Übersicht
I. Einleitung
II. EU-Recht als Maßstab für IT-basierte Überwachung
- Hinführung
- Vorhandensein eines Gestaltungsspielraums
- Gestaltungsspielraum bei Einwilligung?
- Inkongruenzen des EU-rechtlichen und des nationalen Grundrechtsschutzes
a. Gebot der Chancengleichheit
b. Unverletzlichkeit der Wohnung - Ergebnisse
III. Strukturelle Überlegungen zum Prüfungsrecht - Grundlagen der Strukturbildung
- Typologische Analyse der neuen Online-Prüfungsarten
a. Erarbeitung faktischer Typenbildung für Online-Prüfungen
b. Bewertung faktischer Strukturen nach rechtlichen Merkmalen
c. Einordnung in das geltende rechtliche Regime
d. Ergebnisse - Begriffliche Fragen
a. Begriff der „Prüfungsform“ als Oberbegriff?
b. Bezeichnung der Klausur als „Aufsichtsarbeit“?
c. Benennung der IT-basiert durchgeführten Prüfungs-
gestaltungen
IV. Ergebnisse
I. Einleitung
Nach einer vorübergehenden Entspannung über den Sommer 2020 hat sich die Situation im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie über den Winter 2020/21 wieder drastisch verschärft. Infektionszahlen haben sich erheblich gesteigert und zu einem zweiten sog. Lock-down geführt. Diese Lage lässt Prüfungen im anstehenden Prüfungszeitraum zwar nicht gänzlich unmöglich erscheinen. Eine Umstellung auf IT-basierte Prüfungen (Online-Prüfungen) scheint aber nahezu unausweichlich zu sein, um dem Anspruch der Studierenden auf die Durchführung genügen zu können.1 Das Recht der Online-Prüfungen ist deshalb ebenso relevant wie volatil und wurde folgerichtig bereits von einigen namhaften Autoren adressiert.2
Gleichzeitig steht zu erwarten, dass Online-Prüfungen auch nach dem Abebben der Pandemie zumindest zu einem gewissen Grad Bestandteil der modernen deutschen Hochschullandschaft bleiben werden. Erfahrungen, Judikate und Netzwerke werden das Recht der Online-Prüfungen erweitern und verfeinern, es wird jedoch nicht verschwinden.
Dieser Entwicklung entsprechend wird sich Teil 2 dieses Praxisberichts mit allgemeinen Fragen des Rechts der Online-Prüfungen befassen. Zunächst soll hierbei die Anwendbarkeit des EU-Rechts im Rahmen der IT-basierten Überwachung beleuchtet werden (II.). Es schließen sich einige begriffliche und typologische Erwägungen im Zusammenhang mit Prüfungen an (III.). Eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (IV.) rundet die Darstellung ab. Teil 3 gestaltet diese Fragestellungen dann konkret aus stellt diese in Verbindung mit Aspekten der Prüfungsdidaktik interdisziplinär dar.
II. EU-Recht als Maßstab für IT-basierte Überwachung - Hinführung
Die weitgehende Schließung der Hochschulen für den Studienbetrieb während der Corona-Zeit hat es erforderlich werden lassen, Prüfungen in der Form abzuhalten, dass die zu prüfende Person in ihrer Privatwohnung verbleibt. Um das Gebot der Chancengleichheit aller zu prüfenden Personen nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG sicherstellen zu können, kam hierbei der Bedarf auf, über eine IT-basierte Beaufsichtigung der zu prüfenden Person über Kameras nachzudenken (sog. Proctoring). Damit stellen sich neue datenschutzrechtliche, aber auch persönlichkeitsrechtliche Fragestellungen, war doch der private Rückzugsort der Studierenden bislang nicht Bestandteil der organisatorischen und rechtlichen Betrachtung durch die Hochschulen.
Carsten Morgenroth
Zwischenbilanz zum Corona-Hochschulrecht aus Sicht der Hochschulpraxis, Teil II – Methodische und rechtliche Grundfragen zu Online-Prüfungen
1 Fischer/Dieterich, Referat zum Prüfungsrecht der Online-Prüfungen am 15. Januar 2021 anlässlich eines Webinars des Vereins zur Förderung des deutschen und europäischen Wissenschaftsrechts.
2 Fischer/Dieterich, NVwZ 2020, 657 ff.; Fehling, OdW 2020, 137 ff.; Sandberger, OdW, 2020, 155 ff.; Botta, Grundrechtseingriffe durch Online-Proctoring, abrufbar unter Grundrechtseingriffe durch Online-Proctoring – Verfassungsblog; aus Sicht eines Rechtsanwalts Heinze, https://www.heinze-pruefungsanfechtung.de/pruefungsrecht-corona/, letzter Abruf am 4. Februar 2021.
Ordnung der Wissenschaft 2021, ISSN 2197–9197
1 1 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 1 7 — 1 3 2
3 So der renommierte Datenschutzrechtler Schwartmann anlässlich
eines Webinars zum Recht von Online-Lehre und Online-Prüfungen
am 30. Oktober 2020, hierzu Haake, OdW 2021, 62 ff.
4 Ausführlich hierzu Fehling, oben Fn. 2, S. 145 ff.
5 S. Schwartmann, oben Fn. Fn. 63.
6 Botta, oben Fn. 2.
7 Näher hierzu Haltern, Europarecht, Band II, 3. Auflage, 2017, § 10,
Rn. 1092 ff.
8 Hoeren/Fischer/Albrecht, Gutachten zur datenschutzrechtlichen
Zulässigkeit von Überwachungsmaßnahmen bei Online-Klausuren,
Juni 2020, Rn. 47; https://www.itm.nrw/wp-content/uploads/
RiDHnrw_11.06.20_Gutachten-zur-datenschutzrechtlichen-
Zul%C3%A4ssigkeit-von-%C3%9Cberwachungsfunktionen-bei-
Online-Klausuren.pdf.
9 Beschlüsse, Az. 1 BvR 16/13 und 1 BvR 276/17, jeweils vom
6.11.2019.
10 BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019, Az. 1 BvR 276/17, Rn. 41, 59.
11 BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019, Az. 1 BvR 16/13, Rn. 43.
12 Buchner/Petri, in: Kühling/Buchner, DS-GVO, BDSG, Kommentar, - Auflage, 2020, Art. 6 Rn. 196 m.w.N.
13 Gola, Datenschutzgrundverordung, Kommentar, 2017, Art. 6 Rn.
175.
Kamerabedingte Wahrnehmungen von Details der Wohnung
der Studierenden durch Personal oder Beauftragte
der Hochschule sind nicht nur als personenbezogene
Daten relevant und damit dem Datenschutzrecht zugehörig;
diese Wahrnehmungen haben gleichzeitig auch
Bezug zum verfassungsrechtlichen Schutz der Wohnung.
3
Bislang ist dabei erkennbar jedoch von einem Schutz
ausschließlich durch das Datenschutzrecht4 oder durch
den Schutz aus den deutschen Grundrechten aus Art. 13
GG5 sowie aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG6 ausgegangen
worden. Weil sich das Datenschutzrecht jedoch
nach der unmittelbar anwendbaren EU-Datenschutz-
Grundverordnung (nachfolgend DSGVO) bestimmt,
ist fraglich, ob die darin enthaltene Abwägung
der Rechte und Interessen nicht EU-rechtlich zu geschehen
hat.
Die Frage nach der Anwendbarkeit nationaler
Grundrechte im Rahmen der Prüfung von EU-Recht
durch das BVerfG ist nicht neu, sondern bereits Gegenstand
mehrerer Entscheidungen des BVerfG, der sog.
„Solange-Entscheidungen“, gewesen.7 Im Jahre 2019 hatte
das BVerfG nun Bedarf und Gelegenheit, diese Rechtsprechung
zu präzisieren. Die Vorreiter der rechtlichen
Aufarbeitung des Corona-Hochschulrechts sind hierzu
in erster Annäherung davon ausgegangen, dass die deutschen
Grundrechte das Niveau der europäischen Grundrechte
bereits inkludieren.8 Diese Filterung war im damaligen
Erkenntnis-Zeit-Kontinuum klug und sinnvoll.
Möglicherweise lohnt sich jedoch mittlerweile ein näherer
Blick auf die Thematik. Die beiden Entscheidungen
des BVerfG zum „Recht auf Vergessen“9 vermitteln zusammengefasst
eine etwas differenzierte Struktur. Wenden
deutsche Stellen EU-Recht an, ohne dass ihnen dabei
ein Gestaltungsspielraum obliegt, dann gebietet die
Integrationsverantwortung aus Art. 23 Abs. 1 GG, dass
diese Maßnahmen am Maßstab der EU-Grundrechte gemessen
werden.10 Steht den deutschen staatlichen Stellen
jedoch ein Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung des
EU-Rechts zu, dann misst das BVerfG diese Maßnahmen
am Maßstab der nationalen Grundrechte, gegebenenfalls
im Lichte einer Interpretation der GrCh.11 Für den hiesigen
Anwendungsbereich stellen sich damit auf mehreren
Ebenen Fragen. Bedeutet eine landes- oder satzungsrechtliche
Ausgestaltung der Online Prüfungsdurchführung
eine Ausübung eines Gestaltungsspielraumes, die
den Anwendungsbereich der nationalen Grundrechte
eröffnet? Ist ein Abs. ellen auf eine Einwilligung dagegen
die reine Ausübung von Unionsrecht, wo ausschließlich
die EU-Grundrechte gelten würden? Und selbst wenn
eine Prüfung durch nationale Grundrechte angezeigt ist,
kann tatsächlich von einer hinreichenden Niveaukongruenz
EU-rechtlicher und nationaler Grundrechte im
Sinne des BVerfG gesprochen werden? - Vorhandensein eines Gestaltungsspielraums
Auf der ersten Ebene ist zu klären, ob überhaupt ein
Gestaltungsspielraum angenommen werden kann.
In Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. e EU-DSGVO spricht zunächst
der Wortlaut „spezifischere Bestimmungen“, der
sich sowohl in Art. 6 Abs. 2 EU-DSGVO als auch in dessen
Absatz 3 findet, für einen Gestaltungsspielraum.
Weil das Verhältnis zwischen Art. 6 Absätzen 2 und 3
EU-DSGVO noch offen ist, empfiehlt es sich, die Voraussetzungen
beider Absätze kumulativ zu beachten.12 In die
andere Richtung deutet jedoch die Entstehungsgeschichte
der Norm, denn im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens
wurde der ursprünglich angedachte Begriff „strengere
Bestimmungen“ durch „spezifischere Bestimmungen“
ersetzt, um dem Gebot der Vollharmonisierung der
EU-DSGVO Vorschub zu leisten.13 Dies könnte gegen einen
wirklichen inhaltlichen Gestaltungsspielraum sprechen.
Hinsichtlich der insbesondere in Art. 6 Abs. 3 EUDSGVO
benannten Dimensionen, etwa der verarbeiteten
Daten, besteht auch streng genommen kein Spielraum,
weil die Hochschule hier die faktische Situation
exakt abzubilden hat und nichts dazu erfinden kann.
Hinsichtlich des Erfordernisses in Art. 6 Abs. 3 EU-DSGVO,
die Zwecke der Verarbeitung in der spezifischen
Bestimmung zu benennen, dürfte jedoch ein gewisser
Gestaltungsspielraum der Hochschulen bestehen, je
nach organisatorischer und struktureller Ausgangslage.
Ob etwa eine Konferenz- bzw. Prüfungssoftware nur für
eine Selbstverwaltungseinheit oder für die gesamte
Morgenroth · Corona in der Hochschulpraxis, Teil II: Online-Prüfungen 1 1 9
14 Erwägungsgrund 1 zur EU-DSGVO.
15 Gola (Fn. 13), Art. 6 Rn. 173.
16 Buchner/Petri, in: Kühling/Buchner (Fn. 12) lassen insoweit alle
Gesetze im materiellen Sinne genügen und erwähnen beispielhaft
hierzu die kommunale Satzung.
17 Hierfür ist nach BVerfGE 61, 1 ff. eine durch formelles Gesetz
erfolgte Ermächtigungsgrundlage sowie die Einhaltung des Wesentlichkeitsgrundsatzes
erforderlich; vgl. auch Kühling/Martini,
Die EU-DSGVO und das nationale Recht, 2016, S. 28.
18 Neben der Anwendbarkeit der allgemeinen Konkretisierungsermächtigung
in Art. 6 Abs. 2, 3 EU-DSGVO sind die Art. 85 und
Art. 89 EU-DSGVO relevant.
19 Pauly, in: Paal/Pauly, Datenschutzgrundverordnung, Bundesdatenschutzgesetz, - Auflage, 2018, Art. 85 Rn. 9.
20 In diese Richtung Buchner/Tinnefeld, in: Kühling/Buchner (Fn. 12),
Art. 89, Rn. 13 a.
21 Für Prüfungen wäre daneben – in Anlehnung an Art. 5 Abs. 3
GG – die rechtliche Zuordnung zur wissenschaftlichen Lehre erforderlich,
s. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar,
Art. 5 Abs. 3, Rn. 140.
22 Insoweit könnte das – auf der Vorgängerregelung der EUDSGVO
basierende – Urteil des EuGH zu datenschutzrechtlicher
Relevanz von Anmerkungen der Prüfungen bei einer Bewertung
einer staatlichen Prüfung zum Wirtschaftsprüfer/Steuerberater
wichtige Hinweise für die Übertragung der dortigen Gedanken
in den Hochschulbereich sein, s. EuGH, Urteil vom 20.12.2017,
Az. C 434–16 – Nowak; zur Übertragung ins deutsche Recht,
allerdings für die staatliche Prüfung des zweiten juristischen
Staatsexamens VG Gelsenkirchen, Urteil vom 27.4.2020, Az. 20 K
6392/18.
Hochschule verwendbar sein soll, verändert die Ressourcenausrichtung
im Haus mindestens spürbar, möglicherweise
sogar erheblich. Aber auch diese faktische
Offenheit geht nicht mit einem genuinen Gestaltungsspielraum
einher, weil auch insoweit die tatsächliche Situation
zu berücksichtigen und rechtlich zu bewerten ist.
Ob die auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. e in
Verbindung mit Abs. 2 und 3 EU-DSGVO basierenden
spezifischen Bestimmungen deshalb einen hinreichenden
Gestaltungsspielraum aufweisen, der den Anwendungsbereich
der nationalen Grundrechte auch im Bereich
der Anwendung der EU-DSGVO eröffnen würde,
darf in erster Annäherung tendenziell eher bezweifelt
werden.
Aber auch wenn man davon ausgeht, dass die nationale
Regelung, sei es ein Gesetz,14 eine Rechtsverordnung15
oder auch eine Hochschulsatzung,16 die Datenverarbeitung
mit Blick auf die Online-Lehre bzw. Online-
Prüfungen inhaltlich konform zur EU-DSGVO regelt,17
ergeben sich bislang erkennbar ungeklärte Folgefragen.
Denn für den Bereich der Wissenschaft bestehen in der
EU-DSGVO an mehreren Stellen explizite Öffnungsklauseln.
18 Ob die hier relevanten Regelungen des deutschen
Hochschuldatenschutzrechts im Lichte dieses
Maßstabs geeignet sind, die grundsätzlich attestierte
Vollharmonisierung der EU-DSGVO auszuschließen
und damit den Bereich der nationalen Grundrechte wieder
zu eröffnen, ist zweifelhaft. Denn es ist derzeit noch
nicht eindeutig zu bestimmen, ob die hier angesprochenen
Ausgestaltungen der Datenverarbeitung von Online-
Lehre bzw. Online-Prüfung tatsächlich unter den
privilegierten Bereich von Art. 85, 89 EU-DSGVO fallen.
Das Wissenschaftsprivileg in Art. 85 EU-DSGVO zielt in
erster Linie auf einen erleichterten Informationszugang
im Rahmen wissenschaftlicher Betätigung ab.19 Art. 89
EU-DSGVO spricht von „wissenschaftlichen bzw. historischen
Forschungszwecken“. Erwägungsgrund 159 erfasst
diesen Begriff zwar denkbar weit und lässt viele Arten
der Forschung genügen. Lehrveranstaltungen und
Prüfungen mit Bezug zu Forschung werden jedoch die
Ausnahme sein, beispielsweise im Zusammenhang mit
Abschlussarbeiten. Selbst wenn man die wissenschaftliche
Lehre als privilegierbar20 ansehen sollte,21 fragt sich
aber weiterhin, ob die hier in Rede stehenden Regelungen
in ihrem Kern wissenschafts- bzw. lehrspezifisch
sind. Denn die Dimensionen der Regelung wären identisch
für eine innerhalb oder außerhalb des Hochschulbereichs
liegende Prüfung, beispielsweise im Bereich der
beruflichen Weiterbildung oder einer Prüfung im Bereich
der staatlichen Berufsabschlüsse.22
Spannend dürfte in diesem Zusammenhang sein,
nach welchen Kriterien die Zuordnung vorgenommen
wird. So könnte auf das Regelungssystem abgestellt und
die betreffende Rechtsgrundlage – als formal dem Hochschulrecht
zugehörig – auch inhaltlich als Ausdruck des
wissenschaftlichen Gestaltungsspielraums gesehen werden,
den Art. 85, 89 EU-DSGVO belassen. Mit ebenso
guten Gründen ist es jedoch auch denkbar, diese etwas
schablonenhafte Sicht zu verlassen und stattdessen auf
die Regelungssubstanz abzustellen. Hier läge es konsequenterweise
näher, eine inhaltliche Parallele zu Prüfungen
auch außerhalb des Wissenschaftsbereichs zu sehen
und eine Wissenschaftsspezifizität und damit einen nationalen
Gestaltungsspielraum gerade abzulehnen. - Gestaltungsspielraum bei Einwilligung?
Nicht anders sieht dies für die andere Erlaubnisstruktur
im Datenschutzrecht, nämlich die Einwilligung nach
Art. 7 EU-DSGVO, aus. Hier besteht zunächst kein der
Hochschule zugewiesener originärer Gestaltungsspielraum
im Bereich der Formulierung, weil die Einwilligung
seitens der einwilligenden Person formuliert wird.
Der vom BVerfG beschriebene Gestaltungsspielraum
könnte sich für die Hochschule hier lediglich aus der
Prüfung vorgegebener Einwilligungstexte bzw. für die
Dokumentation mündlich oder konkludent gegebener
1 2 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 1 7 — 1 3 2
23 Selzer, in: Jandt/Steidle, Datenschutz im Internet, 2018, S. 137.
24 Plath, BDSG, DSGVO, Kommentar, 2. Auflage, 2016, Art. 7 Rn. 1.
25 Heckmann/Paschke, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutzgrundverordnung,
2017, Art. 7 Rn. 10.
26 Schantz, NJW 2916, 1841, 1844.
27 Fischer/Dieterich, oben Fn. 2.
28 Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Auflage, 2018, Rn. 4.
29 BVerwG, NVwZ-RR 2015, 858 ff.
30 Morgenroth, Hochschulstudienrecht und Hochschulprüfungsrecht, - Aufl., 2020, passim.
31 Jarass erfasst ausschließlich die wissenschaftsbezogene Lehre
und grenzt sie zum Unterricht an Schulen ab; s. Jarass, GrCh, - Auflage, 2016, Art 13, Rn. 8. Stern/Sachs erfassen Prüfungen
ebenfalls nicht im Rahmen der Besprechung der „akademischen
Freiheit“ in Art. 13 Satz 2 GrCh; s. Kempen, in: Stern/Sachs GrCh,
Kommentar, 2016, Art. 13 Rn. 17.
32 S. Fn. 33.
33 Scholz, in: Maunz/Dürig Fn. 21), erwähnt Prüfungen immerhin
implizit im Rahmen der „Studien- und Prüfungsordnungen“ (Rn.
140) oder der Anforderungen an die prüfende Person (Rn. 157).
Bethge, in: Sachs, Grundgesetz-Kommentar, erwähnt Prüfungen
dagegen nicht.
Einwilligungen23 ergeben. Um die Einwilligung an ihren
zwingenden Vorgaben der Unmissverständlichkeit, der
informierten Weise und der Freiwilligkeit nach Art. 4 Nr.
11 EU-DSGVO messen zu können,24 wird es je nach konkreter
Verarbeitungssituation inhaltlich eine erhebliche
Vielfalt einzelner Formulierungen, Aufklärungsmaßnahmen
und Abläufe geben. Damit ist jedoch die Frage
noch nicht beantwortet, ob dies vom Gestaltungsspielraum
im Rahmen der Anwendung des Unionsrechts
(hier der EU-DSGVO) im Sinne des BVerfG erfasst ist.
Dafür spricht die Dispositionsverantwortung und
-befugnis der Hochschulen bei der Vorbereitung und
Behandlungen von Einwilligungen. Dagegen sprechen
jedoch die im Wege der Harmonisierung des EU-Datenschutzrechts
erfolgte Angleichung der internationalen
Rechtsstandards mit Bezug zur Einwilligung25 oder die
Zuweisung der Verantwortung für Konturierung und
Konkretisierung an die Rechtsprechung statt an den
Regelungsgeber.26 Schließlich sprechen auch systematische
Gründe dagegen, denn in Art. 7 EU-DSGVO ist –
anders als in Art. 6 Abs. 2, 3 EU-DSGVO – gerade keine
gesetzliche Ermächtigung für ausgestaltende nationale
Regelungen enthalten. Die besseren Gründe sprechen
damit wohl dafür, dass für die Datenverarbeitung infolge
einer Einwilligung ein nationalrechtlicher Gestaltungspielraum
nicht eröffnet wird, die Maßnahme deshalb
ausschließlich anhand der EU-Grundrechtecharta
geprüft zu werden hat. - Inkongruenzen des EU-rechtlichen und des nationalen
Grundrechtsschutzes
Im Folgenden soll weiterhin von den Ergebnissen aus
Nr. 2 abgewichen und angenommen werden, dass eine
Prüfung des Proctorings am Maßstab der nationalen
Grundrechte möglich ist. Hierbei ergeben sich interessante
Stufungen des deutschen und des EU-rechtlichen
Grundrechtsschutzes mindestens in zweierlei Hinsicht.
a) Gebot der Chancengleichheit
Seitens der Hochschule ist hierbei das Gebot der Chancengleichheit
im Prüfungsverfahren in zentraler Weise
relevant. Dieser Grundsatz prägt das Prüfungsverfahren
bereits in der analogen Welt bestimmend und dient auch
in den bisherigen Verlautbarungen für Online-Prüfungen
als zentrales Kriterium im Kanon der Legitimationsgrundlagen
und Handlungsspielräume der Hochschule.
27 Die verfassungsrechtliche Herleitung des Gebots der
Chancengleichheit erfolgt entweder ausschließlich aus
dem Gebot der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1
GG28 oder aus dessen Verbindung mit der Berufsfreiheit
der Studierenden nach Art. 12 Abs. 1 GG.29 Aus dem
Gebot der Chancengleichheit werden mehr oder weniger
unmittelbar aus den genannten Grundrechten diverse
Verpflichtungen der Beteiligten zueinander abgeleitet.
Die Hochschule hat daraus etwa für zumutbare äußere
Prüfungsbedingungen zu sorgen, Prüfungsformen, –
arten und –zeiten gleich zu handhaben und Nachteilsausgleiche
bzw. Prüfungsrücktritte bei entsprechender
Gefahr für die Leistungsfähigkeit der Studierenden zu
gewähren. Zu den wesentlichen Ableitungen für die Studierenden
zählen die Verpflichtung, eigenständige Prüfungsleistungen
nur unter Verwendung der zugelassenen
Hilfsmittel abzuliefern sowie die Obliegenheit,
unzumutbare Störungen im Zusammenhang mit der
Leistungsermittlung, beispielsweise Baulärm, die eigene
Prüfungsunfähigkeit oder die Befangenheit des Prüfers,
selbst und unverzüglich anzuzeigen.30 Dagegen fällt die
Aufarbeitung des EU-rechtlichen Pendants weniger differenziert
aus. So ist bereits offen, inwieweit prüfungsrechtliche
Erwägungen überhaupt vom Anwendungsbereich
des EU-Grundrechts auf „akademische Freiheit“
nach Art. 13 Satz 2 GrCh erfasst sind.31 Dass die Freiheit
der Lehre mit ihren aus dem deutschen Verfassungsrecht
bekannten Dimensionen und Implikationen erfasst sein
dürfte, ist weitgehend konsensual.32 Jedoch ist es auch
nach deutschem Verfassungsverständnis keinesfalls
selbstverständlich, die Gestaltungsfreiheiten von Lehrenden
bzw. Prüfungen aus der Freiheit der Lehre auch
für Prüfungen heranzuziehen.33 Erst Recht bleibt dies in
der Konkretisierung des EU-Grundrechts offen. Wie soll
also mit dem Fall umgegangen werden, dass ein deutsches
Grundrecht weiter gefasst ist als das entsprechende
EU-Grundrecht?
Morgenroth · Corona in der Hochschulpraxis, Teil II: Online-Prüfungen 1 2 1
34 S. oben. Fn. 6.
35 Kühne, in: Sachs (Fn. 33), Art. 13, Rn. 13 m.w.N.
36 BVerfGE 65, 1 (41 ff.) – Volkszählung.
37 Erfasst werden erhöhte individuelle Gefahren, etwa die Lebensgefahr
von Personen, oder allgemeine Gefahren, z. B. die Raumnot,
s. Art. 13 Abs. 7 GG.
38 Jarass (Fn. 31), Art. 7, Rn. 30.
39 Näher dazu Weber, in: Stern/ Sachs (Fn. 31), Art. 7 Rn. 42.
40 EGMR Nr. 9063/80, Series A 190, Rn. 47.
41 EGMR NVwZ 2004, 1465,
42 Zu einer anderen gelungenen strukturellen Aufbereitung rechtlicher
Fragestellungen mit Blick auf Online-Prüfungen s. Fn. 10.
43 So lässt sich diese Konstellation des Proctorings unter das
Sammelbecken der möglichen Eingriffe bringen; etwa beschreibt
Bernsdorff dieses als „jede Art des Eindringens oder Verweilens
gegen den Willen des Wohnungsinhabers“, s. Bernsdorff, in: Meyer,
Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Auflage,
2016, Art. 7, Rn. 22. Jarass sieht optische bzw. akustische Überwachungen
aber nur dann als Eingriff an, sofern mit der Überwachungsmaßnahme
eine vorgesehene Abs. hirmung überwunden
wird, s. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, - Auflage, 2016, Art. 7, Rn. 30. Wesentliche Ausgestaltungen eines
Eingriffs in Art. 7 GrCh ist nach Weber außerdem das Betreten,
Einschränken oder Zerstören der Wohnung ohne Einwilligung
des Wohnungsinhabers, nicht dagegen eine im Rahmen des Proctorings
vorgefundene Abbildung von Merkmalen der Wohnungsgestaltung
in einer planmäßigen Prüfungssituation, s. Weber, in:
Stern/Sachs (Fn. 31) Art. 7, Rn. 44.
b) Unverletzlichkeit der Wohnung
Spiegelbildlich wird seitens der Studierenden deren
Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG
diskutiert, wenn Prüfungen im privaten Wohnbereich
der Studierenden am Heimat- oder Studienort stattfinden
müssen.34 Eine nähere Betrachtung wirft dabei
bereits Zweifel an der Einschlägigkeit des nationalen
Grundrechts auf. Denn das Grundrecht aus Art. 13 GG
unterliegt auf mehreren Ebenen Besonderheiten, die für
diese Konstellation relevant werden. Auf der Ebene des
Schutzbereichs hat Art. 13 GG in der Vergangenheit eine
Reihe von Beschränkungen erfahren, die zu einer
„Abwanderung“ bestimmter, traditionell mit Art. 13 GG
verbundener Schutzgehalte in andere Grundrechte
geführt haben.35 Vor diesem Hintergrund ließe sich
bereits fragen, ob die Abbildungen der Privatsphäre der
Studierenden durch die Kameraführung während der
Prüfungen neben dem informationellen Selbstbestimmungsgehalt
überhaupt eine weitere Schutzsubstanz
beanspruchen oder ob hier nicht ausschließlich das allgemeine
Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 1 Abs. 1 GG, das nach deutschem Verfassungsverständnis
den grundrechtlichen Datenschutz
vermittelt,36 allein aktiv ist. Ein Blick auf die Ebene des
Grundrechtseingriffs untermauert diese These. Denn die
Struktur von Art. 13 GG regelt derartige Maßnahmen
nicht unmittelbar. Besonders eingriffsintensive oder
typische Maßnahmen, beispielsweise Lauschgriffe zu
Zwecken der Strafverfolgung, werden in Art. 13 Abs. 2 bis
5 GG erfasst. Die Auffangklausel von Art. 13 Abs. 7 GG
setzt das Vorliegen einer Gefahr von enger Intensität
voraus,37 die im Rahmen regulärer Durchführung von
Hochschulbildung erkennbar nicht vorliegt. Das EUrechtliche
Pendant, Art. 7 GrCh, wird demgegenüber
von einer Reihe abweichender Strukturen und Erwägungen
getragen. Zunächst weicht der Wortlaut voneinander
ab: EU-rechtlich wird nicht die „Unverletzlichkeit“,
sondern die „Achtung“ der Wohnung erfasst. Entsprechend
universeller ist das Eingriffsverständnis – er kann
bei jeder beliebigen Maßnahme vorliegen, welche die
Privatheit der geschützten Räume beeinträchtigt.38
Außerdem ist der Schutz der Wohnung in Anlehnung an
Art. 8 EMRK39 strukturell anders geprägt und erfasst
auch eigentumsrechtliche40 und umweltbezogene41
Belange, die Art. 13 GG fremd sind. In dieser Konstellation
scheinen wir also – anders als oben zum Gebot der
Chancengleichheit – von einem extensiven EU-Grundrecht
im Vergleich zu seinem deutschen Pendant sprechen
zu können.
Diese komplexe Gemengelage kann wegen der Vielfalt
möglicher Gestaltungsformen weder entschieden
noch in diesem Rahmen strukturell aufbereitet werden.42
Den Hochschulen wird deshalb bis zur Generierung
weiterer belastbarer Erkenntnisse und Erfahrungen
empfohlen, bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit des
Proctorings und bei der Ausgestaltung ihrer entsprechenden
Regelungen die EU-Grundrechte mit einzubeziehen.
Insoweit darf eine EU-rechtliche Aufarbeitung
der Thematik mit Spannung erwartet werden – derzeit
ist eine geplante optische bzw. akustische Überwachung
in der Eingriffsdogmatik von Art. 7 GrCh erkennbar
nicht vorgesehen.43 - Ergebnisse
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass gute Gründe dafür
sprechen, einen Anwendungsbereich der nationalen
Grundrechte nach den Vorgaben des BVerfG für die
datenschutzrechtliche Behandlung von Online-Lehre
und Online-Prüfung nicht eröffnet zu haben bzw. unterschiedliche
Hochschulpraxis für Verarbeitungen auf
gesetzlicher Grundlage und mittels Einwilligung einzurichten.
Selbst wenn der Anwendungsbereich für nationale
Grundrechte gesehen werden sollte, so ergeben sich
mehrere Inkongruenzen im rechtlichen Maßstab von
Grundgesetz und EU-Grundrechtecharta, mindestens
mit Blick auf das prüfungsrechtliche Gebot der Chancengleichheit
und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit
der Wohnung.
1 2 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 1 7 — 1 3 2
44 Ausführlich Jeremias, jM 2018, 25 ff.
45 Sog. Begriffjurisprudenz, s. Meyer-Ladewig, DRiZ 1963, 255 ff.
46 Diese Entwicklungslinie nachzeichnend Kuhlen, Typuskonzeptionen
in der Rechtstheorie, 1977.
47 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, Grundlegung
für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 11. Auflage, 2013,
Rn. 230.
48 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991,
S. 303.
III. Strukturelle Überlegungen zum Prüfungsrecht
Hochschulprüfungen werden derzeit überwiegend in
Prüfungsformen und Prüfungsarten unterteilt. Der
Begriff der Prüfungsform stellt dabei den Oberbegriff
dar, unter den sich dann verschiedene Prüfungsarten
bringen lassen. Als Prüfungsoberkategorien weitgehend
unstreitig anerkannt sind die schriftliche Prüfung, die
mündliche Prüfung und die praktische Prüfung, während
dies für die neuartige Form der elektronischen Prüfung
unterschiedlich beurteilt wird.44 Prüfungsrechtliche
Relevanz hat dies für die Frage, ob die betreffende Prüfungsform
eine eigenständige Rechtsgrundlage in der
Prüfungsordnung erfordert, was für Prüfungsformen,
nicht aber für Prüfungsarten angenommen wird.
Durch das Hinzutreten der Online-Dimension werden
aber nicht nur die bekannten analogen Formen und
Arten von Prüfungen eben IT-basiert durchgeführt.
Hinzu kommen daneben weitere, bisher in Deutschland
weitgehend unbekannte Prüfungsgestaltungen, so etwa
die sog. open book Prüfung oder die sog. take home Prüfung.
Beiden neuen Gestaltungen ist gemeinsam, dass sie
– mit Abweichungen im Detail – fachliche Hilfsmittel in
der Form allgemeiner Informationsquellen oder Studienmaterialien
zulassen, was für Klausuren nicht zulässig
ist. Die Online-Welt der Prüfungen bewirkt damit daneben
auch eine erhebliche Auffächerung der ohnehin bereits
reichhaltigen Gestaltungsvielfalt.
Welche Auswirkungen hat diese Bereicherung für die
faktische Struktur der Prüfungslandschaft an deutschen
Hochschulen? Und ergeben sich daraus Erkenntnisse für
die rechtliche Erfassung oder für die operative Gestaltung
von Prüfungen? Diesen Fragen widmet sich dieser
Abschnitt. Nach einer Aufbereitung der wesentlichen
rechtstheoretischen und rechtsmethodischen Fragen zur
Strukturbildung (1.) wird die erweiterte faktische Gestaltungsvielfalt
speziell mit Blick auf Online-Prüfungen einer
Betrachtung unterzogen (2.). Infolge dessen ergeben
sich weitere interessante begriffliche Konsequenzen (3.). - Grundlagen der Strukturbildung
Strukturbildung ist kein Selbstzweck, sondern Mittel
zum Zweck. Sie dient dazu, die einzelnen in der Rechtswirklichkeit
vorfindbaren Varianten trennscharf voneinander
abgrenzen und die aus ihrer faktischen Spezifik
erwachsenden Risikopotenziale ordnungsgemäß erfassen
zu können. Im Laufe der Zeit lässt sich dabei eine
gewisse Entwicklungslinie erkennen, Ableitungen aus
immer durchlässigeren Strukturen zu ermöglichen. War
die vollständige Erfassung der Rechtswirklichkeit in
einem geschlossenen System von aufeinander bezogenen
Begriffen noch das Ideal des 19. Jahrhunderts,45 so
hat sich die Legitimität mehr und mehr unbestimmter
Begriffe als taugliches Erfassungsobjekt von Strukturen
im Recht etabliert.46 Mittlerweile erlaubt die moderne
Logik, auf der auch die Rechtstheorie und –methodik
aufbaut, sogar Entscheidungen auf der Grundlage nicht
vollständiger oder ungenauer Informationen, etwa in
der Form der fuzzy logic.47 Strukturbildung im modernen
Recht darf deshalb durchaus auch etwas weniger
dezidiert sein und annähernde oder zuordnende Elemente
enthalten.
Speziell für die Landschaft deutscher Hochschulprüfungen
ist dies ebenso passend wie nötig. Denn es besteht
eine kaum überschaubare Vielzahl an Möglichkeiten,
Prüfungen auszugestalten. Je nach zu erfassenden
Lernzielen und Kompetenzen, Prüfungsfunktionen gemäß
der Lehrdidaktik und Fachdisziplin sind der Ausgestaltung
von Prüfungen nahezu keine Grenzen gesetzt.
Strukturbildung ist damit geradezu gezwungen, annähernd
zu arbeiten und Öffnungen bzw. Entwicklungstendenzen
in ihre Arbeitsweise einzubeziehen.
Eine für genau diese aufgefächerten, diversifizierten
Situationen passende Methode der Strukturbildung in
der Rechtstechnik und ‑praxis ist die Bildung von Typen.
Typen im Recht sind Phänomene, die sich dadurch auszeichnen,
dass Anzahl, Ausgestaltung und Intensität der
sie prägenden Elemente nicht fest stehen. Häufig vorkommenden
gemeinsamen oder den Typus sogar prägenden
Aspekten des Typus stehen auch Facetten gegenüber,
die nicht in jeder Ausgestaltung des Typus vorhanden
sein werden und sich sogar wechselseitig vertreten
können.48 Die Typenbildung ist stark an Wittgensteins
philosophisches Modell der Familienähnlichkeit angelehnt,
wonach bei hinreichend vorhandenen und intensiven
Ähnlichkeiten mehrerer Gestaltungsformen ein
Morgenroth · Corona in der Hochschulpraxis, Teil II: Online-Prüfungen 1 2 3
49 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, S. 66 f.
Einer der gedanklichen Ausgangspunkte Wittgensteins für seine
Untersuchungen zur Familienähnlichkeit war dabei die Gefahr,
aus einem gemeinsamen Begriff vorschnell Schlüsse auf vermeintliche
gemeinsame Merkmale zu ziehen: „We are inclined to
think that there must be something in common to all games, say,
and that this common property is the justification for applying
the term „game“ to the various games, s. Wittgenstein, The Blue
Book, 1965, S. 17.
50 Von einer rein faktischen Relevanz des Typus ausgehend Rüthers/
Fischer/Birk, Rechtstheorie, 11. Auflage, 2020, Rn. 933.
51 Larenz, oben Fn. 48, Müller/Christensen, oben Fn. 47, Pawlowski,
Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage, 1999, Rn. 149.
52 Larenz, oben Fn. 48.
53 Pawlowski, oben Fn. 51, Rn. 152.
54 10 Tipps für deine erfolgreiche Online Klausur (uniturm.de), s.
Punkt 1.
55 Gut vorbereitet in die mündliche Online-Prüfung — univie
bloggt.
56 Schwartmann, Referat zum Datenschutzrecht der Online-Prüfungen
am 15. Januar 2021 anlässlich eines Webinars des Vereins
zur Förderung des deutschen und europäischen Wissenschaftsrechts.
57 Bitte beachten Sie abweichende Nummerierungen für die Länder
Berlin und Schleswig-Holstein.
58 Fischer/Dieterich, oben Fn. 1.
gemeinsames Merkmal sogar gänzlich fehlen kann.49
Überwiegend50 wird der Typus im Recht als Verbindung
zwischen Sein und Sollen aufgefasst, also mit faktischen
und zugleich normativen Elementen.51 Weiterentwicklung
von Typenbildung baut sowohl auf faktischen als
auch auf bestehenden rechtlichen Strukturen auf – dies
darf für die Erfassung der Online-Prüfungen ebenfalls
erwartet werden. Die Arbeitsweise der Typenbildung
muss deshalb zum Ziel haben, gerade auch die Verbindung
von Tatbestandserfassung als rechtlicher Abbildung
sozialer Sachverhalte und der normativen Regelungsanordnung
als sachgerecht und angemessen52 zu legitimieren.
Dies geschieht insbesondere durch die Behandlung
von Parallelentscheidungen, Fallabwandlungen
und verwandten Fällen.53 In diesem Sinne werden nun
die wesentlichen neuen Online-Prüfungsgestaltungen
einer typologischen Analyse unterzogen. - Typologische Analyse der neuen Online-Prüfungsarten
Will man die Diversität vorhandener Prüfungsgestaltungen
an deutschen Hochschulen im Sinne der Typenlehre
strukturell erfassen, so bietet sich eine Herangehensweise
in drei Schritten an. Der erste Schritt soll der faktischen
Erfassung der Prüfungslandschaft im Sinne der
Typenehre dienen (a). Ob diese faktischen Prüfungsstrukturen
jedoch einer eigenständigen Regelung zugeführt
werden müssen, bestimmt sich primär nach rechtlichen
Merkmalen, deren Erarbeitung der zweite Schritt
dient (b). Schließlich wird bestimmt, ob die vorgefundenen
faktischen Strukturen unter die aktuellen rechtlichen
Regelungen passen ©.
a) Erarbeitung faktischer Typenbildung für Online-Prüfungen
Der Herausarbeitung faktischer Prüfungstypen dienen
vorwiegend sachliche Dimensionen wie Häufigkeit oder
organisatorische Regelmäßigkeit hinsichtlich der Vorbereitung,
Durchführung und Bewertung der Prüfung.
aa) Vorbereitung
Die Vorbereitung betrachtend, bestehen für Präsenzprüfungen
und Online-Prüfungen einige Gemeinsamkeiten.
Die kommunikative Übertragung über IT-basierte
Systeme hat für sich genommen noch keinen Einfluss auf
die Dauer und den Schwierigkeitsgrad der Prüfung. Es
steht deshalb nicht zu erwarten, dass die Vorbereitung
auf die Prüfung in inhaltlicher Hinsicht weniger zeitund
arbeitsintensiv wäre als bei Präsenzprüfungen.54
Andererseits bietet die Online-Situation hinreichend
Anlass für veränderte oder zusätzliche organisatorische
Vorbereitungsmaßnahmen der Studierenden wie beispielsweise
einen Technik-Check oder die bewusste
Wahl der Prüfungsumgebung.55 Seitens der Hochschule
bietet die Vorbereitung der Prüfung eine Reihe von Veränderungen
im Vergleich zu Präsenzprüfungen: Statt
Prüfungsräumen sind virtuelle Räume zu organisieren,
gegebenenfalls sind den bedürftigen Studierenden technische
Leihgeräte zur Verfügung zu stellen, Fragestellungen
für Online-Klausuren sind gegebenenfalls in einem
didaktisch etwas anderen Format vorzubereiten. Diese
faktischen Abweichungen von den Gegebenheiten einer
Präsenzprüfung sind erheblich und für die Betrachtung
faktischer Typologien von nicht zu unterschätzender
Bedeutung. Da die Prüfungsvorbereitung aber keinen
Einfluss auf ihre prüfungsrechtliche Erfassung hat, spielen
diese Erwägungen eher eine flankierende Rolle.
Etwas anders könnte dies allerdings für das Datenschutzrecht
aussehen.56 Denn sehr bedeutsam ist der
Wechsel der Datenverarbeitung in die virtuelle Welt im
zeitlich unmittelbaren Vorfeld der Prüfung, also bei der
Anmeldung bzw. der Einwahl der Studierenden im Prüfungssystem
oder die Identitätskontrolle der Studierenden.
Liegen die datenschutzrechtlichen Erlaubnisse hierfür
nicht vor, so steht die Prüfung in der Gefahr, einem
Verfahrensfehler nach § 46 LVwVfG57 zu unterliegen.58
Insofern haben diese faktischen Veränderungen durchaus
Relevanz für die rechtliche Erfassung der Prüfung.
1 2 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 1 7 — 1 3 2
59 Informationen für Studierende (https://www.uni-jena.de/digitalesprüfen_
informationenstudierende).
60 Online-Proctoring — Beaufsichtigung digitaler Prüfungen (https://
hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/online-proctoring).
61 Open-Book-Klausuren und was sich dahinter verbirgt – @LLZ
(https://blog.llz.uni-halle.de/2021/01/open-book-klausuren-undwas-
sich-dahinter-verbirgt/).
62 Frölich-Steffen, Handreichung zur Online-Lehre, Stand: Wintersemester
2020/21, S. 12 (https://www.profil.uni-muenchen.de/
profil-start/profil_hands-on-lehre_prüfung.pdf).
63 Open Book Prüfungen Juridicum: Tipps, Tricks & Survivalpackages
- LexisNexis Österreich (https:www.lexisnexis.at/blogpost/
open-book-pruefungen-juridicum-tipps-tricks-survivalpackages/)
64 Open Book Klausuren — Universität Bielefeld (https://www.
uni-bielefeld.de/einrichtungen/bits/elearningmedien/
lernplattformen/e‑pruefungen/openbook/).
65 Open Book Take-Home Exam Download and Upload Quick Guide
(https://www.jura.uni-mannheim.de/media/Lehrstuehle/jura/
Klement/Quick_Guide_fu__r_Download_und_Upload.pdf_).
66 Wintersemester 2020/2021 | Universität des Saarlandes (https://
tu-dresden.de/tu-dresden/organisation/rektorat/prorektorbildung/
zill/e‑learning/corona/digitale-pruefungen).
Ob sie jedoch geeignet sind, entscheidenden Einfluss auf
die prüfungsrechtliche Typologie zu haben, bleibt für
den Moment offen.
Eine weitere wesentliche Neuerung im Rahmen der
Vorbereitung und Organisation der Online-Prüfungen
ist die Verantwortung der Hochschule, für Möglichkeiten
zu sorgen, wie die Studierenden eine Online-Prüfung
absolvieren können, die nicht über das entsprechende
technische Equipment verfügen.59 Neben der Bereitstellung
von räumlichen Ersatzkapazitäten in der
Hochschule kommt hier vor allem in Betracht, den Studierenden
entsprechende Leihgeräte zur Verfügung zu
stellen. Das ist nicht nur mit organisatorischem Aufwand,
sondern auch mit finanziellem Einsatz für deren
Beschaffung und personellen Ressourcen zum Nachhalten
von Rücklauf, Reparatur etc. verbunden, was bislang
so nicht bestand.
bb) Durchführung
Hinsichtlich der Durchführung der Prüfung bestehen
einige faktische Besonderheiten.
Einer der wesentlichen Unterschiede zur Präsenzprüfung
ist die Durchführung der Prüfung mit Hilfe einer
technisch-visuellen Überwachung, sog. Proctoring.60
Hierfür werden bei den Beteiligten Webcams eingesetzt,
die eine effektive Prüfungsaufsicht ersetzen und die ordnungsgemäße
Absolvierung der Prüfung sicherstellen
sollen. Das Proctoring kann in vielen verschiedenen
Ausgestaltungen vorkommen, etwa mit oder ohne Wahrnehmung
der Geräusche im Prüfungsraum. All dies ist
nicht nur mit neuen technischen Gegebenheiten und Risikopotenzialen,
sondern auch bisher unbekannten Dimensionen
von Datenverarbeitungsvorgängen verbunden.
So ist es beispielsweise beim hauptsächlich vertretenen
Pendant zur analogen Klausur, der sog. open book
Prüfung, erlaubt und üblich, inhaltliche Hilfsmittel zuzulassen.
61 Dies verändert auf nahe liegende Weise tragende
Pfeiler der schriftlichen Klausurarbeit, werden
doch nicht nur das qualitative Potenzial der Leistung,
sondern auch das Recherche-Performance-Verhältnis
und damit die Herangehensweise an die Bearbeitung auf
fundamentale Weise verändert. Eine gewisse Differenzierung
wird innerhalb dessen durch eine Begrenzung
der Hilfsmittel erreicht.62 Dadurch stellt sich automatisch
die Folgefrage, ob die verwendeten Quellen als
fremde Gedanken anzuzeigen sind.63 Dafür spricht sicherlich
die strukturelle Nähe zur Hausarbeit und das
Lernziel, die Gebote der guten wissenschaftlichen Praxis
einzuüben; dagegen spricht möglicherweise die verfügbare
Zeit.
Eine weitere faktische Unterscheidung bei open book
Prüfungen ist die Differenzierung zwischen der freien
Bearbeitung und der Bearbeitung direkt im Prüfungssystem.
64 Erstere Variante beinhaltet das Herunterladen
der Prüfungsaufgaben aus dem Prüfungssystem und das
spätere Hochladen der bearbeiteten Prüfung durch die
Studierenden.65 Das Hochladen involviert dabei in einigen
Fällen die Verwendung eigener technischer Geräte
der Studierenden, etwa das Smartphone für den Scan der
Prüfungsdatei.66 Speziell Letzteres trägt neben den faktischen
Neuerungen auch rechtliche Implikationen, denn
in der analogen Welt mussten Papier und Stift der Studierenden
funktionsfähig sein, während nun auch die
technische und gegebenenfalls datenschutzrechtliche Integrität
der Geräte in den regulären Prüfungsablauf fällt.
Im Rahmen der freien Bearbeitung kann sogar noch dahingehend
differenziert werden, dass die Prüfung selbst
dann am technischen Endgerät oder handschriftlich angefertigt
wird, was sich beispielsweise für Prüfungen im
Zusammenhang mit Formeln oder Zeichnungen anbieten
könnte. Auch für all dies wird zu zeigen sein, inwieweit
sich dies rechtlich und speziell prüfungsrechtlich
auswirkt.
Eine derartig intensive Veränderung der faktischen
Strukturen ist dagegen bei mündlichen Prüfungen nicht
zu verzeichnen. Der reguläre Ablauf der Prüfung erfolgt
wie in der Präsenzgestaltung auch, nur eben auf einem
technisch gestützten Übertragungsweg. Allerdings kann
die Durchführung von vielfältigen technischen Störungen
begleitet sein, die das Verständnis für die Aufgabenstellung,
die Leistungserbringung und insgesamt die
Morgenroth · Corona in der Hochschulpraxis, Teil II: Online-Prüfungen 1 2 5
67 BVerfGE 13, 97 ff. 68 Frölich-Steffen, oben Fn. 62, D. 9.
Kommunikation stark beeinflussen können. Die mündliche
Online-Prüfung würde zudem erlauben, dass die
Prüfung aufgezeichnet wird, um gegebenenfalls verhinderten
Prüfenden eine spätere Anschauung und Bewertung
zu ermöglichen.
cc) Bewertung
Die Bewertung vor allem schriftlicher Prüfungen ist
durch die IT-basierte Einsendung auch innerhalb des
technischen Systems möglich. Zudem besteht nunmehr
die soeben angesprochene Möglichkeit einer späteren
Bewertung, wo sonst die tatsächliche Anwesenheit und
Anschauung zwingend erforderlich war.
dd) Abgrenzung zu bestehenden Strukturen
In Anwendung des ersten Schritts der Vorüberlegungen
lässt sich deshalb Folgendes konstatieren.
- Es bestehen gute Gründe, den gängigen neuen Online-
Prüfungsgestaltungen open book Prüfung und take
home Prüfung eigene faktische Typusmerkmale im Vergleich
zur Klausur und der Hausarbeit zuzubilligen:
a. Open book Prüfung und take home Prüfung unterscheiden
sich von der analog absolvierten Klausur in
Anwesenheit erheblich. Denn erstens sind inhaltliche
Hilfsmittel zugelassen, was die Möglichkeiten, aber auch
die Arbeitsweise der zu prüfenden Personen erheblich
verändert. Und zweitens entfällt wegen der Arbeit in Abwesenheit
die Möglichkeit und das Erfordernis einer Beaufsichtigung
durch die Hochschule, was organisatorische
Veränderungen für die Hochschule in Sachen Prüfungsplanung
und Fragestellungen für die zu prüfenden
Personen bei der Prüfungsvorbereitung nach sich zieht.
b. Eine Zuordnung von open book Prüfung und take
home Prüfung zur anderen hautsächlichen Spielart der
schriftlichen Prüfung, der Hausarbeit, ergibt dagegen
gewisse Übereinstimmungen. Hier wie dort sind die Fragestellungen
der Prüfung in einer vorgegebenen Zeit
selbstständig und mit allen verfügbaren Hilfsmitten zu
bearbeiten.
c. Open book Prüfung und take home Prüfung teilen
andererseits auch einige Gemeinsamkeiten mit der Klausur.
Denn wegen der begrenzten Bearbeitungszeit sind
abzuprüfende Kompetenzen oder die Inhalte der Prüfung
nach Breite und Tiefe eher mit einer Klausur vergleichbar
als mit denen einer Hausarbeit. Ebenso sind
die begleitenden Anforderungen, etwa an Inhaltsverzeichnis,
Gliederung oder Quellenverzeichnis, eher der
Klausur ähnlich als der Hausarbeit. - Die mündliche Prüfung im persönlichen Gespräch
und in IT-basiert durchgeführter Form sind hinsichtlich
ihrer faktischen Typizität weitgehend vergleichbar, was
Vorbereitung, Durchführung und Bewertung angeht.
Dass sich bei der IT-basiert durchgeführten mündlichen
Prüfung durch den nur bedingt für die Hochschule einsehbaren
Prüfungsraum andere, erweiterte Täuschungspotenziale
ergeben, ist auf dieser gedanklichen Ebene
noch nicht zu betrachten. Als Zwischenergebnis sind
also diese beiden Ausgestaltungen unter einen faktischen
Prüfungstyp „mündliche Prüfung“ zu bringen.
b) Bewertung faktischer Strukturen nach rechtlichen
Merkmalen
Diese faktischen Besonderheiten sollen nun in das bestehende
rechtliche Gefüge eingeordnet und auf ihre Passfähigkeit
innerhalb dessen überprüft werden.
aa) Art. 12 Abs. 1 GG — Qualitätsanforderungen
Erster hauptsächlicher rechtlicher Maßstab für die Erfassung
von Prüfungen ist dabei die Ausrichtung der Prüfung
an den qualitativen Anforderungen der Gesellschaft
im Hinblick auf die mit der konkreten Ausbildung
verfolgten typischen Berufsbilder.67 Dieser Maßstab
scheint zunächst indifferent zu wirken, da die Art der
kommunikativen Übertragung einer Prüfungsleistung
gedanklich unabhängig von den inhaltlichen Anforderungen
an die Prüfung ist. Allerdings beseht speziell für
open book Prüfungen eine gewisse Verbindung zwischen
technischer Übertragung und inhaltlicher Ausgestaltung.
Denn durch die Zulässigkeit von Hilfsmitteln
tritt eine reelle Möglichkeit der Abfrage von Wissenskompetenzen
weitgehend in den Hintergrund. Stattdessen
werden Fragestellungen, die auf Transfer- bzw. Synthesekompetenzen
einwirken, wichtiger.68 Jedoch ist diese
Auffächerung von Prüfungsgestaltungen auch ohne
die Betrachtung von Online-Prüfungen bereits vorhanden
und in der Hochschullandschaft verbreitet. Die digitalen
Übertragungswege der Online-Prüfungen und die
damit verbundenen Neugestaltungen von Prüfungsfragen
werden diesen Prozess der Auffächerung und Diversifizierung
sicherlich weiter modifizieren und voranbringen.
Ob sie allerdings eine Intensität erreichen, die
zu der Annahme verleitet, der Qualitätsmaßstab aus
1 2 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 1 7 — 1 3 2
Art. 12 GG sei nicht mehr hinreichend für die prüfungsrechtliche
Erfassung der inhaltlichen Anforderungen an
eine Prüfung, darf bezweifelt werden.
bb) Art. 3 Abs. 1 GG – Gebot der Chancengleichheit
Der zweite bedeutsame, eher auf das Prüfungsverfahren
einwirkende rechtliche Maßstab ist das Gebot prüfungsrechtlicher
Chancengleichheit. Dieser wird aus Art. 3
Abs. 1 GG,69 teilweise in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1
GG,70 abgeleitet und beinhaltet das Erfordernis weitgehend
gleicher Prüfungsbedingungen und Bewertungsmaßstäbe
für vergleichbare Prüfungen.71 Hierbei ist zu
differenzieren. Soweit die organisatorische Durchführung
für alle Prüflinge einer Prüfungskampagne nach
gleichen äußeren Bedingungen arbeitet, sollte der administrative
Anteil der Chancengleichheit auch bei Online-
Prüfungen gewahrt werden können. Inhaltlicher Ausfluss
des Gebots der Chancengleichheit ist allerdings
auch, dass keine unzulässigen Hilfsmittel verwendet
werden dürfen. Hierzu zählt auch die Erbringung der
Leistung in eigener Person sowie ohne fremde persönliche
Hilfe.72 Ein Abgleich der soeben herausgearbeiteten
faktischen Besonderheiten am Maßstab der Chancengleichheit,
speziell mit Blick auf die vorhandenen Täuschungspotenziale,
ergibt dabei die nachfolgenden
Betrachtungen: - Die stark veränderte Organisation und Vorbereitung
der Prüfung hat keine unmittelbaren Auswirkungen
auf die Chancengleichheit, soweit sie für alle beteiligten
Studierenden gleichermaßen angewendet werden. - Auch die Pflicht der Hochschule, technische Ersatzgeräte
zur Verfügung zu stellen, trägt keine Auffälligkeiten
im Hinblick auf die Chancengleichheit in sich, zumindest
so lange nicht, wie die erforderlichen (Grund)-
Funktionalitäten für die Prüfung bei den Endgeräten
vorhanden sind. - Die technische Überwachung (Proctoring) der
Prüfung birgt neue, bisher ungeahnte Möglichkeiten für
die Prüflinge, unerlaubte Hilfsmittel zu verwenden. Der
geringe Überwachungswinkel der Webcam lässt Möglichkeiten,
in anderen Zimmern als dem eigentlichen
Prüfungsraum, im Prüfungsraum selbst oder sogar am
Arbeitsplatz unerlaubte Hilfsmittel aufzubewahren und
zu verwenden. Diese Möglichkeiten bestanden bisher in
inhaltlicher Hinsicht ebenfalls, etwa in Kleidungsstücken
oder in Taschen, werden bei Online-Prüfungen
aber nicht unerheblich erweitert. Die Möglichkeit, unerlaubte
persönliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist außerdem
insbesondere bei Proctoringsystemen ohne Audiofunktion
erheblich gestiegen. - Die Zulassung von Hilfsmitteln verändert die Anforderungen
an die Sicherstellung der Chancengleichheit
ebenfalls gravierend. Denn im gleichen Maße ist die
Hochschule von einer entsprechenden Beweislast im
Streitfall befreit, was zum Wegfall der Notwendigkeit für
entsprechende Überwachungsmaßnahmen führt.
Gleichzeitig wird das Täuschungspotenzial und damit
die Gefährdungslage für die Chancengleichheit während
der Prüfung herabgesenkt. - Die Einführung der Kennzeichnungspflicht fremder
Gedanken bei Online-Prüfungsformaten hat Auswirkungen
auf die Qualität der Arbeit und ist damit eher
für den Maßstab der Qualitätserwartungen relevant als
für die Chancengleichheit aller Prüflinge im Verfahren. - Die Verwendungspflicht eigener technischer Geräte
im Rahmen der freien Bearbeitung birgt zwar kein näheres
Gefährdungspotenzial für Täuschungen. Eine
funktionale Minder- oder Fehlfunktion dieser Geräte
während der Prüfung kann jedoch einen anderen Aspekt
der Chancengleichheit aktivieren, nämlich die Pflicht
zum Ausgleich unverschuldeter Nachteile der Prüflinge
in deren Darstellung der Prüfungsleistung, sog. Nachteilsausgleich.
73 Diese Fallgruppe von Nachteilsausgleichen
während der Prüfung, insbesondere in der Form
der Verlängerung der Prüfungsdauer, ist zwar nicht unbekannt
aus der analogen Welt, denkt man etwa an vorübergehenden
Lärm im Umfeld des Prüfungsraums.74
Hier wären jedoch nicht nur die Ebene der Gewährung
verschieden — individuell statt generell, sondern auch die
Wahrnehmungs- und Aufklärungsstruktur anders.
Nachteilsausgleiche durch technische Störungen, insgesamt
und speziell mit Blick auf die studentischen Endgeräte
bei der freien Bearbeitung, tragen deshalb eher die
Struktur der üblichen, vor Beginn der Prüfung gewährten
individuellen Nachteilsausgleiche als von solchen
während der Prüfung.
69 Niehues/Fischer/Jeremias, oben Fn. 28, Rn. 402.
70 BVerwG DVBl. 2020, 125 ff.
71 Niehues/Fischer/Jeremias, oben Fn. 28, Rn. 402.
72 Morgenroth, oben Fn. 30, Rn. 45 ff.
73 Niehues/Fischer/Jeremias, oben Fn. 28, Rn. 259.
74 Morgenroth, oben Fn. 30, Rn. 441.
Morgenroth · Corona in der Hochschulpraxis, Teil II: Online-Prüfungen 1 2 7
cc) Datenschutzrecht
Durch die IT-basierte Übertragung weitgehender Informationen
bzw. Daten mit Bezug zur Prüfung haben sich
neue Bereiche datenschutzrechtlicher Betrachtung ergeben.
75 Dazu zählen nicht nur Verarbeitung bekannter
Datenkategorien in neuen, IT-basierten Kontexten, etwa
von Name oder Matrikelnummer in IT-Systemen statt
einer Papier-Teilnehmerliste. Daneben bestehen auch
und vor allem komplett neue Datenkategorien, etwa IPAdressen
oder biometrische Daten wie Gesicht oder
Stimme,76 wobei letztere zusätzlich noch besonders zu
schützen sind, Art. 9, 35 EU-DSGVO.77 Schließlich stellen
sich auch neue Fragen der Intensität der Verarbeitung
personenbezogener Daten, etwa räumlich – Erfassung
des kompletten (privaten) Prüfungsraums oder von
Teilen dessen, zeitlich – Frequenz der Proctoring-Aufnahmen
– oder inhaltlich – Proctoring mit oder ohne
Audiofunktion.
All dies eröffnet nicht nur neue rechtliche Welten im
Zusammenhang mit dem Datenschutz. Die datenschutzrechtlich
gesetzten Grenzen wirken daneben auch auf
die Gestaltung der Prüfung ein und prägen die faktischen
Prüfungstypen und –strukturen gleichzeitig mit.
Das Absolvieren der Prüfung im ansonsten vor Einblicken
der Hochschule geschützten privaten Prüfungsraum,
Verkürzungen von Wahrnehmung der Prüfungsinhalte
oder Nachteile bei Leistungserbringung (mündliche
Online-Prüfung) oder Übertragung (schriftliche
Online-Prüfung) wirken auf Inhalt und Verfahren der
Prüfung ein.
c) Einordnung in das geltende rechtliche Regime
Welche Folgerungen für die rechtliche Erfassung der
Typologie von Online-Hochschulprüfungen können aus
den erarbeiteten Erkenntnissen abgeleitet werden? - Die open book Prüfung unterscheidet sich von der
Präsenzklausur faktisch spürbar in ihrer Vorbereitung
und Durchführung, dabei vor allem mit Blick auf die Zulässigkeit
von Hilfsmitteln. In rechtlicher Hinsicht bedeutsam
sind die neue datenschutzrechtliche Erfassung
der Prüfungsleistung, bei vorgeschalteter IT-basierter
Identitätskontrolle zusätzlich von Kategorien wie Prüfungsraum,
IP-Adresse oder biometrischer Daten, die
Bedeutsamkeit der Kennzeichnung fremder Gedanken
für die inhaltliche Qualität der Arbeit, das abgesenkte
Täuschungspotenzial durch die zugelassenen Hilfsmittel
sowie die neue Dimension des individuellen Nachteilsausgleichs
während der Prüfung. - Es bestehen auch Differenzierungsmöglichkeiten
der open book Prüfung zur Hausarbeit. Die hier wie dort
verwendbaren Hilfsmittel lassen zwar Aufsichtsmaßnahmen
gleichermaßen entfallen. Abzuprüfende Kompetenzen
und Begleitleistungen sind jedoch wegen der
stark abweichenden Prüfungsdauer verschieden. Bedeutsame
rechtliche Abweichungen, abgesehen von den
datenschutzrechtlichen Implikationen bei Identitätskontrolle
im Rahmen der open book Prüfung, bestehen dagegen
nicht. - Diese beiden Aussagen gelten entsprechend für die
take home Prüfung mit der Besonderheit, dass eine Identitätskontrolle
hier in aller Regel nicht stattfindet und die
entsprechenden datenschutzrechtlichen Implikationen
nicht typusprägend sind. - Die mündliche Online-Prüfung unterscheidet sich
von der mündlichen Präsenzprüfung faktisch spürbar in
ihrer Vorbereitung, dagegen kaum in ihrer Durchführung.
Rechtlich bedeutsam ist dagegen sowohl die stark
veränderte, durchgängige datenschutzrechtliche Erfassung
als auch die neue individualisierte Form des Nachteilsausgleichs
während der Prüfung infolge von technischer
Störungen.
d) Ergebnisse
Aus diesen Ableitung lassen sich folgende Ergebnisse
extrahieren.
aa) Open book Prüfung und take home Prüfung
Open book Prüfung und take home Prüfung stehen in
ihrer faktischen Ausgestaltung und rechtlichen Erfassung
zwischen Klausur und Hausarbeit. Sie verdienen
deshalb jedenfalls eine Anerkennung als jeweils eigenständige
Prüfungsart innerhalb des Typus der schriftlichen
Prüfungen.
Das rechtstheoretisch-rechtsmethodische Erfordernis,
einen neuen Prüfungstypus abzuleiten, scheint dagegen
für open book Prüfung und take home Prüfung
noch nicht gegeben zu sein. Die prüfungsrechtlichen
Maßstäbe sind im Vergleich zu Klausur und Hausarbeit
zwar modifiziert. Die Abweichungen lassen eine Erfassung
unter dem Typus der schriftlichen Prüfungen jedoch
weder als unangemessen im Sinne von Larenz78 erscheinen,
noch lässt sich die Verbindung von Tatbestand
und (prüfungsrechtlicher) Rechtsfolge im Sinne von
75 Die Bayrische Fernprüfungserprobungsverordnung (BayFEV)
vom 16.9.2020 erfasst als erkennbar erste integrierte staatliche
Regelung die verschiedenen Aspekte des Datenschutzes bei
Online-Prüfungen; Sandberger, oben Fn. 2, S. 157 f.
76 Fehling, oben Fn. 2, S. 146.
77 Morgenroth/ Wieczorek, OdW 2021, 7, 10.
78 Oben, Fn. 52.
1 2 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 1 7 — 1 3 2
Pawlowski79 nicht mehr plausibel erklären. Zwar besteht
insoweit die Möglichkeit einer Einwirkung datenschutzrechtlicher
Verkürzungen auf die Prüfung nach § 46 LVwVfG.
Es wird aber weiterer faktischer Verdichtung,
praktischer Erfahrung und vor allem wissenschaftlicher
und forensischer Aufarbeitung bedürfen, um belastbare,
anderslautende typologische Erkenntnisse zu generieren.
Bis dahin wird hier davon ausgegangen, dass open
book Prüfung und take home Prüfung, weder einzeln
noch in ihrer Zusammenschau, einen eigenständigen
Prüfungstypus bilden.
Die vor allem durch das Datenschutzrecht bedingten
abweichenden faktischen Strukturen legen jedoch in jedem
Falle eine eigenständige Erfassung in der Prüfungsordnung
durch eigene Regelungen nahe. Denn es bestehen
hinreichende, faktisch und rechtlich bedingte Risikopotenziale,
die es durch Regelung zu steuern gilt.
bb) Mündliche Online-Prüfungen
Die faktischen und rechtlichen Abweichungen der
mündlichen Prüfung in der Online-Variante im Vergleich
zur Präsenzprüfung fallen dagegen stärker aus.
Die IT-Dimension bewirkt sowohl für die Vorbereitung
als auch für die Durchführung erhebliche Modifizierungen
im Vergleich zur mündlichen Präsenzprüfung mit
Wirkung für Nachteilsausgleiche und Performance.
Zudem besteht hier auch noch die faktische Möglichkeit
der späteren Bewertung einer aufgezeichneten Prüfung,
der rechtlich entsprechend zu begegnen ist. All dies
führt sicher zu einer Anerkennung als eigenständige
Prüfungsart und auch zum Erfordernis einer eigenständigen
Rechtsgrundlage in der Prüfungsordnung.
Ob eine Anerkennung der mündlichen Online-Prüfung
als eigenständiger Prüfungstypus gerechtfertigt ist,
kann noch nicht abschließend beantwortet werden, liegt
nach Lage der Dinge aber deutlich näher als für open
book Prüfung oder take home Prüfung. Denn die visuelle
Überwachung bewirkt nicht nur das Erfordernis der
Betrachtung neuer datenschutzrechtlicher Aspekte, sondern
auch von Grundrechten mit Bezug zum Schutz der
Wohnung.80 Vieles wird des Weiteren davon abhängen,
welchen Einfluss die prüfungsrechtlichen Beteiligten in
den Gerichten, in der Wissenschaft und aus der Hochschulpraxis
den datenschutzrechtlichen Gegebenheiten
beimessen. Auf den ersten Blick scheinen die Abweichungen
zur mündlichen Präsenzprüfung nicht geringer
zu sein als etwa diejenigen einer elektronischen Prüfung
zu einer schriftlichen Prüfung, die anerkanntermaßen
als verschiedene Prüfungsformen bestehen.81 Auch hier
darf die weitere Entwicklung und Aufarbeitung mit
Spannung abgewartet und begleitet werden. - Begriffliche Fragen
Impulse für Veränderungen der verwendeten Begrifflichkeiten
gibt es aus dem Vorgesagten für die Verwendung
des Oberbegriffs „Prüfungsform“ (a), für die synonym
verwendete Bezeichnung „Aufsichtsarbeit“ für die
Klausur (b), und für die Benennung der Online durchgeführten
Prüfungen als „Fernprüfungen“, „digitale Prüfungen“
oder Online Prüfungen“ ©.
a) Begriff der „Prüfungsform“ als Oberbegriff?
Aus zwei Gründen erscheint der Begriff „Prüfungstyp“
gegenüber dem Terminus „Prüfungsform“ treffender
und mit weniger Missverständnispotenzial behaftet zu
sein. Denn erstens ist – unabhängig von den soeben
angestellten typologischen Betrachtungen – die Form im
Recht ihrerseits eines von vielen Verfahrensbestandteilen,
nicht aber eine Oberkategorie selbst. Für die Schriftform
(§§ 125 f. BGB) und für die elektronische Form
(§ 126 BGB) gibt es dezidierte rechtliche Vorgaben, die
jedoch mit der Einhaltung dieser Formen auf Elemente
des Verfahrens abzielen, ohne das Gesamtphänomen zu
erfassen, in das diese Formen eingebettet sind. Der
Begriff „Form“ ist im Recht deshalb traditionell anders
besetzt, seine Verwendung für Oberkategorien kontraintuitiv.
Und zweitens ist die begriffliche Verknüpfung von
Typus und Regelungsbedarf im Recht bereits sehr verbreitet,
denkt man beispielsweise an Vertragstypen82
oder Straftatbestände. Anstelle von „Prüfungsformen“
erscheint deshalb eine Oberstruktur von „Prüfungstypen“
sowohl Sinngehalt als auch Erkenntnisinteresse
besser zu erfassen.
Dass gegebenenfalls mehrere Prüfungsarten unter einen
Oberbegriff, nach hier vertretener Auffassung des
„Prüfungstyps“ zu bringen sind, wie das bisher verbreitet
vertreten wird, ist dagegen unschädlich und wegen der
Kürze und Prägnanz gegenüber anderen, ähnlich geeigneten
Begriffen wie „Prüfungsausgestaltung“ auch
vorzugswürdig.
79 Oben, Fn. 53.
80 S. oben, Nr. II.
81 Jeremias, oben Fn. 44.
82 S. oben, Fn. 48, 51.
Morgenroth · Corona in der Hochschulpraxis, Teil II: Online-Prüfungen 1 2 9
b) Bezeichnung der Klausur als „Aufsichtsarbeit“?
Trotz einer verbreiteten definitorischen Zuordnung der
Beaufsichtigung zum Begriff der Klausur83 erscheint die
synonyme Setzung der Begriffe Aufsichtsarbeit und
Klausur fragwürdig. Ein Blick auf die etymologische
Entwicklung des Begriffs „Klausur“ zeigt zunächst, wie
weit sich dessen Bedeutung zumindest für Prüfungen84
von seinem Ursprung entfernt hat. Der ursprünglich
essenzielle Teil des Begriffs, die Ableitung aus den lateinischen
Wörtern „claudere“ (dt. schließen) und „clausura“
(dt. Verschluss), verdeutlicht die Abgeschlossenheit
und Unzugänglichkeit des Klausurgegenstands als das
primäre namensgebende Element.
Zudem hat sich gezeigt, dass die strukturelle Erfassung
des Prüfungssystems durch die Online-Prüfungen
eine Erweiterung erfahren hat. Diese bewirkt, dass andere
Abgrenzungskategorien an Bedeutung gewinnen und
zunehmend prägend werden. Für die hier relevante Betrachtungsgruppe
der schriftlichen Prüfungen mit Ausnahme
der Hausarbeit scheint es nunmehr tendenziell
auf die Unterscheidung der Prüfung mit und ohne zugelassene
Hilfsmittel als auf die Aufsicht anzukommen.
Schließlich spricht auch die gedankliche Gegenprobe
eher gegen eine Gleichsetzung der Begriffe. Denn sollte
es im Einzelfall vorkommen, dass eine eingeplante Beaufsichtigung
– sei es durch Krankheit des Personals
oder durch Ausfall der Proctoringsysteme – ganz oder
vorübergehend nicht eingesetzt werden kann, so wird es
dennoch fernliegend sein, die durchgeführte Prüfung
deshalb nicht als Klausur anzusehen oder sogar gerichtlich
mit der Begründung einer fehlerhaft durchgeführten
Prüfung zu argumentieren.
Wegen der traditionell üblichen Ausübungsform ist
eine synonyme Verwendung der Begriffe „Aufsichtsarbeit“
und „Klausur“ deshalb eine geeignete begriffliche
Annäherung, sollte in rechtsverbindlichen Texten jedoch
insbesondere dann nicht verwendet werden, wenn
es gerade um die rechtliche Bewertung von Details dieses
Prüfungstyps geht.
c)Benennung der IT-basiert durchgeführten Prüfungsgestaltungen
Die durch die Corona-Situation verstärkt verwendeten
IT-basiert durchgeführten Prüfungsformen werden in
verschiedener begrifflicher Ausgestaltung verwendet,
etwa als „Fernprüfung“, „digitale Prüfung“ oder „Online-
Prüfung“. Hierzu soll im Folgenden begrifflich Stellung
genommen werden.
Die „Fernprüfung“85 ist für sich genommen kein genau
abgegrenztes Phänomen, sondern kann in vielen verschiedenen
Gestaltungen auftreten. Insoweit unterliegt
der Begriff auch nach dem Willen seiner Schöpfer noch
einem Konkretisierungs- bzw. Konsolidierungsprozess.
Dennoch scheint die gedankliche Nähe zum „Fernunterricht“
nach dem FernUSG nicht optimal, um begrifflichen
Missverständnissen vorzubeugen. Zwar verwendet
das FernUSG selbst den Begriff der „Fernprüfung“ nicht.
Es erscheint jedoch durchaus naheliegend, die „Überwachung
des Lernerfolgs“ nach absolviertem Fernunterricht
im Sinne von § 2 Abs. 1 FernUSG als Fernprüfung zu begreifen.
Um dieser Verknpüfung, die keine inhaltliche
Entsprechung hätte, zu vermeiden, soll deshalb von der
Verwendung des Begriffs „Fernprüfung“ abgeraten
werden.
Auch die Verwendung des Begriffs „digitale Prüfung“
scheint den Kern des zu erfassenden Sachverhalts nicht
vollständig zu erfassen. „Digital“ bedeutet die Abbildung
von Informationen als Zahlenkombinationen.86 Dies erfasst
zwar den Prozess der Informationsübertragung
nach beiden Seiten, der sowohl für das Verfahren als auch
für die Bewertung der Prüfung wesentlich ist. Den Charakter
der neuen Prüfungsarten gerade als Substitut für
die nicht mehr durchführbaren Prüfungsarten erfasst
diese Bedeutung jedoch in weiten Teilen nicht, etwa die
Dimensionen An- oder Abwesenheit oder A/Synchronizität
in zeitlicher Hinsicht. Der Begriff „digitale Prüfung“
scheint damit für die Zwecke der vollständigen Einordnung
der neuen Prüfungsarten etwas zu kurz zu greifen.
83 So Fischer/ Dieterich, oben Fn. 1, in Abgrenzung zur keine Aufsicht
erfordernden Hausarbeit.
84 Die Redewendung „in Klausur gehen“ ist dagegen in anderen
Kontexten noch verbreitet, beispielsweise mit Blick auf die alljährlichen
Klausursitzungen der politischen Parteien.
85 S. BayFEV, oben Fn. 75.
86 Duden | digital | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft,
letzter Abruf am 4. Februar 2021.
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Bisweilen wird auch das Kürzel „e“ vor der Benennung
der einzelnen Prüfungsart verwendet, z. B. als „e-
Klausur“. Das Kürzel verweist hierbei auf „electronic“
oder „elektronisch“. Wegen der begrifflichen und gedanklichen
Nähe zur elektronischen Form wird auch hier
empfohlen, in rechtsverbindlichen Dokumenten darauf
zu verzichten.
Auch der Begriff „IT-basiert“ scheint den Wesensgehalt
des zu Erfassenden nur unzureichend abzubilden.
Denn IT-basiert als „auf Informationstechnologie beruhend“
erfasst auch etablierte Prüfungsarten aus der analogen
Welt, beispielsweise die Hausarbeit oder den Essay,
die mittlerweile in den allermeisten Fällen auf dem Computer
und damit IT-basiert verfasst werden dürften.
Der Erfassung der vielfältigen neuen Gestaltungsformen
von Prüfungen am nächsten zu kommen scheint
der Begriff „Online-Prüfung“. „Online“ meint hier die
aktive Verbindung des die Prüfungsleistung hautsächlich
übertragenden Geräts der Informationstechnologie,
87 etwa von Computer oder Kamera also, zur Informationsverarbeitungsanlage.
Dieser Begriff inhäriert bereits
die digitale Informationsumwandlung und –übertragung,
geht aber bezüglich der Interaktion zwischen
prüfender und zu prüfender Person entscheidend darüber
hinaus. Dass in Einzelfällen zur Minimierung von
Täuschungsrisiken Prüfungen ganz oder teilweise offline,
z. B. im Flugmodus, zu absolvieren sind, schadet
der begrifflichen Passgenauigkeit von „Online“ nicht,
weil der Begriff die Anwendungsfälle dennoch alle abstrakt
korrekt erfasst.
Im Ergebnis wird deshalb empfohlen, für die infolge
der Corona-Situation aufgekommenen Prüfungstypen
bzw. ‑arten die Bezeichnung „Online-Prüfungen“ zu
verwenden.
IV. Ergebnisse
Zusammengefasst seien abschließend nochmals die
nachfolgenden wesentlichen Ergebnisse genannt: - Es bestehen gute Gründe dafür, die datenschutzrechtlichen
Regelungen zur Bewältigung der Corona-Situation,
insbesondere zur Erfassung von Online-Lehre
und Online-Prüfungen, in Anwendung der Vorgaben
des BVerfG zumindest auch, möglicherweise ausschließlich,
am Maßstab von EU-Grundrechten prüfen zu müssen.
(oben, II. 2). Dies gilt besonders, wenn die daten
schutzrechtliche Legitimation der Datenverarbeitung
auf der Grundlage einer Einwilligung erfolgt (s. oben,
II. 3). Den Hochschulen wird deshalb empfohlen, den
Maßstab der EU-Grundrechte zu berücksichtigen. - Für den Fall, dass eine Anwendbarkeit nationaler
Grundrechte neben den EU-Grundrechten angenommen
wird, so ist zu beachten, dass die relevanten Grundrechte
unterschiedliche Schutzgehalte, Strukturen und
Intensitäten aufweisen: Im Rahmen des prüfungsrechtlichen
Gebots der Chancengleichheit steht einer traditionell
anerkannten und detailliert ausgestalteten deutschen
Grundrechtsverbürgung aus Art. 3 Abs. 1 GG eine
bestenfalls rudimentär vorhandene EU-rechtliche
Grundrechtserfassung gegenüber (s. oben, II. 4 a.). Umgekehrt
ist das EU-Grundrecht auf Achtung der Wohnung
in Art. 7 GrCh europarechtlich solide entwickelt
und strukturell leicht zu erfassen, während die Anwendbarkeit
des deutschen Pendants aus Art. 13 GG infolge
fortschreitender Grundrechtskonkurrenzen zunehmend
erodiert und zudem strukturell die hiesige Problematik
bestenfalls am Rande erfasst (s. oben, II. 4 b.). - Die neuartigen Gestaltungen schriftlicher Online-
Prüfungen in den Formen der open book Prüfung und
der take home Prüfung weisen eigenständige, faktische
und rechtliche Charaktermerkmale auf, die sowohl eine
Zubilligung als eigenständige Prüfungsarten als auch das
Erfordernis einer Erfassung in eigenständigen Rechtsgrundlagen
in der Prüfungsordnung rechtfertigen. Die
Identifizierung dieser Prüfungsgestaltungen als eigener
Prüfungstypus im Sinne einer rechtstheoretisch-rechtsmethodischen
Einordnung scheint dagegen vorerst nicht
angezeigt (s. oben, III. 2 d aa.) - Ebenso sind Online absolvierte, mündliche Prüfungen
wegen Art und Intensität ihrer Besonderheit sowohl
als eigene Prüfungsart als auch als Gegenstand eigener
Regelung in der Prüfungsordnung zu betrachten.
Zudem sprechen gute Gründe für ihre Erfassung als eigenständiger
Prüfungstypus, vor allem wegen der starken
Implikationen des Gebots der Chancengleichheit bei
technischen Störungen sowie der erheblichen Erweiterung
der grundrechtlichen Relevanz im Datenschutzrecht
und im Recht des räumlichen Schutzes der Privatheit.
Die weitere Entwicklung wird zeigen, inwieweit
sich diese Annahme verifiziert (s. oben, III. 2 d bb.). - Statt des Begriffs „Prüfungsform“ wird der Begriff
des „Prüfungstyps“ als Oberbegriff für die Erfassung
87 Duden | Online | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft,
letzter Abruf am 4. Februar 2021.
Morgenroth · Corona in der Hochschulpraxis, Teil II: Online-Prüfungen 1 3 1
hinreichend gleichartiger Prüfungsformen vorgeschlagen,
da die Verwendung von „Form“ im Recht üblicherweise
eher einzelne Verfahrenselemente als Gesamtphänomene
beschreibt und dieser Begriff der methodischen
Herangehensweise der Typenbildung auch näher ist (s.
oben, III. 3 a.). - Die verbreitete synonyme Verwendung der Begriffe
„Aufsichtsarbeit“ und „Klausur“ ist als semantische
Annäherung gut geeignet, vor allem in methodischen
Kontexten jedoch aus etymologischen, aktuellen strukturellen
und auch praktischen Erwägungen heraus ungenau
(s. oben, III. 3 b.). - Für die Bezeichnung von auf der Grundlage von
IT-Systemen durchgeführten Prüfungen erscheint der
Terminus der „Online-Prüfung“ gegenüber ebenfalls
verwendeten Begriffen wie „Fernprüfung“, „digitale Prüfung“
oder „e‑Prüfung“ vorzugswürdig, weil er die Besonderheiten
gerade dieser Kommunikationsstruktur
am besten erfasst (s. oben, III. 3 c.).
Dr. iur. Carsten Morgenroth ist Justiziar der Ernst-
Abbe-Hochschule sowie Referent und Fachautor im
Hochschulstudien- bzw. –prüfungsrecht. Der Beitrag
gibt die persönliche Auffassung des Autors wider.
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