wenn immer wieder betont wird, dass dieser Schritt keine Rückkehr nach Europa bedeutet, weil Polen immer in Europa gewesen sei, bleibt unbestritten, dass 50 Jahre der Zwangszugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich mit ihrer Planwirtschaft und Allmacht des Staates sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben haben. Es ist daher offenkundig, dass der mühevolle Weg nach Westen, zu einem Kulturraum, zu dem die Gotik von Krakau ebenso wie die Gotik von Köln, Chartres und Canterbury gehört, durch diese Kulturidentität erleichtert wird, die notwendigen Reformen aber nicht ersetzt.
Obgleich Polen die Bologna-Erklärung schon im Jahr 1999 unterzeichnet hat, wurden diesbezügliche erste einschneidende Reformen in der hiesigen Ausbildungsorganisation von Juristen mehr als zehn Jahre später, erst im Jahr 2011 durchgeführt. Dies verwundert wenig, wenn man berücksichtigt, dass laut der hier genannten Erklärung unser Kontinent zu einem Raum als „Europa des Wissens“ umgewandelt werden soll. Die Realisierung einer solch ehrgeizigen Zielsetzung erfordert jedoch zuallererst die Schaffung von gemeinsamen Mechanismen, die dazu führen könnten. Keine leichte Aufgabe, wenn man bloß in Erwägung zieht, wie unterschiedlich die nationalen Hochschulwesen organisiert werden. Es ist daher nachvollziehbar, warum man sich erstens zuerst auf den allgemeinen Rahmen verständigt hat, und zweitens, dass die Erfüllung dessen den nationalen Regierungen überlassen wurde.
Jan Wiktor Tkaczyński/Wiktor Kordyś
Über das Jurastudium in Polen
Zwischen Anpassung und Kontinuität
Ordnung der Wissenschaft 2020, ISSN 2197–9197
1 9 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 0 ) , 2 0 1 — 1 9 5
1 Załącznik nr 85 do Rozporządzenia Ministra Nauki i Szkolnictwa
Wyższego z 12 lipca 2007 w sprawie standardów kształcenia dla
poszczególnych kierunków oraz poziomów kształcenia, a także
trybu tworzenia warunków, jakie musi spełniać uczelnia, by
prowadzić studia międzykierunkowe oraz makrokierunki, [in:]
Dz. U. RP 2007, Pos. 1166.
2 Ustawa z 18 marca 2011 o zmianie ustawy – Prawo o szkolnictwie
wyższym, ustawy o stopniach naukowych i tytule naukowym oraz
o stopniach i tytule w zakresie sztuki oraz o zmianie niektórych
innych ustaw, [in:] Dz. U. RP 2011, Pos. 455.
3 Rozporządzenie Ministra Nauki i Szkolnictwa Wyższego z 8
sierpnia 2011 w sprawie obszarów wiedzy, dziedzin nauki i sztuki
oraz dyscyplin naukowych i artystycznych, [in:] Dz. U. RP 2011,
Pos. 1065.
4 Rozporządzenie Ministra Nauki i Szkolnictwa Wyższego z 2 listopada
2011 w sprawie Krajowych Ram Kwalifikacji dla Szkolnictwa
Wyższego, [in:] Dz. U. RP 2011, Pos. 1520.
Dass die Idee eines „Europa des Wissens“ mühevoll verwirklicht
sein wird, hat man von Anfang an gewusst und
daher konnte man sich dem Ziel nur schrittweise nähern.
Unter den ersten eingeführten Modalitäten findet man
die folgenden Veränderungen:
– Erarbeitung von klaren und, was man für besonders
wichtig hielt, vergleichbaren Benotungssystemen
– Aufteilung des Studiums in zwei Studiengänge:
Bachelor und Master
– Ergänzung des nationalen Abschlussdiploms um
sog. Supplements nach dem aufoktroyierten Muster
von Europäischer Kommission, Europarat und
UNESCO
– Anwendung eines allgemein angewandten ECTSPunkte-
Systems
– Förderung von Mobilität der Studierenden, der Wissenschaftler
sowie des Fachpersonals.
Im Gegensatz zu anderen Studiengängen, für die
man schon in den Jahren 2002 und 2003 die entsprechenden
Standards einführte, hat der polnische Gesetzgeber
mit solchen für das Jurastudium bis 2007 gezögert1.
Laut dieser Verordnung wurden zwei Unterrichtsgruppen
eingeführt: Grundstudium und Hauptstudium.
Das erste umfasst in minimalem Umfang 450 Unterrichtsstunden
und nicht weniger als 80 ECTS-Punkte:
Einführung in die Rechtskunde, Logik, Staats‑, Straf‑,
Verwaltungs- und Zivilrecht sowie Verwaltungs‑, Zivilund
Strafprozessrecht und Verwaltungsgerichtsverfahren.
Im zweiten von minimalem Umfang von 330 Unterrichtsstunden
und insgesamt 40 ECTS-Punkten sind folgende
Lehrveranstaltungen zu finden: Rechtstheorie
und ‑philosophie, Geschichte der politischen und rechtlichen
Doktrinen, Arbeits‑, Finanz‑, Steuer‑, Völker‑,
Europa‑, Wirtschaftsrecht, Geschichte des polnischen
Rechts, allgemeine Rechtsgeschichte, römisches Recht
sowie Handelsrecht. Des Weiteren findet man im polnischen
Unterrichtsausbildungsprofil der zukünftigen
Juraabsolventen zusätzlich sowohl Umweltschutz‑, Kirchen‑,
Urheber‑, sowie Wettbewerbsrecht als auch eine
Einführung in die lateinische Rechtsterminologie.
Sofern die Fächer, die dem Grund- und Hauptstudium
zugeordnet wurden, obligatorischer Natur, also keine
Wahlfächer sind, ist die letztgenannte Gruppe als lediglich
den Hochschulen (nicht den Studierenden) vom
Ministerium zur Wahl gestellte Ergänzungsliste der
Lehrveranstaltungen zu bezeichnen. Insgesamt durfte
das Pensum des zehnsemestrigen Jurastudiums nicht
weniger als 2.400 Unterrichtstunden (inklusive der obligatorischen
für Magisterseminar, Fremdsprachenunterricht,
Sport) und 300 ECTS-Punkten betragen. Um die
Studien von praktischer Seite abzusichern, hat man sich
für den administrativen Schritt entschieden, dem zufolge
mindestens 30% des Unterrichtspensums in einer anderen
Form als Vorlesungen ausgeführt werden muss.
Dem so vorgegeben Unterrichtsplan kann auch entnommen
werden, mindestens ein dreiwöchiges Berufspraktikum
zu absolvieren.
Nachdem man das Hochschulwesen im Jahr 2011 erneut
einer Reform unterzogen hat2, änderten sich auch
Art und Weise, wie man Jura studieren konnte. Die erste,
eher symbolträchtige Veränderung wurde mit der Platzierung
der Rechtswissenschaft in dem Bereich der Sozialwissenschaft
statt, wie bisher, in den Geisteswissenschaften,
vollzogen3. Die viel bedeutsamere Änderung
betrifft jedoch die Nationalen Qualifikationsrahmen
(Krajowe Ramy Kwalifikacji, KRK)4, die in den meisten
Ländern Europas in Anlehnung an den Europäischen
Qualifikationsrahmen (EQF) für lebenslanges Lernen
entwickelt wurden. Laut diesem Rahmen durften die
Hochschulen seither selbst die Studiengänge bilden und
ausführen, vorausgesetzt jedoch die Erfüllung von folgenden
Kriterien:
– Die Lernergebnisse sollen sich auf einen Bildungsbereich,
eine wissenschaftliche Disziplin oder eine
Fachrichtung beziehen.
– Die Hochschule muss einer Strategie sowie einer
Mission (Bildungsziel) folgen müssen.
– Die Bildung entspricht den Bedürfnissen der gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Umgebung.
– Die allgemeine akademische Ausbildung muss um
die konkreten praktischen Züge ergänzt und
dadurch profiliert werden.
Ziel des Nationalen Qualifikationsrahmens (NQR)
ist die Schaffung von Transparenz und Vergleichbarkeit
zwischen Bildungsabschlüssen („Qualifikationen“) sowohl
im nationalen als im auch europäischen Kontext.
Tkaczyński/Kordyś · Über das Jurastudium in Polen 1 9 7
5 Rozporządzenie Ministra Nauki i Szkolnictwa Wyższego z 5
października 2011 w sprawie warunków prowadzenia studiów
na określonym kierunku i poziomie kształcenia, [in:] Dz. U. RP
2011, Pos. 1445.
6 Krystyna Wojtczak, O reformach studiów prawniczych i nauczaniu
prawa w Polsce w latach 1918–2015, [in:] Studia Prawa
Publicznego 9 (2015), S. 68.
7 Ustawa z 11 lipca 2014 o zmianie ustawy – Prawo o szkolnictwie
wyższym oraz niektórych innych ustaw, [in:] Dz. U. RP 2014,
Pos. 1198 sowie Rozporządzenie Ministra Nauki i Szkolnictwa
Wyższego z 3 października 2014 w sprawie warunków prowadzenia
studiów na określonym kierunku i poziomie kształcenia, [in:]
Dz. U. RP 2014, Pos. 1370.
8 https://pl.wikipedia.org/wiki/Ludno%C5%9B%C4%87_
Polski#Po_II_wojnie_%C5%9Bwiatowej.
9 Ustawa z 20 lipca 2018 — Prawo o szkolnictwie wyższym i nauce,
[in:] Dz. U. RP 2018, Pos. 1668.
10 William M. Sullivan et al., Educating Lawyers: Preparation for the
Profession of Law, San Francisco 2007, S. 46 f.
11 Jolanta Jabłońska-Bonca, Problemy ze spójnością prawa i regulacjami
pozaprawnymi a siła sprawcza państwa – zarys tematu, [in:]
Krytyka Prawa 1 (2015), S. 157–175.
Dabei ist es grundsätzlich unerheblich, in welcher Bildungseinrichtung
ein Abschluss erworben wurde. Denn
für die Einstufung sind die Lernergebnisse maßgebend,
die durch eine Qualifikation zertifiziert werden. Abhängig
vom konkreten Profil einer Qualifikation können
sich diese Lernergebnisse auf eine wissenschaftliche Disziplin,
ein Studienfach oder auf einen konkreten Beruf
bzw. ein Berufsfeld beziehen. Daraus folgt, dass sehr unterschiedliche
Qualifikationen auf der gleichen Qualifikationsstufe
liegen können, ohne dass diese Abschlüsse
aber gleichartig in Bezug auf ihre konkreten Inhalte sind.
Im Fall des Jurastudiums bedeutete die neueingeführte
Lösung, dass das Studienfach Jura außer als Einheitsstruktur
in Form des zehnsemestrigen Studiums
auch als sechssemestriges sowie als viersemestriges Aufbaustudium
angeboten werden konnte5. Dies fand aber
keine breite Zustimmung in der akademischen Welt Polens.
Im Gegenteil, die Möglichkeit den Weg zum juristischen
Abschlussdiplom zu verkürzen, stieß auf Ablehnung6.
Man argumentierte dabei, die Juraabsolventen
auf diese Art und Weise auf den Arbeitsmarkt zuzulassen,
bedeutet eine ungleiche Startposition und, was viel
wichtiger schien, ihnen keine volle Ausbildung anbieten
zu können. Das Ministerium folgte dieser Kritik und
machte einen Rückzieher7. Seither gilt in Polen, dass Jura
nur als zehnsemestriges Einheitsstudium angeboten
werden darf.
Dieser Zick-Zack-Kurs bezeugt, dass man keine klare
Vorstellung zum damaligen Zeitpunkt hatte, wie der
Verlauf des Jurastudiums in Polen eigentlich aussehen
soll. Diese kritische Aussage muss jedoch durch eine andere
Feststellung relativiert und gemildert werden, derzufolge
das Spektrum an Herausforderungen in dem Anpassungsprozess
nach wie vor groß ist. Die Skala der
Umwälzungsprobleme im polnischen Hochschulwesen
spiegelt am besten der demographische Indikator wider.
In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts mussten die
Hochschulen hierzulande sich mit dem massenhaften
Ansturm von starken Geburtsjahrgängen aus den Jahren
1982–1985 (ca. 700.000 Geburten jährlich) auseinandersetzen,
währenddessen variiert(e) diese Zahl davor und
danach um ca. 400.000 pro Jahr8. Dies führte zu einer
Gründungswelle von privaten Bachelor-Hochschulen einerseits,
andererseits zur Lockerung der Studienstandards
und im Endeffekt zur Senkung des
Ausbildungsniveaus.
Die Stabilisierung des demographischen Pendels
heutzutage auf dem oben genannten Niveau machte die
notwendigen Anpassungsreformen einzuführen möglich,
die nicht mehr auf das Widerstreben der privaten
Hochschulwesenslobby, sondern auf einen breiten Konsens
stoßen. Das neue Hochschulgesetz9, welches nach
über zweijährigen zähen Verhandlungen zustande gekommen
ist, stellt den Ausdruck einer Übereinkunft dar,
die sowohl den Erwartungen des Arbeitsmarktes, als
auch den hohen EU-Hürden Rechnung tragen sollte.
Dass diese Erwartungen jedoch nach wie vor mühevoll
zu verwirklichen sind, zeigt die weitergeführte Diskussion
in Bezug auf die optimale Gestaltung des
Jurastudiums.
III. Wozu eigentlich wird das neue Modell des Jurastudiums
gebraucht?
Es lohnt sich, die Diskussion um das (neue) Modell des
Jurastudiums, welches heutzutage in Polen verwirklicht
wird, aus der Perspektive einer grundsätzlichen Frage
nach den Zielen dieses Studiums darzustellen. Bei ideeller
Annahme ist ein gut gerüsteter Jurist derjenige der,
ähnlich wie im Ausbildungswesen des Common Law,
engagiert wird und die Änderungen im Sinne von „das
Recht in Bewegung“ im gesetzgeberischen Lauf begleiten
kann10. Man muss die so ausgelegte Definition des
Juristenbegriffs jedoch um zusätzlichen Züge ergänzen.
Demnach ist ein gut ausgebildeter Jurist derjenige, welcher
nicht nur die Struktur und alles, was Recht ausmacht,
versteht, sondern auch die Rechtsumgebung
wahrnimmt11. Im unterschiedlichen Ausmaß sollten die
so zugeschnittenen Rollen dann all diese Personen erfüllen,
die eine juristische Ausbildung hinter sich haben
1 9 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 0 ) , 2 0 1 — 1 9 5
12 Filip Rakoczy, Czy prawnicy powinni być pragmatystami? Kilka
słów o edukacji prawniczej z perspektywy neopragmatyzmu R.
Rorty’ego, [in:] Krytyka Prawa 3 (2016), S. 120 f.
13 Tomasz Braun, Uwagi o studiach prawniczych i aplikacjach z perspektywy
współczesnych oczekiwań rynku, [in:] Krytyka Prawa 3
(2018), S. 163.
14 Mateusz Mroczek, Kształcenie prawników a wyzwania
współczesności, [in:] Na Wokandzie 32 (2017), https://nawokandzie.
ms.gov.pl/numer-32/aplikacja-i-kariera-14-numer-32/
ksztalcenie-prawnikow-a-wyzwania-wspolczesnosci.html.
15 Bronisław Sitek, Rynek pracy prawników w Polsce po deregulacji
zawodów prawniczych (adwokata i radcy prawnego), [in:] Studia
Prawnoustrojowe 32 (2016), S. 176–177.
16 Krystyna Wojtczak, O reformach studiów prawniczych i nauczaniu
prawa w Polsce 1918–2015, [in:] Studia Prawa Publicznego 1
(2015), S. 66, FN 110.
17 Jolanta Jabłońska-Bonca / Kamil Zeidler, Prawnik a sztuka retoryki
i negocjacji, Warszawa 2016, S. 34 f.
18 Andrzej J. Szwarc, Problemy kształcenia prawniczego (wprowadzenie
do dyskusji), [in:] Państwo i Prawo 1 (2010), S. 3–9.
und gleichzeitig in den folgenden Bereichen den Juristenberuf
ausüben:
– Anwendung des Rechts im Rahmen des
Gerichtswesens
– Beratung (Finanz‑, Personal‑, Firmen- usw.)
– Gesetzgebung und Legistik
– Forschung und Lehre an den Universitäten
bzw. Fachinstituten
– Meinungsbildung und journalistische Vermittlung
von Recht.
Wenn wir uns dieses Konzept näher betrachten wollen,
dann können wir nicht umhin, auch danach zu fragen,
ob das praktizierte Modell, immer mehr von dem
Theoriewissen an die Studierenden weiterzugeben und
dieses während der Examens abzufragen, ein sinnvolles
ist12.Es ist unbestreitbar, dass die universitäre juristische
Ausbildung durch solides Theoriewissen gekennzeichnet
werden soll. Diesem Postulat steht es aber nicht entgegen,
dieses Wissen nicht nur in der Anlehnung an die
Vorschriften zu liefern, sondern auch auf dem Weg der
Anwendung dieser Vorschriften in der Praxis zu analysieren.
Währenddessen folgt die praktische Ausbildung
in Polen in Form eines Rechtsreferendariats weiterhin
dem theoretischen Wiederholungsmodell des Universitätswissens.
Bei allem Respekt für die Tradition, ein so
konzipiertes zweistufiges Modell zu durchlaufen, um an
die volle berufliche Qualifikation zu gelangen, muss man
sich doch fragen, ob es nach wie vor zeitgemäß ist13.
In Bezug auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes ist
die Kritik von einem so beschriebenen Modell leicht. Sie
stützt sich auf die folgenden Argumente:
– Das jetzige, zweistufige Modell dauert viel zu lang.
Im Vergleich zu anderen Studiengängen in Polen ist
dies unverhältnismäßig. Zusätzlich ist zu beachten,
dass das so konzipierte Modell in vielen anderen
Staaten nicht vorkommt und, was noch viel wichtiger
sein wird, den polnischen Absolventen somit
den Weg, schneller in die berufliche Selbständigkeit
zu gelangen, erschwert14.
– Das Jurastudium gehört nach dem Medizinstudium
zum meist gewählten der polnischen Abiturienten.
Das impliziert im Endeffekt den massenhaften
Ansturm auf das Studium, sowie an die weitere
berufliche Ausbildung in Form des Rechtsreferendariats.
Dieses soll modellhaft unter den Fittichen
eines praktizierenden Juristen stattfinden. Angesichts
der Überzahl von Willigen ist dies jedoch
kaum zu bewältigen und daher überrascht es nicht,
dass dieses, völlig an den Ausbildungszielen vorbei,
in einer fiktiven Betreuung mündet15.
Es wird bei der bisherigen (traditionellen) Art und
Weise, wie die Juristen auszubilden sind, angenommen,
dass das angestrebte Studienziel mit der Vorbereitung
der Juraabsolventen zum Referendariat und anschließend
zur Ausübung eines sog. Robe-Berufes (Richter,
Staats- und Rechtsanwalt sowie Justitiar) gleichzusetzten
ist16. Heutzutage wissen wir, dass ein so praktiziertes Modell
obsolet ist und keinesfalls den Erwartungen des Arbeitsmarktes
entspricht. Zwar stimmt es, dass das Jurastudium
im Allgemeinen auch dem Ziel dienlich sein
sollte, den Nachwuchs für die Gesellschaftselite zu generieren,
dennoch liegt es eben im Interesse dieser Gesellschaft,
die Fachleute auszubilden, die einen Einstieg in
die juristische Berufswelt weder scheuen noch fürchten.
In diesem Zusammenhang muss man die grundsätzliche
Frage nach der Rolle von Juristen in der Gesellschaft
wiederholen. Sollen sie die Träger der juristischen
Kultur sein, welche im Stande sind, im öffentlichen Bereich
tätig zu werden, oder doch nur die hochqualifizierten
Fachleute?17 Die Ansicht, die die Rolle von Juristen
nur auf die Hochspezialisierung bei der Ausbildung beschränkt,
wird wegen praxisbezogener Gewinnmaximierung
von Seite der Jura-Industrie (Kanzleien, Rechtsberatung
etc.) vertreten. Diesen immer lauter werdenden
Stimmen muss allerdings entgegenhalten werden, dass
dies voranzutreiben bedeutet, dass die Bedeutung des Juristenberufs
gesellschaftlich vermindert wird. Es wundert
daher nicht, schon vor Jahren eine vor einem solchen
Abbau warnende Stimme zu hören18.
Inzwischen wird versucht, sich auf ein Minimum zu
verständigen, und zwar in dem Sinne, dass das Jurastudium
vor allem von einem soliden theoretischen Wissen
Tkaczyński/Kordyś · Über das Jurastudium in Polen 1 9 9
19 Barbara Glesner Fines, Fundamental Principles and Challenges
of Humanizing Legal Education, [in:] Washburn Law Journal 47
(2008), S. 313–326.
20 Elliott S. Milstein, Clinical Legal Education in the United States:
In-House Clinics, Externships, and Simulations, [in:] Journal of
Legal Education 3 (2001), S. 375–381 passim.
21 Tomasz Braun, Uwagi o studiach prawniczych i aplikacjach z
perspektywy współczesnych oczekiwań rynku, op. cit., S. 169.
22 Gerald F. Hess, Heads and Hearts: The Teaching and Learning
Environment in Law School, [in:] Journal of Legal Education 1–2
(2002), S. 75–111 passim.
23 Larry D. Barnett, The Place of Law. The Role and Limits of Law in
Society, New Brunswick-London 2011, S. 43–46.
untermauert und zugleich ein universitärer Charakter
bewahrt werden sollte19. Das heißt aber lange nicht, dass
die Studierenden von der Praxis abgehalten werden sollen.
Im Gegenteil, es soll ihnen während des Studiums
auch ermöglicht werden, eine Portion praxisbezoger Erfahrungen
zu sammeln, sei es aufgrund der Teilnahme
an Vorlesungen, die von Praktikern gelesen werden, sei
es aufgrund eines simulativen Verfahrens, in dem man
das konkrete Delikt als eine Prozesspartei überprüfen
kann20.
Als im Jahre 1997 Clayton M. Christensen in seinem
Buch Innovator‘s Dilemma. When New Technologies
Cause Great Firms to Fail zum ersten Mal den Begriff disruptive
innovation formulierte, hat sich damals keiner
darüber Gedanken gemacht, dass diese Formulierung
auch in Bezug auf die Rechtswissenschaft zieltreffend anzuwenden
gewesen wäre. Denn obgleich die Diagnose
stimmt, dass wir heutzutage in einer turbulenten Welt leben
und vieles im Umbruch steht, ist das Heilmittel nach
wie vor nicht gefunden. Also die Arznei in Form einer
destruktiven Innovation, welche den Marktbedürfnissen
hinsichtlich der Ausbildung von Juristen einerseits und
andererseits dem gesellschaftlich gewünschten sowie demokratisch
gesinnten esprit de corps der Juristen nicht
zuwiderläuft.
Der heutige Drang nach der Spezialisierung seitens
des Marktes ist verständlich, wenn wir die moderne
high-tech Wirtschaftsentwicklung beobachten. Obgleich
die Weltwirtschaft immer (auch wenn dies hier banal
klingt) komplexer wird, wird sie dadurch nicht weniger
unvorhersehbar. Um all solchen Trends nicht nur passiv
zu trotzen, sondern auch den daraus resultierenden Bedürfnissen
aktiv genüge zu tragen, versuchen eben die
Juristen Antworten zu liefern, die behilflich sein sollten,
neu aufgetauchte Rechtsfragen zu lösen. Dennoch, zu
Recht stellt Tomasz Braun mit Bedauern fest, dass das
Alles zwar von der Rechtslehre inzwischen schon erkannt
wurde, jedoch in minimalem Umfang in das Studienprogramm
einsickerte21.
In einer solchen Lage wäre es daher ratsam, interdisziplinär
zu handeln. Der interdisziplinäre Ansatz bedeutet
hier, den Studierenden nicht nur lediglich ein Wissenspensum
anzubieten, sondern ihnen auch weitergehende
Kompetenzen zu vermitteln sowie dazu die notwendigen
gesellschaftlichen Fähigkeiten auszubauen.
Wie man ans Ziel, ein Jurist zu werden, kommt, zeigt in
diesem Fall am besten das angelsächsische Model. Es ist
hier beinahe eine typische Vorgehensweise, dass die
Juraadepten vor ihrem Jurastudium einen anderen Studiengang
absolvieren. Unabhängig davon, ob derjenige
Juraanwärter sein Studium im Fach von politischer Wissenschaft,
Soziologie, Ökonomie oder sogar von solchen
wie Medizin bzw. Ingenieurwesen abgeschlossen hat,
wird ihm der Weg zu den juristischen Berufen nicht versperrt22.
Zweifelsohne profitiert von einem doppelten
Abschlussdiplom sowohl derjenige selbst, als auch sein
Arbeitgeber. Die spezifischen Kenntnisse, die er bei dem
ersten Studium erwirbt, sind in Bezug auf die oben angesprochenen
Herausforderungen bei der Ausübung eines
Juristenjobs einfach Gold wert.
Die Idee, ins Jurastudium mehr Interdisziplinarität
einzuführen, resultiert daraus, dass das Recht naturgemäß
alle Bereiche des Lebens durchdringt, denn gewiss
alle oder, genauer gesagt, fast alle menschlichen Aktivitäten
sind vom Recht gekennzeichnet. Noch wichtiger
scheint es jedoch, dass von einem Juristen heutzutage
nicht nur die fachliche Kompetenz erwartet wird, sondern
auch das Verstehen der komplizierten Wirtschafts‑,
Gesellschafts- und Politikverflechtung. Währenddessen
beweisen an den polnischen Universitäten beispielhaft
die Vorlesungen zum Wirtschaftsrecht, wie man dieses
im eher begrenzten Umfang liest. Man unterscheidet
häufig nur zwischen dem öffentlichen und privaten
Wirtschaftsrecht, was dazu führt, dass die Zweige wie
beispielsweise Transport‑, Arznei‑, Börsenrecht außen
vor bleiben. Es mangelt bei der Ausbildung von Juristen
auch an einer Managementvorlesung. Im Endeffekt
kommt auf den Arbeitsmarkt meist ein Jurist, der sich
erst durch learning by doing das erforderliche Instrumentarium
aneignet.
Der größte Verlust ist aber in anderer Hinsicht zu
verzeichnen, nämlich in Bezug auf die Rolle eines Juristen
in der Gesellschaft. Alle juristischen Berufe gehören
der Berufssparte an, welche sich durch eine Prägung des
öffentlichen Vertrauens von vielen anderen Berufsgruppen
unterscheidet. Wenn wir hier außer Acht lassen, was
das öffentliche Vertrauen ausmacht bzw. wie man es definiert,
können wir nicht umhin, feststellen zu müssen,
dass dies eine fundamentale Kategorie des Staatsrechts
darstellt23. Vor diesem Hintergrund klingt das Postulat,
2 0 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 0 ) , 2 0 1 — 1 9 5
die Ethikvorlesung um die öffentlichen Züge vom Vertrauensverständnis
im Jurastudienprogramm zu ergänzen,
mehr als plausibel24. Andersherum mag es vonnöten
sein, es statt mit einem Juristen, mit einem als Geschäftsmann
verkleideten Juristen zu tun zu haben. Ob dies jedoch
gesellschaftlich gewünscht und ertragbar sein wird,
bleibt mehr als offen.
Prof. Dr. Jan Wiktor Tkaczyński ist o. Professor an der
Jagiellonen Universität in Krakau (Polen). Seine Forschungsschwerpunkte
sind vergleichendes Verfassungsrecht
sowie das Europäische Umweltschutzrecht,
auch im Vergleich mit den Rechtsentwicklungen
in Ostasien. Wiktor Kordyś ist dort Doktorand.
24 Jerzy Leszczyński, Etyka zawodowa prawników, [in:] Edukacja
Prawnicza 1 (2015/2016), S. 26 f.
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