ÜBERSICHT**
I. Einführung: Der Siegeszug der Ethikkommissionen und ihre grundrechtliche Problematik
II. Große Bandbreite der Erscheinungsformen und Befugnisse von Ethikkommissionen
- Unterschiedliche Zusammensetzung und Trägerschaft
- Verknüpfung mit unterschiedlichen (Verwaltungs-)Aufgaben und Entscheidungen
- Unterschiedlich weitreichende Bindungswirkung ihres Votums
- Der Beurteilungsmaßstab: rechtlich und/oder ethisch?
III. Vereinbarkeit der Einschaltung einer Ethikkommission mit der Forschungsfreiheit - Gemengelage deutschen und europäischen Grundrechtsschutzes
- Unterschiedlich intensiver Eingriff in die Forschungsfreiheit
- Besonderheiten beim Einsatz von Ethikkommissionen in der Forschungsförderung
- Rechtfertigungsmöglichkeit durch kollidierende deutsche bzw. Unions-Grundrechte
- Herstellung eines verhältnismäßigen Ausgleichs kollidierender Verfassungspositionen als zentrales Problem
a) Grundlagen
b) Bewältigungsstrategien des Gesetzgebers - Konsequenzen für die Auslegung und Handhabung der einschlägigen Normen
IV. Gewisser Nutzen der Einschaltung einer Ethikkommission auch für die Forschungsfreiheit - Verbesserte Rechtssicherheit für die beteiligten Forscher
- Partielle Entlastung von Verantwortung?
- Reduzierte gerichtliche Kontrolldichte zwischen Gefährdung und Schutz der Wissenschaftsfreiheit
V. Fazit
I. Einführung: Der Siegeszug der Ethikkommissionen und ihre grundrechtliche Problematik
Ausgehend von den USA,1 haben sich Ethikkommissionen seit den 1980er-Jahren auch in Europa zur Beurteilung von Forschungsvorhaben immer mehr etabliert. Ausgangs- und Mittelpunkt war und ist die klinische Arzneimittelforschung, die im Spannungsverhältnis zwischen Forschungsinteressen (und davon erhofftem Ertrag für die künftige Gesundheitsversorgung) einerseits sowie Patienten- bzw. Probandenschutz andererseits besonders handgreifliche ethische Probleme aufwirft. Die Richtlinie 2001/20/EG „über die gute klinische Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen von Humanarzneimittel“2 und die Nachfolgeverordnung (EU) 2014/536 – wohl erst 2020 vollumfänglich anwendbar – enthalten zwar nur Teilregelungen, haben aber auch darüber hinaus eine Annäherung des Rechtsrahmens in den verschiedenen Mitgliedstaaten bewirkt.4 In Deutschland sind §§ 40 Abs. 1 Satz 2, 42, 42a AMG5 nebst der GCP-Rechtsverordnung6 einschlägig. EthikMichael
Fehling*
Ethikkommissionen: Gefahr oder Chance für die Wissenschaftsfreiheit?
- Zum Gedenken an meinen akademischen Lehrer, Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Bullinger (5. April 1930 – 23. Januar 2021), der 22 Jahre (!) ehrenamtlich als Rechtsberater des Rektors der Universität Freiburg tätig war.
** Umgearbeitete Fassung eines englischsprachigen Vortrags vom 25.9.2020 auf der deutsch-italienischen Tagung „Academic Freedom under Pressure“ (Tagungsband im Erscheinen); dort stand die rechtsvergleichende Betrachtung im Vordergrund, während hier der Schwerpunkt auf der deutschen Rechtsdogmatik liegt. – Meinem wiss. Mitabeiter Vincent Mittag danke ich für wertvolle Hilfe insb. bei den Nachweisen.
1 Aus deutscher Sicht Deutsch, Das neue Bild der Ethikkommission, MedR 2006, S. 411; für die Vereinigten Staaten Bork, Ethik-Kommissionen in den USA, NJW 1983, S. 2056.
2 Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 4. April 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanmedizin, ABl. L 121 vom 1.5.2001, S. 34.
3 Verordnung (EU) 2014/536 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16 April 2014 über klinische Prüfung mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG, ABl. L 158 vom 27.5.2014, S. 1; siehe im Überblick Lanzerath, Europäische Ethikkommissionen im Wandel: Herausforderungen durch neue Rahmenbedingungen, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsschutz – Gesundheitsforschung 2019, S. 697, 700.
4 Vgl. zur Ablösung nationaler Bestimmungen allgemein Lippert, Klinische Prüfung von Tierarzneimitteln unter der Verordnung (EU) 2019/6, PharmR 2019, S. 278; zurückhaltender, was eine Harmonisierung betrifft, Lanzerath (Fn. 3), Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsschutz – Gesundheitsforschung 2019, S. 697, 701 f.; die Tendenz von Bestrebungen einheitlicher Regelungen auf europäischer Ebene betonend bereits Doppelfeld, Mögliche neue Tätigkeitsfelder für Ethik-Kommissionen, MedR 2008, S. 645, 646 f. und 649 zur damaligen Rechtslage.
5 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005, BGBl. I S. 3394 zuletzt geändert durch Gesetz vom 9.12.2020, BGBl. I S. 2870.
6 Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen (GCP-Verordnung – GCP‑V) vom 9. August 2004, BGBl. I S. 2081, zuletzt geändert durch Verordnung vom 20.12.2016, BGBl. I S. 3048.
Ordnung der Wissenschaft 2021, ISSN 2197–9197
1 0 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 0 3 — 1 1 6
7 Gesetz über Medizinprodukte (Medizinproduktegesetz – MPG)
in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. August 2002, BGBl. I
S. 3146 zuletzt geändert durch Verordnung vom 19.6.2020, BGBl.
I S. 1328.
8 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang
mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler
Stammzellen (Stammzellengesetz – StZG) vom 28. Juni 2002,
BGBl. I S. 2277 zuletzt geändert durch Gesetz vom 29.3.2017,
BGBl. I 2277.
9 Verordnung zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender
Strahlung (Strahlenschutzverordnung – StrlSchV) vom 29.
November 2018, BGBl. I, S. 2036 zuletzt geändert durch Verordnung
vom 27.3.2020, BGBl. I S. 748.
10 Gesetz zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender
Strahlung (Strahlenschutzgesetz – StrlSchG) vom 27. Juni 2017,
BGBl. I S. 1966 zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.10.2020,
BGBl. I S. 2232
11 Tierschutzgesetz vom 18. Mai 2006, BGBl. I, S. 1206 zuletzt geändert
durch Verordnung vom 19.6.2020, BGBl. I S. 1328.
12 Siehe nur BVerfGE 35, S. 202, 219 ff.
13 Zur Abgrenzung unten III. 1.
14 Albers, Die Institutionalisierung von Ethik-Kommissionen: Zur
Renaissance der Ethik im Recht, KritV 2003, S. 410, 435.
15 Deutsch (Fn. 1), MedR 2006, S. 411, 413.
16 Von einer Annäherung an peer review gehen insoweit wohl aus
Just, Die Professionalisierung der Ethik-Kommissionen, einer
Einrichtung der Selbstkontrolle der Wissenschaft, MedR 2008,
S. 640, 643; Gramm, Ethikkommissionen: Sicherung oder Begrenzung
der Wissenschaftsfreiheit?, WissR 1999, S. 209, 217. Dazu
auch unten III. 5. b. sowie IV. 3.
17 Ähnliche Einschätzung Lanzerath Fn.(3), Bundesgesundheitsblatt
– Gesundheitsschutz – Gesundheitsforschung 2019, S. 697, 702 f.;
Vereinheitlichungsbedarf hervorhebend Deutsch (Fn. 1), MedR
2006, S. 411, 416.
kommissionen zur Begutachtung von Forschungsvorhaben
finden sich darüber in Deutschland aber auch in
immer weiteren Rechtsgebieten, etwa im Medizinproduktegesetz7
(§§ 20,22 MPG), im Stammzellengesetz8
(§§ 5, 6, 9 StZG), in der Röntgenverordnung RöV) und
in der Strahlenschutzverordnung9 (§§ 31, 36 StrlSchV).10
Mittlerweile gibt es solche Kommissionen sogar außerhalb
der Forschung am Menschen für Tierversuche im
Tierschutzgesetz11 (§ 15 Abs. 1 Satz 2 TSchG).
Die am Beispiel der Arzneimittelstudien beschriebene
ethische Konfliktlage spiegelt sich in einem grundrechtlichen
Spannungsverhältnis wider, nämlich zwischen
Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG bzw.
Art. 13 Satz 1 GrCh) einerseits sowie Persönlichkeitsrechten
einschließlich informationeller Selbstbestimmung12
(Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 7, 8
GrCh) und Gesundheitsschutz (Art. 2 Abs. 2 GG bzw.
Art. 3 GrCh) der Probanden/Patienten andererseits. Soweit
Forschungsvorhaben in der einen oder anderen
Form von der vorherigen Befassung einer Ethikkommission
abhängig gemacht werden, liegt darin zunächst einmal
eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung und
im Sinne unseres Themas Gefährdung der Forschungsfreiheit
(unten III.). Bei genauerem Hinsehen lassen sich
aber auch gewisse Vorteile für die betroffenen Forscher
und auch für die Forschungsfreiheit identifizieren, namentlich
durch verbesserte Rechtssicherheit und möglicherweise
sogar eine partielle Entlastung von Verantwortung;
auch die – reduzierte – verwaltungsgerichtliche
Kontrolldichte könnte sich tendenziell eher freiheitsschonend
auswirken (IV.).
Bei alledem handelt es sich zwar primär um übergeordnete
grundrechtliche Fragestellungen, in erster Linie
auf Verfassungsebene, teilweise aber auch auf unionaler
Ebene.13 Aus zwei Gründen lassen sich dennoch die einfachgesetzlichen
Grundlagen bei unserem Thema nicht
komplett ausblenden. Zum einen sind die Befugnisse
von Ethikkommissionen bereichsspezifisch höchst unterschiedlich
geregelt, was wiederum die grundrechtliche
Prüfung und Abwägung prägt. Zum anderen wirkt
die Grundrechtslage potenziell auf die Auslegung des
einfachen Rechts zurück; die maßgeblichen Bestimmungen
müssen gegebenenfalls verfassungs- bzw. unionsrechtskonform
so ausgelegt und gehandhabt werden,
dass die kollidierenden Verfassungspositionen im Sinne
praktischer Konkordanz möglichst weitreichend zur
Geltung kommen. Dementsprechend soll zunächst die
Bandbreite der Erscheinungsformen und Befugnisse solcher
Ethikkommissionen im geltenden Recht skizziert
werden (sogleich II.).
II. Große Bandbreite der Erscheinungsformen und
Befugnisse von Ethikkommissionen
- Unterschiedliche Zusammensetzung und Trägerschaft
Eine Ethikkommission ist schon begriffsnotwendig ein
unabhängiges Gremium aus Experten verschiedener
Fachrichtungen, die zusammen (gegebenenfalls mit
Mehrheitsentscheidung)14 eine Stellungnahme abgeben.
Dies bildete den Kern der Legaldefinition in Art. 2 Abs. 2
Ziff. 11 der VO (EU) 2014/536 (ähnlich in Art. 2 (k) der
früheren EG-Richtlinie) und kann auch für Ethikkommissionen
außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung
als Leitvorstellung dienen. Welche Gruppen
über die jeweils relevanten medizinischen Fachrichtungen
hinaus vertreten sind – neben einem Juristen z.B.
Ethiker, Geistliche oder auch „einfache“ Bürger15 –, ist
von Kommission zu Kommission unterschiedlich, ebenso
die Zahl der Mitglieder. Insoweit handelt es sich nur
partiell um Peer Review.16 Näheres divergiert nicht nur
zwischen den europäischen Staaten,17 sondern auch
innerhalb Deutschlands. Für die Zusammensetzung und
Arbeitsweise der Ethikkommissionen gilt nämlich größtenteils
Landesrecht, namentlich in den HeilberufskamFehling
· Ethikkommisionen 1 0 5
18 Beispiele bei Kern, Standortbestimmung: Ethikkommissionen –
auf welchen Gebieten werden sie tätig?, MedR 2008, S. 631, 634
f.; siehe für Berufsordnungen Deutsch (Fn. 1), MedR 2006, S. 411,
412.
19 So z. B. Just (Fn. 16), MedR 2008, S. 640 ff.
20 Just (Fn. 16), MedR 2008, S. 640, 642 und 644.
21 Doppelfeld (Fn. 4), MedR 2008, S. 645, 646.
22 Früher hatten private Ethikkommissionen noch im Anwendungsbereich
des Medizinproduktegesetzes sowie der Röntgen- und
Strahlenschutzverordnung Bedeutung, vgl. Kern (Fn. 18), MedR
2008, S. 631, 634.
23 Siehe für „Horizon 2020“ insbesondere Art. 14 Verordnung
(EU) 1290/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 11. Dezember 2013 über die Regeln für die Beteiligung am
Rahmenprogramm für Forschung und Innovation “Horizont
2020” (2014–2020) sowie für die Verbreitung der Ergebnisse und
zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1906/2006, ABl. L 347
vom 20.12.2013, S. 81; Art. 19 Verordnung (EU) 1291/2013 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013
über das Rahmenprogramm für Forschung und Innovation Horizont
2020 (2014–2020) und zur Aufhebung des Beschlusses Nr.
1982/2006/EG, ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 104; erwähnt auch
von Lanzerath (Fn. 3), S. 697, 701. Siehe für „Horizon Europe“
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments
und des Rates über das Rahmenprogramm für Forschung und
Innovation „Horizont Europa” sowie über die Regeln für die
Beteiligung und die Verbreitung der Ergebnisse COM (2018) 435
final vom 7. Juni 2018 insbesondere Art. 15.
24 Doppelfeld (Fn. 4), MedR 2008, S. 645.
25 Fehling, Verfassungskonforme Ausgestaltung von DFG-Förderbedingungen
zur Open-Access-Publikation, OdW 2014, S. 179, 193;
allgemein auch Britz, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 3.
Aufl. 2013, Art. 5 Abs.3, Rn. 61.
26 Siehe zu den Aufgaben des Deutschen Ethikrates § 2 EthRG; vgl.
ferner Lindner, Deutscher Ethikrat als praeceptor iurisdictionis?,
ZRP 2017, S. 148, 149.
27 Hufen, Wissenschaft zwischen Freiheit und Kontrolle, NVwZ
2017, S. 1265.
28 Siehe zu dieser Entwicklung Doppelfeld (Fn. 4), S. 645; Just (Fn.
16), MedR 2008, S. 640 ff.
29 Diese Genehmigung (abzugrenzen von der Zulassung eines
Arzneimittels, worum es in diesem Beitrag nicht geht) ist stets gemeint,
wenn im Folgenden verkürzend nur von „Genehmigung“
oder „Zulassung“ die Rede ist.
mergesetzen.18 Die Kommissionsmitglieder arbeiten
regelmäßig ehrenamtlich; die immer wieder geforderte
Professionalisierung19 schlägt sich im Wesentlichen in
der Zuarbeit durch eine Geschäftsstelle oder Ähnlichem
nieder.20
Organisatorisch sind Ethikkommissionen, die projektbezogene
Einschätzungen abgeben, meist entweder
bei den Ärztekammern oder den Universitäten angesiedelt,
gelegentlich aber auch bei Fachinstituten.21 Private
Ethikkommissionen spielen außerhalb des reinen Berufs-
Standesrechts keine bedeutende Rolle mehr.22 - Verknüpfung mit unterschiedlichen (Verwaltungs-)
Aufgaben und Entscheidungen
Im Zentrum unseres Themas steht die Beteiligung von
Ethikkommissionen an der Entscheidung über die
Genehmigung bestimmter Forschungsprojekte, namentlich
klinischer (Arzneimittel-)Studien. Darauf bezogen
sich die zuvor genannten gesetzlichen Beispiele. Daneben
ist ein zustimmendes Votum solch einer Kommission
verbreitet Voraussetzung für die Gewährung von Forschungsförderung,
auch und gerade auf EU-Ebene im
Forschungsrahmenprogramm „Horizon 2020“ und dem
Nachfolgeprogramm „Horizon Europe“.23 Schließlich
machen entsprechende Fachzeitschriften die Publikation
oftmals ebenfalls von einer solchen positiven Stellungnahme
abhängig.24 Dies ist freilich regelmäßig nicht
mehr dem Staat zurechenbar und deshalb nicht unmittelbar
grundrechtlich relevant – es sei denn, eine semistaatliche
und deshalb grundrechtsgebundene Forschungsorganisation25
(wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft)
hatte eine diesbezügliche Auflage bereits in
ihre Förderbedingungen aufgenommen.
Über solche projektbezogenen Voten hinaus werden
Ethikkommissionen – wie beispielsweise der Deutsche
Ethikrat – allgemein zur Politikberatung eingesetzt, sei
es strategisch oder bei konkreten Gesetzesvorhaben.26
Da diese abstrakt-generelle Politikberatung jedoch weit
im Vorfeld konkreter Gesetzgebungs- oder sonstiger
rechtserheblicher Maßnahmen angesiedelt ist und daher
die Forschungsfreiheit noch nicht berührt,27 bleibt sie
im Folgenden ausgeklammert. - Unterschiedlich weitreichende Bindungswirkung
ihres Votums
Ursprünglich hatten Ethikkommissionen, auch im deutschen
Arzneimittelrecht, meist nur beratende Funktion;
die zuständige Behörde war bei ihrer Genehmigungsentscheidung
an deren Votum nicht gebunden. Dies ist heute
jedoch die Ausnahme,28 eine solche Regelung findet
sich etwa in Hessen an medizinischen Fachbereichen,
soweit es um die Durchführung klinischer Versuche an
Menschen geht, die nicht dem AMG unterliegen, oder
bei epidemiologischen Forschungen mit personenbezogenen
Daten (vgl. § 53 HHG).
Bei Arzneimittelstudien bestimmt seit 2004
§ 40 Abs. 1 Satz 2 AMG, dass die klinische Prüfung eines
Arzneimittels nur begonnen werden darf, wenn neben
der behördlichen Genehmigung der Studie29 kumulativ
auch ein zustimmendes Votum der Ethikkommission
vorliegt. Diese bindende Wirkung einer Ablehnung
durch die Ethikkommission ist seit 2001 auch EU-recht1
0 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 0 3 — 1 1 6
30 Zur im Text genannten Funktion des Rechts insb. Luhmann, Das
Recht der Gesellschaft, 1993, S. 124 ff.
31 Auf Luhmann in diesem Zusammenhang hinweisend, Albers
(Fn. 14), KritV 2003, S. 410, 426, Fußnoten 32 und 33; Fateh-
Moghadam/Atzeni, Ethisch vertretbar im Sinne des Gesetzes –
Zum Verhältnis von Ethik und Recht am Beispiel der Praxis von
Forschungs-Ethikkommissionen, in: Vöneky/Hagedorn/Clados/
von Achenbach (Hrsg.), Legitimation ethischer Entscheidungen
im Recht – Interdisziplinäre Untersuchungen, 2009, S. 115 mit
dortiger Fn. 1 sowie S. 119 mit dortigen Fn. 14 u.15.
32 Fateh-Moghadam/Atzeni (Fn. 31), S. 115 ff.; Albers (Fn. 14), KritV
2003, S. 410, 426 ff. mit einigen (nicht ganz klaren) Modifikationen
auf S. 430 ff.
33 Dazu allgemein statt vieler Fehling, Das Verhältnis von Recht und
außerrechtlichen Maßstäben, in: Trute et al. (Hrsg.), Allgemeines
Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S.
461, 467 ff. m.w.N.
34 Dazu näher unten III. 6.
35 Deutsch, Entstehung und Funktion der Ethikkommissionen in
Europa, MedR 2008, S. 650, 653 f.
36 Kern (Fn. 18), MedR 2008, S. 631, 635 f.
37 Fateh-Moghadam/Atzeni (Fn. 31), S. 115, 141 f.
38 S. für einen Überblick Bernsdorff, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.),
Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019,
Art. 13 Rn. 14 f.; Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021,
Art. 13 Rn. 7 ff.
lich vorgeschrieben (heute Art. 4 VO (EU) 536/2014).
Dadurch haben sich die Ethikkommissionen immer
mehr von ethischen und berufsrechtlichen Beratungsgremien
zur rechtsanwendenden Patientenschutzeinrichtung
mit Behördencharakter entwickelt.
Einen Zwischenweg beschreitet etwa das Stammzellengesetz
(§ 6 Abs. 5 StZG). Hier ist das Votum der Ethikkommission
„zu berücksichtigen“, bindet aber die Behörde
nicht. Wenn diese jedoch von dem Votum abweichen
will, hat sie die Gründe hierfür schriftlich darzulegen
(„comply or explain“). - Der Beurteilungsmaßstab: rechtlich und/oder
ethisch?
Welchen Beurteilungsmaßstab die Ethikkommission bei
ihrem Votum zugrunde zu legen hat, richtet sich nach
dem jeweiligen Fachgesetz. Dies wirft die Frage auf, welche
Rolle ethische Gesichtspunkte, die ja für diese Kommissionen
namensgeben sind, dabei eigentlich noch
spielen können.
Vordergründig ist die Sache klar: Vorrang
(Art. 20 Abs. 3 GG) und Vorbehalt des Gesetzes lassen
jenseits des gesetzlichen Entscheidungsmaßstabs kaum
mehr Raum für die Prüfung der ethischen Vertretbarkeit
jedenfalls dort, wo das Kommissionsvotum mehr ist als
nur ein Appell an die persönliche Verantwortung des
Forschers. Man muss kein Anhänger der Systemtheorie30
sein, um zu betonen, dass es gerade und ausschließlich
die Funktion des Rechts ist, gesellschaftliche Konflikte
verbindlich zu entscheiden und dadurch normative
Erwartungen zu stabilisieren.31 Die Trennung von
Ethik und Recht ist eine zentrale Errungenschaft der
Moderne. Im Ausgangspunkt bleibt damit die Entscheidung
einer Ethikkommission, sofern sie Rechtswirkungen
auslöst, konsequenterweise ausschließlich
Rechtsanwendung.32
Allerdings kann das anzuwendende Gesetzesrecht
auf außerrechtliche Maßstäbe, einschließlich ethischmoralischer,
verweisen, sei es in unbestimmten Rechtsbegriffen
oder in Abwägungsaufträgen.33 Im hiesigen
Kontext liegt dies vor allem dort nahe, wo das Gesetz –
wie etwa für klinische Arzneimittelstudien in
§ 42 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 2 AMG – explizit
oder implizit auf eine Risiko-Nutzen-Abwägung verweist.
Unbestimmte (Schleusen-)Begriffe wie „(Un-)
Vertretbarkeit“ – z.B. in § 40 Abs. 1 Nr. 2a AMG: „unvertretbare
schädliche Auswirkungen […]“ – können bei
der Anwendung im Einzelfall ebenfalls zu ethischen Bewertungen
führen. Auch in solchen Konstellationen
bleibt die Abwägung bzw. Beurteilung im Kern jedoch
eine rechtliche, weil in beide Richtungen (d.h. zum
Schutz der Forschungsfreiheit wie der Probandenrechte)
grundrechtsgebunden und ‑gesteuert.34 Die allermeisten
gesetzlichen Beurteilungsmaßstäbe für die Ethikkommissionen
sind ohnehin eher formaler Natur – etwa Versicherungsschutz
oder Qualifikation der beteiligten Forscher
sowie Aufklärung der Probanden betreffend35 –, so
dass dort die ethische Vertretbarkeit der projektierten
Studie von vornherein keine Rolle spielen kann.36
Macht vor diesem Hintergrund der Name „Ethikkommission“
überhaupt noch Sinn? Jedenfalls aus soziologischer
Perspektive dient diese Ausflaggung wohl in
erster Linie dazu, die Verständigung zwischen den unterschiedlichen
Fachrichtungen in der Kommission zu
erleichtern. Mediziner und andere Fachwissenschaftler
müssen sich nicht auf einen genuin juristischen Diskurs
einlassen, sondern können sich mit ihren fachlichen Argumenten
gleichsam auf dem gemeinsamen „neutralen“
Grund der Ethik treffen.37
III. Vereinbarkeit der Einschaltung einer Ethikkommission
mit der Forschungsfreiheit - Gemengelage deutschen und europäischen Grundrechtsschutzes
Die Forschungsfreiheit ist nicht nur im Grundgesetz
(Art. 5 Abs. 3 GG), sondern auch in der EU-Grundrechtecharta
(Art. 13 Satz 1 GrCh) mit wohl ähnlichem
Gehalt gewährleistet.38 Unionsgrundrechte sind nach
Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh zum einen anwendbar, wenn
Fehling · Ethikkommisionen 1 0 7
39 Siehe allgemein EuGH, Urt. v. 26.2.2013, C‑617/10
ECLI:EU:C:2013:105 Rn. 16 ff. Åklagaren vs. Åkerberg Fransson;
EuGH, Urt. v. 6.3.2014, C‑206/13 ECLI:EU:2014:126 Rn. 16
ff. Siragusa v. Regione Sicilia – Soprintendenza Beni Culturali e
Ambientali di Palermo.
40 Zu „hinkenden“ EU-Verordnungen, die nur eine Teilregelung
enthalten und deshalb auf ergänzendes (nicht: umsetzendes)
nationales Recht angewiesen sind, siehe allgemein Ruffert, in:
Calliess, Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 5. Aufl. 2016,
Art. 288 AEUV Rn. 21.
41 In diese Richtung allgemein EuGH, Urt. v. 24.9.2019 C‑507/17
ECLI:EU:C:2019:722 Rn. 67 Google LLC v. Commission nationale
de I´informatique et des libertés (CNIL); im Überblick zu dieser
im Detail umstrittenen Frage Bäcker, Das Grundgesetz als Implementationsgarant
der Unionsgrundrechte, EuR 2015, S. 389, 391
ff. m.w.N.
42 Grundlegend BVerfGE 35, S. 79, 114; aus neuerer Zeit BVerfGE
141, S. 143, 165.
43 Für ein enges Verständnis etwa Böckenförde, Schutzbereich,
Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, Der Staat 42 (2004),
S. 165, 185 f.; Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter
Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2003), 203 ff.; speziell zur
Wissenschaftsfreiheit grundlegend Wahl, Freiburger Univ.-Bl. 95
(3/1987), S. 32 ff.; kritisch etwa Kahl, Vom weiten Schutzbereich
zum engen Gewährleistungsgehalt – Kritik einer neuen Richtung
der deutschen Grundrechtsdogmatik, Der Staat 43 (2004), S. 167,
184 ff.; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl.
2018, § 19 Rn. 11 ff.; grundlegend zur Abwägungslösung Alexy,
Theorie der Grundrechte, 3. Aufl. 1996, insb. S. 290 ff.; für die
Wissenschaftsfreiheit etwa auch Losch/Radau, Forschungsverantwortung
als Verfahrensaufgabe, NVwZ 2003, S. 392 f.; Würtenberger/
Tanneberger, Biosicherheit und Forschungsfreiheit, OdW
2014, S. 1, 5 ff.
44 BVerfG NJW 1984, S. 1293, 1294 wonach die Beeinträchtigung
fremden Eigentums nicht vom Schutzbereich der Kunstfreiheit
umfasst ist. Zur Kontroverse über die Trag- und Verallgemeinerungsfähigkeit
vgl. für die Forschungsfreiheit nur Pieroth/
Schlink, Grundrechte, 18. Aufl. 2002, Rn. 524 ff. (in Kingreen/
Poscher, Grundrechte, 35. Aufl. 2019, so nicht mehr enthalten);
und Lerche, Verfassungsfragen der Gentechnologie, in: Lukes/
Scholz (Hrsg.), Rechtsfragen der Gentechnologie, 1986, S. 91 ff.
einerseits, Waechter, Forschungsfreiheit und Forschungsvertrauen,
Der Staat 30 (1991), S. 44 f., andererseits.
45 Angedeutet bei Fehling, in: Bonner Kommentar zum GG, 110.
Lfg. 2004, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaftsfreiheit) Rn. 147; Dähne,
Forschung zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit,
2007, S. 308; in diese Richtung auch Würtenberger/Tanneberger
(Fn. 43), OdW 2014, S. 1, 5 f., allerdings mit etwas weitergehender
Tendenz, den Beschluss zum „Sprayer von Zürich“ zu
verallgemeinern.
46 Dazu allgemein statt vieler nur BVerfGE 13, S. 181, 185 f.; Dreier,
in: ders. (Fn. 25), Vorbemerkungen vor Art. 1, Rn. 125 ff.
die EU-Kommission für die europäische Forschungsförderung
die Einschaltung einer Ethikkommission verlangt.
Zum anderen ist die europäische Forschungsfreiheit
maßgeblich, wenn das Unions-Sekundärrecht39 wie
für klinische Arzneimittelstudien (dort mit einer „hinkenden“
EU-Verordnung40) eine Teilregelung enthält.
Richtigerweise bleibt in dieser Konstellation daneben
aber auch die nationale Wissenschaftsfreiheit anwendbar,
soweit auf nationaler Ebene – wie im genannten Beispiel
der Arzneimittelforschung – noch ein Spielraum
für ergänzende Regelungen besteht.41
Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren
sich auf die deutsche Grundrechtsordnung, weil dort angesichts
vieler Lücken im EU-rechtlichen Rahmen immer
noch der Schwerpunkt der Prüfung liegt und die
dogmatischen Konturen im nationalen Verfassungsrecht
klarer sind. Vergleichend wird jedoch immer zumindest
kurz auf die Grundrechtecharta und eventuelle Abweichungen
hingewiesen. - Unterschiedlich intensiver Eingriff in die Forschungsfreiheit
Das Recht, Forschungsprojekte unabhängig von staatlichen
Vorgaben frei wählen, konzipieren und durchführen
zu können, ist ein Kern der Wissenschaftsfreiheit.42
Allerdings gewährt Art. 5 Abs. 3 GG von vornherein keine
Befugnis, bei der Forschung in Rechte Dritter einzugreifen.
Dies muss, unabhängig von der allgemeinen
Kontroverse um eine enge oder weitere Auslegung
grundrechtlicher Schutzbereiche43 und dem Streit um
die Verallgemeinerungsfähigkeit der Kammerentscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zum „Sprayer von
Zürich“, 44 jedenfalls dann gelten, wenn final in die körperliche
Integrität Dritter eingegriffen wird;45 eine
Abwägungslösung auf Schrankenebene würde der fundamentalen
Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 GG jedenfalls
in dieser Konstellation nicht gerecht. Bei klinischen Studien
beeinträchtigt es deshalb die Wissenschaftsfreiheit
nicht, wenn die Einwilligung der beteiligten Probanden/
Patienten verlangt wird. Auf die Forschung mit Stammzellen
lässt sich diese Überlegung indes nicht übertragen,
denn dort ist kein eigenes Rechtssubjekt betroffen.
Insoweit handelt es sich in vollem Umfang um einen
rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Forschungsfreiheit.
Das Vorliegen eines Eingriffs hängt als solches nicht
davon ab, wie weit die Bindungswirkung des Votums der
Ethikkommission reicht. Nicht erst dann, wenn die Forschung
nur bei Zustimmung durch die Ethikkommission
durchgeführt werden darf (wie im Arzneimittelrecht),
ist ein Eingriff in die Forschungsfreiheit gegeben,
sondern auch schon bei der Verpflichtung der staatlichen
Genehmigungsbehörde zu „comply or explain“ wie
im Stammzellengesetz. Denn in Grundrechte kann bekanntlich
nicht nur durch Befehl und Zwang eingegriffen
werden; die Eingriffsschwelle ist vielmehr bereits
dann überschritten, wenn rechtliche Rahmenbedingungen
geschaffen werden, die dem Grundrechtsträger die
Ausübung des Grundrechts faktisch erheblich erschweren.
46 Die Intensität des Eingriffs ist dann allerdings geringer.
Wird eine Ethikkommission dagegen rein beratend
tätig, ohne dass daran irgendwelche Rechtsfolgen –
1 0 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 0 3 — 1 1 6
47 So wohl Hufen (Fn. 27), NVwZ 2017, S. 1265, 1268; weniger
eindeutig Gramm (Fn. 16), WissR 1999, S. 209, 216 f.
48 Dieser Begriff ist zwar anscheinend wenig verbreitet, die Tatsache
als solche aber anerkannt.
49 Britz, in: Dreier (Fn. 25), Art. 5 Abs. 3 Rn. 37; Hufen (Fn. 27),
NVwZ 2017, S. 1265, 1268.
50 Siehe Fehling (Fn. 25), OdW 2014, S. 179, 193 ff.; allgemein auch
Britz, in: Dreier (Fn. 25), Art. 5 Abs. 3 Rn. 61.
51 Vgl. Fehling (Fn. 25), OdW 2014, S. 179, 194.
52 Britz, in: Dreier (Fn. 25), Art. 5 Abs. 3 Rn. 80 ff.; Gärditz, in:
Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 92. Lfg. 2020, Art. 5 Abs. 3 Rn.
259 ff.
53 Vgl. Fehling (Fn. 25), OdW 2014, S. 179, 199 f.; für die Grundrechte
im Allgemeinen Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, S. 318
ff.
54 So zur Teilhabefunktion der Grundrechte allgemein BVerfGE
147, S. 253, 305 ff.; angedeutet auch von Fehling, Die Verteilung
des Mangels – Zum neuen Numerus Clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts,
RdJB 2018, S. 100, 102; zurückhaltender
wohl Jarass, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und
Europa, Bd. II, 2006, § 38 Rn. 33.
55 Vgl. freilich auf einem teilweise abweichenden dogmatischen
Grundkonzept fußend, Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.
IX, 3. Aufl. 2011, § 192 Rn. 79.
56 Zur Prozeduralisierung bei Teilhaberechten allgemein Kingreen/
Poscher (Fn. 44), Rn. 155; Murswiek (Fn. 55), Rn. 21.
57 Für die Wissenschaftsfreiheit I. Augsberg, in: von der Groeben/
Schwarze/Hatje (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl. 2015 Art. 13
GrCh Rn. 9; Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art.
13 Rn. 12. Zu den Problemen, die sich insoweit aus der begrenzten
Zuständigkeit der Union ergeben Jarass, ebd., Art. 51 Rn. 6;
Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt (Fn. 38), Art. 51 Rn. 93.
58 Statt aller BVerfGE 141, S. 143, 169.
und sei es auch nur die Pflicht einer staatlichen Behörde
oder der Forscher selbst, eine Abweichung zu begründen
– geknüpft sind, so verkürzt dies in der Sache die Wissenschaftsfreiheit
noch nicht.47 Denn der Forscher ist
durch die bloße Beratung weder rechtlich noch faktisch
in irgendeiner Form gebunden. Allerdings stellt schon
allein die Tatsache, dass ein Forscher vor einer Ethikkommission
Unterlagen einreichen und gleichsam Rechenschaft
ablegen muss, wegen des damit verbundenen
Aufwands unabhängig von der inhaltlichen (Bindungs-)
Wirkung des Votums der Kommission einen prozeduralen
Grundrechtseingriff48 dar.49 Dessen Intensität ist indessen
nicht allzu hoch. - Besonderheiten beim Einsatz von Ethikkommissionen
in der Forschungsförderung
Macht eine semi-staatliche und als solche ebenfalls
grundrechtsgebundene50 Forschungsförderungsorganisation
wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft die
Gewährung von Fördermitteln vom Votum einer Ethikkommission
abhängig, so ist nicht die Abwehr‑, sondern
die Teilhabefunktion der Wissenschaftsfreiheit betroffen.
51 Auch insoweit besteht ein, wenn auch etwas schwächerer,
Grundrechtsschutz.52 Allerdings reicht hier der
Vorbehalt des Gesetzes weniger weit.53 Ob deshalb für
die Einschaltung der Ethikkommission allein interne
Förderrichtlinien ausreichen, erscheint angesichts der
Grundrechtswesentlichkeit dennoch zweifelhaft. Zwar
ist die Teilhabefunktion der Grundrechte allgemein
schwächer ausgeprägt als deren Abwehrfunktion.54
Denn bei bloßer Teilhabegewährleistung existiert kein
Anspruch auf ein bestimmtes Tun oder Unterlassen,
sondern nur ein Anspruch auf chancengleichen Zugang.
Dieser Gleichbehandlungsanspruch ist dann allerdings
klarer konturiert als ein originäres Leistungsrecht,55 wie
es verfassungsrechtlich fast durchweg allenfalls dem
Grunde nach, ohne konkreten Inhalt, anerkannt wird.
Diesem Recht auf chancengleiche Teilhabe an semistaatlichen
Fördermitteln muss wie allgemein56 dadurch
Rechnung getragen werden, dass ein Chancengleichheit
sicherndes und im Aufwand zumutbares Vergabeverfahren
auch bezüglich der Einschaltung einer Ethikkommission
etabliert wird.
Allerdings ist auf europäischer Ebene noch weitgehend
ungeklärt, ob und inwieweit die Chartagrundrechte
auch Teilhaberechte enthalten.57 Davon hängt ab, inwieweit
die (europäische) Forschungsfreiheit auch bei
der Vergabe von Forschungsmitteln durch die europäische
Kommission mit Einschaltung einer Ethikkommission
Bedeutung erlangt. - Rechtfertigungsmöglichkeit durch kollidierende
deutsche bzw. Unions-Grundrechte
Die Wissenschaftsfreiheit ist in Art. 5 Abs. 3 GG ohne
ausdrückliche Schranken gewährleistet und damit nur
durch andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang einschränkbar
(verfassungsimmanente Schranken).58 Hier
sind als kollidierendes Verfassungsrecht die Selbstbestimmung
der Probanden/Patienten als Teil ihres allgemeinen
Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 1 Abs. 1 GG) sowie deren Grundrecht auf Gesundheit
und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG)
zu beachten.
Für das Unionsrecht gilt letztlich wohl nichts anderes,
wenngleich die genauen dogmatischen Konturen
noch wenig geklärt sind. Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GrCh verFehling
· Ethikkommisionen 1 0 9
59 Jarass (Fn. 57), Art. 13 Rn. 15; Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt
(Fn. 38), Art. 52 Rn. 36. Teilweise wird auch auf Art.
52 Abs. 3 GrCh abgestellt, so etwa Bernsdorff (Fn. 37) Rn. 12,
aber das überzeugt nicht, weil Art. 10 EMRK die Wissenschaftsfreiheit
nicht ausdrücklich gewährleistet.
60 Zum schonenden Ausgleich grundlegend Lerche, Übermaß und
Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999, S. 153; zur praktischen Konkordanz
grundlegend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 317 f., aufgegriffen
zuletzt von BVerfGE 152, S. 152, 185 mit Rn. 76.
61 Informationen der Organe und Einrichtungen der Europäischen
Union vom 14. Dezember 2007 zur Charta der Grundrechte der
Europäischen Union, ABl. C 303 vom 14.12.2007, S. 22.
62 Ähnlich in einem ähnlichen Kontext (Forschungsfreiheit und
Biosicherheit) Würtenberger/Tannenberger (Fn. 43), OdW 2014,
S. 1, 7.
weist für die Einschränkbarkeit der Chartagrundrechte
ausdrücklich auf die „Rechte und Freiheiten anderer“
(hier namentlich Art. 3 GrCh).59 - Herstellung eines verhältnismäßigen Ausgleichs kollidierender
Verfassungspositionen als zentrales Problem
a) Grundlagen
Letztlich dürfen die Verfassungsfragen jedoch nicht einseitig
allein aus der Perspektive der Forschungsfreiheit
und der dabei bestehenden Rechtfertigungsnotwendigkeiten
betrachtet werden. Da prima facie gleichrangige
Verfassungsgüter betroffen sind, muss vielmehr ein
schonender Ausgleich nach allen Seiten – oder anders
ausgedrückt: praktische Konkordanz60 – angestrebt werden.
In §§ 42 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 2 AMG
spiegelt sich dies für klinische Arzneimittelstudien im
Auftrag zu einer Nutzen-Risiko-Abwägung durch die
Ethikkommission wider. Diese Aufgabe wird zusätzlich
dadurch kompliziert, dass über die bereits genannten
Grundrechte hinaus noch weitere Verfassungsgüter
involviert sind: Auf der einen Seite der Waage geht es
nicht nur um die individuelle Freiheit der beteiligten
Forscher (als Abwehrrecht), sondern auch um den Nutzen
der Forschung für die Gesellschaft – und im medizinischen
Bereich letztlich für die Gesundheit der Menschen
allgemein. Auf der anderen Seite sind ebenfalls
nicht nur individuelle Grundrechte (in ihrer Schutzpflichtdimension)
betroffen, sondern gleichermaßen die
Folgen für die Gesellschaft (keine Instrumentalisierung
von Menschen zu Versuchszwecken) und dabei letzten
Endes die Menschenwürde zu bedenken.61 Gerade in
dieser überindividuellen, auf grundlegende Verfassungswerte
verweisenden Dimension des Konflikts spiegelt
sich dessen ethischer Hintergrund besonders wider.
In die erforderliche Gesamtabwägung sind, ganz abstrakt
betrachtet, drei Parameter einzustellen: die Intensität
des Eingriffs in die Forschungsfreiheit, das Gewicht
der verfolgten Gemeinwohl- und Drittinteressen und
schließlich die jeweilige Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutsbeeinträchtigung.
62 Scheinbar wiegen insoweit die
grundrechtlich geschützten Interessen der Probanden
bei der Zustimmungsentscheidung der Ethikkommission
weniger schwer, wenn diese Drittinteressen auch
noch durch die behördliche Genehmigungsentscheidung
geschützt werden. Jedenfalls im Arzneimittelrecht
ist eine Nutzen-Risiko-Abwägung bei Genehmigungswie
Zustimmungsentscheidung vorzunehmen. In der
Tat zwingen grundrechtliche Schutzpflichten nicht zu einem
doppelten Schutz mit einer zusätzlichen eigenständigen
Zustimmungsbedürftigkeit durch eine Ethikkommission.
Wenn aber solch eine zweite Überprüfung wie
im Arzneimittelrecht gesetzlich vorgeschrieben ist, so
drohte ein wechselseitiges „Hin- und Herschieben“ der
Schutzaufgabe diese letztlich in beiden Verfahren zu untergraben.
Umgekehrt ließe sich theoretisch nämlich
auch bei der Behördenentscheidung darauf verweisen,
dass hinreichender Grundrechtsschutz der Probandeninteressen
bereits durch die ebenfalls bindende Ablehnungsmöglichkeit
der Ethikkommission gewährleistet
sei. Zwar mag man argumentieren, die (Arzneimittel-)
Behörde sei „staatsnäher“ als die weisungsunabhängige
Ethikkommission und damit primär in der Verantwortung.
Umgekehrt kann aber auch darauf verwiesen werden,
dass die Ethikkommission aufgrund ihrer spezifischen
pluralen Zusammensetzung einen besonderen
Mehrwert bei der zu treffenden Abwägung und damit
auch bei der Erfüllung der Schutzpflichten verkörpert.
Daher überzeugt es schon auf Verfassungsebene nicht,
die Schutzaufgabe vorrangig der (Arzneimittel-)Behörde
zuzuweisen, mit entsprechender „Entlastung“ der Ethikkommission.
Vor allem aber hat der Gesetzgeber selbst
im Rahmen seiner Schutz-Konkretisierungsaufgabe unmissverständlich
deutlich gemacht, dass die Probandeninteressen
wie auch die Forschungsfreiheit in beiden
Verfahren gleichermaßen und ohne Abstriche in der Abwägung
Berücksichtigung finden müssen.
1 1 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 0 3 — 1 1 6
63 Grundsätzlich für einen solchen prima facie-Vorrang wohl
Michael/Morlok, Grundrechte, 6. Aufl. 2017; Rn. 534, 759; Wahl/
Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1991, S. 553, 559; in diese
Richtung lässt sich auch BVerfGE 115, S. 118, 151 ff., zum LuftSG
deuten (freilich mit Besonderheiten wegen der absolut gewährleisteten
Menschenwürde), vgl. dazu auch Isensee, in: ders./
Kirchhof (Fn. 55), § 191 Rn. 296 und 311; ferner lassen sich in
diesen Zusammenhang die Entscheidungen einordnen, die dem
Gesetzgeber eine sehr weite Einschätzungsprärogative bei der
Erfüllung von grundrechtlichen Schutzpflichten einräumen, z.
B. BVerfGE 77, S. 170, 229 f.; grundsätzlich auch von Bernstorff,
Pflichtenkollision und Menschenwürdegarantie – Zum Vorrang
staatlicher Achtungspflichten im Normbereich von Art. 1 GG,
Der Staat 47 (2008), S. 1, 26 ff; für die Wissenschaftsfreiheit in
etwas anderes anderem Zusammenhang BVerfGE 47, S. 327, 369.
Kritisch gegenüber dem als herrschend eingestuften Vorrang
des Abwehrrechts Kingreen/Poscher (Fn. 44), Rn. 137 wegen des
Risikos, dass dazu traditionelle soziale Ungleichheiten grundrechtlich
verstärkt werden, vgl. auch Calliess, Die grundrechtliche
Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis, JZ
2006, S. 321. 325; dagegen allgemein Isensee, ebd., Rn. 28 und Rn.
297; Vosgerau, Zur Kollision von Grundrechtsfunktionen – Ein
zentrales Problem der Grundrechtsdogmatik, AöR 133 (2008), S.
346 ff.
64 Zur Notwendigkeit des Bewertens und Abwägens „mit Blick auf
den zu entscheidenden Fall“ Zippelius/Würtenberger (Fn. 43),
§ 7 Rn. 48; ähnlich Voßkuhle, Das Verhältnis von Freiheit und
Sicherheit, FS Würtenberger, 2013, S. 1101, 1111 ff. m.w.N.
65 Vgl. allgemein für das Abwägungsgebot im staatlichen Umgang
mit Risiken Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 25: „multipolare
Abwägung“, die „gesamtgesellschaftliche Interessenkonflikte
auszugleichen versucht“.
66 Die Unsicherheit bei Entscheidungsprozessen unter Einbindung
einer Ethikkommission allgemein hervorhebend Deutsch (Fn.1),
MedR 2006, S. 411, 415; vgl. zur Risikoermittlung von Ethikkommissionen
nach dem AMG Delhey, Staatliche Risikoentscheidungen
- Organisation, Verfahren und Kontrolle, 2014, S. 371 f.; zur
teilweise vergleichbaren Konstellation einer Einschränkung der
Forschungsfreiheit zwecks Biosicherheit betont auch von Würtenberger/
Tanneberger (Fn. 43), OdW 2014, S. 1, 7 f.
67 Dazu allgemein etwa Delhey (Fn. 66), S. 76 ff.; zur Verknüpfung
mit Risiken bei der Forschung Ruffert, Grund und Grenzen der
Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006), S. 142, 194 ff., dort
allerdings ohne Akzentuierung des Vorsorgeprinzips; zum Arzneimittelrecht,
allerdings ohne Bezug auf Arzneimittelforschung
und Ethikkommissionen, Di Fabio, Risikoentscheidungen im
Rechtsstaat, 1994, S. 178 ff.; Fuerst, Arzneimittel, in: Ehlers/Fehling/
Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 2, 4. Aufl.
2020, § 55 Rn. 21 f.
68 Zur Konstellation im Umweltrecht im Überblick Appel, Europäisches
und nationales Umweltverfassungsrecht, in: Koch (Hrsg.),
Umweltrecht, 4. Aufl. 2014, § 7 Rn. 138; speziell zu Freisetzungsversuchen
mit genveränderten Pflanzen BVerfGE 128, S. 1, 39 ff.,
57 f., 67 f., 85 ff.
69 Für die Virenforschung hervorgehoben von Würtenberger/Tannebrger
(Fn. 43), OdW 2014, S. 1, 8.
70 In diese Richtung deutend Delhey (Fn. 66), S. 293 ff.: „‚Nutzen
für ärztliche Heilkunde‘“ auch im „zukünftige(n) individuelle(n)
Patientennutzen“ (Hervorh. im Orig.).
Auf höchster Abstraktionsebene könnte man bei unserem
Thema die – ganz allgemein umstrittene63 – Frage
aufwerfen, ob ein prima facie-Vorrang des Abwehrrechts
(hier der Forschungsfreiheit) vor der „bloßen“ Schutzpflicht
(für die Probanden/Patienten) besteht. Solch abstrakte
Überlegungen helfen jedoch in konkreten Grundrechtskonflikten,
bei denen die betroffenen Rechtspositionen
für den spezifischen Konfliktfall64 gewichtet und
abgewogen werden müssen, wenig weiter. Im Übrigen
lässt sich die beschriebene komplexe Konflikt- und Gemengelage
rechtlich geschützter Interessen gerade nicht
auf eine solche Dichotomie Abwehrrecht/Schutzpflicht
reduzieren.65
Des Weiteren lässt sich die Schutzaufgabe bei klinischen
(Arzneimittel-)Studien auch nicht von vornherein
deswegen abwerten, weil die Probanden/Patienten mit
ihrer Einwilligung gleichsam zumindest teilweise auf
Schutz verzichtet hätten. Denn auch bei bestmöglicher
vorheriger Information, wie sie Voraussetzung schon für
die Wirksamkeit der Einwilligung ist, können die Probanden
eventuell verbleibende Risiken für ihre Gesundheit
als Laien kaum voll eigenständig abschätzen und
bleiben daher schutzbedürftig.
Den Grundrechtskonflikt verschärfend kommt hinzu,
dass eine Nutzen-Risiko- Einschätzung durch die
Ethikkommission – nicht anders als durch eine eventuell
zusätzlich involvierte staatliche Genehmigungsbehörde
– unter erheblicher (Prognose-)Unsicherheit getroffen
werden muss.66 Inwieweit sich ein zu testendes Medikament
tatsächlich als wirksam erweist, ob auf dem Prüfstand
stehende Medizinprodukte eine verbesserte Gesundheitsversorgung
ermöglichen werden oder inwieweit
eine bestimmte Stammzellenforschung in der Zukunft
zu neuen und verbesserte Therapiemöglichkeiten
führen wird – all dies lässt sich vor Beginn der klinischen
Studien anhand des bloßen Studiendesigns kaum sicher
vorhersagen. Ebenfalls unsicher bleibt vorab, allein auf
Basis der vorklinischen Forschungen, die Frage nach etwaigen
Nebenwirkungen und deren Schwere bei den
Probanden oder umgekehrt der individuelle Gesundheitsnutzen
für die in die Studie einbezogenen Patienten.
Man kann sogar von einer Risikoentscheidung sprechen,
was die Notwendigkeit eines Vorsorge-Sicherheitspuffers
impliziert.67 Anders als im Umweltrecht68 verstärkt
der Vorsorgegedanke bei unserem Thema jedoch nicht
einseitig die Schutzpflicht (hier für die Gesundheit der
Probanden) im potenziellen Konflikt mit dem Abwehrrecht
(hier der Wissenschaftler gegen Forschungsbeschränkungen).
Vielmehr ist Vorsorge (jedenfalls in einem
weiteren Sinne) auch für die Genesungsinteressen
künftiger Patienten geboten, was eine Beschleunigung
der Forschung weitgehend im Gleichklang mit den Interessen
der Forschenden (und damit in der Abwägung
den Schutz der Forschungsfreiheit verstärkend69)
impliziert.70
Fehling · Ethikkommisionen 1 1 1
71 Siehe Gramm (Fn. 16), WissR 1999, S. 209, 225; Mager, in: Isensee/
Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 166 Rn. 34; allgemeiner
für die Wissenschaftsfreiheit Britz, in: Dreier (Fn. 25), Art.
5 Abs. 3 Rn. 104.
72 Siehe allgemein z. B. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, S. 33 ff.
73 In diese Richtung Albers (Fn. 14), KritV 2003, S. 410, 434 f.
74 Fehling, in: Bk (Fn. 45), Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaftsfreiheit)
Rn.165; vgl. auch Gramm (Fn. 16), WissR 1999, S. 209, 218;
Schulze-Fielitz, in: Benda/Maihofer/Vogel/Hesse/Heyde (Hrsg.),
Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland,
- Aufl. 2012, § 27 Rn. 31; Schmidt-Aßmann, in: Balaguer/
Morlok/Häberle (Hrsg.), Privatrechtliche und öffentlich-rechtliche
Gestaltungsformen (staatlicher) Aufgabenwahrnehmung: Das
Beispiel des Wissenschaftsrechts, 2001, S. 31 f..
75 Siehe zum Arzneimittelrecht Deutsch (Fn. 1), MedR 2006, S. 411,
414 f.
76 Vgl. Dähne (Fn. 45), S. 326: „rein kosmetische Geste”.
77 Siehe Kleindiek, Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft,
1998, S. 311; Würtenberger, Schranken der Forschungsfreiheit
und staatliche Schutzpflichten, Anhörung vor dem Deutschen
Ethikrat, https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/
Veranstaltungen/anhoerung-25–04-2013-wuertenberger.pd,S. 8;
allgemein auch BVerfGE 128, S. 1 (38 f.).
78 In diese Richtung Löwer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch
der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, 2011, § 99
Rn. 29; Fehling, in: Bk (Fn. 45), Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaftsfreiheit)
Rn. 165.
79 Vgl. allgemein Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, - Aufl. 2013, S. 133 ff.; Kloepfer (Fn. 53), S. 34 f.
80 Siehe oben II. 4.
81 Etwas allgemeiner Dähne (Fn. 45), S. 309.
b) Bewältigungsstrategien des Gesetzgebers
Vor diesem Hintergrund muss die Einschaltung von
Ethikkommissionen als „Flucht ins Verfahren“ – oder
freundlicher ausgedrückt: als Versuch des Grundrechtsschutzes
durch Verfahren – verstanden werden.71 Dies
ist bekanntlich auch in anderen Rechtsbereichen eine
verbreitete Strategie dort, wo materiell-rechtliche Entscheidungsgrundlagen
wegen komplexer Konfliktlagen
und massiver Unsicherheit defizitär bleiben.72 Die sachverständig-
plurale Zusammensetzung der Ethikkommissionen
verbessert immerhin die Chancen, dass alle
relevanten Aspekte und fachlichen Blickwinkel Berücksichtigung
finden.73 Die maßgebliche Beteiligung entsprechender
Fachwissenschaftler in den Kommissionen
nähern das Verfahren zudem ein Stück weit einem Peer
Review an, obgleich es angesichts der Beteiligung auch
von Vertretern anderer Disziplinen und teilweise sogar
Laien zu weit ginge, von einer reinen Selbstkontrolle der
(Fach-)Wissenschaft zu sprechen. Diese Annäherung an
Peer Review vermag die Eingriffsintensität in die Wissenschaftsfreiheit
wenigstens abzumildern.74
Neben der Prozeduralisierung verfolgt der Gesetzgeber
noch eine andere, mit der erstgenannten nicht voll
kompatible Strategie. Die Unsicherheiten sollen so weit
wie möglich aus dem Prüfprogramm herausgehalten
werden, indem die Ethikkommissionen in weitem Umfang
eher formale Rahmenbedingungen des Studiendesigns
zu beurteilen haben.75 Hilfskriterien wie beispielsweise
die Qualifikation der an der projektierten
Studie beteiligten Wissenschaftler treten an die Stelle inhaltlicher
und damit die Forschungsfreiheit stärker beschränkender
Bewertungskriterien. Die Ethikkommissionen
haben gerade nicht den wissenschaftlichen Wert
der Forschungsprojekte als solchen einzuschätzen. Je
formaler aber die gesetzlichen Maßstäbe der Ethikkommissionen
werden, umso geringeren Eigenwert besitzt
ihre zusätzliche Einschaltung neben einer normalen
staatlichen (Genehmigungs-)Behörde.76 Um nur zu prüfen,
ob eine hinreichende Versicherung für etwaige
Schäden bei Probanden/Patienten vorliegt (so z.B. allgemein
§ 40 Abs. 1 Satz 3 Nr. 8 und im Besonderen
§ 42a Abs. 4a Nr. 2 AMG), ist eine solche Kommission
kaum erforderlich.
Letztlich führt die Komplexität der zu treffenden
Einschätzungen zu einem recht weiten Einschätzungsspielraum
des Gesetzgebers.77 Vor diesem Hintergrund
erscheinen die gesetzlichen Regelungen zu den Ethikkommissionen
als eine vertretbare Auflösung des Konfliktes
zwischen den betroffenen Verfassungspositionen
.78 - Konsequenzen für die Auslegung und Handhabung
der einschlägigen Normen
Aus diesen grundrechtlichen Anforderungen ergeben
sich Konsequenzen für die Auslegung und Anwendung
des einfachen Rechts. Sie können hier nur allgemein
angedeutet werden; im Einzelnen kommt es für Möglichkeiten
und Grenzen einer verfassungskonformen
Auslegung selbstverständlich auf die konkreten Vorschriften
an.79
Wie oben ausgeführt,80 gebieten Vorrang und Vorbehalt
des Gesetzes eine Orientierung ausschließlich an
den gesetzlichen Beurteilungsmaßstäben und verbieten
es, zusätzliche ethische Maßstäbe anzulegen. Genuin
ethische Kriterien dürfen auch für eine Ethikkommission
nur eine Rolle spielen, soweit sie sich durch Auslegung
unbestimmter Rechtsbegriffe oder Abwägungsklauseln
aus dem Gesetz herleiten lassen.
Die Prüfung und Beurteilung des wissenschaftlichen
Werts eines Forschungsprojekts bleibt einer Ethikkommission
verwehrt, denn dies berührt den Kern der Forschungsfreiheit.
81 Auch bei Nutzen-Risiko-Abwägungen
darf nur antragsimmanent geprüft werden, ob die Prog1
1 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 0 3 — 1 1 6
82 Zum Einschätzungsspielraum des Forschers allgemeiner Löwer
(Fn. 78), Rn. 24; einen Einschätzungsspielraum andeutend auch
BVerfG NVwZ 1994, S. 894, 895. – Dieser dem Wissenschaftler
zukommende Spielraum ist nicht zu verwechseln mit dem
Beurteilungsspielraum der Ethikkommission bei gerichtlicher
Kontrolle und ist diesem vorgelagert; dazu unten IV. 3.
83 In diese Richtung Meuser/Platter, Die Bewertung der klinischen
Prüfung von Arzneimitteln durch die Ethikkommission – eine
Verwaltungsentscheidung besonderer Art?, PharmR 2005, S. 395,
401 f.; Doppelfeld (Fn. 4), S. 645, 648.
84 Es ist rechtlich jederzeit möglich, einen geänderten Antrag zu
stellen, siehe Meuser/Platter (Fn. 83), PharmR 2005, S. 395, 398.
85 Vgl. zur Unanwendbarkeit von § 48 VwVfG für einen Einzelfall,
aber wohl verallgemeinerungsfähig, BVerwGE 122, 58, 59;
Kastner, in: Fehling/Kastner/Störmer (Hrsg.), Handkommentar
Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 48 VwVfG Rn. 21.
86 Das Erfordernis einer rechtlichen Grundlage etwas allgemeiner
betonend Gramm (Fn. 16), WissR 1999, S. 209, 223 ff. Anders,
aber ohne nähere Begründung, Lippert, Die zustimmende
Bewertung einer Ethikkommission bei der klinischen Prüfung
von Arzneimitteln nach dem novellierten Arzneimittelgesetz und
der GCP-Verordnung, in: Kern/Wadle/Schroeder/Katzenmeier
(Hrsg.), Humaniora: Medizin — Recht — Geschichte, FS Laufs,
2006, S. 937, 982.
87 Jedenfalls im Arzneimittelrecht dürfte das Fehlen solcher Bestimmungen
damit zu erklären sein, dass nach Auffassung des
Gesetzgebers „die Infrastruktur der Ethik-Kommission nicht so
beschaffen sein kann, dass sie […] ein Monitoring der klinischen
Prüfung betreibt.“ BT-Drucks. 16/12256, S. 51.
nosen der Antragsteller hinsichtlich des erwartbaren
Nutzens plausibel und vertretbar sind; die Forscher besitzen
insoweit gegenüber der Kommission – wie auch
gegenüber einer Genehmigungsbehörde namentlich im
Arzneimittelrecht – einen Einschätzungsspielraum.82
Massive verfassungsrechtliche Bedenken bestehen
gegenüber der wohl teilweise anzutreffenden Praxis von
Ethikkommissionen, die Zustimmung mit Bedingungen
zu versehen oder den Wissenschaftlern Auflagen zu machen.
83 Rechtstechnisch sind dies Nebenbestimmungen
gemäß § 36 Abs. 2 VwVfG, sofern es sich (wie im Arzneimittelrecht)
bei der Zustimmung der Ethikkommission
um einen eigenständigen Verwaltungsakt und nicht bloß
um einen verwaltungsinternen Mitwirkungsakt zur Behördenentscheidung
handelt. Auch die Freiheit der Methodenwahl
und damit die autonome Konzeption einer
klinischen Studie gehört zum Kern der Wissenschaftsfreiheit.
Deshalb ist es nicht Aufgabe einer Ethikkommission,
aktiv eigene „Verbesserungswünsche“ beim
Forschungsprojekt durchzusetzen; sie bleibt strikt auf
eine nachvollziehende Prüfung des – gegebenenfalls geänderten
– Antrags beschränkt.84
IV. Gewisser Nutzen der Einschaltung einer Ethikkommission
auch für die Forschungsfreiheit
Gewiss stehen bei unserem Thema aus dem Blickwinkel
der Forschungsfreiheit potentielle Gefährdungen im
Vordergrund, der Nutzen von Ethikkommissionen liegt
primär im Schutz anderer Rechtsgüter. Dennoch lässt
sich unter drei Aspekten erwägen, ob die Einschaltung
einer Ethikkommission jedenfalls indirekt die Forschungsfreiheit
der Beteiligten auch ein Stück weit schützen
und fördern kann. - Verbesserte Rechtssicherheit für die beteiligten Forscher
Wie Verwaltungsentscheidungen allgemein, so schafft
auch die Zustimmung einer Ethikkommission, zusammen
mit der behördlichen Genehmigung, für die beteiligten
Forscher erst einmal Rechtssicherheit und einen
gewissen Vertrauensschutz. Handelt es sich wie im Arzneimittelrecht
um einen eigenständigen Verwaltungsakt,
so kann die Zustimmung nur aus den gesetzlichen Rücknahme-
und Widerrufsgründen (z.B. § 42a Abs. 4a AMG;
bei fehlender spezialgesetzlicher Regelung
§§ 48, 49 VwVfG) nachträglich aufgehoben werden. Wo
die Zustimmung der Ethikkommission dagegen nur
einen verwaltungsinternen Mitwirkungsakt ohne
Außenwirkung darstellt, gibt es nach allgemeinem Verwaltungsrecht
für diesen internen Akt selbst wohl keine
eigenständige nachträgliche Abänderungsmöglichkeit;85
allerdings ist eventuell die außenwirksame behördliche
Genehmigung aufhebbar, aber dies wiederum nur im
Rahmen einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung.
Die behördliche Genehmigung der (klinischen)
Studie kann zwar (jedenfalls nach § 42a Abs 1, 2 AMG)
ohne Rücksicht auf den Fortbestand der Zustimmung
der Ethikkommission zurückgenommen oder widerrufen
werden, was zur Unzulässigkeit des (Arzneimittel-)
Forschungsvorhabens führt. Zumindest wird von der
Behörde bei Ausübung ihres Aufhebungsermessens
jedoch zu fordern sein, dass sie sich auch mit den Argumenten
aus der Zustimmung der Ethikkommission –
soweit sich beides im Prüfprogramm überschneidet,
namentlich bei der Nutzen-Risiko-Abwägung – auseinandersetzt.
So erlangt die Zustimmung der Ethikkommission
mittelbar einen wenn auch geringen Vertrauensschutzwert
sogar bei der Entscheidung der Behörde
über die nachträgliche Aufhebung ihrer Genehmigung
der Studie.
Der Vorbehalt des Gesetzes führt außerdem dazu,
dass der Ethikkommission ein begleitendes Monitoring
bei Durchführung der Studie, mit turnusmäßigen Berichterstattungspflichten
der Studienleitung und Kontrollen
der Ethikkommission, nur gestattet ist, wenn und
soweit dies gesetzlich vorgesehen ist.86 Solche Bestimmungen
scheinen indes nicht zu existieren.87 AndernFehling
· Ethikkommisionen 1 1 3
falls müsste es bei der punktuellen Vorabprüfung bleiben.
Die internationale Deklaration von Helsinki88
spricht sich zwar für ein solches Monitoring aus (Allgemeines
Prinzip Nr. 23), genügt aber dem Vorbehalt des
Gesetzes nicht, weil sie selbst rechtlich unverbindlich
bloße ethische Grundsätze enthält89 und auch kein Parlamentsgesetz
darauf verweist. Allerdings scheint die
Praxis in Deutschland sich doch an der Deklaration zu
orientieren. Namentlich § 53 Abs. 2 HHG deutet auf eine
Praxis hin, Regelungen zu einem Follow-Up-Monitoring
durch Innenrecht ausreichen zu lassen. Die
VO (EU) 536/2014 wiederum geht in
Art. 78 i.V. m. Art. 2 Nr. 31 anscheinend davon aus, dass
zumindest künftig die zuständige Behörde die klinische
Studie im Rahmen ihrer Verantwortung weiterverfolgt
und nicht die Ethikkommission.
Im Übrigen reicht der Vertrauensschutz aus Verfassungsgründen
letztlich nicht allzu weit. Für den Fall,
dass sich nachträglich herausstellt, dass die grundrechtlich
geschützte Gesundheit der Probanden/Patienten
durch eine klinische Studie entgegen der ursprünglichen
Annahme doch erheblich gefährdet ist, muss das Gesetz
wegen Art. 2 Abs. 2 GG eine nachträgliche Aufhebung
der Genehmigung bzw. Zustimmung ermöglichen. Dies
ist wohl auch durchgehend gesetzlich so vorgesehen (z.B.
§ 42a Abs. 4a i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 7 Nr. 2a AMG). Der
behördliche Zulassungsverwaltungsakt darf die Studienleitung
dazu verpflichten, im Verlauf der (Arzneimittel-)
Studie auftauchende Anhaltspunkte für solch eine Gefährdung
mitzuteilen, ohne dass es allein dafür – weil
unterhalb der Schwelle eines „echten“ studienbegleitenden
Monitoring bleibend – einer besonderen gesetzlichen
Ermächtigung bedürfte. - Partielle Entlastung von Verantwortung?
Der – ohnehin begrenzte – Schutz des Vertrauens in die
Bestandskraft der Zustimmung der Ethikkommission
bewirkt keinerlei Entlastung der Antragsteller und der
beteiligten Forscher von ihrer rechtlichen und erst recht
ethischen Verantwortung. Sie müssen bei der Durchführung
der Studie weiterhin uneingeschränkt selbst für die
Rechtskonformität und gesundheitliche Unbedenklichkeit90
sorgen, dabei gegebenenfalls auch durch Modifizierungen
der Studie oder gar deren Abbruch auf unvorhergesehene
Risiken reagieren. Die Forscher und nicht
die Ethikkommission bleiben, etwa als Ärzte, auch
berufsrechtlich voll verantwortlich.91 Deren zivilrechtliche
und strafrechtliche Haftung für (Gesundheits-)Schäden
bleibt nach Art. 95 VO (EU) 2014/536 ausdrücklich
„unberührt“.
Dies entspricht auch dem Verständnis der Wissenschaftsfreiheit.
Denn darin ist mit der Freiheit des Forschers
untrennbar auch dessen ethische und rechtliche
Verantwortung verbunden.92 - Reduzierte gerichtliche Kontrolldichte zwischen
Gefährdung und Schutz der Wissenschaftsfreiheit
Gegen ein rechtserhebliches ablehnendes Votum einer
Ethikkommission steht dem Antragsteller der Rechtsweg
in Form der Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1, 2. Alt
VwGO) auf Zustimmung offen. Nach allgemeinen verfassungs-
und verwaltungsrechtlichen Grundsätzen hat
das kontrollierende Gericht dabei einen gewissen Beurteilungsspielraum
der Ethikkommission zu respektieren.
93 Denn die Etablierung solch einer pluralistischsachverständigen
Kommission ist im Sinne der normativen
Ermächtigungslehre (hergeleitet aus
Art. 19 Abs. 4 GG)94 ein entscheidendes Indiz dafür, dass
der Gesetzgeber der Kommissionsentscheidung auch
gegenüber dem Gericht eine höhere Bedeutung zuweisen
wollte.95 Allerdings zwingt die hohe Grundrechtsrelevanz
der Entscheidung einer Ethikkommission zu
einer engen Konturierung eines solchen Spielraums.
Man wird teilweise die Grundsätze übertragen können,
die das Bundesverwaltungsgericht für die Kontrolle von
Indizierungsentscheidungen der sachverständig-plura-
88 WMA Deklaration von Helsinki — Ethische Grundsätze für die
medizinische Forschung am Menschen, siehe: https://www.
bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-
Ordner/International/Deklaration_von_Helsinki_2013_20190905.
pdf (zuletzt abgerufen am 12.2.2021).
89 Vgl. Straßburger, Die Inkorporation der Deklaration von Helsinki
in das ärztliche Berufs- und Standesrecht, MedR 2006, S.
462 ff. Unscharf Schulte, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit,
VVDStRL 65 (2006), S. 110, 139, wonach sich in der
Helsinki-Deklaration „internationale verbindliche Standards der
Wissenschaftsethik herausgebildet“ hätten, die in Einzelfallentscheidungen
auch von Ethikkommissionen zu „konkretisier(en)“
seien.
90 Siehe für den Gesundheitsschutz der Probanden insbesondere
Art. 48 Verordnung (EU) 2014/536, (Fn. 3).
91 Vgl. allgemeines Prinzip Nr. 10 der Deklaration von Helsinki
(Fn. 88) mit freilich nur deklaratorischer Bedeutung.
92 Özmen, Wissenschaft. Freiheit. Verantwortung, OdW 2015, S. 65,
71.
93 Siehe Fateh-Moghadam/Atzeni (Fn. 31), S. 127 ff.; in diese Richtung
wohl auch Gramm (Fn. 16), WissR 1999, S. 209, 225; Albers
(Fn. 14), KritV 2003, S. 410, 434.
94 BVerfGE 129, S. 1, 21 f.; 84, 34, 49 f.; begriffsprägend Schmidt-
Aßmann, in: Maunz/Dürig (Fn. 52), Art. 19 IV GG Rn. 186.
95 Zu dieser Fallgruppe Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, - Aufl. 2020, § 7 Rn. 45. Zum Verständnis des
in Art. 19 IV GG angelegten Regel-Ausnahme-Verhältnis als
Argumentationslastregel Fehling, Die Konkurrentenklage bei der
Zulassung privater Rundfunkveranstalter, 1994, S. 190.
1 1 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 0 3 — 1 1 6
len Prüfstelle für jugendgefährdende Medien entwickelt
hat.96
Daran anknüpfend muss man die Entscheidung der
Ethikkommission und die daran anknüpfende Gerichtskontrolle
als einen zweistufigen Prozess verstehen. Die
erste Stufe betrifft die isolierte Bewertung der Kommission
von Forschungsnutzen einerseits und Risiko für Probanden/
Patienten andererseits. Solche Entscheidungen
der Kommission besitzen nur den Status eines antizipierten
Sachverständigengutachtens. Die zweite Stufe
betrifft die Nutzen-Risiko-Abwägung. Erst auf dieser
Ebene kommt der Kommission eine echte Einschätzungsprärogative
zu.
Aus Perspektive der Forschungsfreiheit ist diese Einschränkung
der gerichtlichen Kontrolldichte ambivalent.
Einerseits wird damit die Möglichkeit beschnitten,
ungerechtfertigte Eingriffe der Ethikkommission in die
Wissenschaftsfreiheit im Rechtswege korrigieren zu lassen.
Andererseits ist eine Ethikkommission mit Annäherungen
an „Peer Review“ immerhin noch wissenschaftsnäher
als ein staatliches Gericht.97 Zudem ist ja dem Beurteilungsspielraum
der Kommission gegenüber dem
Gericht bereits ein Einschätzungsspielraum des Antragstellers
gegenüber der Ethikkommission vorgelagert.98
Im Übrigen hat das Gericht die Entscheidung der Ethikkommission
gegebenenfalls auf Beurteilungsfehler einschließlich
der Wahrung verfassungsrechtlicher Grenzen
zu kontrollieren. Dementsprechend muss weiterhin
voll geprüft werden, ob die Forschungsfreiheit von der
Ethikkommission in ihrer Tragweite verkannt worden
ist. Bei einer Gesamtbetrachtung spricht somit viel dafür,
dass der Beurteilungsspielraum in seiner engen Konturierung
die Forschungsfreiheit eher schützt als
gefährdet.
V. Fazit
Im Ausgangspunkt ist die Rechtspflicht, eine Ethikkommission
einzuschalten, eine potentielle Gefahr für die
Freiheit der Forschung. Denn diese Kommissionen
haben mehr oder weniger verbindlich über Fragen zu
entscheiden, die teilweise – namentlich bei Risiko-Nutzen-
Abwägungen vor klinischen Studien – zentrale
Bestandteile der Wissenschaftsfreiheit betreffen. Allerdings
sind die damit verbundenen Beschränkungen der
akademischen Freiheit (im nationalen Recht durch verfassungsimmanente
Schranken) zugunsten der Grundrechte
von Probanden/Patienten zu rechtfertigen. Die
einschlägigen Vorschriften lassen sich verfassungskonform
so auslegen und handhaben, dass ein nach beiden
Seiten hin schonender Ausgleich zwischen kollidierenden
Verfassungspositionen gelingen kann. Dies gilt letzten
Endes auch, soweit betroffen, auf der Ebene der
Chartagrundrechte der Europäischen Union.
Bei näherem Hinsehen bietet die Einschaltung einer
Ethikkommission allerdings auch kleine Vorteile für die
Verwirklichung der Forschungsfreiheit. Namentlich
schafft deren positives Votum, gegebenenfalls zusammen
mit der behördlichen Genehmigung der Studie, für
die Forscher erst einmal Rechtssicherheit und einen gewissen
– wenn auch beschränkten – Vertrauensschutz.
Der Vorbehalt des Gesetzes schützt vor gesetzesfremden
Maßstäben; namentlich die ethische Vertretbarkeit kann
nur insoweit als Beurteilungsmaßstab dienen, wie sich
entsprechende Kriterien durch Gesetzesauslegung aus
den maßgeblichen Rechtsvorschriften ergeben. Schließlich
lässt sich auch der Beurteilungsspielraum, der den
Ethikkommissionen zukommt, bei richtiger enger Konturierung
und in Kombination mit einem vorgelagerten
Einschätzungsspielraum der Forscher eher als Förderung
denn als Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit
einordnen.
Allerdings sind Ethikkommissionen kein Allheilmittel,
um durch „Flucht ins Verfahren“ ethische Grundkonflikte
gleichsam „auszulagern“. Ihre Einschaltung
sollte daher auf besonders sensible Bereiche beschränkt
und nicht auf immer mehr Wissenschaftsfelder ausgedehnt
werden. Denn schon die Durchführung eines sol-
96 Insb. BVerwG NJW 1993, S. 1491 ff. Opus Pistorum; für einen
Überblick siehe Maurer/Waldhoff (Fn. 95), § 7 Rn. 40.
97 Angedeutet von Fateh-Moghadam/Atzeni (Fn. 31), S. 115, 128.
98 Siehe oben Fn. 82.
Fehling · Ethikkommisionen 1 1 5
chen Verfahrens kostet Zeit und Geld und stellt einen
prozeduralen Grundrechtseingriff in die Forschungsfreiheit
(sowie durch die damit verbundene Verzögerung
gegebenenfalls auch in die Berufsfreiheit von finanzierenden
Unternehmen) dar. Darüber hinaus sind namentlich
in der Arzneimittelforschung – einschließlich
der klinischen Studien für (weitere) Impfstoffe gegen
Covid 1999 – Menschen oftmals dringend auf die beschleunigte
Marktreife von Arzneimitteln und Impfstoffen
angewiesen.
Michael Fehling ist Professor an der Bucerius Law
School, Hamburg, und Inhaber des Lehrstuhls für
Öffentliches Recht mit Rechtsvergleichung.
99 Vgl. dort zu Möglichkeiten und Grenzen einer Beschleunigung
klinischer Studien (wobei freilich nicht die Einschaltung einer
Ethikkommission im Fokus steht) Oetzel, Lichtblick mRNA-Impfstoffe?
– Mit Erbinformationen gegen Corona, DAZ v. 28.5.2020,
S. 30.
1 1 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 1 ) , 1 0 3 — 1 1 6