In Tübingen war die Universität Anfang der zwanziger Jahre nicht mehr die selbstständige Korporation, welche sich selbst durch den aus sämtlichen ordentlichen Pro- fessoren bestehenden Senat unter dem Vorsitze eines halbjährig unter den vier Fakultäten wechselnden Rek- tors und unter einer Art von Kontrolle eines Kanzlers, der immer der älteste Professor der Theologie war, regierte, ihre Mitglieder selbst ernannte, von ihrem eige- nen Vermögen lebte, und nur gelegentlich unterstützt aus Mitteln des Kirchenguts oder der herzoglichen Rent- kammer, Gerichtsbarkeit jeder Art über ihre Angehöri- gen hatte. König Friedrich hatte in seiner Umgestaltung des ganzen Staatslebens nach modernen, namentlich französichen Ideen und bei seiner entschiedenen Abnei- gung gegen alle selbstsändigen Organismen auch hier scharf eingegriffen. Die Universität wurde als Staatsan- stalt erklärt, wie andere Lehranstalten unter das Kultus- ministerium gestellt; ihre Vermögensverwaltung ward mit der der Staatsdomänen verbunden, der nötige Zuschuß regelmäßig aus der Staatskasse geliefert; die Ernennung des Lehrerpersonals erfolgte durch den König auf Vorschlag des Ministeriums, und dem Senate blieb nur ein Vorschlagsrecht; den alten vier Fakultäten wurden unter König Wilhelm zwei neue beigefügt, eine katholisch-theologische und eine staatswirtschaftliche; eine Zeit lang war sogar ein am Orte residierender Kura- tor als Mittelstelle und unmittelbare Aufsicht bestellt.
Doch blieben immer noch manche Reste der frühe- ren Zustände übrig. Die beratende und begutachtende, in bestimmten Fällen beschließende Behörde blieb der Senat, auch jetzt bestehend aus den sämtlichen ordentli- chen Professoren, deren Zahl sich allmählich auf mehr als 30 belief, unter dem Vorsitze eines halbjährig nach der Reihenfolge der Fakultäten und in diesen nach dem Amtsalter wechselnden Rektors. Auch der Kanzler hatte seine Stellung als commissarius principis und als erster Votant im Senate behalten; er hatte das Recht, jedem Be- richte des Senates einen geheim gehaltenen Beibericht anzufügen. Nur war die wichtige Neuerung eingetreten, daß der Kanzler vom Könige aus der Zahl der Professo- ren frei ernannt wurde und nicht mehr der älteste Pro- fessor der evangelischen Theologie war. Der Rektor be-
stellte die Referate nach seinem Gutfinden, wenn er nicht vorzog, selbst den Vortrag zu halten. Sitzungen fanden, fast regelmäßig, an allen Donnerstagen statt, an welchem Tage daher keine Vorlesungen gehalten wur- den; die Anwesenheit der Mitglieder war keine sehr re- gelmäßige; manche erschienen kaum je. Dem Eintritte in den Senat mußte die Abhaltung einer Rede in der großen Aula vorangehen. Ein egentümliches Recht des Senates war das Patronat über 28 Pfarreien, unter welchen viel katholische; auf volle Freiheit der Verleihung nach den allgemeinen Grundsätzen über Patronate wurde eifer- süchtig gehalten und jeder Versuch des Konsistoriums sich einzumischen zurückgewiesen.
Die Fakultäten bildeten selbständige Kollegien unter einem wechselnden Dekan und waren teils vom Senate unabhängig, namentlich was die Verleihung der akade- mischen Grade und dergleichen betraf, teils hatten sie vorbereitende Gutachten, vor allem in Stellenbeset- zungsfragen, an den Senat zu erstatten. Ihre Sitzungen waren seltener und nur wenn ein bestimmtes Geschäft sie erforderte. – Zur Besorgung untergeordneter Angele- genheiten bestanden Komissionen, namentlich eine Dis- ciplinarkommission und ein Verwaltungsausschuß, un- ter dem Vorsitze des Rektors und zusammengesetzt aus einigen Professoren.
Außerordentliche Professoren und Privatdozenten hatten keinerei Anteil an der Leitung der Universitätsan- gelegenheiten. Jene wurden von der Regierung ernannt und bezogen einen ziemlich spärlichen Gehalt, hatten Staatsdienerrechte und ‑pflichten; diese mußten sich durch öffentliche Verteidigung einer Dissertation habili- tieren, von der Regierung bestätigt werden, erhielten aber, mit sehr seltenen Ausnahmen, keine Besoldung. Im ganzen wurden Privatdozenten nicht gern gesehen; man betrachtete sie eher als ein unruhiges und unzufriede- nes, daher unbequemes Element.
Robert von Mohl (1789 – 1875), ein politischer Professor und bedeutender Staatswissenschaftler, schildert in sei- nen „Lebenserinnerungen“ die Reformen an der Universi- tät Tübingen, wie er sie 1824 bei Antritt seiner dortigen Professur antraf.
Robert von Mohl
Und immer wieder: Reform der Universität
Ordnung der Wissenschaft 2017, ISSN 2197–9197
292 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2017), 291–292