Übersicht
I. Vorgeschichte und Kontext der Entscheidungen
II. Inhalt und Bedeutung der beiden Nichtannahmebeschlüsse
- Zum Beschluss vom 5. Februar 2020, die Duale Hochschule Baden-Württemberg betreffend
- Zum Beschluss vom 6. März 2020, die Medizinische Hochschule Hannover betreffend
III. Zusammenfassende Bewertung der Nichtannahmebeschlüsse in ihrem Kontext
I. Vorgeschichte und Kontext der Entscheidungen
Seit den späten 1990er Jahren zielten Reformen des Hochschulorganisationsrechts darauf, die Autonomie der Hochschulen dem Staat gegenüber zu erweitern und gleichzeitig innerhalb der Hochschulen Kompetenzen bei einer gestärkten Hochschulleitung zu konzentrieren.1 Dies warf und wirft immer wieder neu die Frage auf, wie weit der Hochschulgesetzgeber dabei – sowohl auf der zentralen als auch auf der dezentralen Ebene (der Fakultäten bzw. Fachbereiche) – gehen und die Entscheidungsspielräume und Einflussmöglichkeiten des kollegialen Selbstverwaltungsorgans zugunsten einer monokratischen oder ebenfalls kollegialen, aber deutlich kleineren Hochschul- oder Fakultätsleitung beschneiden darf.2
Mit zwei Nichtannahmebeschlüssen vom 5. Februar3 und vom 6. März 20204 setzt das Bundesverfassungsgericht eine Reihe von Entscheidungen zu dieser Frage fort. Wesentliche Meilensteine waren die Beschlüsse über die Stärkung des Präsidenten und der Dekane im Brandenburgischen Hochschulgesetz von 2004 (BVerfGE 111, 333), über die Befugnisse des Dekanats nach dem Hamburgischen Hochschulgesetz von 2010 (BVerfGE 127, 87), über die Rechtsstellung des Fachbereichs- bzw. Fakultätsrats und des Senats an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) von 2014 (BVerfGE 136, 338) und über die Einsetzung einer vorübergehenden, nicht durch ein kollegiales Selbstverwaltungsorgan kontrollierten Leitung an der durch Fusion neugegründeten Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg von 2015 (BVerfGE 139, 148).5
In den drei zuletzt genannten Entscheidungen sah das Bundesverfassungsgericht die Wissenschaftsfreiheit durch zu weitgehende Befugnisse des Leitungsorgans verletzt. Die grundlegenden Weichenstellungen des Hochschulurteils6 ausbauend hielt es fest, dass die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) Hochschulen, ihre Untergliederungen und die einzelnen Träger der Wissenschaftsfreiheit vor hochschulorganisatorischen Entscheidungen schützt, die die Erfüllung ihrer Aufgabe, freie Wissenschaft ermöglichen oder zu betreiben, geRenate
Penßel
Zu den Anforderungen der Wissenschaftsfreiheit an die Rechtsstellung des kollegialen Selbstverwaltungsorgans — Anmerkungen zu den Nichtannahmebeschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 5.2. und 6.3.2020
1 Für einen Überblick über diese Entwicklung und ihre Hintergründe s. nur Löwer, Hochschulmedizinrecht nach der MHH-Entscheidung, WissR 48 (2015), 193 (201ff.); Sandberger, Die Neuordnung der Leitungsorganisation der Hochschulen durch die Hochschulrechtsnovellen der Länder, WissR 44 (2011), 118; ders., Neuere Entwicklungen im Hochschulverfassungs- und Hochschulrecht, 2009; Gärditz, Hochschulrecht und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 33ff.
2 Näher zu dieser Problematik s. (u.a.) auch Mager, Steuerung, Freiheit und Partizipation in der Hochschulorganisation, OdW 2019, 7; Groß, Kollegialprinzip und Hochschulselbstverwaltung, DÖV 2016, 449; Krausnick, Staat und Hochschule im Gewährleistungsstaat, 2012, S. 75ff., 442ff.; Burgi/Gräf, Das (Verwaltungs-)organisationsrecht der Hochschulen im Spiegel der neueren Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung, DVBl. 2010, 1125; Fehling, Neue Herausforderungen an die Selbstverwaltung in Hochschule und Wissenschaft, Die Verwaltung 35 (2002), 399 (416–420).
3 BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 5.2.2020, Az. 1 BvR 1586/14 – juris; auch abrufbar über die Homepage des Gerichts (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rk20200205_1bvr158614.html) und als BeckRS 2020, 4223.
4 BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 6.3.2020, Az. 1 BvR 2862/16 – juris; auch abrufbar über die Homepage des Gerichts (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/03/rk20200306_1bvr286216.html) und als BeckRS 2020, 7865.
5 Näher zu diesen Entscheidungen und der sich in ihnen vollziehenden Rechtsprechungsentwicklung s. z.B. anschaulich Mager (Fn. 2), 9–11; Löwer (Fn. 1), 204–219; Ennuschat, Das Hochschulorganisationsrecht nach der MHH-Entscheidung des BVerfG vom 24.6.2014, RdJB 2017, 34.
6 BVerfGE 35, 79.
Ordnung der Wissenschaft 2020, ISSN 2197–9197
2 5 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 0 ) , 2 5 3 — 2 6 0
7 BVerfGE 111, 333 (354f.).
8 BVerfGE 111, 333 (355f.).
9 So zumindest sinngemäß BVerfGE 136, 338 (364, Rn. 59). Die in
BVerfGE 111, 333 (356) formulierte Aussage, dass „kein Vorrang
von Kollegialorganen gegenüber monokratischen Leitungsorganen“
besteht, wird damit – zu Recht – ein Stück weit relativiert bzw.
präzisiert: BVerfGE 136, 338 (364, Rn. 60) spricht nun nur noch
davon, dass „kein grundsätzlicher Vorrang (plural zusammengesetzter)
Organe gegenüber den Leitungsorganen“ anzunehmen
sei. Ausführlicher zur Rolle der kollegialen Repräsentationsorgane
als „legitimatorische(n) Basisorgane(n) der Hochschule“ Gärditz
(Fn. 1), S. 535ff.
10 BVerfGE 127, 87 (117f.).
11 BVerfGE 136, 338 (365, Rn. 60).
12 In einem solchen engeren Sinne konnte BVerfGE 35, 79 (123)
durchaus noch verstanden werden, selbst wenn auch dort bereits
z.B. die „haushaltsmäßige Betreuung“ von Forschungsvorhaben
und Lehrveranstaltungen als „Forschung und Lehre unmittelbar
berührend“ und damit „wissenschaftsrelevant“ eingeordnet werden.
13 BVerfGE 136, 338 (371, Rn. 71).
14 BVerfGE 136, 338 (364, Rn. 58).
15 Zu dieser s. nur Mager (Fn. 2), 8f.
16 Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg,
14.11.2016, Az. 1 VB 16/15 – juris; auch veröffentlicht in LVerfGE 27,
31; VBlBW 2017, 61; WissR 2016, 302.
fährden können.7 Die Wissenschaftsfreiheit ist verletzt,
wenn eine Gesamtbetrachtung des hochschulorganisatorischen
Gefüges ergibt, dass die freie Forschung und
Lehre „strukturell gefährdet“ sind.8 Eine solche strukturelle
Gefährdung kann entstehen, wenn die zentrale Ebene
gegenüber der wissenschaftsnäheren dezentralen
Ebene zu sehr gestärkt wird. Oder sie kann entstehen,
wenn die Befugnisse monokratischer oder auch kollegialer
Leitungsorgane (Präsidium, Rektorat, Dekanat usw.)
zulasten des größeren, repräsentativeren kollegialen
Selbstverwaltungsorgans (Senat, Fachbereichs- bzw. Fakultätsrats)
zu sehr ausgeweitet werden. Denn ein breit
besetztes, kollegiales Selbstverwaltungsorgan kann sowohl
durch die in ihm versammelte wissenschaftliche
Kompetenz als auch durch die Pluralität seiner Zusammensetzung
die verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmung
der Träger der Wissenschaftsfreiheit grds.
besser sichern und vor wissenschaftsinadäquaten Entscheidungen
schützen, als kleine Leitungsorgane, die
sich umgekehrt durch die Fähigkeit zu effizienter Entscheidungsfindung
und eine größere Distanz zu einzelnen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auszeichnen.
9 In seiner Entscheidung zum Hamburgischen
Hochschulgesetz führte das Bundesverfassungsgericht
näher aus, wann eine solche „strukturelle Gefährdung“
der freien Wissenschaft vorliegt und konstatierte, dass
das hochschulorganisatorische Gesamtgefüge insbesondere
dann verfassungswidrig ist, „wenn dem Leitungsorgan
substantielle personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse
im wissenschaftsrelevanten Bereich zugewiesen
werden, dem mit Hochschullehrern besetzten
Gremium im Verhältnis hierzu jedoch kaum Kompetenzen
und auch keine maßgeblichen Mitwirkungs- und
Kontrollrechte verbleiben“. Zwar könne der Gesetzgeber
dem Leitungsorgan umfangreiche Kompetenzen in Bereichen
mit Wissenschaftsbezug einräumen. „Je stärker
(er) jedoch (…) das Leitungsorgan mit Kompetenzen
ausstattet, desto stärker muss er im Gegenzug die direkten
oder indirekten Mitwirkungs‑, Einfluss‑, Informations-
und Kontrollrechte der Kollegialorgane ausgestalten,
damit Gefahren für die Freiheit von Lehre und Forschung
vermieden werden“.10 Noch ein wenig konkreter
formulierte das Gericht in seiner Entscheidung zur Medizinischen
Hochschule Hannover, dass „je mehr, je
grundlegender und je substantieller wissenschaftsrelevante
personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse
dem kollegialen Selbstverwaltungsorgan entzogen und
einem Leitungsorgan zugewiesen werden, desto stärker
(muss) im Gegenzug die Mitwirkung des Selbstverwaltungsorgans
an der Bestellung und Abberufung dieses
Leitungsorgans und an dessen Entscheidungen ausgestaltet
sein“.11 Gleichzeitig stellte es klar, dass „wissenschaftsrelevante
Entscheidungen“ nicht nur solche sind,
die Forschung und Lehre unmittelbar betreffen,12 sondern
dass dazu auch die Planung der weiteren Entwicklung
einer Einrichtung, die Entscheidung über die von
ihr intern zu beachtenden Ordnungen sowie alle „den
Wissenschaftsbetrieb prägenden“ Entscheidungen über
die innere Organisation und – „angesichts der Angewiesenheit
von Forschung und Lehre auf Ausstattung mit
Ressourcen“13 – über den Haushalt gehören.14 Es erstreckt
den Einflussbereich der Wissenschaftsfreiheit
also explizit auch auf solche Entscheidungen, die nur
mittelbare Wirkungen auf Forschung und wissenschaftliche
Lehre entfalten, ohne dabei eine genaue Grenzziehung,
etwa im Sinne der traditionellen Unterscheidung
zwischen Staatsangelegenheiten, Selbstverwaltungsangelegenheiten
und Kooperationsangelegenheiten15
vorzunehmen.
Auch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit hatte sich
inzwischen mit dieser Thematik zu befassen: Mit Urteil
vom 14. November 201616 erklärte der Verfassungsgerichtshof
für das Land Baden-Württemberg die Bestimmungen
des Landeshochschulgesetzes (LHG BW) über
die Wahl und Abberufung der hauptamtlichen Rektoratsmitglieder
für mit der Landesverfassung unvereinPenßel
· Wissenschaftsfreiheit und die Rechtsstellung 2 5 5
17 Vgl. dazu die Entscheidungsbesprechungen von Fehling, OdW
2017, 63, Goerlich/Sandberger, Zurück zur Professoren-Universität?
– Neue Leitungsstrukturen auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand,
DVBl. 2017, 667; Ennuschat (Fn. 5), 43f.; Hufen, JuS 2017, 279;
Jacobsen, VBlBW 2017, 69.
18 BVerfGE 35, 79 (126f.).
19 Vgl. z.B. BVerfGE 136, 338 (381, Rn. 95), wo es lediglich heißt,
dass es „auf erhebliche Bedenken“ stoße, wenn die Mehrheit für
die Abberufung von Mitgliedern des Leitungsorgans „von den
Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen allein nicht erreicht
werden kann.“ Auch in BVerfGE 127, 87 (130f.) wird zwar problematisiert,
dass der Vorschlag des Fakultätsrats zur Abwahl des
Dekans an eine ¾ Mehrheit gebunden ist, die von der Gruppe der
Hochschullehrer allein nicht erreicht werden kann. Die Unzulänglichkeit
dieser Regelung wird aber letztlich nicht (bereits) darauf
gestützt, sondern damit begründet, dass der Fakultätsrat nur das
Recht hatte, die Abwahl vorzuschlagen, während die Abwahl selbst
dem Präsidium mit Zustimmung des Hochschulrats übertragen
war. In BVerfGE 111, 333 (364) wird es dagegen als verfassungskonform
gewertet, wenn das kollegiale Selbstverwaltungsorgan
die Hochschulleitung mit 2/3 Mehrheit abwählen kann, ohne zu
problematisieren, ob diese Mehrheit von den darin vertretenen
Hochschullehrenden erreicht werden kann (was nicht der Fall ist).
S. dazu auch Krausnick (Fn. 2), S. 76.
20 BVerfGE 35, 79.
21 Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg,
14.11.2016, Az. 1 VB 16/15 – juris, Rn. 131.
22 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Unterscheidung s.
bar17. Dabei stellte er die Frage ins Zentrum, ob nicht
nur das kollegiale Selbstverwaltungsorgan als solches,
sondern auch die in ihm vertretenen Hochschullehrenden
– als die nach Maßgabe des Hochschulurteils zentralen
Träger der Wissenschaftsfreiheit18 – hierbei besondere
Rechte haben müssten. Während das Bundesverfassungsgericht
diese Frage lediglich streifte, ohne sie als
entscheidungserheblich einer klaren Lösung zuzuführen,
19 leitete der baden-württembergische Verfassungsgerichtshof
konkrete Mitwirkungsbefugnisse gerade der
Gruppe der Hochschullehrenden innerhalb des Selbstverwaltungsorgans
aus den Prämissen des Hochschulurteils20
ab: Er hielt fest, dass „(h)insichtlich der Wahl der
Mitglieder eines Leitungsorgans (…) ein hinreichendes
Mitwirkungsniveau gewährleistet (ist), wenn ein Selbstverwaltungsgremium
mit der Stimmenmehrheit der gewählten
Vertreter der Hochschullehrer die Wahl eines
Mitglieds, das das Vertrauen dieser Gruppe nicht genießt,
verhindern kann“ und dass „(d)ie in ein Selbstverwaltungsorgan
gewählten Vertreter der Hochschullehrer
(…) sich von dem Mitglied eines Leitungsorgans, das ihr
Vertrauen nicht mehr genießt, trennen können (müssen),
ohne im Selbstverwaltungsgremium auf eine Einigung
mit den Vertretern anderer Gruppen und ohne auf
die Zustimmung eines weiteren Organs oder des Staates
angewiesen zu sein“.21 Dabei arbeitete er heraus, dass
diese besonderen Rechte grds. nur „gewählten Vertretern
der Hochschullehrer“, also nicht Hochschullehrern
zustehen, die dem Selbstverwaltungsorgan kraft Amtes
angehören,22 und stützte auf diese Berechnungsregel seine
Verwerfung der Regelung über die Wahl der Rektoratsmitglieder
als verfassungswidrig. Ohne dies ganz
eindeutig und unabweislich zu formulieren, klingt in
dem Urteil zumindest an, dass diese Anforderungen
nicht unterschritten werden dürfen, wenn dem Leitungsorgan
ein starkes kompetenzrechtliches Übergewicht
zukommt.
II. Inhalt und Bedeutung der beiden Nichtannahmebeschlüsse
An diese Rechtssprechungslinie knüpfen die beiden im
Frühjahr erlassenen Nichtannahmebeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts
vom 5. Februar und 6. März 2020
an:
Der Nichtannahmebeschluss aus dem Februar setzt
sich mit den Regelungen des baden-württembergischen
Hochschulgesetzes über die Wahl und Abwahl von Rektoratsmitgliedern
auseinander, die teilweise infolge der
Entscheidung des Landesverfassungsgerichtshofs neu
gefasst worden waren. Darüber hinaus griffen die ihm
zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerden Spezialbestimmungen
an, die sich mit der Verwaltung der dezentral
in Studienakademien gegliederten „Dualen Hochschule
Baden-Württemberg“ befassen und dem Präsidium
der zentralen Ebene weitgehenden Zugriff auf die
Verwaltung der Studienakademien sichern. Der Beschluss
hat damit jedenfalls z.T. die Sondersituation dieser
speziellen, aus Berufsakademien hervorgegangenen
und der „dualen Ausbildung“ dienenden Hochschulform
zum Gegenstand.
Gegenstand des Nichtannahmebeschlusses aus dem
März sind die Änderungen der Bestimmungen des Niedersächsischen
Hochschulgesetzes über die Medizinische
Hochschule Hannover (MHH), die der Umsetzung
der MHH-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
aus dem Jahr 2014 dienten.
In beiden Verfahren war damit u.a. zu beantworten,
ob die durch die vorausgehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
bzw. des baden-württembergischen
Landesverfassungsgerichtshofs angestoßenen Gesetzeskorrekturen
ausreichten, um die aus
Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG abzuleitenden Mitwirkungsrechte
des kollegialen Selbstverwaltungsorgans zu wahren.
2 5 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 0 ) , 2 5 3 — 2 6 0
nur Goerlich/Sandberger (Fn. 17), 670; 672; Fehling (Fn. 17), S. 68f.
m.w.N.
23 Bei den Passagen in früheren Entscheidungen, auf die hierbei rekurriert
wird, handelt es sich um solche, in denen zwar von den
besonderen Rechten der „Träger der Wissenschaftsfreiheit“ die
Rede ist, die aber die hier aufgeworfene Frage nicht explizit behandeln
und entscheiden.
24 Allg. M., s. nur BVerfGE 35, 79 (125).
25 Allerdings wird wiederum an anderer Stelle die Gruppe der
„Grundrechtsberechtigten“ – entgegen dem Hochschulurteil – mit
derjenigen der „Hochschullehrer“ gleichgesetzt, s. Rn. 27 a.E. bei
Bezugnahme auf § 10 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LHG BW.
26 S. die Umschreibung der Aufgabenstellung der verschiedenen
Hochschultypen in § 2 Abs. 1 S. 3 LHG BW. - Zum Beschluss vom 5. Februar 2020, die Duale Hochschule
Baden-Württemberg betreffend
Bemerkenswert ist zunächst, dass das Bundesverfassungsgericht
im Rahmen der Erörterung der „grundsätzlichen
Bedeutung“ der Verfassungsbeschwerde
(§ 93a Abs. 2 a BVerfGG) (Rn. 8) festhält, dass offenbleiben
könne, ob dem baden-württembergischen Verfassungsgerichtshof
darin zuzustimmen sei, dass zur Gruppe
der „Hochschullehrenden“ in Selbstverwaltungsgremien
nur die gewählten Repräsentanten dieser Gruppe
zu zählen seien. Gleichzeitig bleibt es dabei nicht stehen,
sondern ergänzt in einem knappen Halbsatz unter
Bezugnahme auf die Formulierungen vorausgehender
Entscheidungen, dass „für die Beurteilung der nötigen
Mitwirkung (…) der Einfluss der wissenschaftlich Tätigen
beziehungsweise der Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler insgesamt (Hervorheb. d. Verf.) entscheidend“
sei.23 Diese Aussage kann kaum anders interpretiert
werden, als dass damit Sonderrechten gerade der
„Hochschullehrenden“ im Sinne des Hochschulurteils
eine Absage erteilt und weitere wissenschaftlich Tätige
(wozu insbesondere die Wissenschaftlichen Mitarbeiter
gehören24) in den Kreis der besonders geschützten Personen
einbezogen werden. Auch wenn das Gericht mit
dieser Formulierung nicht explizit festlegt, sondern als
Frage im Raum stehen lässt, ob „Mitglieder kraft Amtes“
als „wissenschaftlich Tätige“ bzw. „Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler“ anzusehen sind, hat es damit die
zweite, durch den baden-württembergischen Verfassungsgerichtshof
aufgeworfene Rechtsfrage nach einer
Sonderrolle der Gruppe der „Hochschullehrenden“ für
die Wahl und Abwahl eines mit weitreichenden wissenschaftsrelevanten
Befugnissen ausgestatteten Leitungsorgans
an vergleichsweise versteckter Stelle mit knappest
möglichen Worten negativ beantwortet. Eine Stufung
zwischen der „Gruppe der Hochschullehrenden“ und
anderen „wissenschaftlich Tätigen“ innerhalb des Selbstverwaltungsorgans
erfolgt nicht. Stattdessen ist an anderer
Stelle einheitlich von den Mitwirkungsrechten der
„Gruppe der Grundrechtsträgerinnen und Grundrechtsträger“
bei der Kreation der Leitungsorgane die Rede
(Rn. 19).25
Im nachfolgenden, zentralen Entscheidungsteil führt
das Gericht aus, dass die Annahme der Verfassungsbeschwerde
nicht zur Durchsetzung der Wissenschaftsfreiheit
angezeigt sei (§ 93a Abs. 2 b BVerfGG), weil sie – soweit
zulässig – unbegründet ist.
Obwohl die Entscheidung hier die in der vorausgehenden
Rechtsprechung entwickelten Grundsätze anwendet
und ihr Ergebnis insofern nicht überrascht, enthält
sie trotzdem – auch für das Verständnis der Wissenschaftsfreiheit
– bedeutsame, bisher noch nicht getroffene
Aussagen. So wird z.B. festgehalten, dass die
Beschwerdeführer, Professoren an der Dualen Hochschule
Baden-Württemberg, Träger des Grundrechts der
Wissenschaftsfreiheit seien, da sie der Gesetzgeber damit
betraut habe „wissenschaftlich eigenständig zu forschen
und zu lehren“ (Rn. 13). Die Frage, ob dies evtl. dadurch
ausgeschlossen wird, dass Forschung an der Dualen
Hochschule Baden-Württemberg gem. § 2 Abs. 1 S. 3
Nr. 5 LHG BW nur als „kooperative Forschung“ im Zusammenwirken
mit einer Ausbildungsstätte vorgesehen
ist, hat das Bundesverfassungsgericht damit implizit
(ohne explizite Erörterung dieser im Zuge des Verfahrens
von den Parteien problematisierten Bestimmung)
verneint. Es hat damit die Anforderungen an die „Eigenverantwortlichkeit“
der den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit
eröffnenden Tätigkeit so zurückgenommen,
dass auch Forschung in obligatorischer Kooperation
mit Anderen davon erfasst wird.
Bei den folgenden Ausführungen dazu, ob die Wissenschaftsfreiheit
der Beschwerdeführer durch die bestehenden
Organisationsregeln verletzt, weil „strukturell
gefährdet“ wird, fällt auf, dass das Gericht den Schutz
der Wissenschaftsfreiheit bei seiner Bewertung des organisationsrechtlichen
„Gesamtgefüges“ nicht danach abstuft,
dass die Beschwerdeführer durch den Gesetzgeber
einen weniger eigenverantwortlichen Auftrag zu wissenschaftlicher
Forschung und Lehre eingeräumt bekommen
haben, als dies etwa für Universitätsprofessoren der
Fall ist und dass es sich bei der Dualen Hochschule um
eine Hochschulform handelt, in der der Auftrag zur Forschung
gegenüber dem zur praxisbezogenen Ausbildung
den im Vergleich der Hochschularten geringsten Stellenwert
hat.26 Das Gericht hat damit das Konzept eines im
Rahmen der Güterabwägung (zwischen der Wissenschaftsfreiheit
einerseits und dem Erfordernis der Funktionsfähigkeit
der Hochschule und den grundrechtlich
geschützten Ausbildungsinteressen der Studierenden
Penßel · Wissenschaftsfreiheit und die Rechtsstellung 2 5 7
27 Für die dezentrale Ebene, auf der dem örtlichen Senat in gewisser
Hinsicht eine stärkere Stellung zukommt als dem Senat auf zentraler
Ebene, gelangt der Beschluss konsequenter- und gut nachvollziehbarer
Weise zu einem entsprechenden Ergebnis.
28 S. BVerfGE 136, 338 (371f., Rn. 70–74). Zu diesen und ihrer Interpretation
im Schrifttum s. nur Ennuschat (Fn. 5), S. 42; Groß (Fn.
2), S. 453 m.w.N.
29 Dazu gehören insbesondere das neu eingeführte, wenngleich
unter dem Vorbehalt des „Einvernehmens des Vorstandes“
stehende Recht, die Entwicklungsplanung zu beschließen
(§ 41 Abs. 2 NHG), und das neu eingeführte „Einvernehmenserfordernis“
bei Vorstandsentscheidungen mit „grundsätzlicher
Bedeutung“ für Forschung und Lehre, s. § 63e Abs. 4 S. 2 Niedersächsisches
Hochschulgesetz (NHG). Näher BVerfG, Nichtannahmebeschl.
v. 6.3.2020, Rn. 20–24.
30 Dort wird der wesentliche Gehalt der Entscheidung wie folgt
zusammengefasst: „Der Gesetzgeber hat dem Vorstand der
Hochschule zwar weitreichende wissenschaftsrelevante Entscheidungsbefugnisse
übertragen (aa), und der Gesetzgebungs- und
Beratungsdienst des Niedersächsischen Landtags hatte deshalb insoweit
zutreffend auf verfassungsrechtliche Bedenken hingewiesen
(vgl. LTDrucks 17/4810, S. 16 f.). Die Entscheidungsbefugnisse des
akademischen Senats sind im Gesamtgefüge aber so ausgestaltet,
dass jedenfalls ein maßgeblicher Einfluss auf Wahl und Abwahl
des Vorstands als Leitung der Hochschule gesichert ist (bb).“
31 S. dazu § 16 Abs. 3 S. 1, § 41 Abs. 4 NHG; Heun/Lange, in: von
Coelln/Pautsch (Hg.), BeckOK Hochschulrecht Niedersachsen (16.
Ed., Stand: 1.12.2019), § 41 Rn. 16.
andererseits) nach Hochschularten abgestuften Schutzes
der Wissenschaftsfreiheit, das im Zuge des Verfahrens
thematisiert worden war, zumindest nicht ausdrücklich
aufgegriffen.
Vielmehr beschränkt sich der Nichtannahmebeschluss
darauf, in Anwendung der in früheren Entscheidungen
entwickelten Maßstäbe festzuhalten, dass angesichts
der Erforderlichkeit der Zustimmung des Senats
zum Struktur- und Entwicklungsplan der Hochschule
(§ 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 LHG BW) und der Bindung weiterer,
dem Leitungsorgan überlassener Entscheidungen an
den Struktur- und Entwicklungsplan, angesichts des
Umfangs der beim Senat verbleibenden Entscheidungsbefugnisse,
seiner Rechte auf Information durch das Präsidium,
und schließlich aufgrund der infolge der Entscheidung
des Landesverfassungsgerichtshofs eingeführten
Sperrminorität der Gruppe der
Hochschullehrenden bei der Wahl der Präsidiumsmitglieder
sowie des eigenständigen Abwahlrechts dieser
„Gruppe“, das organisationsrechtliche „Gesamtgefüge“
zu keiner „strukturellen Gefährdung“ der Wissenschaftsfreiheit
führe.27 Auch strenger interpretierbare
Passagen des MHH-Beschlusses28 präzisierend hält er
außerdem fest, dass es im Rahmen einer „Gesamtwürdigung“
kompensierbar ist, wenn der Senat bezüglich des
gemäß der bisherigen Rechtsprechung eminent „wissenschaftsrelevanten“
Haushaltsvoranschlags oder Wirtschaftsplans
nur ein Recht zur „Stellungnahme“ hat
(s. § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 4), (Rn. 24).
Eine Vertiefung der durch den Verfahrensstoff aufgeworfenen
Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen
es eine Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit bedeuten
kann, dass das zentrale Leitungsorgan der Dualen Hochschule
die Leitung der Studienakademien (bei Vorliegen
von Gründen) an sich ziehen kann (s. § 16 Abs. 3 S. 2 Nr. 15
i.V.m. Abs. 8 LHG BW), wird mit dem Hinweis vermieden,
dass bei sachgerechter Auslegung der einschlägigen
Bestimmungen eine „zentrale Leitung“ der Studienakademien
nicht vorliege (Rn. 32).
Insgesamt betrachtet lässt sich konstatieren, dass es
das Bundesverfassungsgericht in dieser sich an die des
Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg
anschließenden Entscheidung vermeidet, den
durch diesen formulierten konkreteren, weniger Spielraum
für eine individuelle Gesamtabwägung lassenden
Leitlinien (insbesondere über eine Abwahlmöglichkeit
gerade durch die „Hochschullehrenden“) ausdrücklich
zuzustimmen, um die Bestimmung der Mindestbefugnisse
des kollegialen Selbstverwaltungsorgans einer freieren
Gesamtwürdigung offenzuhalten. - Zum Beschluss vom 6. März 2020, die Medizinische
Hochschule Hannover betreffend
Diesen Eindruck unterstreicht auch der Beschluss, die
Verfassungsbeschwerde gegen die neugefassten Regelungen
über die Medizinische Hochschule Hannover
nicht zur Entscheidung anzunehmen. Auch in ihm
kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis,
dass der Gesetzgeber von seinem ihm zustehenden
Gestaltungsspielraum in verfassungskonformer Weise
Gebrauch gemacht hat und die erneuerte Organisationsstruktur
keine „strukturelle Gefährdung“ der Wissenschaftsfreiheit
(mehr) begründet.
Sein Schwerpunkt liegt dabei gerade auf der Frage, ob
angesichts zwar gestärkter, aber immer noch — verglichen
mit denen des Vorstands geringer eigener Entscheidungs-
und Mitwirkungsbefugnisse des kollegialen
Selbstverwaltungsorgans29 seine Einflussmöglichkeiten
auf die Wahl und Abwahl der Mitglieder des Vorstands
ausreichen, um das genannte Defizit zu kompensieren (s.
Rn. 1130).
Das Bundesverfassungsgericht wertet es dabei als
ausreichend, dass der Senat mit ¾ seiner Mitglieder die
Entlassung von Vorstandsmitgliedern vorschlagen kann
(s. § 40 S. 1 NHG), (Rn. 26). Nicht problematisiert wird
dabei, dass angesichts der Zusammensetzung des Senats31
die Gruppe der Hochschullehrenden für sich einen
solchen Vorschlag nicht erzwingen kann, und nur
2 5 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 0 ) , 2 5 3 — 2 6 0
32 BVerfGE 136, 338 (381, Rn. 95). 33 Vgl. dazu nur BVerfGE 35, 79 (112ff.); Gärditz (Fn. 1), S. 300ff.
m.w.N.
kurz erwähnt, dass angesichts des überwiegend – wenn
auch nicht ausnahmslos – gegebenen Letztentscheidungsrechts
des Senats (§ 40 S. 4 NHG) das Erfordernis
der Bestätigung durch den Hochschulrat (§ 40 S. 2 NHG)
sowie die Zuständigkeit des Ministeriums für die Durchführung
der Entlassung (§ 48 Abs. 1 NHG) – wegen dessen
verfassungsrechtlicher Bindung – unschädlich sind
(Rn. 27, 28). War im MHH-Beschluss noch die Rede davon,
dass „es auf erhebliche Bedenken (stößt), wenn (die
qualifizierte Abwahlmehrheit) von den Wissenschaftlern
und Wissenschaftlerinnen allein nicht erreicht werden
kann“32, fehlt in der erneuten Bewertung des insofern
unverändert gebliebenen § 40 S. 1 NHG eine Auseinandersetzung
damit, ob die erforderliche Mehrheit entweder
durch die Gruppe der „Hochschullehrer“, oder
stattdessen – da dies eindeutig nicht der Fall ist – durch
die Gruppe aller „Träger der Wissenschaftsfreiheit“ erreicht
werden kann oder nicht. Hinsichtlich des Einflusses
auf die Wahl lässt es das Bundesverfassungsgericht
(in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung)
genügen, dass sie auf Vorschlag des Senats erfolgt
(§ 63c Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 38 Abs. 2 S. 1 NHG), auch wenn
die Entscheidung über die Bestellung dem Ministerium
obliegt (§ 38 Abs. 2 S. 6 NHG), (Rn. 35).
Während das Mitwirkungsrecht der Gruppe der
Hochschullehrenden bei der Wahl der Vorstandsmitglieder
auch den durch das Landesverfassungsgericht Baden-
Württemberg formulierten Anforderungen entspricht,
weil diese durch ihre Mehrheit im Senat (§ 16
Abs. 3 S. 1 NHG) einen entsprechenden Wahlvorschlag
verhindern können, bleibt ihr Einfluss auf die Abberufung
von Mitgliedern hinter diesen Anforderungen zurück:
Ohne Mitwirkung weiterer Gruppen und Stellen
kann die Gruppe der „Hochschullehrer“ eine Abberufung
nicht erzwingen.
III. Zusammenfassende Bewertung der Nichtannahmebeschlüsse
in ihrem Kontext
Die aufgeführten, in den Beschlüssen „versteckten“,
durchaus grundlegenden Entscheidungen – einschließlich
der Ablehnung der durch den baden-württembergischen
Verfassungsgerichtshof formulierten Anforderungen
an das Abberufungsrecht der „Hochschullehrenden“
im kollegialen Selbstverwaltungsorgan – fordern eine
Stellungnahme heraus.
Dabei ist dem die Duale Hochschule Baden-Württemberg
betreffenden Nichtannahmebeschluss entschieden
darin zuzustimmen, dass die gesetzgeberische Entscheidung,
die Duale Hochschule mit einem – wenngleich
eingeschränkten – Forschungs- und wissenschaftlichen
Lehrauftrag als „Hochschule“ auszugestalten, den
Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit
(Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) eröffnet. Insbesondere der dieser
Hochschule übertragene Auftrag zu „kooperativer Forschung“
(§ 2 Abs. 1 Nr. 5 LHG BW) muss daher so ausgelegt
werden, dass er die entsprechend beauftragten
Hochschullehrenden zu einer dem verfassungsrechtlichen
Wissenschaftsbegriff33 tatsächlich unterfallenden
Tätigkeit ermächtigt und verpflichtet.
Schwerer fällt die Bewertung der Leitlinien für einen
hinreichenden Einfluss des kollegialen Selbstverwaltungsorgans,
die in den beiden Beschlüssen in weitgehender
Übernahme der bisherigen Rechtsprechung fortgeführt
werden.
Zuzustimmen ist der – auch durch den baden-württembergischen
Verfassungsgerichtshof aufgegriffenen –
Grundannahme, dass der „hinreichende Einfluss“ des
kollegialen Selbstverwaltungsorgans prinzipiell durch
eine „Gesamtabwägung“ festzustellen, und Zurückhaltung
dabei geboten ist, feste Vorgaben für eine Mindestmitwirkung
in konkreten Einzelfragen zu formulieren.
Eine solche moderate, für unterschiedliche Lösungen offene
Auslegung der organisatorischen Anforderungen
der Wissenschaftsfreiheit achtet den Gestaltungsspielraum
des mit stetig wechselnden tatsächlichen Herausforderungen
konfrontierten, demokratisch legitimierten
Gesetzgebers, der (ebenfalls) durch das Verfassungsrecht
vorgegeben ist.
Zuzustimmen ist außerdem der beiden Nichtannahmebeschlüssen
genauso wie den vorausgehenden Entscheidungen
zugrundeliegenden Prämisse, dass alleine
ein maßgeblicher Einfluss auf Wahl und Abwahl des Leitungsorgans
(selbst wenn er so weit geht, wie der badenwürttembergische
Verfassungsgerichtshof fordert) nicht
genügt, um eine „strukturelle Gefährdung“ der Wissenschaftsfreiheit
auszuschließen, sondern dass weitere eigenständige
Entscheidungs- und Mitentscheidungsbefugnisse,
sowie hinreichende Informations- und Fragerechte
des kollegialen Selbstverwaltungsorgans hinzukommen
müssen. Der Bedeutung des kollegialen
Repräsentativorgans für die organisatorische Absicherung
der Wissenschaftsfreiheit (s. dazu oben S. 254) würde
es nicht gerecht, es im Wesentlichen auf die Vermittlung
personeller Legitimation zu beschränken.
Gleichzeitig zementieren die beiden Nichtannahmebeschlüsse
jedoch die schon in den ihnen zugrunde liegenden
Entscheidungen vorgezeichnete, beträchtliche
Penßel · Wissenschaftsfreiheit und die Rechtsstellung 2 5 9
34 S. auch Würtenberger, Zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen
der Hochschulleitung im Landeshochschulgesetz von Baden-
Württemberg, OdW 2016, 1 (4): „Was ein hinreichendes Maß an
Mitwirkung der wissenschaftlich Tätigen an wissenschaftsrelevanten
Entscheidungen von Leitungsorganen (usw.) (ist), ist einer
weiteren Konkretisierung bedürftig. Nur dadurch lässt sich jene
Rechtssicherheit stiften, an der sich der Hochschulgesetzgeber orientieren
kann.“
35 S. Nichtannahmebeschl. v. 5.2.2020, Rn. 24.
36 S. Nichtannahmebeschl. v. 6.3.2020, Rn. 26–28.
37 Ebd. Rn. 11.
38 So auch Krausnick (Fn. 2), S. 445ff.; zustimmend wohl auch Ennuschat
(Fn. 5), 44.
39 Zu deren Betrauung mit Staats- genauso wie Selbstverwaltungsaufgaben
und ihren unterschiedlichen Funktionen s. nur BVerfGE
111, 333 (362); Gärditz (Fn. 1), S. 536ff.
40 S. Fn. 25.
41 Vgl. BVerfGE 139, 148 (188, Rn. 78).
42 So wurden z.B. in der Literatur bereits Versuche unternommen,
das notwendige Ausmaß der sachlichen Mitentscheidungsbefugnisse
des kollegialen Selbstverwaltungsorgans zu systematisieren
(vgl. Mager Fn. 2, 11ff.). Auch solche, der Herstellung von Rechtssicherheit
dienliche Überlegungen hat das Bundesverfassungsgericht
in beiden Entscheidungen jedenfalls nicht ausdrücklich aufgegriffen
bzw. angestellt.
Unbestimmtheit: Wann in der zwingend durchzuführenden
„Gesamtwürdigung“ die Schwelle der „strukturellen
Gefährdung“ der Wissenschaftsfreiheit erreicht
ist, weil kein „hinreichender Einfluss der Träger der Wissenschaftsfreiheit“
mehr gegeben ist, bleibt in vielen
Punkten vage.34 Die Feststellung, dass entgegen früherer,
strenger anmutender Andeutungen eine Beschränkung
des Selbstverwaltungsorgans auf eine bloße „Stellungnahme“
zu Haushaltsvoranschlag oder Wirtschaftsplan35
einer Kompensation genauso zugänglich ist wie die Einschränkung
des Abberufungsrechts durch das Erfordernis
einer ¾ Mehrheit und die Mitwirkung von Hochschulrat
und Ministerium36 (trotz nach wie vor weitgehender
„wissenschaftsrelevanter“ Entscheidungsbefugnisse
des Leitungsorgans),37 verstärkt den Eindruck von
Beliebigkeit.
Auch wenn die Ergebnisse der beiden Entscheidungen,
genau wie die der ihnen vorausgehenden, keineswegs
unnachvollziehbar sind, sondern im Großen und
Ganzen überzeugen, und außerdem für sich in Anspruch
nehmen können, dem Hochschulgesetzgeber die
notwendige „Flexibilität“ zu belassen, kann man ihnen
anlasten, es versäumt zu haben, den v.a. dem badenwürttembergischen
Verfahren zugrundeliegenden
Rechtsstoff und die vorausgehende Entscheidung des baden-
württembergischen Landesverfassungsgerichtshofs
zu nutzen, um für ein weniger an „Vagheit“ und ein größeres
Maß an Rechtssicherheit für den Hochschulgesetzgeber
zu sorgen:
Aus Sicht der Verfasserin überzeugt die durch den
baden-württembergischen Verfassungsgerichtshof in
seinen Leitsätzen 4 und 5 angelegte Schlussfolgerung aus
dem Hochschulurteil, dass jedenfalls für den Fall, dass
einem schmal besetzten Leitungsorgan signifikante wissenschaftsrelevante
Befugnisse zur eigenständigen (d.h.
nicht mitwirkungsgebundenen) Erledigung übertragen
wurden, den in besonderem Maße zur Verwirklichung
der Wissenschaftsfreiheit berufenen „Hochschullehrenden“
zumindest ein Vetorecht bei der Bestellung der Leitungspersonen
und die Möglichkeit zu deren Abberufung
verbleiben muss.38 Denn auf diese Weise wird sichergestellt,
dass das Handeln der betreffenden Leitungspersonen,
das angesichts der vielfältigen Zwecke
und Aufgaben von Hochschulleitung39 gerade nicht
prinzipiell und primär auf die Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit
und Repräsentation der Träger der
Wissenschaftsfreiheit ausgelegt sein kann und muss, zumindest
das Vertrauen und die Billigung derjenigen genießt,
die in der Hochschulorganisation als die maßgeblichen
Sachwalter der Wissenschaftsfreiheit auftreten.
Obwohl zu begrüßen ist, dass das Bundesverfassungsgericht
in seiner Distanzbekundung zu dieser Leitlinie die
Wissenschaftsfreiheit anderer Mitglieder des kollegialen
Selbstverwaltungsorgans, insbesondere die der wissenschaftlichen
Mitarbeiter, ernst nimmt, gelingt es ihm mit
der im Nichtannahmebeschluss vom 5. Februar verwendeten
und zudem – wie oben dargelegt40 – keineswegs
konsequent gehandhabten Umschreibung der maßgeblichen
Entscheidungsträger als „wissenschaftliche Tätige “
nicht, die überzeugend begründete, auch in jüngerer Zeit
wieder aufgegriffene und erläuterte41 Gruppendifferenzierung
des Hochschulurteils durch eine ebenso überzeugende
und klar handhabbare zu ersetzen.
Auch weitere, v.a. im die Duale Hochschule Baden-
Württemberg betreffenden Verfahren angelegte Präzisierungsgelegenheiten,
z.B. die Entscheidung der Frage, unter
welchen Voraussetzungen im Selbstverwaltungsorgan
vertretene Träger von Leitungsämtern der Gruppe
der Hochschullehrenden zugerechnet werden können,
der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Leitung
der dezentralen Ebene auf die zentrale Ebene gehoben
werden darf, oder der Frage, ob eine in geringerem Maße
mit einem eigenständigen Forschungsauftrag ausgestatte
Hochschulform einer zentralistischeren Leitung zugänglich
ist als andere Hochschulformen (insbesondere Universitäten),
hat das Bundesverfassungsgericht in seinen
Nichtannahmebeschlüssen ungenutzt gelassen.
Die Beschlüsse geben deshalb Anlass, auf die – der
Rechtssicherheit dienende – Möglichkeit solcher Präzisierungen
hinzuweisen.42
2 6 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 0 ) , 2 5 3 — 2 6 0
43 Vgl. nur BVerfGE 126, 1 Rn. 55.
44 Ebd.; s. außerdem (sinngemäß) BVerfGE 35, 79 (125f.).
Gleichzeitig liefern die hier zueinander in Beziehung gesetzten
Entscheidungen ein Beispiel dafür, dass es der
Landesverfassungsgerichtsbarkeit möglich ist, neben der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eigene
Akzente in der Abwägung verfassungsrechtlicher
Rechtsgüter zu setzen, gerade wenn sie sich auf eine eigenständige
Normgrundlage stützten kann, wie es in Baden-
Württemberg mit Art. 20 der Landesverfassung,
und genauso in vielen anderen Landesverfassungen in
Gestalt von neben der „Wissenschaftsfreiheit“ stehenden
Selbstverwaltungsgarantien für die Hochschulen der Fall
ist. Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht seine im
Beschluss vom 5. Februar angedeutete, großzügigere Linie
beibehalten oder sogar präzisieren sollte, bleibt gem.
Art. 142 GG Raum für eine strengere Auslegung der Wissenschaftsfreiheit
und des Selbstverwaltungsrechts der
Hochschulen durch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit,
solange diese nicht gegenläufigen Rechtspositionen
der Bundesverfassung, als die das Bundesverfassungsgericht
in seiner bisherigen Rechtsprechung die Funktionsfähigkeit
der Hochschulen43 und die Ausbildungsfreiheit
der Studierenden (aus Art. 12 GG)44 herausgearbeitet
hat, unvertretbar zuwiderläuft.
Renate Penßel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Lehrstuhl für Kirchenrecht, Staatsund
Verwaltungsrecht von Prof. Dr. Heinrich
de Wall (Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg)