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Glie­de­rung
I. Ein­lei­tung
II. Ver­fah­ren und wesent­li­che Grün­de der Ent­schei­dung
III. Ana­ly­se

  1. Coro­na-Spe­zi­fi­ka
    a. Täu­schungs­ver­dacht und Open-book-For­ma­te
    b. Begriff der „Open-book-Klau­sur“
  2. Wei­te­re Aspek­te
    a. Erst­be­wer­tung oder Neu­be­wer­tung?
    b. Beweis­auf­nah­me im Beschwer­de­ver­fah­ren?
    IV. Fazit
    I. Ein­lei­tung
    Das coro­na-beding­te Aus­wei­chen in den vir­tu­el­len Raum zu Zwe­cken der Durch­füh­rung einer Prü­fung an Hoch­schu­len hat eine Viel­zahl neu­ar­ti­ger Fra­ge­stel­lun­gen auf­ge­wor­fen. Neben Aspek­ten von Daten- und Persönlichkeitsschutz2 oder der inten­si­vier­ten Rele­vanz prü­fungs­di­dak­ti­scher Elemente3 muss­ten auch Prü­fungs­for­ma­te selbst für den vir­tu­el­len Raum kom­pa­ti­bel gestal­tet sowie die­se neu­ar­ti­ge Durch­füh­rung der Prü­fun­gen sei­tens der Hoch­schu­len rechts­si­cher orga­ni­siert wer­den. Ein an den Hoch­schu­len weit ver­brei­te­tes Mit­tel der Wahl zur Umset­zung des­sen war die Über­füh­rung schrift­li­cher Prü­fun­gen in ein sog. Open-book-Format.4 Hier­bei wer­den sach­li­che Hilfs­mit­tel in mehr oder weni­ger gro­ßem Umfang zur Prü­fung zuge­las­sen, so dass sich das Täu­schungs­po­ten­zi­al und damit das Erfor­der­nis einer Beauf­sich­ti­gung redu­ziert.
    Dass durch die Imple­men­tie­rung von Open-book-Prü­fun­gen jedoch nicht alle Fra­gen rund um Täu­schun­gen bzw. Täu­schungs­ver­su­che beant­wor­tet sind, zeigt anschau­lich der hier bespro­che­ne Beschluss des OVG Baut­zen. Zum bes­se­ren Ver­ständ­nis der Leser­schaft sol­len der zu Grun­de lie­gen­de Sach­ver­halt, der Ver­fah­rens­gang sowie die tra­gen­den Grün­de der Ent­schei­dung skiz­ziert wer­den (II.). Im Anschluss dar­an wer­den eini­ge Aspek­te ana­ly­sie­rend her­aus­ge­ho­ben (III.). Ein Fazit (IV.) schließt die Dar­stel­lung ab.
    II. Ver­fah­ren und wesent­li­che Grün­de der Ent­schei­dung
    Eine Lehr­amts­stu­den­tin einer staat­li­chen säch­si­schen Hoch­schu­le nahm am 29. Juli 2020 an einer Prü­fung teil, die für sie im betref­fen­den Fach die letz­te Wie­der­ho­lungs­mög­lich­keit war. Die Prü­fung wur­de als „Open-book-Klau­sur“ vor­ge­nom­men. Es gab hier­bei weder eine erkenn­ba­re Beschrän­kung der erlaub­ten sach­li­chen Hilfs­mit­tel noch eine vir­tu­el­le Beauf­sich­ti­gung der zu prü­fen­den Per­so­nen über mobi­le End­ge­rä­te. Statt­des­sen hat­ten die Prüf­lin­ge vor Beginn der Prü­fung eine Erklä­rung abzu­ge­ben, die Prü­fung eigen­stän­dig sowie nur mit den zuge­las­se­nen Hilfs­mit­teln zu erbrin­gen. Im Rah­men der Bewer­tung erga­ben sich diver­se wort­glei­che oder nahe­zu wort­glei­che Ant­wor­ten bei der Beschwer­de­füh­re­rin im Ver­hält­nis zu ande­ren Mit­prüf­lin­gen.
    Der Beschwer­de­füh­re­rin wur­de Gele­gen­heit zur Stel­lung­nah­me gege­ben, wor­in sie angab, sie habe die Prü­fung eigen­stän­dig durch­ge­führt. Es habe in Vor­be­rei­tung der Prü­fung Lern­grup­pen gege­ben, in denen über die Prü­fungs­in­hal­te gespro­chen wor­den waren. Die Hoch­schu­le als Beschwer­de­geg­ne­rin folg­te die­sem Vor­trag nicht und ver­gab die Sank­ti­ons­be­wer­tung „nicht bestan­den“ sowie die Sank­ti­ons­no­te 5,0 infol­ge erwie­se­ner Täu­schung. Dage­gen leg­te die Beschwer­de­füh­re­rin Wider­spruch ein, der erfolg­los blieb. Über die ein­ge­leg­te Kla­ge ist noch nicht ent­schie­den.
    Das VG Dres­den hat­te den Antrag auf einst­wei­li­gen Rechts­schutz abge­lehnt. Hin­sicht­lich des Anord­nungs­an­spruchs lie­ge der erfor­der­li­che Grad an Erfolgs­aus­sicht der Haupt­sa­che nicht vor, weil es sich um eine sog. Vor­weg­nah­me der Haupt­sa­che han­de­le. In der Sache han­de­le es sich nicht um eine Neu­be­wer­tung, son­dern um eine Erst­be­wer­tung, die jedoch bereits statt­ge­fun­den
    1 Az. 2 B 274/21.
    2 Näher Die­te­rich, NVwZ 2021, 511 ff; Birn­baum, NJW 2021, 1356 ff; Mor­gen­roth, OdW 2021, 251 ff. m.w.N.
    3 Grund­le­gend Morgenroth/ Wiec­zo­rek, OdW 2021, 147 ff; aus­führ­lich White­pa­per Digi­ta­le Prü­fun­gen des Hoch­schul­fo­rums Digi­ta­li­sie­rung, 2021, abruf­bar unter: HFD_Whitepaper_Digitale_Pruefungen_Hochschule.pdf (hochschulforumdigitalisierung.de), zuletzt abge­ru­fen am 20. August 2022.
    4 Stein, DVP 2021, 182 ff.
    Ord­nung der Wis­sen­schaft 2022, ISSN 2197–9197
    Cars­ten Mor­gen­roth
    Die Behand­lung eines Täu­schungs­ver­dachts in Zei­ten von Open-book-Prü­fun­gen – Eine Ana­ly­se des Beschlus­ses des Säch­si­schen Ober­ver­wal­tungs­ge­richts vom 16. Febru­ar 20221
    2 7 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 2 ) , 2 7 3 — 2 7 6
    5 Exem­pla­risch VG Braun­schweig, Urteil vom 09.10.2012, Az. 6 A
    194/11 m.w.N.
    6 Klau­su­ren wer­den teil­wei­se auch als Auf­sichts­ar­bei­ten bezeich­net,
    s. BVerwG, Beschl. v. 21.09.2016, Az. 6 B 14/16.
    habe. Irrever­si­ble Nach­tei­le sei­en nicht zu befürch­ten.
    Für eine Täu­schung spre­che Inhalt und Umfang der Feh­ler­iden­ti­tät
    nach den Grund­sät­zen des sog. Bewei­ses des
    ers­ten Anscheins.
    Das OVG Baut­zen hat die Beschwer­de der Beschwer­de­füh­re­rin
    zurück­ge­wie­sen. Zwar lie­ße sich nicht sicher
    sagen, ob die Feh­ler­iden­ti­tät der Prü­fungs­ar­bei­ten wäh­rend
    der Prü­fung selbst oder im Rah­men der Lern­grup­pen
    zur Klau­sur­vor­be­rei­tung ent­stan­den ist. Bei Open­book-
    Klau­su­ren sei der Rück­griff auf Lern­ma­te­ria­li­en
    zuläs­sig. Der alter­na­ti­ve Kau­sal­ver­lauf, den die Beschwer­de­füh­re­rin
    nun dar­zu­le­gen und gege­be­nen­falls zu
    bewei­sen hät­te, konn­te jedoch durch die im Beschwer­de­ver­fah­ren
    erst­mals vor­ge­leg­ten Lehr­un­ter­la­gen nicht zur
    Über­zeu­gung des Gerichts auf­ge­zeigt wer­den. Denn offen
    sei, ob die­se Mate­ria­li­en bereits vor der Prü­fung vor­ge­le­gen
    hat­ten. Inso­weit bestün­den durch die erfor­der­li­che,
    aber im einst­wei­li­gen Ver­fah­ren nicht durch­führ­ba­re
    Beweis­auf­nah­me offe­ne Erfolgs­aus­sich­ten, wodurch
    der erfor­der­li­che Maß­stab für den Erlass einer einst­wei­li­gen
    Ver­fü­gung nicht erreicht wer­de. Auch eine Inter­es­sen­ab­wä­gung
    gin­ge nicht zuguns­ten der Antrag­stel­le­rin
    aus. Ins­be­son­de­re dro­he nicht, dass eine spä­te­re Bewer­tung
    nicht mehr mög­lich wäre.
    III. Ana­ly­se
    Die Ana­ly­se der Ent­schei­dung teilt sich in coro­na­spe­zi­fi­sche
    Aspek­te (1.) und sons­ti­ge Ele­men­te (2.).
  3. Coro­na­spe­zi­fi­ka
    An Aspek­ten des Beschlus­ses, die in engem Zusam­men­hang
    mit der Coro­na-Pan­de­mie ste­hen, sind inhalt­lich
    der Umgang mit Täu­schun­gen (a.) sowie begriff­lich die
    Ver­wen­dung von „Open-book-Klau­su­ren“ (b.) rele­vant.
    a. Täu­schungs­ver­dacht und Open-book-For­ma­te
    Zen­tra­les Ele­ment der Ent­schei­dung des OVG Baut­zen
    ist eine Wei­ter­ent­wick­lung im Umgang mit einem Täu­schungs­ver­dacht
    im Zusam­men­hang mit dem sog.
    Beweis des ers­ten Anscheins. In der Recht­spre­chung ist
    seit Lan­gem aner­kannt, dass bei beson­ders auf­fäl­li­ger
    inhalt­li­cher Über­ein­stim­mung, etwa quan­ti­ta­tiv, aber
    auch mit Blick auf gram­ma­ti­ka­lisch-ortho­gra­fi­sche Feh­ler,
    der Beweis des ers­ten Anscheins dafür her­an­ge­zo­gen
    wer­den kann, dass die erfor­der­li­che Eigen­stän­dig­keit der
    Leis­tungs­er­brin­gung gera­de nicht vor­han­den war.5 Es ist
    dann an den Prüf­lin­gen, einen tat­säch­li­chen Ver­lauf dar­zu­le­gen
    und gege­be­nen­falls zu bewei­sen, wel­cher die­se
    Eigen­stän­dig­keit mit einer Wahr­schein­lich­keit jen­seits
    begrün­de­ten Zwei­fels dann doch nahe­legt.
    Durch die Zulas­sung sach­li­cher Hilfs­mit­tel in Open­book-
    For­ma­ten wird nun die Mög­lich­keit eröff­net, die­se
    Hilfs­mit­tel in der Prü­fung zu ver­wen­den. Fin­den sich –
    wie hier – in den Prü­fun­gen der betrof­fe­nen Prüf­lin­ge
    Feh­ler, die mit den Lehr­un­ter­la­gen der Leh­ren­den iden­tisch
    sind, so lässt sich nicht aus­schlie­ßen, dass die Über­tra­gung
    die­ser Feh­ler nicht wäh­rend der Prü­fung, son­dern
    wäh­rend der Vor­be­rei­tung auf die Prü­fung ihre Ursa­che
    hat­te. In die­sem Fall wäre jedoch der fak­ti­sche Anknüp­fungs­punkt
    für die Anwend­bar­keit der Rechts­fi­gur
    Anscheins­be­weis nicht mehr gege­ben – die iden­ti­schen
    Feh­ler zie­hen dann gera­de nicht mehr hin­rei­chend sicher
    die Eigen­stän­dig­keit der Prü­fung in Zwei­fel, um
    den Beweis des ers­ten Anscheins für anwend­bar zu erklä­ren.
    Genau das hat das OVG Baut­zen erkannt und inso­weit
    die Vor­in­stanz, das VG Dres­den, kor­ri­giert. Eben
    dar­in liegt auch eine der Stär­ken der Ent­schei­dung. Dass
    die Feh­ler­iden­ti­tät bereits in der Prü­fungs­vor­be­rei­tung
    ange­legt wur­de, konn­te auch zu Zei­ten von Prä­senz­prü­fun­gen
    bereits vor­ge­tra­gen wer­den – die­se Argu­men­ta­ti­ons­li­nie
    ist an sich also weder neu noch coro­nabe­dingt
    ent­stan­den. Wegen der gestie­ge­nen Bedeu­tung von
    Lehr­ma­te­ria­li­en für die Prü­fung in Open-book-For­ma­ten
    hat das OVG Baut­zen jedoch mit viel Fein­ge­fühl und
    Prä­zi­si­on erkannt, dass die Vor­aus­set­zun­gen für die Anwend­bar­keit
    des Anscheins­be­wei­ses genau betrach­tet
    und gege­be­nen­falls gering­fü­gig nach­jus­tiert wer­den
    müs­sen, will man den Gege­ben­hei­ten von Open-book-
    For­ma­ten gerecht wer­den.
    b. Begriff der „Open-book-Klau­sur“
    Der zwei­te Aspekt der Ent­schei­dung, der mit den Coro­nabe­din­gun­gen
    in engem Zusam­men­hang steht, ist ein
    rein for­mell-begriff­li­cher, der jedoch nicht unter­schätzt
    wer­den soll­te. Das OVG Baut­zen ver­wen­det in Tenor
    und Ent­schei­dungs­grün­den den Begriff der „Open­book-
    Klau­sur“. Die Ver­wen­dung in den Ent­schei­dungs­grün­den
    ist inso­weit kor­rekt, denn dort spie­gelt das
    Gericht die Ter­mi­no­lo­gie der betrof­fe­nen Hoch­schu­le
    wie­der.
    Die Ver­wen­dung im Tenor wirft jedoch Fra­gen auf.
    Es ist seit Lan­gem in der Recht­spre­chung aner­kannt,
    dass die Prü­fungs­va­ri­an­te der Klau­sur zwin­gend eine
    Auf­sicht voraussetzt.6 Durch das Open-book-For­mat
    der Prü­fung wird das Auf­sichts­be­dürf­nis jedoch redu­ziert
    um die zuge­las­se­nen sach­li­chen Hilfs­mit­tel. Vie­le
    Hoch­schu­len haben in der Coro­na-Zeit des­halb, vor alMor­gen­roth
    · Die Behand­lung eines Täu­schungs­ver­dachts in Zei­ten von Open-book-Prü­fun­gen 2 7 5
    7 Mor­gen­roth, Hoch­schul­stu­di­en­recht und Hochschulprüfungsrecht,
  4. Aufl., 2021, Rn. 390a.
    8 Escher-Wein­gart, Die Prü­fung – das unbe­kann­te Wesen, OER, abzu­ru­fen
    unter: http://hdl.handle.net/10900.3/OER_CBXNPJUT,
    zuletzt abge­ru­fen am 20. August 2022; zum neu ein­ge­führ­ten
    Begriff des Prü­fungs­typs Mor­gen­roth, OdW 2021, 117, 122 ff.
    9 Eine effek­ti­ve Hilfs­mit­tel­kon­trol­le erscheint hier­bei etwa bei
    Straf­ge­fan­ge­nen mög­lich.
    lem aus Grün­den der Prak­ti­ka­bi­li­tät, bei Open-book-
    Prü­fun­gen ganz auf eine Beauf­sich­ti­gung ver­zich­tet, offen­bar
    auch die hier betrof­fe­ne Hoch­schu­le. Per se ist das
    per­so­nel­le Täu­schungs­po­ten­zi­al, also bei­spiels­wei­se die
    viel zitier­te Whats­App-Grup­pe der Prüf­lin­ge wäh­rend
    der Klau­sur, durch eine rei­ne Über­tra­gung einer Klau­sur
    ins Open-book-For­mat jedoch bestehen geblie­ben, der
    Bedarf für eine Beauf­sich­ti­gung damit nicht ent­fal­len.
    Erst wei­te­re Ele­men­te, etwa die didak­ti­sche Anpas­sung
    der Prü­fungs­struk­tur hin zu einem hin­rei­chen­den Indi­vi­dua­li­sie­rungs­ni­veau
    der Ant­wor­ten oder eine Ran­do­mi­sie­rung
    der Rei­hen­fol­ge, in der die Prüf­lin­ge die Prü­fungs­auf­ga­ben
    gestellt bekom­men, schlie­ßen den Nut­zen
    eines inter­per­so­nel­len Aus­tauschs wäh­rend der
    Klau­sur aus und las­sen damit dann eine Auf­sicht end­gül­tig
    obso­let erschei­nen. Unter­blei­ben der­ar­ti­ge Maß­nah­men,
    setzt auch eine „Open-book-Klau­sur“ eine
    Auf­sicht vor­aus. Der Begriff „Open-book-Klau­sur“ ist
    also bereits nach die­sen Ablei­tun­gen unge­nau, wenn –
    wie hier – eine Auf­sicht unter­blie­ben ist.
    Sieht man noch etwas genau­er hin, so offen­ba­ren sich
    spe­zi­ell durch die Coro­na-Zeit ent­stan­de­ne oder zumin­dest
    geför­der­te begriff­li­che Her­aus­for­de­run­gen und
    Chan­cen, die auch für den hier ver­wen­de­ten Begriff
    „Open-book-Klau­sur“ rele­vant sind. Die Coro­na-Pan­de­mie
    hat eine Viel­zahl von Begriff­lich­kei­ten für Prü­fun­gen
    im vir­tu­el­len Raum her­vor­ge­bracht, etwa „Fern­prü­fun­gen“,
    „E‑Prüfungen“, „digi­ta­le Prü­fun­gen“ oder
    „Online-Prüfungen“.7 Eine Ana­ly­se des­sen schärf­te zugleich
    auch den Blick für den Ober­be­griff der Prüfung.8
    Fol­ge des­sen ist unter ande­rem eine Abschich­tung der
    rein begriff­lich-phä­no­me­no­lo­gi­schen und der ver­fas­sungs­recht­li­chen
    Ebe­ne des Ver­ständ­nis­ses von Prü­fung.
    Denn betrach­tet man das Phä­no­men Prü­fung rein fak­tisch,
    so lässt sich ein zwin­gen­der Bedarf für eine Beauf­sich­ti­gung
    zumin­dest nicht für alle Kon­stel­la­tio­nen erken­nen.
    Bei­spiels­wei­se erscheint es durch­aus mög­lich,
    eine Per­son nach effek­ti­ver Kon­trol­le bezüg­lich erlaub­ter
    Hilfs­mit­tel eine Klau­sur in einem Ein­zel­zim­mer ohne
    Auf­sicht absol­vie­ren zu lassen.9 Das Bedürf­nis einer Beauf­sich­ti­gung
    von Klau­su­ren ent­steht statt­des­sen erst aus
    wei­te­ren ver­fas­sungs­recht­li­chen Impli­ka­tio­nen her­aus,
    näm­lich aus einer Ver­bin­dung des ver­fas­sungs­recht­li­chen
    Gebots der Chan­cen­gleich­heit, Art. 3 Abs. 1 GG, in
    Ver­bin­dung mit den vor­han­de­nen bzw. für die Prü­fung
    ver­nünf­ti­ger­wei­se ein­ge­setz­ten Res­sour­cen einer Hoch­schu­le
    in Aus­übung ihrer Ver­ant­wor­tung für ein funk­tio­nie­ren­des
    Prü­fungs­sys­tem, Art. 5 Abs. 3 GG.
    Wegen die­ser viel­fäl­ti­gen und viel­schich­ti­gen und
    der­zeit bes­ten­falls rudi­men­tär auf­ge­ar­bei­te­ten begriff­li­chen
    Impli­ka­tio­nen bie­tet sich in der Pra­xis des­halb an,
    auf den Begriff der „Open-book-Klau­sur“ zu ver­zich­ten
    und ihn durch neu­tra­le­re Beti­telun­gen wie „Open-book-
    Prü­fung“ oder auch „Open-book-Exam“ zu ersetzen.
  5. Wei­te­re Aspek­te
    Die Ent­schei­dung des OVG Baut­zen hat dane­ben aber
    noch zwei wei­te­re Fra­ge­stel­lun­gen ange­spro­chen, die es
    wert erschei­nen, näher betrach­tet zu wer­den. Das ist
    zum Einen die prü­fungs­recht­li­che Fra­ge, ob die erneu­te
    Bewer­tung einer Prü­fung, nun aber ohne die Berück­sich­ti­gung
    eines Täu­schungs­ver­dachts, eine Erst­be­wer­tung
    oder eine Neu­be­wer­tung ist (a.). Zum Ande­ren ist
    die pro­zess­recht­li­che Fra­ge der Rele­vanz einer Beweis­auf­nah­me
    im Beschwer­de­ver­fah­ren des ver­wal­tungs­ge­richt­li­chen
    einst­wei­li­gen Rechts­schut­zes eben­falls ver­fah­rens­re­le­vant
    gewe­sen (b.)
    a. Erst­be­wer­tung oder Neu­be­wer­tung?
    Die Fra­ge, ob eine erst­ma­li­ge Bewer­tung einer Prü­fung
    anstel­le der Anwen­dung der Bewer­tungs­fik­ti­on infol­ge
    eines Täuschung(sversuchs) eine blo­ße modi­fi­zier­te
    Aus­gangs­be­wer­tung (Erst­be­wer­tung, Auf­fas­sung des VG
    Dres­den) oder eine Neu­be­wer­tung ist, wie es die
    Beschwer­de­füh­re­rin vor­ge­tra­gen hat, ist bis­lang in
    Recht­spre­chung und Lite­ra­tur erkenn­bar nicht behan­delt
    wor­den und wäre auch ver­fah­rens­re­le­vant gewe­sen.
    Denn es lässt sich durch­aus die Fra­ge auf­wer­fen, ob für
    eine Neu­be­wer­tung die stren­ge­ren Maß­stä­be im einst­wei­li­gen
    Rechts­schutz­ver­fah­ren, die an eine sog. Vor­weg­nah­me
    der Haupt­sa­che ange­legt wer­den, nicht gel­ten
    müs­sen, son­dern die­se nach den all­ge­mei­nen Anfor­de­run­gen
    über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit eines erfolg­rei­chen
    Haupt­sa­che­ver­fah­rens bewer­tet wird. Lei­der hat
    sich das OVG Baut­zen mit die­ser Fra­ge nicht aus­ein­an­der­ge­setzt.
    Die Aus­sa­ge im Beschluss, dass in jedem Fal­le
    ver­mie­den wur­de, eine Bewer­tung spä­ter nicht mehr
    ein­ho­len zu kön­nen, trifft den Kern der hie­si­gen Frage2
    7 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 4 ( 2 0 2 2 ) , 2 7 3 — 2 7 6
    10 Mor­gen­roth, NVwZ 2017, 1430.
    stel­lung dabei nicht. Denn dadurch bleibt gera­de offen,
    nach wel­chem Maß über Obsie­gen oder Nie­der­la­ge im
    Beschwer­de­ver­fah­ren zu ent­schei­den wäre.
    Für eine blo­ße Modi­fi­zie­rung und damit eine Erst­be­wer­tung
    spricht sicher­lich die Par­al­le­li­tät der Recht­fol­ge:
    Für Bewer­tungs­fik­ti­on und unge­nü­gen­de Leis­tung infol­ge
    Sach­be­wer­tung wird jeweils eine Bewer­tung „nicht
    bestan­den“ und die Note 5,0 aus­ge­ge­ben. Für eine struk­tu­rel­le
    Tren­nung, die eine Neu­be­wer­tung indi­ziert, strei­ten
    jedoch viel­fäl­ti­ge Argu­men­te. Zunächst ist bei sach­lich-
    inhalt­li­chen Bewer­tun­gen der Bewer­tungs­spiel­raum
    des Prü­fers und damit die wei­te­re ver­fas­sungs­recht­li­che
    Dimen­si­on sei­ner dies­be­züg­li­chen Rech­te
    und Pflich­ten aus Art. 12 GG rele­vant, für Bewer­tungs­fik­tio­nen
    infol­ge eines Täuschung(sversuchs) dage­gen
    nicht. Für Bewer­tun­gen in der Sache bestehen sodann
    die für Leis­tungs­prü­fun­gen gel­ten­den Beschrän­kun­gen
    des Ver­wal­tungs­ver­fah­rens­rechts — ins­be­son­de­re kann
    auf das Erfor­der­nis einer Anhö­rung ver­zich­tet wer­den,
    was dage­gen bei einer „Täu­schungs-Fünf “ einen Ver­fah­rens­feh­ler
    dar­stellt. Bewer­tungs­fik­tio­nen sind schließ­lich
    auch aus­nahms­los Ver­wal­tungs­ak­te, wäh­rend die­se
    Ein­schät­zung zumin­dest für bestan­de­ne Prü­fun­gen äußerst
    dif­fe­ren­ziert zu betrach­ten ist.10 Es spre­chen dem­nach
    gute, mög­li­cher­wei­se sogar die bes­se­ren Grün­de
    dafür, dem Vor­trag der Beschwer­de zu fol­gen und eine
    Neu­be­wer­tung abzu­lei­ten.
    Nimmt man eine Neu­be­wer­tung an, so hät­te sich die
    Fra­ge gestellt, ob hier­für der stren­ge Maß­stab der Vor­weg­nah­me
    der Haupt­sa­che oder der all­ge­mei­ne Maß­stab
    im einst­wei­li­gen Recht­schutz anzu­wen­den gewe­sen
    wäre. Beant­wor­tet man die­se Fra­ge im Sin­ne all­ge­mei­ner
    Anfor­de­run­gen, so ist durch­aus offen, ob die Ent­schei­dung
    anders aus­ge­fal­len wäre.
    b. Beweis­auf­nah­me im Beschwer­de­ver­fah­ren?
    Schließ­lich soll die Aus­sa­ge des OVG Baut­zen zur nicht
    durch­führ­ba­ren Beweis­auf­nah­me einer kur­zen Fol­gen­be­trach­tung
    für die Pra­xis unter­zo­gen wer­den. Die­se
    Aus­sa­ge bedeu­tet nicht weni­ger als das Erfor­der­nis,
    bereits im einst­wei­li­gen Rechts­schutz alle anspruchs­be­grün­den­den
    Tat­sa­chen — hin­rei­chend über­zeu­gend — aus­schließ­lich
    durch ein­zu­rei­chen­de Unter­la­gen ein­zu­brin­gen,
    um ohne Zeu­gen, Sach­ver­stän­di­ge, Inau­gen­schein­nah­me
    oder ähn­li­che Beweis­füh­run­gen aus­kom­men zu
    kön­nen. Dies ist der Beschwer­de im hie­si­gen Ver­fah­ren
    für die Mög­lich­keit feh­ler­haf­ter Prü­fungs­vor­be­rei­tung
    gelun­gen, nicht dage­gen für den Umstand, dass die Lehr­ma­te­ria­li­en
    bereits vor der Prü­fung vor­han­den waren.
    Ob die­ser Umstand sei­tens der Beschwer­de nicht vor­ge­tra­gen
    oder ob dies sei­tens der Hoch­schu­le hin­rei­chend
    effek­tiv in Zwei­fel gezo­gen wor­den war, ist aus den ver­füg­ba­ren
    Unter­la­gen her­aus nicht erkenn­bar. Jeden­falls
    hat das VG Dres­den im Haupt­sa­che­ver­fah­ren hier­über
    Beweis zu erhe­ben.
    IV. Fazit
    Die Ent­schei­dung des OVG Baut­zen ist gera­de mit Blick
    auf die Wei­ter­ent­wick­lung des Anscheins­be­wei­ses für
    Open-book-Prü­fun­gen aus­ge­spro­chen wert­voll. In
    Bezug auf die begriff­li­chen Ver­wen­dun­gen ist der
    Beschluss durch­aus ein­ge­bet­tet in die Zeit sei­ner Ent­ste­hung
    zu sehen; die­se Fra­ge­stel­lun­gen sind neu­ar­tig und
    im Fluss, die neu­en Begriff­lich­kei­ten wer­den sich mit der
    Zeit prä­zi­sie­ren. Die Fra­ge der Erst- oder Neu­be­wer­tung
    hat das OVG Baut­zen auf ele­gan­te Wei­se spä­te­ren Ver­fah­ren
    im einst­wei­li­gen Rechts­schutz zum The­ma
    Täuschung(sversuch) über­las­sen. Und die Hin­wei­se zur
    Beweis­auf­nah­me mögen für alle Betei­lig­ten in fol­gen­den
    Ver­fah­ren ein Ansporn sein, auch bereits im einst­wei­li­gen
    Rechts­schutz mög­lichst lücken­los schrift­lich und
    über­zeu­gend vor­zu­tra­gen.
    Ins­ge­samt ist der Beschluss des OVG Baut­zen eine
    Ent­schei­dung, die mit dem Prü­fungs­recht befass­te Per­so­nen
    ken­nen soll­ten. Aber auch für sons­ti­ge Inter­es­sier­te
    ist der Beschluss sehr lesens­wert, ins­be­son­de­re bestechend
    durch sei­ne sti­lis­ti­sche Prä­gnanz.
    Dr. iur. Cars­ten Mor­gen­roth ist Jus­ti­zi­ar und Ver­tre­ter
    der Kanz­le­rin an der Ernst-Abbe-Hoch­schu­le Jena. Er
    ist Refe­rent und Fach­au­tor zum Prü­fungs­recht sowie
    Autor des Kurz­lehr­buchs zum Hoch­schul­stu­di­en­recht
    und Hoch­schul­prü­fungs­recht. Der Bei­trag gibt sei­ne
    per­sön­li­che Auf­fas­sung wieder.