Übersicht
I. Thema und Fragestellung
II. Ziel und Vorgehensweise
III. Grundrechtsverständnis zwischen Organisation und Person 1. Gelehrtenrepublik
2. Gruppenuniversität
3. Autonome Universität
IV. Organisation
1. Wissenschaft, Organisation, Person
2. Strukturelle Gefahr und risikobewusstes Handeln
V. Alternativen
1. Inpersonales Grundrechtsverständnis 2. Eine europäische Perspektive
VI. Fazit
I. Thema und Fragestellung1
Im November 2016 hat der baden-württembergische Verfassungsgerichtshof die Bestimmungen des Lan- deshochschulgesetzes über die Wahl und Abwahl der Hochschulleitungen für verfassungswidrig erklärt, weil sie nicht dem Grundrecht der Wissenschaftsfrei- heit entsprächen. Entscheidend komme es auf die Gruppe der Hochschullehrer an. Diese müsse sich, so das Gericht, von einem „Mitglied des Leitungsorgans, das ihr Vertrauen nicht mehr genießt, trennen kön- nen, ohne im Selbstverwaltungsgremium auf eine Einigung mit Vertretern anderer Gruppen und ohne auf die Zustimmung eines weiteren Organes oder des Staates angewiesen zu sein“.2 Auch die Wahl selbst müsse sie verhindern können und dazu im Senat über die Mehrheit der Stimmen verfügen.
- 1 Der Verfasser dankt Dr. Michael Breitbach, Gießen, für die vielen und anregenden Diskussionen, die die Erstellung dieses Beitrages begleitet haben, sowie Frau Prof. Dr. Sibylle Raasch, Hamburg, für die kritische Kommentierung einer früheren Fassung des Manu- skripts.
- 2 VerfGH BW, Urteil v. 14.11.2016 – 1 VB 16/15, Juris Leitsatz 5; das Urteil ist besprochen von Fehling, Unzureichende Kompetenzen des Senats im reformierten Landeshochschulgesetz Baden-Würt- temberg? OdW 2017, 63 ff.
- 3 BVerfGE 35, 79 ff.
- 4 BVerfGE 35, 79 ff., 140.
- 5 So auch Fehling (Fn. 2) 65.
- 6 A.A. Hufen, JuS 3 (2017) S. 279 ff., 280 („konsequente Rückkehr zu
Mehr als vierzig Jahre zuvor hatte sich das Bundes- verfassungsgericht3 erstmalig mit der Rolle der Hoch- schullehrer in der Hochschulorganisation befasst. An- lass war die Einführung der sog. Gruppenuniversität, mit der die tradierte Macht der Ordinarien auf paritä- tisch besetzte Entscheidungsorgane überging. Das Gericht erklärte zwar das „organisatorische System der ‚Gruppenuniversität‘ als solches“ für verfassungs- konform, allerdings mit einer Einschränkung: Bei Entscheidungen, die „unmittelbar“ die Lehre, For- schung oder Berufungen betreffen, müsse der Gruppe der Hochschullehrer ein „maßgeblicher“ oder „aus- schlaggebender“ Einfluss, d.h. die Hälfte oder mehr als die Hälfte der Stimmen zukommen. Auch explizit stellte es klar, was ohnehin in dieser Logik lag: Die Professorenmehrheit erstrecke sich nicht auf „das Konzil (der Wahlkonvent)“,4 in dem der Rektor oder der Präsident gewählt wurde. Wahl oder Abwahl wa- ren eben Angelegenheiten, die Forschung und Lehre nur mittelbar5 tangieren.
Von der Mehrheit oder der Hälfte der Stimmen nur bei unmittelbaren Wissenschaftsbezug zu der Ausweitung dieses Prinzips auch auf die Wahl und Abwahl der Hochschulleitung: Offenbar hat eine Ver- schiebung in dem Zeitraum stattgefunden, der zwi- schen diesen beiden Entscheidung liegt.6 Sie wird im Folgenden mit der Art und Weise erklärt, in der die Rechtsprechung zur Wissenschaftsfreiheit ein für Hochschulen charakteristisches Spannungsverhältnis zwischen Organisation und Person zu erfassen ver- sucht. Die Universität war einmal eine durch Infor- malität gekennzeichnete Institution,7 die ihre Verände-
den Grundsätzen, die das BVerfG in den 1970er Jahren entwickelt
hat“).
7 Der Begriff wird hier nicht als formale rechtliche Struktur im
Sinne von „Institutionalisierung“, sondern als Gesamtheit infor- maler Verhaltenserwartungen verstanden, die als immer schon vorhandene Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche auf innerhalb und außerhalb der Universität geteilten Überzeugungen beruhen und als „geronnene“ Organisationskultur das Verhalten oft weit wirksamer beeinflussen als die formalen Regeln. Zu der auch juristischen Relevanz eines solchermaßen informalen „Gebildes“ vgl. Vesting, Korioth, Augsberg, Einleitung, in: dies., Grundrechts als Phänomene kollektiver Ordnung, Tübingen 2014, S. 1 ff., 6 ff. sowie die weiteren Beiträge dieses Bandes.
Lothar Zechlin
Wissenschaftsfreiheit und Organisation
Die „Hochschullehrermehrheit“ im Grundrechts- verständnis der autonomen Universität
Ordnung der Wissenschaft 2017, ISSN 2197–9197
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rungsimpulse vor allem durch die Selbstkoordination „Unter Professoren“8 erhielt. Als Reaktion auf veränder- te Anforderungen aus ihrer Umwelt verändert sie sich in Richtung einer auch formal hierarchischen Organisati- on. Für ihre Leistungsfähigkeit bleiben jedoch weiterhin Personen, vor allem Hochschullehrer, von herausragen- der Bedeutung. Die Rechtsprechung versucht nun, beide Seiten in einem Grundrechtsverständnis zusammen zu bringen, in dem auch der Bezugspunkt für die Organisa- tion durch personale Elemente, nämlich die „Träger der Wissenschaftsfreiheit“, bestimmt bleibt. Dieser Weg ist an seine Grenzen gelangt. Als Alternative wird ein stär- ker empirisch gestütztes organisationales Grundrechts- verständnis vorgeschlagen, das neben das personale Ver- ständnis tritt und durch wechselseitige Beobachtung mit ihm verbunden ist.
II. Ziel und Vorgehensweise
Wenn sich die Realität von Hochschulen und Wissen- schaft ändert, muss die Rechtsprechung auf diese Ände- rungen antworten und sich dabei auch selbst weiterent- wickeln. Damit steht sie vor einem Spagat.9 Einerseits muss sie im Interesse der Rechtssicherheit in sich wider- spruchsfrei, d.h. anschlussfähig an schon vorhandene Argumentationslinien bleiben, andererseits darf sie sich nicht von der vor- und außerjuristischen Realität abkop- peln. Verselbständigt sie sich zu einer selbstgenügsamen juristischen Feinmechanik, verliert sie mit dem Kontakt zu ihrem praktischen Gegenstand auch ihre Legitimati- onskraft, weil sie ihre gesellschaftlichen Gestaltungsauf- gaben nicht mehr wahrnehmen kann. Sie wird zu einer Ideologie.10 Diese beiden Seiten stehen in einem Ver- hältnis der Wechselwirkung,11 deren gemeinsamer Bezugspunkt in dem normativen Ziel der „Wissen- schaftsfreiheit“ liegt. In der Eigenständigkeit und Behar-
- 8 So der Titel des Campusromans, in dem Willem Frederik Her- mans (Zürich 1986, Neuauflage Berlin 2016) seine jahrzehnte- langen Erfahrungen als Lehrender an der Universität Groningen verarbeitet hat.
- 9 Volkmann, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, JZ 2005, 261 ff., spricht von einem „Dilemma“ (263); ähnlich Fehling (Fn. 2) S. 72 und in seiner Fn. 78 („Zielkonflikt“).
- 10 Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, Frankfurt am Main 1968 (dort vor allem der Aufsatz „Verwissenschaft- lichte Politik und öffentliche Meinung“ mit den drei Modellen dezisionistischer Politik, technokratischer Wissenschaft und der pragmatistischen Vermittlung im Medium öffentlicher Meinung). Vgl. auch Vesting, Korioth, Augsberg (Fn. 7) mit der Gegenüber- stellung von „Beobachtung der Selbstorganisation“ und bloßer „Staats- und Gerichtsideologie“ (S. 10); Augsberg, Subjektiveund objektive Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit, in: Voigt (Hrsg.), Freiheit der Wissenschaft, Berlin 2012, S. 65 ff. spricht von „Verfassungspositivismus“ (S. 69).
- 11 Ablehnend Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungs-
rungskraft des Rechts gegenüber der Realität kommt die „Herrschaft des Rechts“ zum Ausdruck, in der Eigensin- nigkeit einer sich verändernden Realität kommt deren Anspruch an die funktionale Rolle des Rechts zum Aus- druck. Die Realität kann allerdings nicht aus sich selbst heraus sprechen, sondern nur mittels sozialwissenschaft- licher Forschung zur Sprache gebracht werden. Wer sich mit der Rechtsprechung zu dem Grundrecht der Wis- senschaftsfreiheit befassen will, muss sich deshalb auch mit den empirisch gestützten Erkenntnissen der Hoch- schul- und Wissenschaftsforschung befassen.
Eine solche „zweispurige“ Vorgehensweise enthält ein Risiko: Die juristischen Teile können für die Juristen und die sozialwissenschaftlichen Teile für die Sozialwis- senschaftler banal sein. Es gleichwohl einzugehen lohnt sich nur, wenn die Chance auf Erkenntnisse besteht, die bei einer isolierten Vorgehensweise nicht zu erwarten sind. Dazu müssten für die Sozialwissenschaftler die juristischen und für die Juristen die sozialwissenschaftli- chen Argumentationen Relevanz für die je eigenen Überlegungen gewinnen. Sie müssen aufeinander beziehbar gemacht werden, denn ohne diese wechselsei- tige Anschlussfähigkeit bleiben sie einander äußerlich, ein bloßes „Rauschen“.12 Der folgende Beitrag soll hierzu einen ersten Schritt unternehmen, der sich gelohnt hat, wenn er zu spezifischeren Forschungsarbeiten auf bei- den Seiten anregt.
Mit dieser Zielsetzung wird das Verhältnis von Orga- nisation und Person zunächst mit dem Fokus auf die Rechtsprechung dargestellt. Es geht um das Grund- rechtsverständnis, dessen Veränderungen in dem histo- rischen Kontext der „Organisationswerdung“ der Hoch- schule nachgezeichnet werden (III.). Anschließend wird eine sozialwissenschaftliche Perspektive eingenommen, in der einige zentrale Annahmen der Rechtsprechung zu diesem Verhältnis in Frage gestellt werden (IV.). Daraus
rechtliche Systembildung, Tübingen 2009, S. 326 ff. („Sein- Sollen-Fehlschluss“, S. 327); grundsätzliches hierzu bei Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit. Zum Problem eines interdisziplinären Grundrechtsverständnisses, in: Hassemer, Hoffmann-Riem, Limbach (Hrsg.), Grundrechte und soziale Wirklichkeit, Baden-Baden 1982, S. 39 ff.
12 Für die Systemtheorie ist die System-Umwelt-Beziehung zentral. Generell wirkt die Umwelt auf die Eigenlogik des Systems nur „als Irritation, als Störung, als Rauschen, und sie wird für das Sys- tem erst sinnvoll, wenn sie auf die Entscheidungszusammenhän- ge des Systems bezogen werden kann“, (Luhmann, Organisation, in: Küpper, Ortmann [Hrsg.], Mikropolitik – Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen 1988, S. 165 ff., 173). Es geht um „die Differenz von Sinn und Welt als Differenz von Ord- nung und Störung, von Information und Rauschen“ (Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 122). Unschwer schimmert die juristische Denkweise mit der „Schlüssigkeit“ der Klage und der „Erheblichkeit“ des Bestreitens durch.
ergeben sich Anforderungen an ein stärker empirisch und rechtsvergleichend gestütztes Grundrechtsverständ- nis (V.). Der Beitrag endet mit einem kurzen Fazit (VI.).
III. Grundrechtsverständnis zwischen Organisation und Person
Historisch lassen sich drei Stadien der sog. „Organisati- onswerdung“13 der Universität unterscheiden, denen jeweils ein spezifisches Grundrechtsverständnis korres- pondiert. Dabei entsteht eine gewisse Ambivalenz zwi- schen Organisation und Person, die in der baden-würt- tembergischen Entscheidung in Richtung Person besei- tigt wird.
1. Gelehrtenrepublik14
Die Universität war jahrhundertelang als „Universitas Magistrorum et Scholarium“ eine Art Genossenschaft ihrer Mitglieder, die sich im Wesentlichen über die informale, auf gemeinsam geteilten Überzeugungen beruhende Selbstor- ganisation ihrer Professoren verwaltete. Durch die Humboldt’schen Universitätsreformen15 wurden ihr als Korporation zwar in den „administrativen“ Angelegenhei- ten (Haushalt, Personal und Organisation) stärkere staatli- che Züge eingezogen, in Forschung und Lehre als den sog. „akademischen“ Angelegenheiten blieb es aber bei der pro- fessionellen Selbstorganisation der Ordinarien mit dem „Lehrstuhlprinzip“. Sie war keine Organisation mit forma- len Hierarchien und Entscheidungen, sondern eine Institu- tion mit ungeschriebenen Regeln, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hatten. Fakultäten waren kei- ne Organisationseinheiten, sondern Orte der persönlichen, informellen Abstimmung. Noch heute hat der englische Begriff „faculty“ die Bedeutung von Lehrkörper.
Der starke Personenbezug dieser Entwicklungsphase drückt sich auch in dem Verständnis von der Wissen- schaftsfreiheit aus, die Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum entsteht.16 In dem Deutschen Bund findet zunächst mit dem Karlsbader Universitätsge-
- 13 Kehm, Hochschulen als besondere und unvollständige Organi- sationen? – Neue Theorien zur ‚Organisation Hochschule‘, in: Wilkesmann, Schmidt (Hrsg.), Hochschule als Organisation, Wiesbaden 2012, S. 17 ff.; Huber, Die Organisation Universität, in: Apelt, Tacke (Hrsg.), Handbuch Organisationstypen, Wiesba- den 2012, S. 239ff.
- 14 Dieser Begriff ist ursprünglich von Müller-Böling als „Vorstel- lungsstereotype“ eingeführt worden (Universitäten als Vorstel- lungsstereotypen – Von der Gelehrtenrepublik zum Dienstleis- tungsunternehmen? CHE Arbeitspapier Nr. 1, April 1994). Er beschreibt deshalb nicht die historische Wirklichkeit, die komple- xer und (auch) durch landesfürstlichen Einfluss gekennzeichnet ist, bringt aber ihr typisierendes Merkmal auf den Punkt.
- 15 Vgl. im einzelnen Kahl, Hochschule und Staat, Tübingen 2004, 22 ff.
setz 1819 und dem Bundes-Universitätsgesetz 1834 eine har- te politische Unterdrückung liberaler und demokratischer Ideen statt, die „Demagogenverfolgung“, die ihren promi- nentesten Ausdruck in dem Protest und der nachfolgenden Landesverweisung der „Göttinger Sieben“ fand. Die Anfän- ge der Wissenschaftsfreiheit bestehen deshalb in der Forde- rung nach „Lehrfreiheit“ in einem individualistischen Ver- ständnis, die zunächst in dem Offenburger Programm 1847 und einem Beschluss des Frankfurter Vorparlaments 1848 ihren Niederschlag findet. Ihre erste Kodifizierung als Ver- fassungsbestandteil erfolgte 1849 in der Paulskirchenverfas- sung und lautete „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“. Sie wird als ein Recht verstanden, das „Jedermann“ zusteht, der sich wissenschaftlich betätigt, also auch Nichtprofesso- ren. In dieser Tradition wird auch Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung 1919 „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei“ individualistisch verstanden. Zunächst ist sogar noch ein Verständnis vorherrschend, das Professo- ren aus dem Schutzbereich ausnimmt, denn diese sind Staatsbeamte, und Grundrechte richten sich gegen den Staat, sollen also nicht Rechte in der Hand seiner Beamten sein. Erst Mitte der Weimarer Republik wird es überwun- den, auch beamtete Professoren gelten als Grundrechtsträ- ger. Vertreten wird – angesichts der Differenzierung „Wis- senschaft und ihre Lehre“ naheliegend – auch ein „instituti- onelles Verständnis“, das als „Grundrecht der deutschen Universität“17 einen korporatistischen Anklang hat oder als „institutionelle Garantie“18 auf die Bewahrung des Typus der deutschen Universität in seiner überkommenen Gestalt gerichtet ist.
2. Gruppenuniversität
Die Selbstorganisation der Professoren als hauptsächlicher Steuerungsmodus des inneruniversitären Geschehens erwies sich spätestens Ende der 1960er Jahre mit der Expan- sion des Hochschulbereichs als nicht mehr ausreichend. Zu heterogen waren die Studierenden und der Lehrkörper, zu unterschiedlich die Erwartungen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an die Nützlichkeit der „Produktivkraft Wissen-
16 Vgl. im Einzelnen Löwer, in: Mertens, Papier (Hrsg.), HGR IV, 2011, § 99 Rn. 4–10; Fehling, Bonner Kommentar Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaft) Rn. 1–8; Kahl (Fn. 15) S. 30 ff.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., München 2007, Rn. 243 ff.; die europäische Entwicklung bei Stichweh, Akademische Freiheit in europäische Universitäten. Zur Strukturgeschichte der Univer- sität und des Wissenschaftssystems, in: die hochschule (2) 2016, S. 19 ff.
17 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2., erw. Aufl., Berlin 1968, S. 89 ff. (S. 109 „Das Grundrecht (…) einer großen öffentlichen Instituti- on“).
18 Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, 173; ders., Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, in ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 140 ff., 151 f.
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schaft“ und zu vielfältig deshalb die Koordinationsaufgaben geworden, als dass sie weiterhin in den vertrauten Konsens- mechanismen der „deutschen Mandarine“19 hätten wahrgenommen werden können. In der Perspektive eines Mehrebenensystems betrachtet verschiebt sich die Koordination von der Mikroebene des Professionshan- delns in zwei Richtungen. Zum einen wuchs auf der Makroebene der Einfluss des Staates, indem erstmals Hochschulgesetze mit Regelungen der akademischen Angelegenheiten, insbesondere der Studienorganisation, verabschiedet wurden. Bis dahin hatten die Universitä- ten lediglich Satzungen verabschiedet und den Ministe- rien zur Genehmigung vorgelegt. Den Anfang machte 1966 Hessen,20 der Bund folgte 1976 mit einem Hoch- schulrahmengesetz, dessen „wesentliches Anliegen (es war), das Hochschulstudium zu organisieren“.21 Zum anderen entwickelte sich auf einer erstmals in Erschei- nung tretenden Mesoebene die Universität selbst in Rich- tung einer Organisation mit zentralen Entscheidungs- gremien. Dadurch, dass in den Gremien der neuen „Gruppenuniversität“ neben den Professoren auch nicht- professorale Wissenschaftler, Studierende und Vertreter der Verwaltung Sitz und Stimme hatten, konnten kollek- tiv verbindliche Entscheidungen getroffen werden, an die die Universitätsmitglieder auch dann gebunden waren, wenn sie ihnen nicht persönlich zugestimmt oder sie sogar abgelehnt hatten. Der bis dato nur innerhalb des Lehrstuhls bekannte Governancemodus „Hierar- chie“ ist schon mit dieser „Demokratisierung“ und nicht erst mit der „Autonomisierung“ in die Universität einge- zogen.22 Beide Entwicklungen zusammen führten dazu, dass aus dem „lose gekoppelten“23 Personenverband ein deutlich enger gekoppeltes System mit einer bislang in dieser Weise nicht bekannten Spannung zwischen Orga- nisation und Person entstand. Ein erster Teilschritt auf dem Weg zur Organisation war begangen.
Diese Machtverschiebung ließ die Interpretation der Wissenschaftsfreiheit nicht unberührt.24 In dem ein-
- 19 Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1993, München 1987.
- 20 Vgl. Staff, Das Hessische Hochschulgesetz, Neuwied 1967, Vorwort: „Das Hessische Hochschulgesetz hat, auch abgesehen von seinen speziellen Inhalten und Sachlösungen, eine breite Diskussion über die seit langem schwelende Problematik der Re- form unserer wissenschaftlichen Hochschulen ausgelöst. (…) Das Gesetz, das den vier wissenschaftlichen Hochschulen des Landes zum ersten Mal eine einheitliche Rechtsgrundlage schafft, dient dem Zweck, Wege für die Hochschulreform und die besonders dringliche Studienreform frei zu machen“ (S. VII.).
- 21 Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 2. Aufl. Köln 1986, S. Rn. 305.
- 22 Das verkennen m.E. weite Teile der Kritik an der „Autonomi-sierung“. Die neue Hierarchisierung war ja gerade einer der Hauptgründe für die Klage der Professorenvertreter gegen die „Gruppenuniversität“.
gangs zitierten grundlegenden Hochschulurteil zu der Gruppenuniversität macht das BVerfG 1973 einen hal- ben, allerdings deshalb auch unvollständigen Schritt in Richtung eines organisationalen Grundrechtsverständ- nisses.25 Danach erweitert sich der „subjektive“ Abwehr- anspruchs des individuellen Wissenschaftlers gegen Ein- griffe in seine wissenschaftliche Betätigung zu einer „ob- jektiven“ Werteordnung, die sich auf die Organisation und Entscheidungsstruktur der Hochschule auswirkt. „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erklärt Wissenschaft, Forschung und Lehre für frei. Damit ist nach Wortlaut und Sinnge- halt eine objektive, das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat regelnde wertentschei- dende Grundsatznorm aufgestellt, die neben die in der- selben Norm enthaltene Freiheitsverbürgung für den Bereich der Kunst tritt. Zugleich gewährt die Verfas- sungsbestimmung für jeden, der in diesen Bereichen tä- tig ist, ein individuelles Freiheitsrecht“.26 Das Gericht findet die Wissenschaftsfreiheit als „objektives Prinzip“27 sogar schon in der Paulskirchenverfassung anerkannt, was im Hinblick auf deren Wortlaut in der Tat nahe liegt. Daraus ergeben sich Folgerungen für die Organisation: Dem Gesetzgeber sei weder „das überlieferte Struktur- modell der deutschen Universität“ noch „überhaupt eine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbe- triebs an Hochschulen“ vorgeschrieben, aus der Eigenge- setzlichkeit der Wissenschaft ergäben sich „keine zwin- genden ‚wissenschaftseigenen‘ Organisationsprinzipi- en“.28 Dies alles ist aber noch keine positive Bestimmung eines organisationalen Grundrechtsverständnisses. Für diese Aufgabe gilt: „Kriterium für eine verfassungsgemä- ße Hochschulorganisation kann nur sein, ob mit ihr ‚freie‘ Wissenschaft möglich ist und ungefährdet betrie- ben werden kann“.29 Treffe der Gesetzgeber bei der not- wendigen Koordination zwischen den einzelnen Wis- senschaftlern und zwischen den unterschiedlichen Funktionen der Hochschule für Wissenschaft und Praxis Regelungen, „die auf die freie wissenschaftliche Betäti-
23 Weick, Educational Organizations as Loosely Coupled Systems”, in: Administrative Science Quarterly Vol. 21, No. 1 (Mar., 1976), pp. 1–19.
24 Einen prägnanten Überblick zu dem damaligen Positionen verschafft Dallinger, Wissenschaftsfreiheit und Mitbestimmung, JZ 1971, 665 ff.
25 Vertiefend und differenzierend hierzu Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisations- grundrecht, in: Becker, Bull, Seewald (Hrsg.), Festschrift für Werne Thieme, Köln 1993, S. 697 ff.
26 BVerfGE 35, 79 ff., 112, unter Verweis auf eine fast wortgleiche Formulierung zur Kunstfreiheit in der Mephisto-Entscheidung.
27 BVerfGE 35, 79 (119).
28 BVerfGE 35, 79 Leitsatz 4 und (122). 29 BVerfGE 35, 79 (117).
gung der Hochschulangehörigen nicht einwirken“,30 sei er keinen Beschränkungen unterworfen. Das ist aber ohnehin klar und deshalb nicht Ausdruck der Wissen- schaftsfreiheit. Geht es jedoch um „Angelegenheiten, die als ‚wissenschaftsrelevant‘ angesehen werden müssen, d.h. die Forschung und Lehre unmittelbar berühren“,31 steht nicht mehr die unpersönliche Koordination freier Wissenschaft, sondern die Rolle der Hochschullehrer als freie Wissenschaftler im Vordergrund, denen als „Inha- ber der Schlüsselfunktion des wissenschaftlichen Lebens“32 der maßgebende oder ausschlaggebende Ein- fluss in den Gremien zukomme.
Die Spannung zwischen Organisation und Person kommt gut in dem Leitsatz 7 zum Ausdruck: „Organisa- tionsnormen müssen den Hochschulangehörigen, ins- besondere den Hochschullehrern, einen möglichst brei- ten Raum für freie wissenschaftliche Betätigung sichern; andererseits müssen sie die Funktionsfähigkeit der wis- senschaftlichen Hochschule und ihre Organe gewähr- leisten“. Zwischen diesen beiden Polen verläuft die weite- re Entwicklung der Rechtsprechung.
3. Autonome Universität
Die dritte Phase beginnt mit dem Übergang zu der „auto- nomen“ Universität. Ihr Ausgangspunkt liegt in der abneh- menden Steuerungs- und Planungsfähigkeit der allgemei- nen Staatsverwaltung, die in Schlagwörtern wie „Staatsver- sagen“ oder „Unregierbarkeit“ ihren Ausdruck findet. Im Zuge der „New Public Managementreformen“ soll ihr mit einer Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen bei gleichzeitiger Ergebniskontrolle („Outputsteuerung“) begegnet werden. Das gilt auch für die Hochschulpolitik, in der Parlament und Regierung insbesondere mit Global- budgets, dem Berufungsrecht, Gehaltsverhandlungen, der Einrichtung und Schließung von Studiengängen u.a.m. Entscheidungskompetenzen auf die Hochschulen delegie-
- 30 BVerfGE 35, 79 (122).
- 31 BVerfGE 35, 79 (123).
- 32 BVerfGE 35, 79 (127).
- 33 Vgl. z.B. Böckenförde, Erinnerungen an die Kurator-Verfassung,in: Dress u.a. (Hrsg.), Die humane Universität. Festschrift für Karl Peter Grotemeyer, Bielefeld 1992, S. 151 ff., 157 f.; Schimank, Fest- gefahrene Gemischtwarenläden – Die deutschen Hochschulen als erfolgreich scheiternde Organisationen, in: Stölting, Schimank (Hrsg.), Die Krise der Universitäten, Leviathan Sonderheft 20/2001, S. 223 ff. mit der häufig zitierten Feststellung, „dass in der hochschulischen Selbstverwaltung in hohem Maße fakti-sche Nichtangriffspakte zwischen Professoren bestehen“ (233); Thieme, Organisationsstrukturen der Hochschulen, in: Flämig u.a. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band 1, S. 813 ff. („Das Problem der Entscheidungsfähigkeit“, 837 f.).
ren. Die Hochschule darf allerdings nicht nur derartige Ent- scheidungen selbst treffen, sie muss das auch können und deshalb ihre Entscheidungsfähigkeit sicherstellen. Aus einem gewissen Misstrauen33 gegenüber Kollegialorganen wurden die neuen Kompetenzen deshalb mal mehr, mal weniger weitgehend den Rektoraten zugeordnet.
Die Hochschule als Organisation handlungsfähig zu machen, das ist das Programm der „autonomen“ oder „en- trepreneurial“ Universität, eine Wortschöpfung des ameri- kanischenHochschulforschersBurtonClark.Erhattein den 1980er Jahren nationale Hochschulsysteme in einem Dreieck aus Staat, Markt und Professionssystem auf die Fra- ge hin untersucht, woher sie ihre Steuerungsimpulse erhal- ten.34 Mit „unternehmerisch“ meint er, dass die Universität in diesem Kräftefeld ihre eigenen Ziele und Schwerpunkte entwickeln und für die Ergebnisse Verantwortung über- nehmen soll, eben „etwas unternehmen“ kann. Es ist Un- sinn, eine solche Idee nur wegen der Assoziationen, die der Begriff „unternehmerisch“ auch auslöst, als privatnützig und profitorientiert zu diskreditieren. Worum es geht, ist „Die Universität als Akteur“35 aufzustellen und damit als Organisation von den in ihr tätigen Personen zu unterscheiden.
Erst im Zuge dieser Autonomisierung unternahm das BVerfG den ganzen Schritt zu einem personenunab- hängigen organisationalen Grundrechtsverständnis, der allerdings nur von kurzer Dauer war. In seiner Entschei- dung zu dem Brandenburgischen Hochschulgesetz aus dem Jahr 2004 prüfte es, ob durch die Hochschulorgani- sation eine „strukturelle Gefährdung der Wissenschafts- freiheit“ (Leitsatz 1) eintrete, wobei „das hochschulorga- nisatorische Gesamtgefüge mit seinen unterschiedlichen Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten in den Blick zu nehmen“ sei.36 Diese Perspektive hat es in der Entschei- dung zu dem Hamburgischen Hochschulgesetz im Jahr 201037 und der medizinischen Hochschule Hannover
34 „We begin on simplest ground by constructing three ideal types – state system, market system, and professional system – which, in combination, offer two- and three- dimensional spaces for com- paring national systems“ (Clark, The Higher Education System: Academic Organization in Cross-National Perspective, Berkeley 1983, S. 136.).
35 F. Meier, Die Universität als Akteur. Zum institutionellen Wandel der Hochschulorganisation. Wiesbaden 2009.
36 BVerfGE 111, 333 (355).
37 „Je stärker der Gesetzgeber das Leitungsorgan mit Kompetenzen
ausstattet, desto stärker muss er im Gegenzug die direkten oder indirekten Mitwirkungs‑, Einfluss‑, Informations- und Kontroll- rechte der Kollegialorgane ausgestalten“, BVerfGE 127, 87 (117 f.).
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(MHH) für die Wahl und Abwahl der Leitungsorgane38 beibehalten und mit der „Je-desto-Formel“ zu einem Sys- tem gegenseitiger Kontrolle der Gewalten („Checks and Balances“39) weiterentwickelt. Aus einer nachvollziehba- ren Befürchtung gegenüber einem technokratischen Top-Down Management heraus war damit die Entschei- dungsbildung zwischen Leitungs- und Kollegialorganen verteilt, der für die Gruppenuniversität charakteristische demokratische Zentralismus der Gremien also zuguns- ten einer Differenzierung von Entscheidung, Entschei- dungsvorbereitung und Implementierung aufgehoben.40 Diese Interaktion mit verteilten Argumentationslasten und Beschlusskompetenzen findet allerdings – ein wich- tiger Unterschied – zwischen Organen und nicht wie zu Zeiten der Gelehrtenrepublik zwischen Personen in ih- ren Mitgliedschaftsrollen statt.
Die „Je-desto Formel“ hat sich aber als zu unpräzise erwiesen, um aus ihr konkrete Vorgaben für den Gesetz- geber herzuleiten. Sie ist mehr ein durch Politik und Ge- setzgebung konkretisierungsbedürftiges Prinzip als eine verfassungsrechtliche Betriebsanleitung. Diese Offenheit hatte schon früh starke Kritik insbesondere unter den Hochschullehrern ausgelöst,41 die sich zudem durch den Satz getroffen sahen, der parlamentarische Gesetzgeber sei für die Gestaltung der Hochschulorganisation „bes- ser geeignet als die an speziellen Interessen orientierten Träger der Wissenschaftsfreiheit“.42 Der „ganze Schritt“ zu einem organisationale Verständnis wird deshalb in ei- nem widersprüchlichen Vor und Zurück wieder relativiert:
Zum einen wird die Begrenzung, die mit der Formulie- rung „unmittelbar Forschung und Lehre berührend“ ver- bunden ist, unter dem Begriff der „Wissenschaftsrelevanz“
- 38 BVerfGE 136, 338, Leitsatz 2: „Je mehr, je grundlegender und je substantieller wissenschaftsrelevante personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse dem kollegialen Selbstverwaltungs- organ entzogen und einem Leitungsorgan zugewiesen werden, desto stärker muss im Gegenzug die Mitwirkung des Selbst- verwaltungsorgans an der Bestellung und Abberufung dieses Leitungsorgans und an dessen Entscheidungen ausgestaltet sein.“ Man mag sich zwar fragen, welche Befugnisse dem Selbstverwal- tungsorgan „entzogen“ worden seien, da es sich hauptsächlich um früher in den Ministerien wahrgenommene staatliche Aufgaben handelt. Zutreffender wäre die Formulierung „vorenthalten“ gewesen. Aber gerade darin, dass die frühere Aufspaltung in staatliche und akademische Angelegenheiten überwunden wird, kommt die Organisationswerdung der Universität zum Ausdruck.
- 39 Knopp, Zauberformel „Mehr Hochschulautonomie“? – Mit einem Fokus auf Brandenburg, in: Knopp, Peine, Nowacki, Schröder (Hrsg.): Hochschulen im Umbruch. Baden-Baden 2009, S. 15 ff., 22, 26. Bei einem Vergleich mit politischen Regierungssystemen
aufgehoben. War dieser Begriff in der Entscheidung zur Gruppenuniversität noch einengend für Agenden vorgese- hen, „die Forschung und Lehre unmittelbar berühren“43 und deshalb der Hochschullehrermehrheit unterliegen, wird mit ihm nunmehr das ganze Feld der Selbstverwal- tung erfasst. Alle wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten, auch solche, die in der früheren Terminologie nicht als „un- mittelbar“ berührend oder dem Staat vorbehalten betrach- tet worden wären, unterliegen dem Je-desto Prinzip. Das ist der ganze Schritt nach vorne zu der autonomen Universität, die den früheren Dualismus zwischen staatlichen und aka- demischen Angelegenheiten überwindet und alle Angele- genheiten in ihre Entscheidungskompetenz übernimmt.
Damit würde aber zum anderen der gesamte „Zuge- winn“ an Entscheidungskompetenzen, der als Folge der De- zentralisierung vom Staat auf die Hochschulen eingetreten ist, außerhalb des für die Hochschullehrermehrheit reser- vierten Raumes anlanden. Diese werden deshalb neben oder an Stelle der „Träger der Wissenschaftsfreiheit“ wieder stärker hervor hervorgehoben, meist in der Formulierung des „mit Hochschullehrermehrheit besetzen“ Kollegialor- gans. Das geschieht in der Brandenburg-Entscheidung nur am Rande,44 in der Entscheidung zu dem Hamburger Hochschulgesetz schon prominenter im 2. Leitsatz45 und in der MHH Entscheidung erstaunlicherweise in der Presse- berichterstattung,46 obwohl diese Gruppe in der Entschei- dung selbst nicht besonders hervorgehoben wird, sondern dort nur von den „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- lern“dieRedeist.DenÜbergangzwischendiesenbeiden Prinzipien markiert ein Beschluss aus dem Jahr 2001, mit dem das Gericht eine Verfassungsbeschwerde gegen die Wahl des Rektorats durch ein viertelparitätisch zusammen- gesetztes Konsistorium nach dem schleswig-holsteinischen
ist es allerdings kein Präsidialsystem nach US amerikanischem Muster, aus dem der Begriff stammt, da der Präsident unabhän- gig von dem Parlament gewählt wird. Sofern der Rektor nicht zugleich Vorsitzender des Senats ist, wie z.B. in NRW und Öster- reich, entspricht es am ehesten einem parlamentarischen System mit starker Regierungsgewalt.
40 Dazu Zechlin, Zwischen Interessenorganisation und Arbeitsor- ganisation? Wissenschaftsfreiheit, Hierarchie und Partizipation der ‚unternehmerischen‘ Hochschule, in: Wilkesmann/Schmidt, Hochschule als Organisation, Wiesbaden 2012, S. 41 ff., 53 ff.
41 Nachweise bei Gärditz, Anmerkungen, JZ 2011, S. 314 ff. 42 BVerfGE 111, 333 (355).
43 BVerfGE 35, 79 (123).
44 BVerfGE 111, 333 (364).
45 BVerfGE 127, 87, Leitsatz 2.
46 Vgl. die Überschriften „Verfassungsrichter geben den Hochschul-
lehrern mehr Macht“ und „Mehr Mitsprache für Professoren“ in der SZ bzw. FAZ v. 25.7.2014.
Hochschulgesetz nicht zur Entscheidung angenommen hatte,47 weil die Hochschullehrer anderweitig Einfluss aus- üben können.
Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Das BVerfG hat die Entscheidungsmacht der Kollegialorgane gegenüber den Rektoraten und den Hochschulräten ge- stärkt. Damit ist die Organisation angesprochen, deren Funktionsfähigkeit auf freie Wissenschaft als Kommuni- kations- und Handlungszusammenhang bezogen ist. Durch die verstreuten Hinweise auf die „mit Hochschul- lehrermehrheit besetzten“ Kollegialorgane entsteht aber parallel dazu eine personenbezogene Ausrichtung. Auch wenn sie als lediglich deskriptive Hinweise auf die Gege- benheiten des jeweiligen Falls gelesen werden könnten, bleibt die Ambivalenz zwischen der „Funktionsfähigkeit der Organisation“ und der individuellen Freiheit der „Hochschullehrer“ erhalten.
Der VerfGH Baden-Württemberg beseitigt nun diese Ambivalenz und verschiebt die Gewichte in Richtung Personensystem. Sehr plastisch kommt das darin zum Ausdruck, dass er in seinem Leitsatz 3 die Formulierung zur Wahl und Abwahl aus der MHH-Entscheidung48 wörtlich übernimmt, aber an den beiden Stellen, an de- nen von „Selbstverwaltungsorgan“ die Rede ist, jeweils den Zusatz „und den dort vertretenen Hochschulleh- rern“49 anfügt. Rechtsdogmatisch ist diese Ausdehnung der Professorenmehrheit zwar in keiner Weise zwin- gend, angesichts der Ambivalenz in der Rechtsprechung aber auch nicht völlig ausgeschlossen. Sie verstellt aber den ganzen Schritt zu einem organisationalen Grund- rechtsverständnis und revidiert sogar den halben Schritt, den das BVerfG in seiner Entscheidung zur Gruppen- universität gegangen ist.
Organisationales und individuelles Grundrechtsver- ständnis lassen sich offenbar schlecht in der Weise mitei-
- 47 DVBl. 2001, S. 1137 ff. Begründung: „Hinsichtlich der Rektors- wahl ergibt sich ein weitgehender Einfluss der Gruppe der Hoch- schullehrer im Konsistorium bereits daraus, dass die Mitglieder des Rektorats sämtlich auf Vorschlag des Senats gewählt werden“, der wiederum mit Hochschullehrermehrheit besetzt ist. Kurz danach stellt das Gericht fest, „die Aufgaben des Rektorats sind nicht typischerweise unmittelbar wissenschaftsrelevant“ (1139), was den Verweis auf die Hochschullehrermehrheit streng genom- men überflüssig macht.
- 48 Oben Fn. 38.
- 49 In der ersten der beiden Stellen wird allerdings die Konjunktion„und“ durch die Formulierung „und damit den dort vertretenenHochschullehrern“ (kursiv durch LZ) wieder relativiert.
- 50 „Zickzackkurs der Rechtsprechung“, so Groß, Kollegialprinzipund Hochschulselbstverwaltung, DÖV (11) 2016, S. 449 ff., 450.
- 51 In diese Richtung aber Gärditz (Fn. 11) S. 326.
- 52 Siehe oben Fn. 11.
- 53 Weick, (Fn. 23); Cohen, March & Olsen: A Garbage Can Modelof Organizational Choice, in: Administrative Science Quarterly 17 (1972) 1–25; Mintzberg, The Professional Bureaucracy, in:
nander verbinden, dass aus einer individualistisch ge- dachten Basis heraus ein organisationales Verständnis entsteht. Es kommt zu keiner stabilen Balance, sondern Ausschlägen50 mal zu der organisationalen und mal zu der personale Seite. Wenn es „eng wird“, überwiegt das tradierte individualistische Verständnis.
IV. Organisation
Wie stellt sich das Verhältnis von Organisation und Per- son in einer sozialwissenschaftliche Perspektive dar? Sozialwissenschaften beschreiben nicht einfach die „sozi- ale Faktizität“,51 sondern versuchen sie auf Gesetzmäßig- keiten hin zu erklären, sodass Wirkungszusammenhänge deutlich werden. Auf dieser Grundlage entstehen Theo- rien als Grundlage für zukünftiges Handeln, die durch weitere Empirie falsifizierbar bleiben. Solche Erklärun- gen sind auch für die Wirkungsannahmen der Rechts- wissenschaft wichtig. Eine nur auf ihre interne Wider- spruchslosigkeit bedachte Rechtsdogmatik hätte zwar den zitierten Fehlschluss von dem Sein auf das Sollen52 vermieden, ihr droht aber der umgekehrte Fehlschluss von dem Sollen auf das Sein. Im Folgenden sollen des- halb zwei zentrale Annahmen der Rechtsprechung prob- lematisiert werden.
1. Wissenschaft, Organisation, Person
Zahlreich sind die Publikationen, die unter Begriffen wie „Loosely coupled systems“ (Weick), „Organized Anar- chy“ (March), „Professional Bureaucracy“ (Mintzberg), „Uncomplete Organisation“ (Brunsson, Sahlin-Anders- son) oder „Specific Organization“ (Musselin) den beson- deren Charakter der Universität als durch Personen geprägte Organisation betonen.53 Einer der Gründe für diese Besonderheiten liegt genau in der Eigenart, aus der
ders., (Ed.), The Structuring of Organizations. A Synthesis of the Research, 1979; Brunsson, Sahlin-Andersson, Constructing Orga- nizations: The Example of Public Sector Reform, in: Organization Studies 21 (2000), S. 721–746; Musselin, Are Universities Specific Organisations?, in: Krücken, Kosmützky, Torka (Eds.), Towards
a Multiversity? Bielefeld 2007, S. 63–84. Anregende deutschspra- chige Überblicke geben z.B. Engels, Eine Annäherung an die Uni- versität aus organisationssoziologischer Sicht, in: die hochschule. journal für wissenschaft und bildung, (1) 2004, S. 12 ff.: Nickel, Dezentralisierte Zentralisierung. Die Suche nach neuen Organisa- tions- und Leitungsstrukturen für Fakultäten und Fachbereiche, ebenda, S. 87 ff.; Kehm (Fn. 13); Huber (Fn.13); Hüther/Krücken, Wissenschaftliche Karriere und Beschäftigungsbedingungen. Organisationssoziologische Überlegungen zu den Grenzen neuer Steuerungsmodelle an deutschen Hochschulen in: Soziale Welt, 62 (2011) 3, S. 305–325; Minssen, Wilkesmann, Lassen Hoch- schulen sich steuern?, in: Soziale Welt 54 (2003), S. 123–141; Hanft, Bildungs- und Wissenschaftsmanagement, München 2008, S. 66 ff.
Zechlin · Wissenschaftsfreiheit und Organisation 1 6 7
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heraus die Hochschullehrer in der Rechtsprechung als „Inhaber der Schlüsselfunktion“54 bezeichnet werden: Hochschulen sind Wissensorganisationen, das Wissen ist ihr eigentliches „Kapital“,55 aber es „gehört“ nicht der Organisation, sondern Personen. Die Leistungsfähigkeit der Organisation hängt von diesen Personen ab, die sich als Juristen, Mediziner, Natur- oder Geisteswissenschaftler u.a. aber eher an ihren Professionssystemen oder wissen- schaftlichen Communities56 orientieren als an ihrer Uni- versität. Dort erfolgt die Anerkennung als Experte, die sich in einer entsprechenden Reputation in der Öffentlichkeit ausdrückt, in dieser Spannung zwischen Organisation und dem Fachsystem der Profession findet die Organisa- tionswerdung deshalb ihre Grenze. Das bedeutet, dass die Führung und das Management der Universität sie in besonderer Weise in die Entscheidungsbildung einbezie- hen müssen, keine Universität kann gegen ihre Professo- ren „regiert“ werden; es bedeutet aber nicht, dass ihnen die Führung oder das Management „maßgebend“ oder „ausschlaggebend“ überlassen bleiben müsste.57
Da Personen nicht Teil der Organisation sind, Orga- nisationen aber ohne Personen ihre Aufgaben nicht er- füllen können, bedarf es einer Verbindung. Die erfolgt über den soziologischen Rollenbegriff.58 Er vermeidet die totale Vereinnahmung der Person und ermöglicht es, sie lediglich in bestimmten Ausschnitten zu integrieren, die zu der jeweiligen Position und Funktion in der Orga-
- 54 BVerfGE 35, 79 (127).
- 55 Grossmann, Pellert, Gotwald, Krankenhaus, Schule, Universität:Charakteristika und Optimierungspotentiale, in: Grossmann, (Hrsg.), Besser Billiger Mehr. Zur Reform der Expertenorgani- sationen Krankenhaus, Schule, Universität, iff Texte, Wien1997, S. 24 ff., 25.
- 56 Stichweh, Neue Steuerungsformen der Universität und die akademische Selbstverwaltung. Die Universität als Organisation, in: Sieg, Korsch (Hrsg.), Die Idee der Universität heute, München 2005, S. 123 ff.
- 57 Das zeigt auch ein Blick auf andere Wissens- oder Expertenorga- nisationen wie Krankenhäuser (mit den Chefärzten), Werbe- agenturen (mit den Textern und Graphikern) oder Schulen
(mit den Lehrern), selbst wenn Grundrechte im Spiel sind wie bei Zeitungen und Rundfunkanstalten (mit den Redakteuren) oder Opernhäuser, Orchester und Theater (mit Diven, Ersten Geigern und Schauspielstars). Die Beispiele zeigen, dass es eher um die Garantie der Selbstverwaltung als um die Grundrechte aus Art. 5 GG geht; vgl. auch Groß, Das Selbstverwaltungsrecht der Universitäten – Zusätzliches zur Wissenschaftsfreiheit, DVBl. 2006, S. 721 ff. sowie ders., (Fn. 50); Fehling, Neue Herausforde- rungen an die Selbstverwaltung in Hochschule und Wissenschaft, Die Verwaltung 35 (2002), S. 399 ff. - 58 Immer noch grundlegend, klar und zeitlos aktuell Mayntz, Sozio- logie der Organisation, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 81 ff.; vgl. auch Seliger, Das Dschungelbuch der Führung, Heidelberg 2008, S. 73 ff.
- 59 Vgl. hierzu Fangmann, Gelehrtenrepublik und staatliche Anstalt – Verfassungsrechtliche Grundlagen und systemischer Kontext, in: Wilkesmann, Schmidt (Hrsg.), Hochschule als Organisation, Wiesbaden 2012, S. 61 ff.; Hochschulangehörigen dürfte die
nisation passen. Auf diese Weise kann dieselbe Person in mehreren Funktionen angesprochen sein. Hochschul- lehrer sind z.B. als Wissenschaftler tätig, können aber auch in Leitungs- oder Kollegialorganen über die Orga- nisation von Wissenschaft entscheiden. Beide Rollen sind aber zu unterscheiden.59 Wissenschaft ist auf Wahr- heit ausgerichtet. Wahrheit ist nicht substantiell „gege- ben“, sondern wird in der Scientific Community in kon- troversen Diskussionen zeitlich begrenzt hergestellt und immer wieder in Frage gestellt. Es kann Jahre, sogar Ge- nerationen dauern, bis eine einigermaßen gefestigte Auf- fassung von dem, was als wahr angesehen werden soll, entstanden ist, und selbst dann bleibt sie ein falsifizierba- rer Wahrheitsanspruch.60 Deshalb muss das Funktions- system Wissenschaft frei sein und seiner Eigengesetz- lichkeit folgen. Organisationen sind hingegen auf Ent- scheidungen angewiesen, die jetzt getroffen werden müs- sen und nicht endlos verschoben oder immer wieder in Frage gestellt werden können. Globalbudgets wollen ver- teilt, Berufungsvorschläge entschieden und Studiengän- ge unterstützt, geschlossen oder neu eingerichtet wer- den. Gremienentscheidungen beruhen deshalb auf Mehrheit, nicht auf Wahrheit,61 es geht um praktische Vernunft, nicht um Wissenschaft. Diese Unterscheidung ist wichtig. Wer in einer Mehrheitsentscheidung unter- liegt, kann trotzdem Recht haben,62 sie aber – sofern sie in einem fairen Verfahren getroffen worden ist – akzep-
vergleichbare Unterscheidung zwischen Fachwissenschaft und der Organisation des fachwissenschaftlichen Unterrichts geläufiger sein: Die besten Mathematiker, Historiker etc. sind nicht zugleich die besten Mathematik‑, Geschichts- etc. Lehrer. Das Gleiche lässt sich auch für die Leitungskräfte selbst sagen, die nicht zu den Top-Wissenschaftlern gehören müssen, was wiederum Anlass für satirische Darstellungen bietet, vgl. Zechlin, „Er ist als Wissen- schaftler eine Niete und hat sich deshalb der Universitätspolitik verschrieben“. Der Campus, in: Heidi Möller, Thomas Giernal- czyk (Hrsg.), Organisationskulturen im Spielfilm. Von Banken, Klöstern & der Mafia: 29 Film- & Firmenanalysen. Berlin, Heidelberg 2017, S. 205–218.
60 Löwer (Fn. 16) Rn. 11, 12.
61 Sie sind als organisationspolitische Entscheidungen „arbiträr“
(Zintl, Politisches Wissen und Wissen in der Politik, in: Engel, Halfmann, Schulte (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, Baden-Baden 2002, S. 93 ff., 94); vgl. demgegenüber Starck, der die Hochschullehrermehrheit mit der „Richtigkeit wissenschaftsrelevanter Entscheidungen“ rechtfertigt (Mangoldt/ Klein, Art. 5 Abs. 3 Rn. 392); Blankenagel, Partizipation von Wis- senschaftlern in der Wissenschaftspolitik, KritV 1989, S. 247 ff., schlägt abgestufte Beteiligungsmodi (263) in einem „viereckigen Orientierungsmuster“ (271) als Aufgabe der Politik vor.
62 Anders der Rousseau’sche Gemeinwille, der – ähnlich wie Moral und Ethik – „offenbar“ ist und nur zur Not durch Abstimmung ermittelt wird : „Wenn mithin meine Ansicht der entgegengesetz- ten unterliegt, so beweist dies nichts anderes, als dass ich mich geirrt hatte, und dasjenige, was ich für den allgemeinen Willen hielt, es nicht war“ (Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1966, S. 154, IV/2).
tieren, wer sich hingegen auf die Wahrheitssuche macht, wird auf dem Unterschied von „richtig“ und „falsch“ be- harren und dabei keine Mehrheitsentscheidungen akzeptieren.
Der Rechtsprechung scheint nun eine Verwechselung der beiden Rollen zugrunde zu liegen. So argumentiert das BVerfG, wenn es die Hochschullehrermehrheit da- mit begründet, es müsse verhindert werden, dass „wis- senschaftlicher Sachverstand … in dem Beschlussorgan der Wissenschaftsverwaltung überspielt wird“.63 Es kommt aber nicht auf den wissenschaftlichen Sachver- stand der Gremienmitglieder sondern ihre Sachnähe zur Wissenschaft und ihren organisatorisch-praktischen Sachverstand an. Helmut Willke bringt den Unterschied zwischen klugen Mitgliedern und kluger Organisation gut auf dem Punkt: „Die europäischen Universitäten sind ein Hauptbeispiel für dumme Organisationen, in denen – so sollte man annehmen können – leidlich intel- ligente Menschen arbeiten. Dumm sind sie, weil ihre or- ganisatorische Intelligenz bestenfalls auf der Stufe der Humboldt’schen Reformen stehen geblieben ist. Sie schaffen es nach wie vor nicht, institutionelle Regelsyste- me, Anreizsysteme und organisationale Karrieremuster zu etablieren, welche aus der Summe konkurrierender Einzelkämpfer, isolierter Individuen und ‚einsamer‘ For- scher vernetzte Gemeinschaften, kooperierende Grup- pen, Teams oder Projekte bilden würden. (…) Dagegen sind etwa die Parlamente alter, entwickelter Demokrati- en herausragende Beispiele für intelligente Organisatio- nen, die sehr gut mit durchschnittlichen Mitgliedern auskommen. (…) Insgesamt führt dies bei allen verblei- benden Schwächen zu einer institutionellen Weisheit, welche die für den demokratischen Prozess kennzeich- nende Mittelmäßigkeit der Mitglieder der Parlamente zu kompensieren in der Lage ist“.64
- 63 BVerfGE 35, 130; vgl. dazu schon das Minderheitenvotum mit seiner Feststellung, „dass der fachwissenschaftliche Sachverstand selbst hervorragender Gelehrter nicht mit einer besonderen Qualifikation für die Wissenschaftsverwaltung identisch ist. Entspricht es zudem nicht gerade dem Wesen freier Wissenschaft, dass sich Qualifikation durch das sachliche Gewicht von Argu- menten ausweist und nicht eine formalisierte Entscheidungsposi- tion beansprucht, durch welche alle übrigen in eine permanente Minderheitenposition verwiesen werden?“ (S. 161).
- 64 Willke, Dumme Universitäten, intelligente Parlamente. Wie es kommt, dass intelligente Personen in dummen Organisationen operieren können, und umgekehrt. In: Grossmann (Hrsg.), Wie wird Wissen wirksam? Wien 1997, S. 107 ff.
- 65 Schon Wilhelm von Humboldt schrieb in einem Brief an seine Frau Caroline: „Mit wieviel Schwierigkeiten ich bei alldem zu kämpfen habe, wie die Gelehrten, die unbändigste und am schwersten zu befriedigende Menschenklasse – mit ihren ewig sich durchkreuzenden Interessen, ihrer Eifersucht, ihrem Neid, ihrer Lust zu regieren, ihren einseitigen Ansichten, wo jede
Unter Organisationsgesichtspunkten spricht also nichts dafür, die Professorenmehrheit derart zu verfesti- gen, dass sie in Verfassungsrang erhoben wird.65 Auch andere Universitätsangehörige haben eine Sachnähe zur Wissenschaft. Die hohe Bedeutung der Professoren ist Bestandteil der infomalen Organisationskultur, deren Verfestigung in formale Organisationsstruktur immer problematisch ist.66 1973 stellte sie einen pragmatischen Kompromiss des BVerfG in einer Zeit dar, in der die tra- dierte institutionelle Prägung der Hochschule stark wei- terwirkte und der ganze Schritt zu einem organisationa- len Grundrechtsverständnis noch zu groß gewesen wäre. Darin liegt der Grund dafür, dass das Minderheitenvo- tum nicht mehrheitsfähig war, nicht in der „richtigeren“ Rechtsauffassung der Mehrheit.
2. Strukturelle Gefahr und risikobewusstes Handeln
Burton Clark hat die Organisationswerdung als Chance für selbstbestimmtes Handeln gesehen, die Rechtsprechung betrachtet sie als Gefahr.67 Schon in dem Urteil zur Grup- penuniversitäterklärtdasBVerfG,Art.5Abs.3GGverbie- te dem Gesetzgeber eine Organisationsgestaltung, bei der „die Gefahr der Funktionsunfähigkeit oder der Beeinträch- tigung des für die wissenschaftliche Betätigung der Mitglie- der erforderlichen Freiheitsraumes herbeigeführt wird“.68 Es soll nicht erst abgewartet werden, bis ein „Eingriff“ in die individuelle Freiheit vorliegt, sondern schon präventiv dafür gesorgt werden, dass eine solche Grundrechtsverlet- zung unterbleibt. In dem klassischen rechtsstaatlichen Inst- rumentarium des Polizeirechts, bei dem hier Anleihen gemacht werden, wird der Gefahrenbegriff präzise defi- niert, damit die Freiheit gegenüber vorhandenen Gefahren geschützt und nicht durch paternalistische Vorsorge gegen- über der potentiellen Entstehung künftiger Gefahren erstickt wird. Eine Gefahr droht erst „wenn eine Sachlage
meint, dass nur sein Fach Unterstützung und Beförderung ver- dient, mich umlagern, … davon hast du keinen Begriff “; zitiert nach Kahl 2004, (Fn. 13) S. 26; Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. 2., um einen ‚Nachtrag 1970‘ erweiterte Auflage, Düsseldorf 1971, S. 119.
66 Beide Seiten müssen unterscheidbar bleiben, aber zusammen- wirken, vgl. Kühl, Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, S. 88 ff.; Schreyögg, Organisation, Wiesbaden 2008, S. 343 ff.
67 Hierzu treffend und unter dem schönen Titel „Die Hochschu-
le als Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit“ Sieweke, DÖV
2011, S. 472 ff.; vgl. zu der Gegenüberstellung auch Eifert, Wissenschaftsfreiheit und Rundfunkfreiheit. Grundrechte mit spezifischem Organisationsgehalt im Vergleich, in: Britz (Hrsg.), Forschung in Freiheit und Risiko, Tübingen 2012, S. 17 ff., S. 23 mwN.; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtliche Freiheit und staatlicher Institutionalisierung. Tübingen 1994, S. 330 f. („Ambivalenz organisierter Freiheit“).
68 BVerfGE 35, 79 (124).
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oder ein Verhalten bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit Wahrscheinlichkeit ein polizeilich geschütztes Rechtsgut schädigen wird“.69
Die Rechtsprechung zur Wissenschaftsfreiheit weitet demgegenüber die Abwehr von Gefahren zu einer schon im Vorfeld der Gefahr angesiedelten Vermeidung von Gefährdungen aus, die zudem mit keinerlei empirischer Evidenz unterlegt wird. Es kommt hier auf sprachliche Nuancen an, was sich schon in dem oben zitierten Hoch- schulurteil ausdrückt („herbeigeführt wird“). Die Bran- denburg-Entscheidung 2004 stellt einerseits darauf ab, ob durch die Organisationsnormen die freie wissen- schaftliche Betätigung und Aufgabenerfüllung struktu- rell gefährdet „werden“, andererseits darauf, ob eine Re- gelung Strukturen schafft, die sich gefährdend auswirken „können“. Aufkommende Zweifel, ob damit die sog. Ge- fahrenvorsorge gemeint sein könnte, beseitigt sie aller- dings durch die Klarstellung, dass „eine nur hypotheti- sche Gefährdung nicht aus(reicht)“.70 Die Hamburger Entscheidung wiederholt 2010 die Formulierung aus der Brandenburg Entscheidung,71 wohingegen die MHH Entscheidung 2014 davon spricht, dass Gefahren für die Freiheit von Lehre und Forschung „vermieden“ wer- den.72 Eine klare Grenzziehung73 zwischen der Abwehr vorhandener und der Vermeidung möglicherweise ent- stehender künftiger Gefahren unterbleibt.
Vermeiden ist jedoch keine Lösung, wie ein Vergleich zeigt: Bergsteigen ist mit der Gefahr des Abstürzens ver- bunden. Wer diese Gefahr vermeiden will, verzichtet am besten auf diese Freizeitbeschäftigung. Wer dennoch nicht darauf verzichten will, wird trotzdem nicht blind gegenüber den Gefahren sein, sondern versuchen, sie durch Achtsamkeit im Handeln zu beherrschen. Die Kehrseite der juristischen Gefahrenabwehr ist deshalb der sozialwissenschaftliche Risikobegriff.74 In den Wor- ten eines Grenzgängers zwischen Rechtswissenschaft
- 69 BVerwG 45, 51 (57).
- 70 Alle Zitate BVerfGE 111, 333 (355).
- 71 BVerfGE 127, 87 (116).
- 72 Juris Rn. 57; der VerfGH BW referiert die MHH-Entscheidung,nach der Gefahren „vermieden werden“ sollen und setzt bei der Darstellung seiner eigenen Maßstäbe „abwehren“ und „ver- mieden“ in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen unkommentiert nebeneinander (Juris Rn. 84).
- 73 Die „Gefahrenschwelle“, vgl. dazu Sieweke (Fn. 67) S. 473 f.
- 74 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, Tübingen1994, S. 52 ff.; Scherzberg, Wissen, Nichtwissen und Ungewissheit im Recht. In: Engel, Halfmann, Schulte (Fn. 61) S. 113 ff., Fn. 122; Britz, Wagnisse moderner Hochschulverfassung, in: dies. (Fn.
67) S. 31 ff.; Kaufhold, Systemaufsicht. Anforderungen an die Ausgestaltung einer Aufsicht zur Abwehr systemischer Risiken entwickelt am Beispiel der Finanzaufsicht. Tübingen 2016. - 75 Luhmann, Gefahr und Risiko, in: Soziologische Aufklärung.
und Soziologie geht es „um Fälle, in denen ein möglicher Schaden leicht (…) vermeidbar ist, da man einfach zu Hause bleiben kann, es aber trotzdem zu empfehlen ist, die Möglichkeit eines Schadens aktiv herbeizuführen“.75 Gefahrenabwehr verspricht Sicherheit, der Risikobegriff hält dies für eine Überforderung, denn „es gibt keine ri- sikofreie Sicherheit“.76 Entscheidungen absorbieren zwar Unsicherheit, aber sie beseitigen sie nicht. Sie erfordern auf der Zeitachse weitere Entscheidungen und stellen damit die Unsicherheitsabsorption auf eine kontinuierli- che Basis, einen ständigen Kreislauf von Beobachtung, Bewertung und Entscheidung.77 Die große „Einmalent- scheidung“ (dazu gehören auch Grundsatzurteile der Verfassungsrechtsprechung zu der Leitungs- und Ent- scheidungsstruktur von Universitäten) schafft keine dauerhafte Sicherheit, sie führt eher zu der Illusion da- von und trägt dadurch zu der Verdrängung von Risiken bei. Die Verfassungsrechtsprechung selbst kann aber nicht ständig beobachten und neu entscheiden, sondern das ist Aufgabe der Politik,78 die deshalb „einspringen muss. Man wird, und man sollte vielleicht auch, den Me- chanismus kollektiv bindender Entscheidung benutzen, um das zu entscheiden, was weder richtig noch falsch entschieden werden kann“.79
Politik besteht einer geläufigen Definition nach aus der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Das geschieht nicht nur auf der Makroebene des Staates, sondern auch der Mesoebene der Hochschule und ist das schon erwähnte Organisieren, das sich von der Wis- senschaft selbst unterscheidet. Es erfordert Risikobe- wusstsein und Handeln, nämlich die kontinuierliche und situative Vorbereitung, Herstellung und Umsetzung von Entscheidungen, die Beobachtung ihrer Auswirkungen und das Nutzen dieser Beobachtungen für das Herstellen von Anschlussentscheidungen. Die Rechtsprechung be- fasst sich aber nur mit der Leitungs- und Entscheidungs-
Konstruktivistische Perspektiven, 4. Aufl., S. 126 ff., 127.
76 Luhmann, (Fn. 75) S. 152, wir leben eben in einer „Risikogesell-
schaft“ (Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
Moderne, Frankfurt am Main 1986).
77 „Für uns liegt das Besondere des Risikos darin, dass es aus der
unbegrenzten Fülle von Handlungen, die mit Unsicherheit
und möglichen Schäden verknüpft sein können – also aus dem Schattenbereich der Gefahr – herausgeholt wurde, dass es durch gesellschaftliche Diskurse thematisiert und benennbar wurde, abgrenzbar und letztlich abwägbar“ (Adalbert Evers, Helga Nowottny, zitiert nach Luhmann, S. 129). Beck (Fn. 76) hat hierfür den Begriff „Reflexive Modernisierung“ entwickelt.
78 „in der Politik gewinnen Risikothemen im Vergleich zu Normthemen (Rechtsetzung) und Verteilungsthemen an Be- deutung“ (Luhmann, S. 138); vgl. dazu insgesamt auch Willke, Supervision des Staates, Frankfurt am Main 1997.
79 Luhmann, (Fn. 75) S. 156.
struktur. Sie vernachlässigt damit das Handeln und seine Wechselwirkung80 mit der Struktur. Risikobewusstes (Führungs-)handeln81 benötigt dafür einen gewissen Freiraum. Damit ist zwar wiederum ein Risiko verbun- den, nämlich das schlechter Führung. Dieses Risiko muss aber hingenommen werden,82 wenn man nicht „zu Hause bleiben“ will, denn die Einbetonierung des Füh- rungshandelns in immer feiner gestrickte Strukturvor- gaben stellt das größere Risiko dar. Mit der Wahl von Führungskräften wird eben „die Möglichkeit eines Scha- dens aktiv herbeigeführt“. Ob ein Schaden tatsächlich eintritt, hängt dann von den Führungspersonen ab, die aber auch selber wissen, dass eine Universität nicht ge- gen ihre Professoren regiert werden kann. Wenn er ein- tritt, kann das durch die Verwaltungsgerichte überprüft werden, die auf diese Weise zu einer empirischen Basis für die Beurteilung auch der Struktur beitragen. Wirkli- che Gefahren drohen erst, wenn das Spannungsverhält- nis von Struktur und Handeln in eine der beiden Rich- tungen hin aufgelöst wird.
Wegen der Interdependenz wird auch die „Passung“ zwischen Struktur und Person83 wichtig. Unter den Be- dingungen offener Diskussion in Selbstverwaltungsorga- nen werden Personen mit Mut84 zur Klarheit benötigt, die Unterschiede verdeutlichen und dazu beitragen, dass Kontroversen nicht unter den Teppich gekehrt werden. Man kann auf eine offene Streitkultur und die integrie- rende Kraft vernünftig ausgetragener Konflikte setzen.85 Unter den Bedingungen der Hochschullehrermehrheit werden hingegen geschmeidige Hinterzimmerdiploma- ten gefragt, die geräuschlos Kompromisse herbeiführen und dadurch kontroversen Diskussionen in den Gremi-
- 80 Vgl. aus einer akteurstheoretischen Perspektive Schimank, Handeln und Strukturen. Weinheim und München, 2. Aufl.
2002, S. 14 ff.; in diesem Gedanken liegt der Kern der Governan- ceansätze: Governance ist „Management von Interdependenz“ (Mayntz, Governance im modernen Staat, in: Benz, Dose (Hrsg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2010, S. 37 ff., 43); Zechlin, Governance als Führungshandeln, in: Luzia Truniger (Hrsg.), Führen in Hochschulen. Anregungen und Reflexionen aus Wissenschaft und Praxis. Wiesbaden 2017, S.33ff. - 81 „Risikomanagement statt Gefahrenabwehr und ‑vorsoge“, so prä- gnant Scherzberg (Fn. 74) S. 135; Beispiele für Risikobearbeitung, die zeigen, dass die Sache auch schief gehen kann, bei Britz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 5 Abs. 3 (Wissen- schaft) Rn. 102, die aber auf Struktur als Gegenmittel setzt.
- 82 Britz (Fn. 74) S. 43: „Es bleiben nicht unbeachtliche Restrisiken mächtige Hochschulleitungen, die verfassungsrechtlich hinzuneh- men sind“.
- 83 Löschper, Es kommt auch auf Personen an, in: Hochschulmanage- ment, 4 (2016) S. 104–110.
- 84 Das bezieht sich nicht nur auf Rektoren. Mut kann auch von Se- naten, die sich bei der Wahl der Rektoren nicht durch die Hoch- schulräte unter Druck setzen lassen (z.B. in Siegen, Saarbrücken, Leipzig), von einzelnen Hochschulangehörigen (vgl. die Thematik
en vorbeugen. Drohte in der Anfangsphase der „Auto- nomen Hochschule“ die öffentliche Kommunikation durch die Entscheidungsmacht der Leitung erstickt zu werden, tritt nunmehr derselbe Effekt durch die Macht der Hochschullehrer ein. Die Gremien mögen zwar noch abstimmen, aber eher als Staffage. Die eigentlichen Wei- chenstellungen sind schon in den Vorbesprechungen des „Professorium“ erfolgt.
V. Alternativen
Auch bei einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung kommt es nicht zu einer harmonischen Einheit von Organisation und Person. Ganz im Gegenteil treten die Unterschiede beider Seiten klarer hervor. Wenn man die- sen Befund wieder in das Grundrechtsverständnis „rückübersetzt“, gelangt man auch dort statt einer Syn- thetisierung zu einer deutlicheren Trennung. Auf dieser Grundlage wird eine andere Art von Verbindung mög- lich.
1. Inpersonales Grundrechtsverständnis
Helmut Ridder hat 1975 die Wissenschaftsfreiheit als „ein ‚inpersonales‘ Grundrecht“86 bezeichnet. Ähnlich wie für die Presse87 spreche das Grundgesetz „von der Frei- heit der Wissenschaft, nicht von der Freiheit der Wissen- schaftler“.88 Dieser durch eine grammatikalische Inter- pretation gewonnene Befund wird für eine Reihe von Landesverfassungen auch durch eine systematische Interpretation gestützt. Art. 20 der baden-württembergi- schen Landesverfassung z.B. lautet nicht nur „Die Hoch- schule ist frei“ (also nicht „der Wissenschaftler“ oder gar
„Political correctness versus Freiheit der Wissenschaft?“ der DHV-Jahrestagung 2017) oder Dekanen, denen von dem Präsidi- um Pressekontakte untersagt werden (Hamburg), bewiesen wer- den. Vgl. auch Imboden, Deutschen Unis fehlt es an Mut, in: ZEIT v. 4.2.2016; Schmoll, Wo bleibt der Mut? FAZ v. 1.4.2017 und dies., Der Hochschulverband verteidigt die Wissenschaftsfreiheit. FAZ v. 12.4.2017.
85 Dubiel, Integration durch Konflikt?, KZfS 1999, Sonderheft (H. 39) S. 132 ff.
86 Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes. Leitfaden zu den Grundrechten einer demokratischen Verfassung, Opladen 1975, S. 134; vgl. dazu auch Ladeur, Helmut Ridders Konzeption der Meinungs- und Pressefreiheit in der Demokratie, Kritische Justiz 1999 (2), S. 281 ff.
87 „Der prinzipielle Fehler liegt überall wieder darin, dass von dem Wortlaut des Grundrechts gar keine Notiz mehr genommen wird: Das Grundgesetz sagt doch unmissverständlich, dass es auf die Freiheit der Presse, nicht aber auf die Verlegerfreiheit usw. ankommt“ (Ridder (Fn. 86) S. 87).
88 Fn. 86, S. 136 f.; dort auch eine deutliche Kritik an der „Hoch- schullehrermehrheit“ als verfassungsrechtlicher Vorgabe mit dem Ergebnis: „Das ist falsch (wenn man auch die Meinung vertreten kann, dass es sinnvoll sei)“.
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„der Hochschullehrer“), sondern er befindet sich auch in einem mit „Erziehung und Unterricht“ überschriebenen Abschnitt, der einen Sachbereich, aber keine Grundrechte regelt.89 Auch wenn die Dogmatik der Inpersonalität bei Ridder nicht genauer ausgearbeitet wird, zielt er doch ent- sprechend dem Charakter der Wissenschaftsfreiheit als Kommunikationsgrundrecht auf eine eigenständige Sphäre des Öffentlichen in einer demokratischen Gesellschaft, „die konkrete Freiheit eines sozialen Feldes durch dessen Orga- nisation“.90 Eine solche Vorstellung kommt der objektiv- rechtlichen Interpretation des BVerfG zwar nahe, wird im Unterschied hierzu aber nicht als Fernwirkung des indivi- duell verstandenen Abwehrrechts unter den heutigen Bedingungen einer „Organisationsgesellschaft“, sondern unabhängig davon als Funktionsbereich Wissenschaft kon- zipiert, der sich nach seinen Eigengesetzlichkeiten entwi- ckelt.91
Die Sicherung der Wissenschaftsfreiheit liegt in einer solchen Vorstellung nicht in der Gefahrenabwehr durch die alles entscheidende Struktur, sondern der kontinuierlichen Beobachtung der empirischen Auswirkungen, die in der In- terdependenz von Struktur und Handeln erzeugt werden. Das kann aber nicht Aufgabe der Verfassungsrechtspre- chung selbst sein. Es überfordert sie, die Einhaltung der „objektiven Werteordnung“ jeweils abstrakt ex ante auf Ge- fährdungen hin zu beurteilen und die Beurteilung zu ver- ändern, wenn auf der einen Seite der Abwägung 10 Gramm
- 89 Ähnlich Art. 60 Hess. Verf. und Art. 16, 18 Verf. NRW; dieses systematische Argument verwendet schon Smend (Fn. 17).
- 90 Fn. 86, S. 91; insgesamt vertiefend und weiterführend hierzu Augsberg (Fn. 10).
- 91 Ladeur (Fn. 86) zufolge hat Ridder sein Konzept der „Institution“, mit dem er zeitweilig gearbeitet hat, wegen der Nähe zu der Auf- fassung Carl Schmitts (Fn. 18) aufgegeben, obwohl es „eigentlich nicht missverständlich war“ (286 f.). Es geht nicht um den Typus Universität als institutioneller „Garantie des Hergebrachten“, sondern um den „eigensinnige[n] Kommunikations- und Hand- lungszusammenhang der Wissenschaft“, so Trute (Fn. 67) S. 275. Vgl. auch Grimm, Wissenschaftsfreiheit vor neuen Grenzen? Göt- tingen 2007, der in Abgrenzung von den „personalen Grundrech- ten“ wie der Meinungsfreiheit, der Gewissensfreiheit, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit etc. von der Wissenschaftsfreiheit als „Funktionsgrundrecht“ spricht (S. 26).
- 92 Zu einem solchen Modell tendiert aber der VerfGH BW (Fn. 2), indem er sachliche und personelle Entscheidungskompetenzen miteinander verrechnet (Juris Rn. 169). Wäre alles wieder ganz anders, wenn – wie in Österreich und NRW – der Rektor nicht Senatsvorsitzender ist?
- 93 Dazu Ladeur, Die Wissenschaftsfreiheit der „entfesselten Hoch- schule“, DÖV 2005, S. 753 ff., 761 ff.; in diesem Sinne auch Groß, Wissenschaftsadäquates Wissenschaftsrecht, WissR 2002, 307
ff., 318; ablehnend Gärditz (Fn. 11) S. 362 ff. („kein empirisches Problem“). - 94 Vgl. nur die umfangreichen und theoretisch fundierten Untersu- chungen von Kleimann, Universitätsorganisation und präsidiale Leitung. Führungspraktiken in einer multiplen Hybridorganisati- on, Wiesbaden 2016 und Hüther, Von der Kollegialität zur Hier-
Macht mit dem Gewichtungsfaktor x zugegeben oder auf der anderen Seite 20 Gramm mit dem Gewichtungsfaktor y entfernt werden.92 Stattdessen ist es Pflicht des Gesetzge- bers, die empirischen Auswirkungen zu beobachten, über die Ergebnisse der Beobachtung zu berichten und daraus Konsequenzen für die Gesetzgebung ziehen und zu verant- worten.93 Empirische Erkenntnisse zu dem Thema Macht und dem tatsächlichen Verhalten der Leitungskräfte liegen zwar mittlerweile in wachsendem Umfang vor,94 werden je- doch in der Rechtsprechung nicht herangezogen, weil sie nicht in ihrem abstrakt auf die Struktur gerichteten Such- raster liegen. In dem Verfahren vor dem VerfGH BW ist z.B. gutachtlich auf die zentrale Bedeutung der Praxis abge- stellt und vorgetragen worden, „dass und wie die hoch- schulrechtlichen Vorschriften in Baden-Württemberg in verfassungskonformer Weise praktiziert und vollzogen werden“.95 Folgerungen in der Argumentation des Urteils sind jedoch nicht ersichtlich. Erst auf der Grundlage solcher Informationen ließe sich aber, u.a. durch Verwaltungsge- richte, beurteilen, ob Beeinträchtigungen für die Wissen- schaftsfreiheit eingetreten sind und auch zukünftig drohen.
Das BVerfG hat in vielen Bereichen die Relevanz von Empirie für die Rechtsprechung hervorgehoben.96 Es „ver- pflichtet“ auch den Hochschulgesetzgeber dazu, „bisherige Organisationsformen kritisch zu beobachten und zeitge- mäß zu reformieren“.97 Als Vorbild könnte die schweizeri- sche Bundesverfassung dienen, die weit über die Hoch-
archie? Eine Analyse des New Managerialism in den Landeshoch- schulgesetzen, Wiesbaden 2010; ferner Hüther/Krücken (Fn. 53) mit der Unterscheidung von Organisations- und Personalmacht; Minssen/Wilkesmann (Fn. 53); Woiwode, Frost, Hattke, Hoch- schulleitungen zwischen Repräsentation und Ergebnisorientie- rung – Handlungs(un)fähigkeiten und Vermittlungstaktiken. Vorgesehen für: Scherm (Hrsg.), Strategische Entscheidungen
in Universitäten. Themenheft 6 (2017) Betriebswirtschaftlichen
Forschung und Praxis.
95 Würtenberger, Zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen der
Hochschulleitung im Landeshochschulgesetz von Baden-Würt- temberg, OdW 2016, 1 ff., 5; Hagmann (BeckOK BW LHG/Hag- mann § 15 Rn. 9a) kritisiert das Fehlen empirischer Belege für die Gefährdungen und benennt eine Reihe alternativer Gefahren, die umgekehrt mit dem Regime der Hochschullehrermehrheit entstehen können; schon Hüther (Fn. 94) unterscheidet zwischen dem politischen „Diskurs“, seiner „gesetzliche Umsetzung“ (das eigentliche Thema seines Buches) und den „Praktiken der bzw. in der Organisation“ (S. 26 Fn. 9).
96 Vgl. jüngst Bieback, Beobachtungs- und Evaluationsaufträge
an den Gesetzgeber in der Rechtsprechung des Bundesverfas- sungsgerichts, Vortrag auf der Tagung „Herausforderungen der Gesetzesevaluation und Rechtswirkungsforschung“ des Wissen- schaftszentrum Berlin v. 30/31.3.2017, Publikation vorgesehen in der Zeitschrift für Rechtssoziologie, 2017 Heft 2, sowie I. Augs- berg, S. Augsberg, Prognostische Elemente in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in. Verwaltungsarchiv, 98 (2007), S. 290 ff.
97 BVerfGE 111, 333 (356, 360) unter Verweis auf BVerfGE 35, 79 (117) und 95, 267 (314).
schulgesetzgebung hinaus in Art. 170 bestimmt „Die Bun- desversammlung sorgt dafür, dass die Maßnahmen des Bundes auf ihre Wirksamkeit überprüft werden“. Die indi- viduelle Wissenschaftsfreiheit wird dabei nicht geschwächt oder gar ersetzt,98 sondern ihre Verletzung gehört zu der empirischen Grundlage der Beobachtung. Organisation und individuelle Freiheit bleiben eigenständig, kommuni- zieren aber miteinander. In dem Kreislauf von Beobach- tung, Diskussion und Entscheidung wäre die Organisati- onsgestaltung nicht ex ante juristisch formalisiert, sondern bildete sich erst allmählich in einem öffentlichen Diskurs heraus, der zu einer stärker verwissenschaftlichten99 (so je- denfalls die Hoffnung) und weniger verrechtlichten Politik beitrüge.
2. Eine europäische Perspektive
Wechselseitig Beobachtung, das wäre auch ein gutes Motto für einen rechtsvergleichenden Blick auf Europa.100 Die Wissenschaftsfreiheit ist schließlich keine rein deutsche Erfindung,101 sondern gilt als Teil der westlichen Wertege- meinschaft auch in anderen Ländern, so z.B. Österreich102 und der Schweiz.103 Dort gilt aber keine Professorenmehr- heit bei der Wahl der Hochschulleitung. § 23 Abs. 3 des österreichischen Universitätsgesetzes 2002104 hatte für die Professoren zunächst die Mehrheit der Sitze im Senat vor- gesehen, schreibt seit 2009 aber nur noch die Hälfte vor. Wahl und Abwahl der Rektoratsmitglieder erfolgt in dem extern zusammengesetzten Universitätsrat, der bei der Wahl lediglich an einen drei Personen umfassenden Vor- schlag des Senats gebunden ist und die Abwahl auch alleine vornehmen kann. Auch in der Schweiz (§ 29 Abs. 5 Ziff. 7 iVm. § 30 Abs. 2 UniG) kommt es nicht auf einen Professo-
- 98 In dieser Befürchtung liegt der Hauptgrund dafür, dass derartigen Ansätze „zur Zielscheibe polemischer Kritik“ (Volkmann (Fn. 9) 264 mwN.) geworden sind; prononciert ablehnend z.B. Gärditz (Fn. 11) 312 ff.
- 99 So unter Bezugnahme auf Habermas (Fn. 10) schon Schulze-Fielitz, Freiheit der Wissenschaft, in: Benda, Maierhofer, Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin 1994, § 27 Rn. 34.
- 100 Eifert, Lernende Beobachtung des Verwaltungsrechts durch das Verfassungsrecht, in: Bäuerle (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde, Tübingen 2013, S. 355 ff., 356 spricht von Rechtsvergleichung als „weicher Koordination“ im europäischen Rechtsprechungsverbund; vgl. schon Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, Baden-Baden 1992; ders. (Fn.93) S.325 („Notwendig ist eine Abkehr vom nationalen Sonderweg der Hypertrophie des Art. 5 Abs. III GG“); Schulze-Fielitz (Fn. 99) Rn. 24; Britz, (Fn. 81) Rn. 9; Fehling BK (Fn. 16) Rn. 276 ff.
- 101 Sehr wohl aber ist sie in dem deutschsprachigen Raum entstan- den, vgl. Löwer (Fn. 16) Rn. 4 mwN.
- 102 Art. 17 Abs. 1 Staatsgrundgesetz von 1867: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.
- 103 Art. 20 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossen- schaft: Die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung ist gewährleistet.
renmehrheit an. Gibt es dort also keine Wissenschaftsfrei- heit?105
Mit der Überlegung, dass Europa schließlich von seiner Vielfalt lebt und solche Unterschiede deshalb zu begrüßen seien, kann sich die Rechtsprechung nicht zufrieden geben. Nach Art. 23 des Grundgesetzes wirkt die Bundesrepublik an einer europäischen Integration mit, die „einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechts- schutz gewährleistet“. Dieser Satz bindet auch die Recht- sprechung. In Österreich hat es der Verfassungsgerichtshof aber schon im Jahr 1977106 abgelehnt, für die entscheidungs- berechtigten drittelparitätischen Studienkommissionen professorale Mehrheiten aus Art. 17 des Staatsgrundgesetzes „abzuleiten“. Er interpretiert die Wissenschaftsfreiheit klas- sisch liberal als subjektives Abwehrrecht, mit dem „jeder- mann, der wissenschaftlich forscht und lehrt“, gegenüber Staatseingriffen geschützt sei. Die Vorstellung, diese Vor- schrift verpflichte den Staat dazu, „den Hochschullehrern zur Sicherung dieses Grundrechts eine maßgebende Mit- wirkung an der unmittelbaren Wissenschaftsverwaltung einzuräumen“,107 sei „weder dem Wortlaut zu entnehmen noch aus der historischen Entwicklung ableitbar“. Sie wür- de „nur die den Hochschullehrern zukommende Wissen- schaftsfreiheit“ schützen, „allen anderen Adressaten“ dieser Freiheitsgarantie diesen Schutz aber vorenthalten. In einer jüngeren Entscheidung zu dem Universitätsgesetz 2002 (das als eine Art „Blaupause“ für das nordrhein-westfäli- sche „Hochschulfreiheitsgesetz“ aus dem Jahr 2007 fun- giert hat) hat es die Wahl und Abwahl der Rektoratsmit- glieder durch den Universitätsrat gebilligt.108 Das Bun- desverfassungsgericht müsste sich also gemeinsam mit den Gerichten der anderen Länder um eine Angleichung der
104 Vgl. zu der österreichischen Entwicklung Fraenkel-Haeberle, Die Universität im Mehrebenensystem. Modernisierungsansätze in Deutschland, Italien und Österreich, Tübingen 2014, S. 142 ff.
105 „Wissenschaft ist notwendigerweise international: Hochschulsys- tem, die sich durch Forschungs- und Ausbildungsleistungen An- erkennung erworben haben, können aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts nicht ohne weiteres als inakzeptabel betrachtet werden“ Ladeur (Fn. 93) S. 762.
106 Erk. v. 3.10.1997, G 13/76, G 7/77, EuGRZ 1978, S. 7 ff.; Hinweise hierauf bei Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäi- schen Rechtsvergleich, Baden-Baden 1992, S. 45 ff.; ders. (Fn.93) S.309; Gärditz (Fn. 11) S. 313 Fn. 273 sowie schon frühzeitig Dallinger, § 3 Anm. 8, in: Dallinger, Bode, Dellian, Hochschulrah- mengesetz. Kommentar, Tübingen 1987.
107 Alle Zitate aaO. (Fn. 106) S. 13, rechte Spalte. Man mag darüber spekulieren, ob der Begriff „maßgebende Mitwirkung“ eine Reaktion auf das vier Jahre zuvor ergangene BVerfG Urteil mit seiner Unterscheidung von „maßgeblich“ und „ausschlaggebend“ darstellt.
108 Sammlungsnummer 17101 v. 23.1. 2004, G359/02, S. 31 (Gliede- rungsnummer 4.1.2.4.).
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Rechtsprechung bemühen. Keine Gleichmacherei „von oben“, auch keine Ausübung von Druck im Sinne eines „Man spricht wieder Deutsch in Europa“, sondern eine Art „Policy Learning“ zwischen den europäischen Verfassungs- gerichten durch gegenseitige Beobachtung.109
VI. Fazit
Welche Ergebnisse lassen sich aus all diesen Überlegungen ziehen?
Die Hochschullehrermehrheit auf die Wahl und Ab- wahl der Hochschulleitung auszuweiten, ist in keiner Weise überzeugend: Entweder man beschränkt sie mit dem Hoch- schulurteil 1973 auf Angelegenheiten, die Forschung und Lehre „unmittelbar“ betreffen. Dann gehören die Wahl und Abwahl nicht dazu. Oder man hält diese Unterscheidung für überholt, weil in der autonomen Universität mehr oder weniger alle Entscheidungen „wissenschaftsrelevant“ wer- den. Das erscheint als der plausiblere Weg, stellt die Hoch- schullehrermehrheit aber als verfassungsrechtliche Vorgabe generell in Frage. Sie selbst erscheint dann als ein heutzuta- ge überholter Kompromiss aus einer Zeit, in der die instituti- onelle Prägung der Universität als Ordinarienuniversität noch stark fortwirkte. Damit landet man bei der Position der Richterin Rupp von Brünneck und des Richters Simon in dem Minderheitenvotum zu dem Hochschulurteil. Die Hochschulgesetze könnten die Professorenmehrheit vorse- hen, von ihr absehen oder die Entscheidung der Satzungs- autonomie der Hochschulen überlassen. Damit wäre nicht nur der gewachsenen Heterogenität zwischen und inner- halb der Hochschulen Rechnung getragen, sondern auch der Anschluss an Europa erreicht. Was nicht angeht, ist, sich aus beiden Welten das für die eigene politische Auffassung Beste herauszupicken und zum Bestandteil der Verfassung zu erklären.
Über diese konkrete Frage hinaus macht der Verzicht auf die Hochschullehrermehrheit den Weg frei für ein ei- genständiges organisationales Verständnis der Wissenschafts- freiheit, das nicht aus dem individuellen Abwehrrecht „ab- geleitet“ wird. Das hätte Folgen: Zum einen würde auch die landesverfassungsrechtlich garantierte Selbstverwaltung eine eigenständige Bedeutung gewinnen. Die Betonung liegt auf dem „Selbst“.109 Nur als Akteur kann sich die Uni- versität gegen den passiven Nachvollzug der zahlreichen ex-
- 109 Vgl. insgesamt hierzu Germelmann, Das europäische Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit, WissR Beiheft 24, S. 19 ff.
- 110 Zu den unterschiedlichen Konzipierungen des „Selbst“ im Rah- men der Akteurstheorie Meier (Fn. 36) S. 40 ff., 63 ff.; vgl. auch Stichweh (Fn. 16) S. 31.
- 111 Deshalb ist die Kritik von Gärditz (Fn. 11) S. 363, derartige Ansätze blieben „weitgehend eine Leerformel“, nicht ohne wei- teres von der Hand zu weisen; vgl. auch Ladeur (Fn. 93) S. 761: Beobachtung- und Nachbesserungspflicht als „eine dogmatisch
ternen Vorgaben der Politik zur Wehr setzen, die ganz im Gegensatz zu der Rhetorik ihrer Autonomie stehen. Gegen einen solche „Versteinerung“ der Verhältnisse hilft keine Struktur, sondern nur selbstbewusstes Handeln der Univer- sität als Organisation. Dazu gehört auch ein Führungshan- deln, das zur Entstehung eines risikobewussten Selbstbe- wusstseins der Universität beiträgt und nicht lediglich als strukturell zu bändigende Gefahr konzipiert wird. Zum an- deren würden Beeinträchtigungen der Wissenschaftsfrei- heit durch empirische Beobachtungen erfasst. Zwar sind Beobachtungspflichten, selbst wenn sie wie in der Schweiz Bestandteil der Verfassung sind, auch nur Normen, deren Auswirkungen erst wieder zu beobachten wären, und die sind, jedenfalls wenn man die Fülle von Hochschulevaluati- onen in Deutschland betrachtet, nicht gerade ermuti- gend.110 Häufig handelt es sich nur um bürokratische Rou- tineübungen zur bloßen Legitimationsbeschaffung. Das ist aber kein Grund, auf sie zu verzichten, sondern Anlass, die Erhöhung ihrer Wirksamkeit zu betreiben. Ob und wie das gelingt, hängt allerdings auch von dem Handeln der Hoch- schulangehörigen selbst, nicht zuletzt der Professoren, und deren „Zivilcourage“ ab. Auch für die Wissenschaftsfreiheit gilt der Satz Böckenfördes, nach dem der freiheitliche, säku- larisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.111
Die Bearbeitung solcher Fragen erfordert einen stärkeren Austausch der Rechtswissenschaft mit der empirischen Hoch- schulforschung, der für beide Seiten ein Gewinn wäre. Schon vor über 50 Jahren hat Niklas Luhmann auf die „Komplemen- tarität der Aufgaben von Soziologie und Dogmatik“ hingewie- sen und „diese Kontakte“ gefordert, übrigens mit dem Hin- weis, dass sie „am ehesten (…) im Rahmen der Bemühungen um Rechtsvergleichung“ entstehen. Allerdings „drängt sich“ ihm schon damals „die Frage auf (…), ob die Grundrechtsdog- matik in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu einem solchen Gedan- kenaustausch bereit und gerüstet ist“.112 Es wäre schon viel ge- wonnen, wenn der Dialog stärker als bisher in Gang käme.
Lothar Zechlin ist Professor i.R. für Öffentliches Recht im Institut für Politikwissenschaft der Universität Duis- burg-Essen, deren Gründungsrektor er bis 2008 war. Von 1992 bis 2003 leitete er als Präsident bzw. Rektor die Hochschule für Wirtschaft und Politik Hamburg und die Karl-Franzens-Universität Graz.
durchaus produktive, aber bisher konturlos gebliebene Figur“. 112 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkula-
risation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt am Main 1976, S. 42 ff., 60 (übrigens unter ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die „Proklamierung eines ‚objektiven Wertesystems‘“ keinen Ausweg darstellt).
113 Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, 5. Aufl. (1. Aufl. 1965) Berlin 2009, alle Zitate auf S. 205.