Zu Beginn der hochschulpolitischen Auseinanderset- zungen des letzten Jahrzehnts wurde einer akademi- schen Festversammlung Hamburger Professoren ein Transparent mit der Aufschrift entgegengehalten: „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“. Der anspruchslose Reim ist geradezu zum geflügelten Wort in der Reformdiskussion über die deutsche Hochschule geworden. Er gab einem verbreiteten Unbehagen über die verkrusteten Strukturen unserer Universitäten Aus- druck. Inzwischen ist aus diesem Unbehagen eine Erneu- erungsbewegung erwachsen, welche die akademische Landschaft grundlegend verändert hat. Aus der autono- men Gelehrtenrepublik von ehedem ist ein Tummelplatz für politische Planer und mehr und mehr auch ein ver- längerter Arm der staatlichen Bürokratie geworden. Die Humboldtsche Konzeption der Einheit von Forschung und Lehre hat einem Instrument der Massenausbildung Platz gemacht, in dem „Lernprozesse“ nach dem Vorbild der Grundschule vermittelt werden. Die enge Verklam- merung der Universität mit dem Schulsystem im allge- meinen wird auch durch die vollständige Integration der Lehrerbildung sinnfällig zum Ausdruck gebracht. Das Wunschbild einer Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden von einst ist dem Modell der sogenannten Gruppenuniversität gewichen, in dem sich die Blöcke der Professoren, der Assistenten, der Studenten und des nichtwissenschaftlichen Personals aggressionslustige befehden können. Magnifizenzen haben sich in Präsi- denten verwandelt, aus Spektabilitäten sind schlichte Fachbereichssprecher geworden. Und ein Professor, der es wagen sollte, sich außerhalb einer Faschingsveranstal- tung im Talar in der Öffentlichkeit zu zeigen, würde ver- mutlich unverzüglich zur Beobachtung in eine Nerven- klinik eingewiesen.
In dieses bis zur Unkenntlichkeit entstellte Panorama der deutschen Universität ragt wie ein Fossil aus längst versunkenen Zeiten in unverwüstlicher Frische der gute alte Doktorhut. Niemand scheint groß danach zu fragen, ob sein Erwerb noch zeitgemäß sei, oder ob es sich bei ihm nicht um eine besonders verabscheuungswürdige Form des Leistungsdruckes handle, die es trägen Profes- soren gestattet, von den Früchten des Fleißes ihrer Dok- toranden ihren wissenschaftlichen Lebensunterhalt zu
1 Ansprache anläßlich der Verleihung der Promotionsurkunden der Münchener Juristischen Fakultät am 11.7.1975.
bestreiten. Auch die Verfasser des Hamburger Transpa- rents haben inzwischen vermutlich längst promoviert, ohne den Staub des Mittelalters zu scheuen, der auf ihrer Doktorwürde lastet. Ebensowenig wie Politiker aller Couleur sich in ihrem emsigen Streben nach der Erlan- gung eines Ehrendoktortitels von solchen modischen Erwägungen beirren lassen.
Woraus erklärt sich die ungebrochene Anziehungs- kraft dieses Reliktes aus den Anfängen des Hochschul- wesens? Es ist gewiss nicht der „Hunger nach Wissen- schaft“ oder die „innere Rastlosigkeit des Denkens“, die zum „entsagungsvollen Forschen“ treiben, wie es in ei- nem Leitfaden über die Anfertigung rechtswissenschaft- licher Dissertationen heißt (Egon Schneider, Die juristi- sche Doktorarbeit, 1964). Sieht man von dem glückli- cherweise seltenen Typus des „reinen Gelehrten“ ab, so wird kaum jemand im Verfassen einer Dissertation als solchem so große schöpferische Befriedigung finden, daß der Ertrag die Mühe lohnen könnte.
Und die Mühe ist wahrhaftig immer noch groß. Trotz Graduiertenförderung ist der Entschluß zur Promotion gerade heute nicht selten ein finanzielles und berufliches Risiko. Der damit verbundene Zeitverlust kann sich beim Kampf um die knapper werdenden Stellen unter Umständen verhängnisvoll auswirken. Jedenfalls aber schiebt er die Erlangung einer üppiger dotierten Position aufJahrehinaus.HinzukommtdieMühsalderArbeit selbst: Die verzweifelte Suche nach einem noch nicht mehr- fach bearbeiteten Thema, nach einem der wenigen Äste, die noch nicht unter der Last der akademischen Vorläufer zu- sammenzubrechen drohen. Sodann der innere Zwang, sich etwas Neues einfallen zu lassen, und sei es auch schlechter als alles bisher schon Geschriebene.
Ich übergehe mit Stillschweigen die prosaischen Ge- nüsse der Arbeit selbst: das Anfertigen von Karteikarten, die man zum rechten Zeitpunkt nicht wiederfindet, die frustrierende Suche nach der einschlägigen Monogra- phie, die in der Seminarbibliothek seit Jahren ver- schwundene und in der Staatsbibliothek auf Monate aus- geblieben ist, das Frohlocken über das Erscheinen eines neuen wesentlichen Beitrages aus fremder Feder unmit- telbar vor der Vollendung der eigenen Arbeit, das endlos erscheinende Warten auf die Erstattung von Erst- und
Andreas Heldrich
Vanitas vanitatum und die Hochschulreform1
Ordnung der Wissenschaft 2018, ISSN 2197–9197
46 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2018),45–46
Zweitgutachten durch den sogenannten Doktorvater und den Korreferenten, die possierlichen Einfälle des Amtsschimmels im Dekanat, die Mühe und Kosten bei der Drucklegung der Dissertation usw.
Wie kommt jemand dazu, sich frewillig und bei kla- rem Verstand allen diesen Plagen zu unterziehen, um ei- nen Titel zu erwerben, der im Berufsleben – sieht man einmal von der Hochschullaufbahn ab ohne besonderer Bedeutung ist? Gewiß, bei einem frei praktizierenden Rechtsanwalt mag sich der Doktorgrad unter Umstän- den in einer Vermehrung des Ansehens bei den Klienten niederschlagen und so die Geschäftstätigkeit ein wenig beleben. Aber für das berufliche Fortkommen in Justiz und Verwaltung ist der Titel praktisch bedeutungslos.
Auch für den in der Wirtschaft tätigen Juristen erleich- tert er allenfalls den Start. Wir kommen also nicht um- hin, festzustellen, daß es im wesentlichen gesellschaftli- che Rücksichten sind, die das Motiv für die meisten Pro- motionen bilden. Der Titel verleiht dem Träger heute wie eh und je ein erhöhtes Sozialprestige, das sich bei vielfältigen Anlässen bewährt, etwa bei den unmittelbar nach dieser Feierstunde zur Versendung gelangenden Verlobungs- und Heiratsanzeigen. In ihm spiegelt sich ein ferner Widerschein des Glanzes der alten deutschen Universität, der allen Reformbemühungen zum Trotz auch in unserer Gegenwart noch nicht ganz erloschen ist.