Übersicht1
Prolog
I. Wissenschaftlichkeit und Wahrheitsorientierung im
Modus aufgeklärten Zweifelns
II. Kritik des Wissenschaftsbetriebs – Strukturen und
Finanzen hinterfragen
III. Irritation, Perspektivwechsel, Komplexitätssteigerung
IV. Sachlichkeit, Gelassenheit, Eindringlichkeit
V. Differenzieren von Argumentationsebenen, Ausstrahlen
auf den politischen Journalismus
Epilog
Der Wissenschaftsjournalismus steht im vermeintlich
postfaktischen Zeitalter vor besonderen Herausforderungen.
Auf ihn richten sich auch besondere Hoffnungen.
Der Beitrag entwirft ein normatives Leitbild für den
Wissenschaftsjournalismus. Dieses Leitbild setzt auf
Wahrheits- und Faktenorientierung, warnt zugleich aber
vor szientistischem Übereifer. Es mahnt dazu, auch die
Strukturen des Wissenschaftsbetriebs kritisch zu
beleuchten und sich nicht mit der Rolle des Übersetzens
und Popularisierens von Forschungsergebnissen zu
begnügen. Und schließlich warnt es davor, sich treiben
zu lassen von einer emotionalisierten und überreizten
Kommunikationskultur.
Prolog
Lässt sich über die Zukunft des Wissenschaftsjournalismus
sprechen, ohne über die Zukunft des Journalismus
zu sprechen? Und lässt sich, so mag man apokalyptisch
gestimmt weiter fragen, über die Zukunft des Journalismus
sprechen, ohne über die Zukunft als solche zu sprechen?
Es sind Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten,
die den Menschen vor Augen führen, wie es um
diesen Planeten steht: nicht gerade glänzend. Auf der
anderen Seite sind es ebenfalls Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten,
die mit Fakten und guten Argumenten
dazu mahnen, vorhandene globale Fortschritte,
zum Beispiel bei den Impfquoten oder im Kampf gegen
den Hunger, nicht im negativen Nachrichtenstrom
untergehen zu lassen. Der große Erfolg von Hans Roslings
Buch „Factfulness“ (Rosling 2018), das vor einer
unberechtigten Katastrophenstimmung warnt, ist ein
Beleg dafür, dass viele Menschen genug haben vom
Negativismus der Medien.
Wie so oft entzieht sich die Wirklichkeit mit ihren
Herausforderungen einem einfachen Schematismus.
Daraus den Schluss zu ziehen, es gäbe keinerlei Dringlichkeiten,
wäre jedoch falsch. So zu tun, als sei die Welt
zu widersprüchlich, um sich auf irgendetwas festlegen zu
können, zeugt von unverantwortlicher Bequemlichkeit.
Die Erkenntnisse, die beispielsweise über den Schwund
der Arten (den Verlust der Biodiversität) oder über den
Wandel des Klimas existieren, erscheinen so solide, dass
es geradezu kindisch anmutet, wenn erwachsene Menschen
– Politiker und Präsidenten – die Augen davor
verschließen. Als ob das Unheil schwindet, wenn man
nicht hinsieht.
Die Bereitschaft zur Ignoranz hat viele Ursachen. Es
hilft ihr, dass sie sich als Widerstand gegen mediale
Überhitzungen und Hysterie ausgeben kann. Es ist der
Witz unserer Zeit: dass sich Anti-Aufklärer als Aufklärer
der durchaus vorhandenen Irrationalitäten fortgeschrittener
Mediendemokratien aufspielen.
Eine Gefahr besteht nun darin, sich von der Logik
des Polarisierens treiben zu lassen. Freund oder Feind,
wahr oder falsch, Rettung oder Untergang – ehe man
sich’s versieht, gerät man selbst unter Zug- und Entscheidungszwang.
Und es lauert stets die Versuchung, überzogen
zu reagieren auf die notorischen Ignoranten und
Vereinfacher. Es ist das Prinzip, das auch politische Extremisten
und Terroristen so gefährlich macht; über ihre
konkreten Anschläge und über das Leiden, das diese verursachen,
hinaus. Sie nisten sich ein in unseren Köpfen,
sie provozieren und sie reizen uns, und sie können auf
diese Weise die Moderaten, die Friedfertigen und Frei-
Tanjev Schultz
Wahrheit und Zweifel
Zur Zukunft des Wissenschaftsjournalismus
1 Der Aufsatz beruht auf einem Festvortrag, den der Autor am
- Dezember 2019 bei der Verleihung des Universitas-Preises für
Wissenschaftsjournalismus der Hanns Martin Schleyer-Stiftung in
Berlin gehalten hat. Preisträgerin war die Wissenschaftsjournalistin
Stephanie Kusma (Neue Zürcher Zeitung). Tanjev Schultz hat
den Universitas-Preis im Jahr 2013 erhalten.
Ordnung der Wissenschaft 2020, ISSN 2197–9197
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heitsliebenden dazu verleiten, Verrat an ihren Idealen zu
begehen und den Rechtstaat und den Raum der Freiheit
über Gebühr einzuschränken.
Wir erleben, ich halte das für keine Übertreibung, in
der Gegenwart auch eine Form des epistemischen Terrorismus.
Wir erleben Anschläge auf die Fundamente wissenschaftlichen
und aufklärerischen Denkens. Wir erleben
Anschläge auf die Sprache, eine Verdrehung von Begriffen,
eine Verrohung der Kommunikation. Wir erleben,
inmitten etablierter Demokratien, alte und neue
Formen dreister Propaganda, an die wir uns entweder
auf bedrohliche Weise zu schnell gewöhnen – oder die
uns dazu verleiten, mit Mitteln zurückzuschlagen, die alles
nur schlimmer machen.
Eine der vielen Herausforderungen in diesem Zusammenhang
liegt in der Fragilität und Pluralität wissenschaftlicher
Methoden und Weltzugänge. Wer wie
Donald Trump und andere Populisten zugunsten der eigenen
Propaganda „alternative Fakten“ konstruiert,
schließt damit auf perfide Weise an erkenntnistheoretische
und methodologische Kontroversen der Wissenschaft
an. Es ist ja längst Gemeingut und zum Allzweckeinwand
geworden, dass es fast keine Disziplin gibt, in
der nicht zwei Experten drei unterschiedliche Auffassungen
vorbringen können.
Der Journalismus und speziell der Wissenschaftsjournalismus
wären schlecht beraten, auf diese Situation
mit einem szientistischen Übereifer zu reagieren. Dass
die Zeiten eines naiven Wissenschaftsglaubens vorbei
sind, braucht nicht betrauert zu werden, es dürfen nur
Wissenschaftsfeindlichkeit und Wahrheitsverachtung
nicht die Oberhand gewinnen. Epistemische Autoritäten
existieren auch heute noch. Sie zu stabilisieren, ohne sie
unangemessen zu überhöhen, ist eine zentrale Funktion
des Wissenschaftsjournalismus.
Zugleich muss er allen Autoritäten, auch den epistemischen,
stets mit einem vernünftigen Maß an Misstrauen
und Zweifel begegnen. Und mit der furchtlosen Bereitschaft,
sich jederzeit gegen das Etablierte und gegen
die Etablierten zu stellen und herrschende Lehren und
Strukturen anzugreifen, wenn es dafür gute Gründe gibt.
Die Wahrheit wird nur retten können, wer sich ihrer
nicht gewiss ist. Die Wahrheit in einem wissenschaftlichen
und in einem journalistischen Sinne zu verteidigen,
kann nur bedeuten, stets auch den Zweifel zu kultivieren.
Für Forscher wie auch für Journalisten ist es nie verkehrt,
sich die eigenen Beschränkungen bewusst zu machen.
Die sympathische Einsicht, nur zu wissen, dass
man im Grunde nichts weiß, mutet freilich hilflos und
sogar gefährlich an in Zeiten, in denen das selbstbewusste,
von Zweifeln oder gar von Tatsachen ungetrübte Ausrufen
abstruser Thesen um sich greift. Dennoch ist eine
grundsätzliche erkenntnistheoretische Demut, auch für
Journalisten, die traditionell eher nassforsche Pragmatiker
sind, ein wichtiges Korrektiv. Sie muss keineswegs in
Relativismus oder Apathie münden, schützt aber vor einem
Abgleiten in Dogmatismus und Intoleranz. Und solange
wir die Welt, die natürliche und die soziale, bewusst
gestalten, lässt sich diese Demut auf einer anderen
Stufe der Reflexion sehr wohl vereinbaren mit einem
empirischen und pragmatischen Ansatz, der den Zweifel
(zeitweise) wieder in die Schranken weist und dem alten
Gedanken John Lockes folgt, der treffend bemerkte:
„Wenn wir alles bezweifeln wollen, weil wir nicht alles mit
Gewissheit erkennen können, so handeln wir ungefähr
ebenso weise wie derjenige, der seine Beine nicht gebrauchen
wollte, sondern still saß und zugrunde ging, weil er
keine Flügel zum Fliegen hatte.“ (John Locke, Versuch über
den menschlichen Verstand, Einleitung §5, hier zitiert
nach Locke 1981 [1689]: 26)
Die Zurückhaltung und die Bescheidenheit, die den
Journalismus und die Wissenschaft auszeichnen und
zieren sollten, darf nicht verwechselt werden mit einer
Unterwerfung unter die Strategien der Bequemen und
Betulichen, der Dummen oder der Dreisten. Es stimmt
eben nicht alles, auch wenn vieles möglich und wenig
oder nichts ganz gewiss ist.
Der Wissenschaftsjournalismus hat in dieser vermeintlich
postfaktischen Konstellation keine leichte
Aufgabe. Während sich andere mit fadenscheinigen
Stoffen begnügen, ist er mit dichtem Gewebe konfrontiert
und oft mit dicken, harten Brettern. Ohne solides
Fachwissen und Fortbildung als Dauerzustand, ohne die
Zeit, das Geld, die Kraft und den Willen für intensive
und kontinuierliche Recherchen verkommt der Wissenschaftsjournalismus
zu einer Unterabteilung des Vermischten,
die ein paar bunte Bälle aus der Forschung ins
journalistische Spaßbad wirft. Oder zur bloßen Verlängerung
einer Wissenschafts-PR, die vielerorts professioneller
und damit raffinierter geworden ist, getrieben von
Exzellenzversprechen, Aufmerksamkeitsspiralen und
Geschäftigkeitserwartungen. Gibt man ihm die Mittel
und die Spielräume, die er benötigt, kann der Wissenschaftsjournalismus
ein Bollwerk gegen Desinformation
sein – und ein Bollwerk gegen die Boulevardisierung
(vgl. Berg 2018).
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich fünf
Punkte nennen, die den Wissenschaftsjournalismus in
diesen Zeiten auszeichnen und wertvoller denn je machen
könnten. Der erste Punkt schließt unmittelbar an
die Vorbemerkungen an:
Schultz · Wahrheit und Zweifel 9 7
I. Wissenschaftlichkeit und Wahrheitsorientierung
im Modus aufgeklärten Zweifelns
Im öffentlichen Diskurs kursieren viele Meinungen. Wo
aber sind die relevanten Fakten und Erklärungen? Der
Wissenschaftsjournalismus soll dazu beitragen, Ergebnisse
seriöser Forschung zugänglich zu machen. Er kann
helfen, Beiträge aus der Wissenschaft zu drängenden
Fragen der Zeit zu erschließen und für ein breiteres Publikum
aufzubereiten. Er kann sich stemmen gegen Scharlatane,
Wahrheitszyniker und Wissenschaftsfeinde, die
Fakten und Forschungsbefunde entweder ignorieren
oder zu ihren Gunsten verbiegen.
Wissenschaft und Wahrheitsorientierung zu verteidigen,
kann allerdings nur im Modus eines aufgeklärten
Zweifelns und im Bewusstsein des Pluralismus in der
Wissenschaft gelingen. Deshalb sind Wissenschaftsjournalisten
auch diejenigen, die in den Redaktionen ihren
Kollegen in den Arm fallen müssen, wann immer diese
der journalistischen Neigung erliegen, Tatsachen, Thesen,
Bezüge und Zusammenhänge durch Mittel der Dramatisierung,
Verknappung oder Verdichtung in einem
Maße zu entstellen, das sich auch bei großzügiger Auslegung
nicht mehr als zulässige Pointierung rechtfertigen
lässt. Der Wissenschaftsjournalismus darf sich zwar
nicht den sprachlichen Marotten und Verstiegenheiten
der akademischen Welt ausliefern und unterordnen,
muss aber höchst sensibel bleiben für notwendige Differenzierungen
und Nuancierungen. Er muss den Sinn bewahren
und seine Sinne scharf halten für Konjunktive,
Relativierungen und die ganze Palette von Abtönungspartikeln
und Geltungsmodifikationen. Er benötigt die
Urteilskraft, einerseits gute Experten auszuwählen und
den Stand der Forschung einschätzen und korrekt wiedergeben
zu können, andererseits relevanten wissenschaftlichen
Dissens und mögliche Innovationen zu erkennen
und herrschende Lehrmeinungen zu hinterfragen,
ohne sich zu verrennen in Obskurem. Das bedeutet
auch, dass der Wissenschaftsjournalismus nicht nur auf
die Ergebnisse und Inhalte der Forschung blicken darf.
II. Kritik des Wissenschaftsbetriebs – Strukturen und
Finanzen hinterfragen
Oft wird dem Journalismus der Vorwurf gemacht, zu
stark auf Organisationen, deren Repräsentanten und
Prozesse zu blicken, zu sehr auf politics und zu wenig auf
policies. Interessanterweise lässt sich für den Wissenschaftsjournalismus
eine andere Diagnose stellen: dass
er sich auf die (faszinierenden) Inhalte der Forschung
konzentriert und darüber die Bedingungen der Wissensproduktion
tendenziell vernachlässigt. Dass er also eher
zu wenig als zu viel befasst ist mit den Strukturen der
Forschung, den Organisationen der Wissenschaft und
den Geldflüssen, die ja insgesamt beachtliche Summen
betreffen und schon deshalb das Interesse der Öffentlichkeit
und des Journalismus wecken müssten. Doch die
Medien interessieren sich nur bedingt dafür. Die Infrastruktur
der Forschung gilt als langweilig.
Wenn sich nicht, oft eher zufällig, ein handfester
Skandal zeigt oder wenigstens etwas, das aussieht wie ein
Skandal, überlässt man die Wissenschaftler und Forschungspolitiker
sich selbst. Das finden diese vermutlich
sogar recht angenehm. Die Frage ist, ob dem Journalismus
und der Öffentlichkeit Wichtiges entgeht. In der
Forschungspolitik werden Entscheidungen getroffen, die
nicht nur auf wissenschaftlichem Sachverstand beruhen,
sondern tatsächlich politisch sind. Wo werden welche
Prioritäten gesetzt? Welche medizinische Forschung
wird gefördert, welche nicht? Wie geht ein Land mit seinem
kulturellen Erbe um? Aber auch im engeren Sinne
institutionelle Fragen – welche Akteure tun was, wie und
wie gut? – lassen sich nicht so einfach als institutionelles
Gedöns abtun. Dennoch gibt es im deutschsprachigen
Raum traditionell nur wenige Journalistinnen und Journalisten,
die sich auf solche Fragen einlassen und genügend
Kenntnisse haben, fundierte Antworten zu liefern.
Das hängt auch mit der Ausrichtung und den Ressourcen
in den Redaktionen zusammen.
III. Irritation, Perspektivwechsel, Komplexitätssteigerung
Aus Sicht der Wissenschaft mag es kein Schaden sein,
wenn sich der Journalismus nicht in ihre Organisationsbedingungen
einmischt. Aus ihrer Sicht mag die Anforderung
an den Journalismus vor allem lauten, wichtige
Ergebnisse der Forschung in die Gesellschaft zu tragen,
und das bitteschön korrekt und einerseits ansprechend
und andererseits anspruchsvoll, auch wenn hier großzügig
ein paar Abstriche hingenommen werden. Die Funktion
des Journalismus sollte sich jedoch nicht in der
Popularisierung der Wissenschaft erschöpfen – also
einer einseitigen „Zweckprogrammierung“ zugunsten
der Interessen und der Systemlogik der Wissenschaft
(Kohring 1997: 183). Die Funktion lässt sich viel weiter
fassen, gekoppelt an eine weitgehende Autonomie des
Journalismus. Wer Journalismus und PR nicht verwechselt
oder vermischt, gibt sich als Journalist nicht zufrieden
mit der Rolle eines „Übersetzers“ und „Popularisierers“
(vgl. Peters & Jung 2019). Es geht um die schon
angesprochene Kontroll- und Kritikfunktion, also das
journalistische Wächteramt, das sich bei allem Respekt
und allen Schwierigkeiten, es mit der Selbstverwaltung
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und dem Expertentum der Forscher aufzunehmen, auch
auf die Strukturen der Wissenschaft erstrecken sollte.
Und es geht, nicht unbedingt schon investigativ und
politisch, auch um die Irritation, die der Journalismus
erzeugen kann, indem er Informationen aus anderen
Teilsystemen liefert. Solche Irritationen mögen gleichsam
automatisch und ohne besonderes Zutun erfolgen,
der Wissenschaftsjournalismus könnte sich dieser Aufgabe
aber noch bewusster verschreiben.
Ob im Wirtschaftsleben, im Gesundheitswesen, in
Bildungseinrichtungen oder auf den vielen unterschiedlichen
Politikfeldern: Die dort ablaufenden Operationen
und Programme sind in der Regel geknüpft an empirische
Annahmen und wissenschaftliche Vorstellungen.
Mitunter bestehen deshalb sogar direkte Verbindungen
in die Forschungswelt. Aber nicht immer, und selten erschöpfend.
Nun kommt der Wissenschaftsjournalismus
ins Spiel. Er schafft neue Verbindungen, bietet Anlässe
für Perspektivwechsel und steigert so die kommunikative
und gesellschaftliche Komplexität, entgegen der gängigen
Vorstellung, der Journalismus betreibe lediglich
ein Geschäft der Komplexitätsreduktion. Er kann dabei
übrigens in mehrere Richtungen wirken und so auch das
Wissenschaftssystem durch die Konfrontation mit den
Ansprüchen und Erkenntnissen, die in anderen gesellschaftlichen
Teilsystemen gewonnen worden sind, irritieren.
Der Hang bestimmter Sphären oder Systeme, dem eigenen
Programm zu folgen und das zu tun, was dort
schon immer getan wurde, oder das, was der eigenen
Systemlogik am nächsten liegt, trifft nun auf wissenschaftliche
Befunde und Diskurse, die womöglich etwas
ganz anderes nahelegen. Nicht immer erkennt die Wissenschaft
die Brisanz und das Irritationspotenzial ihrer
eigenen Arbeiten (für andere Systeme oder Sphären), es
ist ihr eventuell auch gleichgültig – und selbst wenn sie
es erkennt und wichtig nimmt, tut sie sich nicht immer
leicht damit, es zu vermitteln. Das ist die Stunde des
Wissenschaftsjournalismus. Obwohl er darauf spezialisiert
ist, Abstraktes anschaulich und Kompliziertes verständlich
zu machen, steckt in der beschriebenen Funktion
das Potential, die Gesellschaft aufzuwühlen und
neue Komplexitäten zu erzeugen. Adorno hat der Kunst
die Aufgabe zugeschrieben, „Chaos in die Ordnung zu
bringen“ (Adorno 2001 [1951]: 428). Das ist so gesehen
auch für den Journalismus kein verrückter Anspruch.
Guter Journalismus kann, zumal in Auseinandersetzung
mit der Wissenschaft, dazu beitragen, die gesellschaftlichen
Ansichten aus der Blendung des Offensichtlichen
zu lösen. Er raut glatte Oberflächen auf. Manchmal gelingt
es ihm vielleicht sogar, den Dingen auf den Grund
zu gehen.
IV. Sachlichkeit, Gelassenheit, Eindringlichkeit
Hört das Publikum noch hin, wenn eine leise Stimme der
Vernunft spricht? Alle Kanäle sind zugestopft vom Proll
oder vom Troll, von den Militanten und den Penetranten.
Und wer zu langsam ist, dringt ohnehin nicht mehr durch.
Alle sind bewaffnet mit ihren schlauen Telefonen, und es
geht zu wie im Western: Wer zieht am schnellsten? Oder ist
das ein kulturpessimistisches Zerrbild? Vielleicht kein Zerrbild,
aber nur ein bestimmter Ausschnitt. Es existiert ja
durchaus noch ein Publikum, das es zu schätzen weiß,
wenn in Ruhe abgewogen wird. Denken und Nachdenklichkeit
erfordern eine gewisse Ruhe. Schläfrigkeit oder
Trägheit erfordern sie nicht. Sachlichkeit und Gelassenheit
werden in Zeiten der Empörungsdemokratie zu besonderen
Tugenden. Sie sind aber nicht zu verwechseln mit
Stumpfheit und Gleichgültigkeit. Der Wissenschaftsjournalismus
nutzt andere Mittel und hat andere Funktionen als
eine zivilgesellschaftliche Protestbewegung wie „Fridays for
Future“
Wenn es, um im Beispiel zu bleiben, um existenzielle
und planetare Fragen geht, kann auch der Journalismus
eindringlich werden – so wie dies Wissenschaftler werden
können, wenn sie brisante empirische Erkenntnisse ins Feld
der Moral und der Politik tragen. Die Stärke des Wissenschaftsjournalismus
liegt gleichwohl darin, dass er sich bei
aller Eindringlichkeit, die manchmal geboten ist, nicht in
eine Emotionalisierungsspirale hineinziehen lässt. An starken
Gefühlen und starken Meinungen herrscht in der Öffentlichkeit
kein Mangel. Wissenschaftsjournalisten sollten
sich umso mehr darum kümmern, dass die Fakten nicht zu
kurz kommen und auch die Unsicherheiten und Zweifel
Gehör finden. Die Unwägbarkeiten, Ungereimtheiten,
Trade-offs. Wichtig erscheint deshalb auch der letzte Punkt:
zwischen unterschiedlichen Ebenen und Typen der Argumentation
zu unterscheiden.
V. Differenzieren von Argumentationsebenen, Ausstrahlen
auf den politischen Journalismus
Im öffentlichen Diskurs fliegen unterschiedliche Argumente
durcheinander. Das ist gar nicht zu vermeiden. Es kann
wichtig sein, verschiedene Ebenen und Typen von Argumenten
zu unterscheiden. Das hilft den Diskurspartnern,
Gemeinsamkeiten zu erkennen und die Punkte, an denen
die Einigkeit endet, genau zu bestimmen. Es kann auch
dazu beitragen, vernünftige oder wenigstens vernünftigere
Meinungen zu bilden und entsprechende Entscheidungen
zu fällen. Typischerweise betreffen viele Kontroversen und
Konflikte sowohl empirische als auch normative Fragen.
Wie steht es um das Klima unseres Planeten? Das ist
zunächst eine empirische Frage, und klar ist auch, dass sie
Schultz · Wahrheit und Zweifel 9 9
sich in Dutzende, ja Tausende Detailfragen herunterbrechen
lässt – und dass die Antworten der Wissenschaft in
der Regel nicht trivial sind. Nicht nur, wenn es um Projektionen
und Zukunftsszenarien geht, kann es erhebliche Unsicherheiten
und Unwägbarkeiten geben. Dennoch ist der
Fall des Klimawandels auch ein Beispiel dafür, dass sich
Wissenschaftler verständigen können auf einen Fundus an
Befunden, den die Politik und die Öffentlichkeit zur Kenntnis
nehmen sollten. Natürlich setzt dann die im Kern politische
oder moralische Diskussion ein, welche Konsequenzen
aus den Befunden zu ziehen sind. Dabei kommen rasch
Erwägungen aus anderen Sphären zum Tragen, mögliche
Abwägungen, juristische und pragmatische Aspekte,
Zweck-Mittel-Kalkulationen usw. Dabei können dann
jeweils wiederum speziellere empirische und normative
Fragen auftauchen.
Die Vorstellung, man müsse einfach nur der Wissenschaft
und den Experten folgen, ist im Kern unpolitisch
und undemokratisch, und der Wissenschaftsjournalismus
tut gut daran, solche Vorstellungen nicht zu nähren. Aber
dank der Analysekraft, die ihn auszeichnen sollte, kann er
versuchen, die Argumente zu ordnen – und die Verwirrung
aufzulösen, die in komplexen Kontroversen regelmäßig
auch den politischen Journalismus befällt.
Epilog
Guter Journalismus hilft dabei, kollektives Denken zu
organisieren, und guter Wissenschaftsjournalismus
kann dabei vorangehen. Das ist zugegebenermaßen ein
anspruchsvolles normatives Bild des Wissenschaftsjournalismus.
Ist es nur ein Traumbild? Wenn es stimmt,
dass dieses „verspätete Ressort“ (Hömberg 1990), das erst
in den 1990er Jahren aufholte, in manchen Medienhäusern
immer noch oder schon wieder als Luxus gilt, und
wenn es stimmt, dass es in der Redaktionshierarchie
immer noch oder schon wieder auf den unteren Plätzen
rangiert (Haeming 2019), so wäre dies erschütternd. In
vielen Regionalmedien gilt die Lage mittlerweile als
„desaströs“ (Lossau 2016: 6). Doch auch und gerade im
digitalen Strukturwandel, der den Journalismus bewegt
und die Gesellschaft herausfordert, ist ein anspruchsvoller
Wissenschaftsjournalismus höchst relevant – und
unverzichtbar.
Tanjev Schultz ist Professor für Grundlagen und Strategien
des Journalismus an der Johannes-Gutenberg-
Universität Mainz. Der promovierte Politikwissenschaftler
war zuvor mehr als zehn Jahre lang Redakteur
der Süddeutschen Zeitung. Er hat zahlreiche
Fachaufsätze geschrieben, zudem mehrere Sachbücher,
zuletzt über den Terrorismus des NSU.
Literatur
Adorno, Theodor W. 2001 [1951]: Minima Moralia. Reflexionen
aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M.:
Suhrkamp.
Berg, Helena 2018: Wissenschaftsjournalismus zwischen
Elfenbeinturm und Boulevard. Eine Langzeitanalyse der
Wissenschaftsberichterstattung deutscher Zeitungen.
Wiesbaden: Springer VS.
Haeming, Anne 2019: Aufblühende Wissenschaft. In:
Medium Magazin, Heft 4, S. 62–65.
Hömberg, Walter 1990: Das verspätete Ressort. Die Situation
des Wissenschaftsjournalismus. Konstanz: UVK.
Kohring, Matthias 1997: Die Funktion des Wissenschaftsjournalismus.
Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen:
Westdeutscher Verlag.
Locke, John 1981 [1689]: Versuch über den menschlichen
Verstand [An essay concerning human understanding]. - Auf., Hamburg: Meiner.
Lossau, Norbert 2016: Die Zukunft der Wissenschaftskommunikation.
Muss die Politik den Wissenschaftsjournalismus
retten? Konrad-Adenauer-Stiftung, Analysen
& Argumente, Ausgabe 200.
Peters, Hans Peter; Jung, Arlena 2019: Wissenschaftler
und Journalisten: Nicht unbedingt beste Freunde, aber
sie verstehen einander immer besser. In: Winfried Göpfert
(Hrsg.). Wissenschafts-Journalismus. Ein Handbuch
für Ausbildung und Praxis. 6. überarb. und aktual. Auflage,
Wiesbaden: Springer VS, S. 9–18.
Rosling, Hans 2018: Factfulness. Wie wir lernen, die Welt
so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin: Ullstein.