Gliederung
I. Einleitung
II. Verfahren und wesentliche Gründe der Entscheidung
III. Analyse
- Corona-Spezifika
a. Täuschungsverdacht und Open-book-Formate
b. Begriff der „Open-book-Klausur“ - Weitere Aspekte
a. Erstbewertung oder Neubewertung?
b. Beweisaufnahme im Beschwerdeverfahren?
IV. Fazit
I. Einleitung
Das corona-bedingte Ausweichen in den virtuellen Raum zu Zwecken der Durchführung einer Prüfung an Hochschulen hat eine Vielzahl neuartiger Fragestellungen aufgeworfen. Neben Aspekten von Daten- und Persönlichkeitsschutz2 oder der intensivierten Relevanz prüfungsdidaktischer Elemente3 mussten auch Prüfungsformate selbst für den virtuellen Raum kompatibel gestaltet sowie diese neuartige Durchführung der Prüfungen seitens der Hochschulen rechtssicher organisiert werden. Ein an den Hochschulen weit verbreitetes Mittel der Wahl zur Umsetzung dessen war die Überführung schriftlicher Prüfungen in ein sog. Open-book-Format.4 Hierbei werden sachliche Hilfsmittel in mehr oder weniger großem Umfang zur Prüfung zugelassen, so dass sich das Täuschungspotenzial und damit das Erfordernis einer Beaufsichtigung reduziert.
Dass durch die Implementierung von Open-book-Prüfungen jedoch nicht alle Fragen rund um Täuschungen bzw. Täuschungsversuche beantwortet sind, zeigt anschaulich der hier besprochene Beschluss des OVG Bautzen. Zum besseren Verständnis der Leserschaft sollen der zu Grunde liegende Sachverhalt, der Verfahrensgang sowie die tragenden Gründe der Entscheidung skizziert werden (II.). Im Anschluss daran werden einige Aspekte analysierend herausgehoben (III.). Ein Fazit (IV.) schließt die Darstellung ab.
II. Verfahren und wesentliche Gründe der Entscheidung
Eine Lehramtsstudentin einer staatlichen sächsischen Hochschule nahm am 29. Juli 2020 an einer Prüfung teil, die für sie im betreffenden Fach die letzte Wiederholungsmöglichkeit war. Die Prüfung wurde als „Open-book-Klausur“ vorgenommen. Es gab hierbei weder eine erkennbare Beschränkung der erlaubten sachlichen Hilfsmittel noch eine virtuelle Beaufsichtigung der zu prüfenden Personen über mobile Endgeräte. Stattdessen hatten die Prüflinge vor Beginn der Prüfung eine Erklärung abzugeben, die Prüfung eigenständig sowie nur mit den zugelassenen Hilfsmitteln zu erbringen. Im Rahmen der Bewertung ergaben sich diverse wortgleiche oder nahezu wortgleiche Antworten bei der Beschwerdeführerin im Verhältnis zu anderen Mitprüflingen.
Der Beschwerdeführerin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, worin sie angab, sie habe die Prüfung eigenständig durchgeführt. Es habe in Vorbereitung der Prüfung Lerngruppen gegeben, in denen über die Prüfungsinhalte gesprochen worden waren. Die Hochschule als Beschwerdegegnerin folgte diesem Vortrag nicht und vergab die Sanktionsbewertung „nicht bestanden“ sowie die Sanktionsnote 5,0 infolge erwiesener Täuschung. Dagegen legte die Beschwerdeführerin Widerspruch ein, der erfolglos blieb. Über die eingelegte Klage ist noch nicht entschieden.
Das VG Dresden hatte den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Hinsichtlich des Anordnungsanspruchs liege der erforderliche Grad an Erfolgsaussicht der Hauptsache nicht vor, weil es sich um eine sog. Vorwegnahme der Hauptsache handele. In der Sache handele es sich nicht um eine Neubewertung, sondern um eine Erstbewertung, die jedoch bereits stattgefunden
1 Az. 2 B 274/21.
2 Näher Dieterich, NVwZ 2021, 511 ff; Birnbaum, NJW 2021, 1356 ff; Morgenroth, OdW 2021, 251 ff. m.w.N.
3 Grundlegend Morgenroth/ Wieczorek, OdW 2021, 147 ff; ausführlich Whitepaper Digitale Prüfungen des Hochschulforums Digitalisierung, 2021, abrufbar unter: HFD_Whitepaper_Digitale_Pruefungen_Hochschule.pdf (hochschulforumdigitalisierung.de), zuletzt abgerufen am 20. August 2022.
4 Stein, DVP 2021, 182 ff.
Ordnung der Wissenschaft 2022, ISSN 2197–9197
Carsten Morgenroth
Die Behandlung eines Täuschungsverdachts in Zeiten von Open-book-Prüfungen – Eine Analyse des Beschlusses des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 16. Februar 20221
2 7 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 2 ) , 2 7 3 — 2 7 6
5 Exemplarisch VG Braunschweig, Urteil vom 09.10.2012, Az. 6 A
194/11 m.w.N.
6 Klausuren werden teilweise auch als Aufsichtsarbeiten bezeichnet,
s. BVerwG, Beschl. v. 21.09.2016, Az. 6 B 14/16.
habe. Irreversible Nachteile seien nicht zu befürchten.
Für eine Täuschung spreche Inhalt und Umfang der Fehleridentität
nach den Grundsätzen des sog. Beweises des
ersten Anscheins.
Das OVG Bautzen hat die Beschwerde der Beschwerdeführerin
zurückgewiesen. Zwar ließe sich nicht sicher
sagen, ob die Fehleridentität der Prüfungsarbeiten während
der Prüfung selbst oder im Rahmen der Lerngruppen
zur Klausurvorbereitung entstanden ist. Bei Openbook-
Klausuren sei der Rückgriff auf Lernmaterialien
zulässig. Der alternative Kausalverlauf, den die Beschwerdeführerin
nun darzulegen und gegebenenfalls zu
beweisen hätte, konnte jedoch durch die im Beschwerdeverfahren
erstmals vorgelegten Lehrunterlagen nicht zur
Überzeugung des Gerichts aufgezeigt werden. Denn offen
sei, ob diese Materialien bereits vor der Prüfung vorgelegen
hatten. Insoweit bestünden durch die erforderliche,
aber im einstweiligen Verfahren nicht durchführbare
Beweisaufnahme offene Erfolgsaussichten, wodurch
der erforderliche Maßstab für den Erlass einer einstweiligen
Verfügung nicht erreicht werde. Auch eine Interessenabwägung
ginge nicht zugunsten der Antragstellerin
aus. Insbesondere drohe nicht, dass eine spätere Bewertung
nicht mehr möglich wäre.
III. Analyse
Die Analyse der Entscheidung teilt sich in coronaspezifische
Aspekte (1.) und sonstige Elemente (2.). - Coronaspezifika
An Aspekten des Beschlusses, die in engem Zusammenhang
mit der Corona-Pandemie stehen, sind inhaltlich
der Umgang mit Täuschungen (a.) sowie begrifflich die
Verwendung von „Open-book-Klausuren“ (b.) relevant.
a. Täuschungsverdacht und Open-book-Formate
Zentrales Element der Entscheidung des OVG Bautzen
ist eine Weiterentwicklung im Umgang mit einem Täuschungsverdacht
im Zusammenhang mit dem sog.
Beweis des ersten Anscheins. In der Rechtsprechung ist
seit Langem anerkannt, dass bei besonders auffälliger
inhaltlicher Übereinstimmung, etwa quantitativ, aber
auch mit Blick auf grammatikalisch-orthografische Fehler,
der Beweis des ersten Anscheins dafür herangezogen
werden kann, dass die erforderliche Eigenständigkeit der
Leistungserbringung gerade nicht vorhanden war.5 Es ist
dann an den Prüflingen, einen tatsächlichen Verlauf darzulegen
und gegebenenfalls zu beweisen, welcher diese
Eigenständigkeit mit einer Wahrscheinlichkeit jenseits
begründeten Zweifels dann doch nahelegt.
Durch die Zulassung sachlicher Hilfsmittel in Openbook-
Formaten wird nun die Möglichkeit eröffnet, diese
Hilfsmittel in der Prüfung zu verwenden. Finden sich –
wie hier – in den Prüfungen der betroffenen Prüflinge
Fehler, die mit den Lehrunterlagen der Lehrenden identisch
sind, so lässt sich nicht ausschließen, dass die Übertragung
dieser Fehler nicht während der Prüfung, sondern
während der Vorbereitung auf die Prüfung ihre Ursache
hatte. In diesem Fall wäre jedoch der faktische Anknüpfungspunkt
für die Anwendbarkeit der Rechtsfigur
Anscheinsbeweis nicht mehr gegeben – die identischen
Fehler ziehen dann gerade nicht mehr hinreichend sicher
die Eigenständigkeit der Prüfung in Zweifel, um
den Beweis des ersten Anscheins für anwendbar zu erklären.
Genau das hat das OVG Bautzen erkannt und insoweit
die Vorinstanz, das VG Dresden, korrigiert. Eben
darin liegt auch eine der Stärken der Entscheidung. Dass
die Fehleridentität bereits in der Prüfungsvorbereitung
angelegt wurde, konnte auch zu Zeiten von Präsenzprüfungen
bereits vorgetragen werden – diese Argumentationslinie
ist an sich also weder neu noch coronabedingt
entstanden. Wegen der gestiegenen Bedeutung von
Lehrmaterialien für die Prüfung in Open-book-Formaten
hat das OVG Bautzen jedoch mit viel Feingefühl und
Präzision erkannt, dass die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit
des Anscheinsbeweises genau betrachtet
und gegebenenfalls geringfügig nachjustiert werden
müssen, will man den Gegebenheiten von Open-book-
Formaten gerecht werden.
b. Begriff der „Open-book-Klausur“
Der zweite Aspekt der Entscheidung, der mit den Coronabedingungen
in engem Zusammenhang steht, ist ein
rein formell-begrifflicher, der jedoch nicht unterschätzt
werden sollte. Das OVG Bautzen verwendet in Tenor
und Entscheidungsgründen den Begriff der „Openbook-
Klausur“. Die Verwendung in den Entscheidungsgründen
ist insoweit korrekt, denn dort spiegelt das
Gericht die Terminologie der betroffenen Hochschule
wieder.
Die Verwendung im Tenor wirft jedoch Fragen auf.
Es ist seit Langem in der Rechtsprechung anerkannt,
dass die Prüfungsvariante der Klausur zwingend eine
Aufsicht voraussetzt.6 Durch das Open-book-Format
der Prüfung wird das Aufsichtsbedürfnis jedoch reduziert
um die zugelassenen sachlichen Hilfsmittel. Viele
Hochschulen haben in der Corona-Zeit deshalb, vor alMorgenroth
· Die Behandlung eines Täuschungsverdachts in Zeiten von Open-book-Prüfungen 2 7 5
7 Morgenroth, Hochschulstudienrecht und Hochschulprüfungsrecht, - Aufl., 2021, Rn. 390a.
8 Escher-Weingart, Die Prüfung – das unbekannte Wesen, OER, abzurufen
unter: http://hdl.handle.net/10900.3/OER_CBXNPJUT,
zuletzt abgerufen am 20. August 2022; zum neu eingeführten
Begriff des Prüfungstyps Morgenroth, OdW 2021, 117, 122 ff.
9 Eine effektive Hilfsmittelkontrolle erscheint hierbei etwa bei
Strafgefangenen möglich.
lem aus Gründen der Praktikabilität, bei Open-book-
Prüfungen ganz auf eine Beaufsichtigung verzichtet, offenbar
auch die hier betroffene Hochschule. Per se ist das
personelle Täuschungspotenzial, also beispielsweise die
viel zitierte WhatsApp-Gruppe der Prüflinge während
der Klausur, durch eine reine Übertragung einer Klausur
ins Open-book-Format jedoch bestehen geblieben, der
Bedarf für eine Beaufsichtigung damit nicht entfallen.
Erst weitere Elemente, etwa die didaktische Anpassung
der Prüfungsstruktur hin zu einem hinreichenden Individualisierungsniveau
der Antworten oder eine Randomisierung
der Reihenfolge, in der die Prüflinge die Prüfungsaufgaben
gestellt bekommen, schließen den Nutzen
eines interpersonellen Austauschs während der
Klausur aus und lassen damit dann eine Aufsicht endgültig
obsolet erscheinen. Unterbleiben derartige Maßnahmen,
setzt auch eine „Open-book-Klausur“ eine
Aufsicht voraus. Der Begriff „Open-book-Klausur“ ist
also bereits nach diesen Ableitungen ungenau, wenn –
wie hier – eine Aufsicht unterblieben ist.
Sieht man noch etwas genauer hin, so offenbaren sich
speziell durch die Corona-Zeit entstandene oder zumindest
geförderte begriffliche Herausforderungen und
Chancen, die auch für den hier verwendeten Begriff
„Open-book-Klausur“ relevant sind. Die Corona-Pandemie
hat eine Vielzahl von Begrifflichkeiten für Prüfungen
im virtuellen Raum hervorgebracht, etwa „Fernprüfungen“,
„E‑Prüfungen“, „digitale Prüfungen“ oder
„Online-Prüfungen“.7 Eine Analyse dessen schärfte zugleich
auch den Blick für den Oberbegriff der Prüfung.8
Folge dessen ist unter anderem eine Abschichtung der
rein begrifflich-phänomenologischen und der verfassungsrechtlichen
Ebene des Verständnisses von Prüfung.
Denn betrachtet man das Phänomen Prüfung rein faktisch,
so lässt sich ein zwingender Bedarf für eine Beaufsichtigung
zumindest nicht für alle Konstellationen erkennen.
Beispielsweise erscheint es durchaus möglich,
eine Person nach effektiver Kontrolle bezüglich erlaubter
Hilfsmittel eine Klausur in einem Einzelzimmer ohne
Aufsicht absolvieren zu lassen.9 Das Bedürfnis einer Beaufsichtigung
von Klausuren entsteht stattdessen erst aus
weiteren verfassungsrechtlichen Implikationen heraus,
nämlich aus einer Verbindung des verfassungsrechtlichen
Gebots der Chancengleichheit, Art. 3 Abs. 1 GG, in
Verbindung mit den vorhandenen bzw. für die Prüfung
vernünftigerweise eingesetzten Ressourcen einer Hochschule
in Ausübung ihrer Verantwortung für ein funktionierendes
Prüfungssystem, Art. 5 Abs. 3 GG.
Wegen dieser vielfältigen und vielschichtigen und
derzeit bestenfalls rudimentär aufgearbeiteten begrifflichen
Implikationen bietet sich in der Praxis deshalb an,
auf den Begriff der „Open-book-Klausur“ zu verzichten
und ihn durch neutralere Betitelungen wie „Open-book-
Prüfung“ oder auch „Open-book-Exam“ zu ersetzen. - Weitere Aspekte
Die Entscheidung des OVG Bautzen hat daneben aber
noch zwei weitere Fragestellungen angesprochen, die es
wert erscheinen, näher betrachtet zu werden. Das ist
zum Einen die prüfungsrechtliche Frage, ob die erneute
Bewertung einer Prüfung, nun aber ohne die Berücksichtigung
eines Täuschungsverdachts, eine Erstbewertung
oder eine Neubewertung ist (a.). Zum Anderen ist
die prozessrechtliche Frage der Relevanz einer Beweisaufnahme
im Beschwerdeverfahren des verwaltungsgerichtlichen
einstweiligen Rechtsschutzes ebenfalls verfahrensrelevant
gewesen (b.)
a. Erstbewertung oder Neubewertung?
Die Frage, ob eine erstmalige Bewertung einer Prüfung
anstelle der Anwendung der Bewertungsfiktion infolge
eines Täuschung(sversuchs) eine bloße modifizierte
Ausgangsbewertung (Erstbewertung, Auffassung des VG
Dresden) oder eine Neubewertung ist, wie es die
Beschwerdeführerin vorgetragen hat, ist bislang in
Rechtsprechung und Literatur erkennbar nicht behandelt
worden und wäre auch verfahrensrelevant gewesen.
Denn es lässt sich durchaus die Frage aufwerfen, ob für
eine Neubewertung die strengeren Maßstäbe im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren, die an eine sog. Vorwegnahme
der Hauptsache angelegt werden, nicht gelten
müssen, sondern diese nach den allgemeinen Anforderungen
überwiegender Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen
Hauptsacheverfahrens bewertet wird. Leider hat
sich das OVG Bautzen mit dieser Frage nicht auseinandergesetzt.
Die Aussage im Beschluss, dass in jedem Falle
vermieden wurde, eine Bewertung später nicht mehr
einholen zu können, trifft den Kern der hiesigen Frage2
7 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 2 ) , 2 7 3 — 2 7 6
10 Morgenroth, NVwZ 2017, 1430.
stellung dabei nicht. Denn dadurch bleibt gerade offen,
nach welchem Maß über Obsiegen oder Niederlage im
Beschwerdeverfahren zu entscheiden wäre.
Für eine bloße Modifizierung und damit eine Erstbewertung
spricht sicherlich die Parallelität der Rechtfolge:
Für Bewertungsfiktion und ungenügende Leistung infolge
Sachbewertung wird jeweils eine Bewertung „nicht
bestanden“ und die Note 5,0 ausgegeben. Für eine strukturelle
Trennung, die eine Neubewertung indiziert, streiten
jedoch vielfältige Argumente. Zunächst ist bei sachlich-
inhaltlichen Bewertungen der Bewertungsspielraum
des Prüfers und damit die weitere verfassungsrechtliche
Dimension seiner diesbezüglichen Rechte
und Pflichten aus Art. 12 GG relevant, für Bewertungsfiktionen
infolge eines Täuschung(sversuchs) dagegen
nicht. Für Bewertungen in der Sache bestehen sodann
die für Leistungsprüfungen geltenden Beschränkungen
des Verwaltungsverfahrensrechts — insbesondere kann
auf das Erfordernis einer Anhörung verzichtet werden,
was dagegen bei einer „Täuschungs-Fünf “ einen Verfahrensfehler
darstellt. Bewertungsfiktionen sind schließlich
auch ausnahmslos Verwaltungsakte, während diese
Einschätzung zumindest für bestandene Prüfungen äußerst
differenziert zu betrachten ist.10 Es sprechen demnach
gute, möglicherweise sogar die besseren Gründe
dafür, dem Vortrag der Beschwerde zu folgen und eine
Neubewertung abzuleiten.
Nimmt man eine Neubewertung an, so hätte sich die
Frage gestellt, ob hierfür der strenge Maßstab der Vorwegnahme
der Hauptsache oder der allgemeine Maßstab
im einstweiligen Rechtschutz anzuwenden gewesen
wäre. Beantwortet man diese Frage im Sinne allgemeiner
Anforderungen, so ist durchaus offen, ob die Entscheidung
anders ausgefallen wäre.
b. Beweisaufnahme im Beschwerdeverfahren?
Schließlich soll die Aussage des OVG Bautzen zur nicht
durchführbaren Beweisaufnahme einer kurzen Folgenbetrachtung
für die Praxis unterzogen werden. Diese
Aussage bedeutet nicht weniger als das Erfordernis,
bereits im einstweiligen Rechtsschutz alle anspruchsbegründenden
Tatsachen — hinreichend überzeugend — ausschließlich
durch einzureichende Unterlagen einzubringen,
um ohne Zeugen, Sachverständige, Inaugenscheinnahme
oder ähnliche Beweisführungen auskommen zu
können. Dies ist der Beschwerde im hiesigen Verfahren
für die Möglichkeit fehlerhafter Prüfungsvorbereitung
gelungen, nicht dagegen für den Umstand, dass die Lehrmaterialien
bereits vor der Prüfung vorhanden waren.
Ob dieser Umstand seitens der Beschwerde nicht vorgetragen
oder ob dies seitens der Hochschule hinreichend
effektiv in Zweifel gezogen worden war, ist aus den verfügbaren
Unterlagen heraus nicht erkennbar. Jedenfalls
hat das VG Dresden im Hauptsacheverfahren hierüber
Beweis zu erheben.
IV. Fazit
Die Entscheidung des OVG Bautzen ist gerade mit Blick
auf die Weiterentwicklung des Anscheinsbeweises für
Open-book-Prüfungen ausgesprochen wertvoll. In
Bezug auf die begrifflichen Verwendungen ist der
Beschluss durchaus eingebettet in die Zeit seiner Entstehung
zu sehen; diese Fragestellungen sind neuartig und
im Fluss, die neuen Begrifflichkeiten werden sich mit der
Zeit präzisieren. Die Frage der Erst- oder Neubewertung
hat das OVG Bautzen auf elegante Weise späteren Verfahren
im einstweiligen Rechtsschutz zum Thema
Täuschung(sversuch) überlassen. Und die Hinweise zur
Beweisaufnahme mögen für alle Beteiligten in folgenden
Verfahren ein Ansporn sein, auch bereits im einstweiligen
Rechtsschutz möglichst lückenlos schriftlich und
überzeugend vorzutragen.
Insgesamt ist der Beschluss des OVG Bautzen eine
Entscheidung, die mit dem Prüfungsrecht befasste Personen
kennen sollten. Aber auch für sonstige Interessierte
ist der Beschluss sehr lesenswert, insbesondere bestechend
durch seine stilistische Prägnanz.
Dr. iur. Carsten Morgenroth ist Justiziar und Vertreter
der Kanzlerin an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Er
ist Referent und Fachautor zum Prüfungsrecht sowie
Autor des Kurzlehrbuchs zum Hochschulstudienrecht
und Hochschulprüfungsrecht. Der Beitrag gibt seine
persönliche Auffassung wieder.