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Über­sicht
I. Ein­lei­tung
II. Per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten in der For­schung
III. Der For­schungs­be­griff der Daten­schutz­grund­ver­ord­nung
IV. Regu­lie­rung vs. Pri­vi­le­gie­rung der Nut­zung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten in der For­schung durch die DS-GVO

  1. Anwend­bar­keit der DS-GVO
  2. Ver­ar­bei­tung von Daten
  3. Pri­vi­le­gie­run­gen zu Guns­ten der Wis­sen­schafts­frei­heit
    a) Der Zweck­bin­dungs­grund­satz (Art. 5 Abs. 1 lit. b DS-GVO)
    b) Der Grund­satz der Spei­cher­be­gren­zung (Art. 5 Abs. 1 lit. e DS-GVO)
    c) Die Ein­wil­li­gung
    d) Ein­schrän­kung der Betrof­fe­nen­rech­te
    V. Die For­schungs­frei­heit
    VI. Das For­schungs­pri­vi­leg nach Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO und sei­ne natio­na­le Umsetzung
  4. Die Kon­struk­ti­on von Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO
  5. Grund­recht­li­cher Maß­stab im Lich­te der BVerfG-Recht­spre­chung „Recht auf Ver­ges­sen I“ und „Recht auf Ver­ges­sen II“
  6. Schluss­fol­ge­run­gen für die Aus­le­gung
    VII. Fazit
    I. Ein­lei­tung
    Mit dem Inkraft­tre­ten der Daten­schutz-Grund­ver­ord­nung (DS-GVO)1 im Mai 2017 haben sich die Mög­lich­kei­ten für die Nut­zung von For­schungs­da­ten grund­le­gend gewan­delt. Der Rege­lungs­an­satz der DS-GVO ist dabei inno­va­ti­ons­of­fen und for­schungs­freund­lich aus­ge­stal­tet und ent­hält einen umfang­rei­chen Kata­log an Pri­vi­le­gie­run­gen zuguns­ten der wis­sen­schaft­li­chen For­schung. Die­sen Pri­vi­le­gie­run­gen ste­hen dabei Garan­tien und Maß­nah­men gegen­über, die von For­schen­den zum Schutz der Rech­te der betrof­fe­nen Per­so­nen gewahrt wer­den müs­sen. Im Fol­gen­den wird zunächst die Bedeu­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten für For­schen­de exem­pla­risch dar­ge­stellt. Im Wei­te­ren wer­den das Rege­lungs­kon­zept der DS-GVO knapp beleuch­tet und die for­schungs­pri­vi­le­gie­ren­den Nor­men her­aus­ge­ar­bei­tet. Auf­bau­end auf einer Ana­ly­se der zugrun­de­lie­gen­den grund­recht­li­chen Span­nungs­la­gen zwi­schen dem Recht auf Schutz der per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten und der Wis­sen­schafts­frei­heit wird abschlie­ßend die zen­tra­le For­schungs­aus­nah­me aus Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO beleuch­tet. Hier­bei wird zum einen das Ver­hält­nis zu Art. 6 DSGVO bestimmt, zum zwei­ten wird auf der Grund­la­ge der Recht­spre­chung des BVerfG zum „Recht auf Ver­ges­sen I“ und „Recht auf Ver­ges­sen II“ das rele­van­te Grund­rech­te­re­gime bestimmt, also die Fra­ge geklärt, ob die Grund­rech­te der Euro­päi­schen Grund­rech­te­char­ta (GRCh)2 oder die des Grund­ge­set­zes (GG)3 rele­van­ter Maß­stab der Aus­le­gung sind. Es wird dabei ins­be­son­de­re auch auf die in Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO ver­an­ker­te Öff­nungs­klau­sel für mit­glied­staat­li­che Rege­lun­gen ein­ge­gan­gen und das Ver­hält­nis zur bun­des­recht­li­chen Umset­zung in § 27 Abs. 2 BDSG4 sowie zu den lan­des­recht­li­chen Umset­zun­gen dar­ge­stellt.
    II. Per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten in der For­schung
    Per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten fin­den in vie­len Berei­chen wis­sen­schaft­li­cher For­schung Anwen­dung. For­schungs­fel­der, die auf die Ver­wen­dung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten ange­wie­sen sind, sind sol­che, bei denen Men­schen im Zen­trum der For­schung stehen.5 Hier­zu gehö­ren u. a. die Human­me­di­zin, die Psy­cho­lo­gie, die Sozio­lo­gie oder die Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten. Per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten wer­den dabei im Rah­men von Stu­di­en und Inter­views, aber auch mit­tels neu­er und her­kömm­li­cher Tech­no­lo­gien, wie z. B. der Com­pu­ter­to­mo­gra­fie erho­ben. Neben die­sen For­schungs­fel­dern ist die Ver­wen­dung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten auch in For­schungs­be­rei­chen gege­ben, bei denen eine Nut­zung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten nicht offen­sicht­lich ist, wie z. B. den
    Dani­el Becker
    Die Wis­sen­schafts­pri­vi­le­gie­rung in der DS-GVO
    1 Ver­ord­nung (EU) 2016/679 des euro­päi­schen Par­la­ments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natür­li­cher Per­so­nen bei der Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten zum frei­en Daten­ver­kehr und zur Auf­he­bung der Richt­li­nie 95/46/EG.
    2 Char­ta der Grund­rech­te der Euro­päi­schen Uni­on (2010/C 83/92).
    3 Grund­ge­setz für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in der im Bun­des­ge­setz­blatt Teil III, Glie­de­rungs­num­mer 100 1, ver­öf­fent­lich­ten berei­nig­ten Fas­sung, das durch Arti­kel 1 u. 2 Satz 2 des Geset­zes vom 29. Sep­tem­ber 2020 (BGBl. I S. 2048) zuletzt geän­dert wor­den ist.
    4 Bun­des­da­ten­schutz­ge­setz vom 30. Juni 2017 (BGBl. I S. 2097), das durch Arti­kel 10 des Geset­zes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858) geän­dert wor­den ist.
    5 Roß­na­gel, Daten­schutz in der For­schung, ZD 2019, 157.
    Ord­nung der Wis­sen­schaft 2022, ISSN 2197–9197
    1 0 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 2 ) , 1 0 3 — 1 1 4
    6 Hart­mann, Per­so­nen­be­zo­ge­ne For­schungs­da­ten in unver­däch­ti­gen
    For­schungs­dis­zi­pli­nen, LIBREAS. Libra­ry Ide­as (36) 2019, 1f.
    7 Big Data bezeich­net Tech­no­lo­gien, die zur Erhe­bung und Ana­ly­se
    gro­ßer Daten­men­gen genutzt wer­den. Aus­führ­lich zum Big Data-
    Begriff: Holt­hau­sen, Big Data, Peo­p­le Ana­ly­tics, KI und Gestal­tung
    von Betriebs­ver­ein­ba­run­gen – Grund‑, arbeits- und daten­schutz­recht­li­che
    An- und Her­aus­for­de­run­gen, RdA 2021, 19.
    8 Der aktu­el­le Ent­wurf für eine KI-Ver­ord­nung defi­niert KI-Sys­te­me
    in sei­nem Art. 3 als „Soft­ware, die mit­tels einer oder meh­re­rer
    Tech­ni­ken oder Kon­zep­te aus Anhang I ent­wi­ckelt wer­den und für
    eine gege­be­ne Rei­he an vom Men­schen defi­nier­ten Zie­len Aus­ga­be­wer­te
    gene­rie­ren kann, die aus Inhal­ten, Vor­her­sa­gen, Emp­feh­lun­gen
    oder Ent­schei­dun­gen bestehen kön­nen, die die Umge­bung
    beein­flus­sen, mit der sie inter­agie­ren“, Pro­po­sal for a Regu­la­ti­on of
    the Euro­pean Par­lia­ment and of the Coun­cil Lay­ing Down Har­mo­nis­ed
    Rules on Arti­fi­ci­al Intel­li­gence and Amen­ding Cer­tain
    Uni­on Legis­la­ti­ve Acts, COM (2021) 206 final.
    9 Wei­chert, Die For­schungs­pri­vi­le­gie­rung in der DS-GVO, ZD 2020,
    18.
    10 So auch: Werkmeister/Schwaab, Aus­wir­kun­gen und Reich­wei­te
    des daten­schutz­recht­li­chen For­schungs­pri­vi­legs, CR 2019, 85;
    Lan­des­da­ten­schutz­be­auf­tra­ger Nie­der­sach­sen, For­schung und Daten­schutz,
    https://www.lfd.niedersachsen.de/themen/forschung/
    datenschutz-und-forschung-56093.html (zuletzt abge­ru­fen am
    2.12.2021).
    11 BVerfG Urteil vom 29.5.1973 — 1 BvR 424/71 u. 325/72, NJW 1973,
    1176.
    12 ErwG 159 S. 2: „Die Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten zu
    wis­sen­schaft­li­chen For­schungs­zwe­cken im Sin­ne die­ser Ver­ord­nung
    soll­te weit aus­ge­legt wer­den und die Ver­ar­bei­tung für bei­spiels­wei­se
    die tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung und die Demons­tra­ti­on,
    die Grund­la­gen­for­schung, die ange­wand­te For­schung und die
    pri­vat finan­zier­te For­schung ein­schlie­ßen.“
    13 Wege­ner in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auf­la­ge 2016, Art. 19
    EUV, Rn. 16; sie­he auch: Paal/Pauly in Paal/Pauly, DS-GVO BDSG,
  7. Auf­la­ge 2021, Ein­lei­tung, Rn. 10 sowie GA Colo­mer, Schluss­an­trä­ge
    EuGH Rs. C‑267/06.
    14 Gem­inn, Wis­sen­schaft­li­che For­schung und Daten­schutz, DuD
    2018, 640, 643; Werkmeister/Schwaab (Fn. 10), 86; zum Wis­sen­schafts­be­griff
    der GRCh sie­he auch: Tee­tz­mann, Schutz vor Wis­sen?,
    2020, 276, 277.
    15 Ruf­fert in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auf­la­ge 2022,
    Art. 179 AEUV, Rn. 1.
    16 Hornung/Hoffmann, Die Aus­wir­kun­gen der euro­päi­schen Daten­schutz­re­form
    auf die Markt- und Mei­nungs­for­schung, ZD-Bei­la­ge
    2017, 4.
    17 Wei­chert (Fn. 9), 19.
    18 Wei­chert (Fn. 9), 19.
    19 Gem­inn (Fn. 14), 643.
    20 Ibid.
    21 Johannes/Richter, Pri­vi­le­gier­te Ver­ar­bei­tung im BDSG‑E, DuD
    2017, 300, 301.
    Geo- und Umweltwissenschaften.6 Das Vor­an­schrei­ten
    von Daten­aus­wer­tungs­tech­ni­ken im Rah­men von Big
    Data7 sowie die ver­mehr­te Nut­zung künst­li­cher Intel­li­genz
    (KI)8 treibt die Daten­nut­zung zu For­schungs­zwe­cken
    wei­ter vor­an. Gute wis­sen­schaft­li­che For­schung
    wird, auch wegen des fort­schrei­ten­den Ein­sat­zes von KI
    im Bereich der For­schung, zukünf­tig noch mehr von der
    Nut­zung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten, deren Qua­li­tät
    abge­si­chert ist, abhän­gig sein. Um der gesamt­ge­sell­schaft­li­chen
    Bedeu­tung von For­schung für das Gemein­wohl
    gerecht zu wer­den, ist es mit­hin erfor­der­lich, dass
    die­ser ein hin­rei­chen­der Spiel­raum hin­sicht­lich der Ver­wen­dung
    die­ser Daten ein­ge­räumt wird.
    III. Der For­schungs­be­griff der Daten­schutz­grund­ver­ord­nung
    Die DS-GVO beinhal­tet eine Rei­he von Vor­schrif­ten, die
    der Pri­vi­le­gie­rung der „wis­sen­schaft­li­chen For­schung“
    die­nen. Eine Defi­ni­ti­on des Begriffs der „wis­sen­schaft­li­chen
    For­schung“ ist in der DS-GVO, trotz des umfang­rei­chen
    Kata­logs von Legal­de­fi­ni­tio­nen in Art. 4 DSGVO,
    jedoch nicht enthalten.9 Als Aus­gangs­punkt wird
    daher im Fol­gen­den der Begriff der For­schung in der
    Aus­le­gung des BVerfG als Ori­en­tie­rungs­hil­fe her­an­ge­zo­gen.
    10 Dem­nach ist For­schung die „Tätig­keit mit dem
    Ziel, in metho­di­scher, sys­te­ma­ti­scher und nach­prüf­ba­rer
    Wei­se neue Erkennt­nis­se zu gewinnen“.11 Aus­weis­lich
    des ErwG 159 S. 2 zur DS-GVO ist der For­schungs­be­griff
    weit aus­zu­le­gen und umfasst die Grund­la­gen­for­schung,
    die ange­wand­te For­schung sowie expli­zit die pri­vat
    finan­zier­te Forschung.12 Zwar han­delt es sich bei Erwä­gungs­grün­den
    nicht um recht­lich bin­den­de Nor­men
    unio­na­ler Rechts­ak­te, sie sind aber als Aus­le­gungs­hil­fen
    von zen­tra­ler Bedeu­tung anerkannt.13 Im Rah­men von
    pri­vat finan­zier­ter For­schung ist es – aus Sicht der Lite­ra­tur
    – uner­heb­lich, ob die­se auf die Gene­rie­rung eines
    öko­no­misch ver­wert­ba­ren For­schungs­er­geb­nis­ses
    gerich­tet ist oder auf ein im öffent­li­chen Inter­es­se ste­hen­des
    Forschungsziel.14 Dies ist über­zeu­gend, da sich
    dies aus Art. 179 Abs. 1 AEUV ergibt,15 auf den der
    ErwG 159 S. 3 verweist.16 Der wei­te For­schungs­be­griff
    der DS-GVO ist indes dahin­ge­hend ein­zu­schrän­ken,
    dass nur unab­hän­gi­ge For­schungs­tä­tig­keit erfasst ist.17
    Dar­aus ergibt sich, dass eine direk­ti­ve Beein­flus­sung
    durch Drit­te auf den Pro­zess der Erkennt­nis­ge­win­nung
    aus­ge­schlos­sen sein muss.18 Auch darf sich die wis­sen­schaft­li­che
    For­schung nicht wirt­schaft­li­chen oder ande­ren
    Inter­es­sen unterordnen.19 Dar­über hin­aus ist vom
    For­schungs­be­griff nicht die blo­ße Anwen­dung bereits
    bekann­ter Erkennt­nis­se umfasst.20 Eben­so sind auch sta­tis­ti­sche
    Ver­ar­bei­tun­gen, deren Ergeb­nis zwar neue
    Erkennt­nis­se dar­stel­len, aber kei­ne neu­ar­ti­gen Erkennt­nis­se,
    nicht vom Begriff der For­schung umfasst.21 Einen
    Becker · Wis­sen­schafts­pri­vi­le­gie­rung in der DS-GVO 1 0 5
    22 Dafür, dass im Ein­zel­fall auch Markt- und Mei­nungs­for­schung als
    wis­sen­schaft­li­che For­schungs­zwe­cke i. S .d. DS-GVO ein­zu­stu­fen
    sind argu­men­tie­ren: Hornung/Hoffmann (Fn. 16), Gem­inn (Fn. 14),
    643; dage­gen argu­men­tiert für den Fall rein oder vor­ran­gig kom­mer­zi­el­ler
    Markt­for­schung: Wei­chert (Fn. 8), 20; ins­ge­samt einer
    Ein­ord­nung von Markt- und Mei­nungs­for­schung als wis­sen­schaft­li­chen
    Zweck ableh­nend gegen­über­ste­hend: Johannes/Richter (Fn.
    21).
    23 Her­vor­he­bung durch den Ver­fas­ser.
    24 Aus­führ­lich zum Streit­stand Arning/Rothkegel in Taeger/Gabel,
    DSGVO – BDSG, 3. Auf­la­ge 2019, Art. 4 DSGVO, Rn. 33ff.
    25 Dies. (Fn. 24), m. w. N., Rn. 38.
    26 Dies. (Fn. 24), Rn. 34.
    27 Für die­sen aber ein­tre­tend Dre­ge­lies, Wohin lau­fen mei­ne Daten?,
    VuR 2017, 256, 257.
    28 Roß­na­gel (Fn. 5), 157.
    29 Jung/Hansch, Die Ver­ant­wort­lich­keit in der DS-GVO und ihre
    prak­ti­schen Aus­wir­kun­gen, ZD 2019, 143.
    30 Roß­na­gel (Fn. 5), 157.
    31 Fren­zel in Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 3. Auf­la­ge 2021, Art. 6 DSGVO,
    Rn. 7.
    32 Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. c DS-GVO legi­ti­miert die Ver­ar­bei­tung
    per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten, die für Ver­pflich­tun­gen des Ver­ant­wort­li­chen
    not­wen­dig ist. Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. e DSGVO regelt
    die Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten im öffent­li­chen Inter­es­se.
    Grenz­fall bil­det die Markt- und Meinungsforschung.22
    Zusam­men­fas­send kann aus Sicht der Lite­ra­tur eine
    Viel­zahl von Begrif­fen unter den For­schungs­be­griff der
    DS-GVO gefasst wer­den. Pri­ma facie kann daher als
    Kern­be­stand des For­schungs­be­griffs der DS-GVO für
    die fol­gen­de Abhand­lung davon aus­ge­gan­gen wer­den,
    dass er neben der öffent­li­chen auch die pri­va­te wis­sen­schaft­li­che
    For­schung erfasst, solan­ge die­se unab­hän­gig,
    also frei von direk­ti­ver Ein­fluss­nah­me ist, und einem
    Min­dest­maß an wis­sen­schaft­li­chen Stan­dards genügt.
    IV. Regu­lie­rung vs. Pri­vi­le­gie­rung der Nut­zung per­so­nen­be­zo­ge­ner
    Daten in der For­schung durch die
    DS-GVO
    Soweit eine Tätig­keit dem For­schungs­be­griff der DSGVO
    unter­fällt, ist das Span­nungs­feld von Regu­lie­rung
    der Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten, ins­be­son­de­re
    durch das Erfor­der­nis einer Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge,
    und der Pri­vi­le­gie­rung der Nut­zung die­ser Daten zu
    For­schungs­zwe­cken zu untersuchen.
  8. Anwend­bar­keit der DS-GVO
    Der Schutz­ge­gen­stand der DS-GVO sind per­so­nen­be­zo­ge­ne
    Daten. Per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten wer­den in
    Art. 4 Nr. 1 DS-GVO legal defi­niert als:
    „alle Infor­ma­tio­nen, die sich auf eine iden­ti­fi­zier­te oder
    iden­ti­fi­zier­ba­re natür­li­che Per­son (im Fol­gen­den „betrof­fe­ne
    Per­son“) bezie­hen; als iden­ti­fi­zier­bar wird eine natür­li­che
    Per­son ange­se­hen, die direkt oder indi­rekt, …,
    iden­ti­fi­ziert wer­den kann.“23
    Umstrit­ten ist ins­be­son­de­re die Reich­wei­te der Iden­ti­fi­zier­bar­keit.
    24 Über­zeu­gend ist die Annah­me des sog.
    rela­ti­ven Per­so­nen­be­zugs, der das Wis­sen Drit­ter, auf
    das der Ver­ant­wort­li­che zugrei­fen kann, berück­sich­tigt.
    25 Iden­ti­fi­zier­bar i. S. d. Norm ist eine Per­son somit
    dann, wenn Daten unter Berück­sich­ti­gung sowohl des
    Wis­sens des Ver­ant­wort­li­chen als auch des Wis­sens Drit­ter,
    auf das der Ver­ant­wort­li­che mit ange­mes­se­nem Auf­wand
    zugrei­fen kann, die Iden­ti­fi­ka­ti­on mög­lich machen.
    26 Zu weit­ge­hend ist der abso­lu­te Per­so­nen­be­zugs­be­griff,
    nach dem sämt­li­ches Wis­sen Drit­ter, ein­schließ­lich
    sol­cher, die sich nur auf ille­ga­lem Wege Zugriff zu
    den Daten ver­schaf­fen könn­ten, in die Betrach­tung ein­zu­flie­ßen
    haben.27
    Der Umfang der Daten, die als per­so­nen­be­zo­ge­ne
    Daten ein­zu­stu­fen sind, ist damit maß­geb­lich davon abhän­gig,
    wer im kon­kre­ten Ein­zel­fall als Ver­ant­wort­li­cher
    ein­zu­stu­fen ist. Bei For­schen­den, die an Uni­ver­si­tä­ten
    tätig sind, ist im Regel­fall die Uni­ver­si­tät die Ver­ant­wort­li­che
    i.S.v. Art. 4 Nr. 7 DS-GVO.28 Wer­den For­schen­de
    für Unter­neh­men tätig, sind letz­te­re als Ver­ant­wort­li­che
    anzusehen.29 Wer­den For­schen­de aus­schließ­lich selbst
    tätig, sind sie selbst Ver­ant­wort­li­che i. S. v. Art. 4 Nr. 7
    DS-GVO.30 Abhän­gig von dem zur Ver­fü­gung ste­hen­den
    Wis­sen und den Res­sour­cen des Ver­ant­wort­li­chen
    ist mit­hin für jedes Datum zu prü­fen, ob es als per­so­nen­be­zo­ge­nes
    Datum zu qua­li­fi­zie­ren ist.
  9. Ver­ar­bei­tung von Daten
    Die Ver­ar­bei­tung von Daten ist in der DS-GVO an das
    Vor­lie­gen einer Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge geknüpft. Die
    mög­li­chen Ver­ar­bei­tungs­grund­la­gen wer­den in Art. 6
    DS-GVO enu­me­ra­tiv benannt. Soweit per­so­nen­be­zo­ge­ne
    Daten ver­ar­bei­tet wer­den, muss eine der Ver­ar­bei­tungs­grund­la­gen
    vorliegen.31 Zen­tral auch für For­schungs­zwe­cke
    sind einer­seits die Ein­wil­li­gung der
    betrof­fe­nen Per­son in die Ver­ar­bei­tung ihrer per­so­nen­be­zo­ge­nen
    Daten nach Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. a DSGVO
    und ande­rer­seits die Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge des
    Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. f DS-GVO. Dem­nach ist eine
    Ver­ar­bei­tung zuläs­sig, wenn dies für die Inter­es­sen des
    Ver­ar­bei­ten­den erfor­der­lich ist und die Rech­te der
    betrof­fe­nen Per­so­nen nicht über­wie­gen. Für die For­schung
    an Hoch­schu­len und ande­ren öffent­li­chen Ein­rich­tun­gen
    sind dem­ge­gen­über die Ver­ar­bei­tungs­grund­la­gen
    aus Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. c DS-GVO sowie Art. 6
    Abs. 1 Uabs. 1 lit. e DS-GVO maßgeblich.32 Für die­se
    1 0 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 2 ) , 1 0 3 — 1 1 4
    33 Albers/Veit in Wolff/Brink, Beck­OK Daten­schutz­recht, 37. Edi­ti­on
    2021, Art. 9 DSGVO, Rn. 56.
    34 Roß­na­gel (Fn. 5).
    35 Lan­des­da­ten­schutz­ge­setz vom 12. Juni 2018, GBl. 2018, 173.
    36 Klar/Kühling in Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Auf­la­ge
    2020, § 2 BDSG, Rn 1.
    37 Dies., Rn. 10f.
    38 Dies., Rn. 2ff.
    39 Albers/Veit in Wolff/Brink, Beck­OK Daten­schutz­recht, 37. Edi­ti­on
    2021, Art. 9 DSGVO, Rn. 46.
    40 Wei­chert in Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Auf­la­ge 2020,
    Art. 9 DS-GVO, Rn. 7.
    41 Ders., Rn. 45.
    42 Fren­zel in Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 3. Auf­la­ge 2021,
    Art. 5, Rn 23. Zur Ver­an­ke­rung des Zweck­bin­dungs­grund­sat­zes
    im Pri­mär­recht der EU: Sobot­ta in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das
    Recht der EU, 37. Ergän­zungs­lie­fe­rung 2021, Art. 16 AEUV, Rn. 37
    f.
    43 Fren­zel (Fn. 42), Rn. 29.
    44 Unter Sekun­där­ver­ar­bei­tung wird jede wei­te­re Ver­ar­bei­tung der
    Daten ver­stan­den, die nach der ursprüng­lich geplan­ten Ver­ar­bei­tung
    erfolgt.
    45 Fren­zel (Fn. 42), Rn. 29.
    eröff­nen Art. 6 Abs. 2 und 3 DS-GVO den Mit­glieds­staa­ten
    umfang­rei­che Spiel­räu­me bei der Aus­ge­stal­tung der
    Rege­lun­gen für die öffent­li­chen Stellen.33
    Aus die­sem Grund ist bei der uni­ver­si­tä­ren For­schung
    nicht aus­schließ­lich auf die Rege­lun­gen der DSGVO
    abzu­stel­len, son­dern viel­mehr eine Gesamt­be­trach­tung
    von DS-GVO und mit­glieds­staat­li­chen Reg­lun­gen
    vorzunehmen.34 In Deutsch­land sind neben der
    DS-GVO die Daten­schutz­ge­set­ze der Län­der her­an­zu­zie­hen.
    Exem­pla­risch wird vor­lie­gend auf das Lan­des­da­ten­schutz­ge­setz
    des Lan­des Baden-Würt­tem­berg
    (LDSG BW)35 abge­stellt. Auf­grund der uni­ons­recht­li­chen
    Öff­nungs­klau­sel ist im Bereich der For­schung nicht
    allein die DS-GVO maß­ge­bend, son­dern auch auf die
    ent­spre­chen­den Umset­zungs­re­geln. Die Abgren­zung
    zwi­schen der Anwend­bar­keit des Bun­des­da­ten­schutz­ge­set­zes
    (BDSG) und den Daten­schutz­ge­set­zen der Bun­des­län­der
    ist vom han­deln­den Akteur abhängig.36 Soweit
    die For­schung durch öffent­li­che Stel­len der Län­der
    betrie­ben wird, sind die Daten­schutz­ge­set­ze der Län­der
    einschlägig.37 In ande­ren Fäl­len ist das BDSG anzu­wen­den.
    38 Wei­te­re Beson­der­hei­ten erge­ben sich im Zusam­men­hang
    mit nach Art. 9 Abs. 1 DS-GVO beson­ders geschütz­ten
    Daten. Der Arti­kel benennt enu­me­ra­tiv ver­schie­de­ne
    Grup­pen von Daten, die als beson­ders schutz­wür­dig
    ange­se­hen wer­den, wie bei­spiels­wei­se
    Gesund­heits­da­ten sowie gene­ti­sche und bio­me­tri­sche
    Daten, und ver­bie­tet grund­sätz­lich deren Ver­ar­bei­tung.
    39 Die­ses Ver­bot wird jedoch durch einen Kata­log
    von Aus­nah­men, die in Art. 9 Abs. 2 DSGVO fest­ge­schrie­ben
    wer­den, durchbrochen.40 Die­ser benennt abschlie­ßend
    ver­schie­de­ne Ver­ar­bei­tungs­vor­aus­set­zun­gen,
    die alter­na­tiv für eine rechts­kon­for­me Ver­ar­bei­tung vor­lie­gen
    müssen.41 Für For­schungs­zwe­cke ist in die­sem
    Rah­men, d. h. als Grund­la­ge für eine Ver­ar­bei­tung selbst
    von geschütz­ten Daten nach Art. 9 DS-GVO, einer­seits
    die Ein­wil­li­gung nach Art. 9 Abs. 2 lit a DS-GVO und
    ande­rer­seits die For­schungs­aus­nah­me nach
    Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO von beson­de­rer Relevanz.
  10. Pri­vi­le­gie­run­gen zu Guns­ten der Wis­sen­schafts­frei­heit
    Neben der Not­wen­dig­keit einer Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge
    ent­hält die DS-GVO eine Viel­zahl wei­te­rer Anfor­de­run­gen
    an die rechts­kon­for­me Ver­ar­bei­tung von Daten. Die
    Ver­ar­bei­tung zum Zwe­cke der For­schung ist nicht nur
    durch Ver­ar­bei­tungs­grund­la­gen pri­vi­le­giert, son­dern
    auch durch for­schungs­spe­zi­fi­sche Locke­run­gen.
    a) Der Zweck­bin­dungs­grund­satz (Art. 5 Abs. 1 lit. b DSGVO)
    Nach Art. 5 Abs. 1 lit. b DS-GVO dür­fen per­so­nen­be­zo­ge­ne
    Daten nur für zuvor fest­ge­leg­te, ein­deu­ti­ge und
    legi­ti­me Zwe­cke ver­ar­bei­tet wer­den. Der enge Zweck­bin­dungs­grund­satz
    trägt der Rol­le des Ver­ar­bei­tungs­zwecks
    als zen­tra­lem Anknüp­fungs­punkt für die Beur­tei­lung
    der Zuläs­sig­keit einer Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner
    Daten im grund­recht­li­chen Span­nungs­feld
    Rechnung.42 Die Ver­pflich­tung, die Zwe­cke der Ver­ar­bei­tung
    zuvor abschlie­ßend fest­zu­le­gen, ermög­licht eine
    umfas­sen­de Abwä­gung der Belan­ge im Vor­hin­ein. Vom
    Zweck­bin­dungs­grund­satz ist auch die Wei­ter­ver­ar­bei­tung
    der per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten umfasst.43 Bei For­schungs­vor­ha­ben
    kön­nen sich im Fort­lauf des Pro­jekts
    indes wei­te­re Ver­wen­dungs­mög­lich­kei­ten für bereits
    ver­ar­bei­te­te per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten erge­ben. Die­ser
    Tat­sa­che wird in der DS-GVO durch eine Pri­vi­le­gie­rung
    der For­schung bei der Sekundärverarbeitung44 Rech­nung
    getra­gen. In Über­ein­stim­mung mit dem Zweck­bin­dungs­grund­satz
    aus Art. 5 Abs. 1 lit. b DS-GVO ist
    eine sol­che (nur) aus­ge­schlos­sen, wenn sie mit dem
    ursprüng­li­chen Zweck unver­ein­bar ist. Dies betrifft inso­weit
    auch die Wei­ter­ver­ar­bei­tung durch ande­re Per­so­nen
    als den ursprüng­li­chen Verarbeiter.45 Bei wis­sen­schaft­li­chen
    und his­to­ri­schen For­schungs­zwe­cken,
    sowie für sta­tis­ti­sche Zwe­cke, gilt dane­ben die wider­leg­ba­re
    Ver­mu­tung, dass die Wei­ter­ver­ar­bei­tung zu die­sen
    Zwe­cken „nicht unver­ein­bar“ mit den ursprüng­li­chen
    Becker · Wis­sen­schafts­pri­vi­le­gie­rung in der DS-GVO 1 0 7
    46 Breyer/Jonas, Ver­ar­bei­tungs­grund­sät­ze und Rechen­schafts­pflicht
    nach Art. 5 DS-GVO, DuD 2018, 312, 313.
    47 Fren­zel (Fn. 42), Rn. 30.
    48 Spindler/Horváth in Spindler/Schuster, Recht der elek­tro­ni­schen
    Medi­en, 4. Auf­la­ge 2019, Art. 89 DSGVO, Rn. 10.
    49 Eich­ler in Wolff/Brink, Beck­OK Daten­schutz­recht, Art. 89 DSGVO,
    Rn. 12.
    50 Ders., Rn. 13.
    51 Ders., Rn. 12.
    52 Zu den Begrif­fen im Ein­zel­nen: Schantz in Wolff/Brink, Beck­OK
    Daten­schutz­recht, 37. Edi­ti­on 2021, Art. 5 DSGVO, Rn. 24 ff.
    53 Schaar, DS-GVO: Geän­der­te Vor­ga­ben für die Wis­sen­schaft – Was
    sind die neu­en Rah­men­be­din­gun­gen und wel­che Fra­gen blei­ben
    offen?, ZD 2016, 224, 225.
    54 Rose in Taeger/Gabel, DSGVO BDSG, 3. Auf­la­ge, 2019, § 22 BDSG,
    Rn. 4.
    55 Fren­zel (Fn 42), Rn 43.
    56 Herbst in Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Auf­la­ge 2020,
    Art. 5 DSGVO, Rn. 64.
    57 Fren­zel (Fn. 42). Rn. 45.
    58 Schantz (Fn. 52), Rn. 33. Eine Vor­rats­da­ten­bank ist eine Samm­lung
    per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten zur spä­te­ren Ver­ar­bei­tung.
    Zwe­cken ist.46 Die nega­ti­ve For­mu­lie­rung in Form der
    dop­pel­ten Ver­nei­nung wird als Umkehr der Beweis­last
    zu Guns­ten des Sekun­där­ver­ar­bei­ten­den ausgelegt.47
    Dies bedeu­tet kon­kret, dass die betrof­fe­ne Per­son dem
    Ver­ant­wort­li­chen nach­wei­sen muss, dass die Ver­ar­bei­tung
    nicht mit dem ursprüng­li­chen Zweck ver­ein­bar
    war. Eine recht­mä­ßi­ge Ver­ar­bei­tung ist indes nach Art. 5
    Abs. 1 lit. b DS-GVO an die Ein­hal­tung von „geeig­ne­ten
    Garan­tien“ nach Art. 89 Abs. 1 DS-GVO geknüpft. Geeig­ne­te
    Garan­tien kön­nen bspw. Anony­mi­sie­rung und
    Pseud­ony­mi­sie­rung sowie Maß­nah­men wie Ver­schlüs­se­lung
    der Daten, Kon­trol­le des Zugangs auf die Daten
    sowie Geheim­hal­tungs­pflich­ten und Ver­trau­lich­keits­ver­ein­ba­run­gen
    sein.48
    Die Fokus­sie­rung auf die Not­wen­dig­keit geeig­ne­ter
    Garan­tien wird als Hin­weis auf eine enge Aus­le­gung der
    auf Art. 89 Abs. 1 DS-GVO ver­wei­sen­den Vor­schrif­ten
    verstanden.49 Dies über­zeugt, da die weit­rei­chen­de Pri­vi­le­gie­rung
    der For­schung nur dann als gerecht­fer­tigt
    ange­se­hen wer­den kann, wenn sie an stren­ge Vor­ga­ben
    geknüpft ist.50
    Wei­ter wird durch Art. 89 Abs. 1 DS-GVO der Grund­satz
    der Daten­mi­ni­mie­rung aus Art. 5 Abs. 1 lit. c DSGVO
    als Gegen­ge­wicht zur Locke­rung des Zweck­bin­dungs­grund­sat­zes
    etabliert.51 Der Grund­satz der Daten­mi­ni­mie­rung
    besagt, dass nur die per­so­nen­be­zo­ge­nen
    Daten ver­ar­bei­tet wer­den dür­fen, die für die Errei­chung
    des ange­ge­be­nen Zwecks erheb­lich, ange­mes­sen und
    not­wen­dig sind.52 Direk­te Fol­ge der Pflicht zur Daten­spar­sam­keit
    ist die Not­wen­dig­keit der unmit­tel­ba­ren
    Anony­mi­sie­rung der erho­be­nen Daten nach
    Art. 89 Abs. 1 Satz 4 DSGVO. Die­se Anony­mi­sie­rung
    steht aber wie­der­um unter dem Vor­be­halt, dass eine sol­che
    nur dann erfol­gen muss, wenn dies den ver­folg­ten
    Zwe­cken nicht ent­ge­gen­steht. Die prak­ti­schen Not­wen­dig­kei­ten
    der wis­sen­schaft­li­chen For­schung, die bei­spiels­wei­se
    bei Lang­zeit­stu­di­en nicht auf anony­mi­sier­te
    Daten zurück­grei­fen kann, wer­den damit
    berücksichtigt.53
    Betrach­tet man die Umset­zung nach deut­schem
    Recht, so wur­de dem uni­ons­recht­li­chen Erfor­der­nis geeig­ne­ter
    Garan­tien im BDSG durch § 22 Abs. 2 BDSG
    entsprochen.54 Die­ser benennt einen nicht abge­schlos­se­nen
    Kata­log von Maß­nah­men, die unter „Berück­sich­ti­gung
    des Stands der Tech­nik, der Imple­men­tie­rungs­kos­ten“
    sowie „der Art des Umfangs, der Umstän­de und der
    Zwe­cke der Ver­ar­bei­tung“ getrof­fen wer­den müs­sen. Im
    Bereich des LDSG BW wird dem Erfor­der­nis geeig­ne­ter
    Garan­tien durch § 3 Abs. 1 LDSG BW ent­spro­chen. Die­ser
    ent­spricht im Wesent­li­chen § 22 Abs. 2 BDSG. Ergänzt
    wird er durch die Anfor­de­rung der Anony­mi­sie­rung,
    sobald dies mit den Zwe­cken des For­schungs­vor­ha­bens
    ver­ein­bar ist, nach § 13 Abs. 2 LDSG BW.
    b) Der Grund­satz der Spei­cher­be­gren­zung
    (Art. 5 Abs. 1 lit. e DS-GVO)
    Den­sel­ben Regu­lie­rungs­ge­dan­ken wie die For­schungs­pri­vi­le­gie­rung
    in Art. 5 Abs. 1 lit. b DSGVO beinhal­tet
    die Pri­vi­le­gie­rung der For­schung im Rah­men der
    Spei­cher­be­gren­zung nach Art. 5 Abs. 1 lit. e DSGVO. Er
    knüpft unmit­tel­bar an den Zweck­bin­dungs­grund­satz an
    und erwei­tert die­sen um das Erfor­der­nis des Auf­he­bens
    der Ver­knüp­fung zu der betrof­fe­nen Per­son, sobald die­se
    für den Ver­ar­bei­tungs­zweck nicht mehr erfor­der­lich
    ist.55 Der Grund­satz der Spei­cher­be­gren­zung erfor­dert,
    dass der Ver­ant­wort­li­che den Per­so­nen­be­zug der ver­ar­bei­te­ten
    Daten auf­hebt, sobald die­ser nicht mehr für den
    ver­folg­ten Zweck erfor­der­lich ist.56 Dies kann durch
    Anony­mi­sie­rung oder Löschung erfolgen.57 Aus­ge­schlos­sen
    ist von ihm das Anle­gen einer Vor­rats­da­ten­bank
    für eine spä­te­re Ver­wen­dung zu einem noch unbe­stimm­ten
    Zweck.58 Auf­ge­bro­chen wird der Grund­satz
    der Spei­cher­be­gren­zung zudem durch Art. 5 Abs. 1 lit. e
    Hs. 2 DSGVO, dem­zu­fol­ge zeit­lich län­ge­re Spei­cher­zeit­räu­me
    für Zwe­cke wis­sen­schaft­li­cher For­schung zuläs­sig
    sind. Eine genaue Zeit­span­ne wird von
    Art. 5 Abs. 1 lit e Hs. 2 DS-GVO nicht benannt. Als gute
    wis­sen­schaft­li­che Pra­xis ist ein Zeit­raum von 10 Jah­ren
    1 0 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 2 ) , 1 0 3 — 1 1 4
    59 DFG, Siche­rung guter wis­sen­schaft­li­cher Pra­xis – Emp­feh­lun­gen
    der Kom­mis­si­on „Selbst­kon­trol­le in der Wis­sen­schaft“, 2013, 21:
    Emp­feh­lung Nr. 7 zur Siche­rung und Auf­be­wah­rung von Pri­mär­da­ten;
    DFG, Leit­li­ni­en zur Siche­rung guter wis­sen­schaft­li­cher Pra­xis,
    2019, 22: Leit­li­nie 17: Archi­vie­rung.
    60 Ernst in Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 3. Auf­la­ge 2021, Art. 4 DSGVO,
    Rn. 78.
    61 Denk­bar wäre inso­weit z.B. eine Ein­wil­li­gung der Ver­wen­dung der
    per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten für die Zwe­cke der Krebs­for­schung.
    62 Sie­he Erwä­gungs­grund 33 S. 2.: „Daher soll­te es betrof­fe­nen Per­so­nen
    erlaubt sein, ihre Ein­wil­li­gung für bestimm­te Berei­che wis­sen­schaft­li­cher
    For­schung zu geben, wenn dies unter Ein­hal­tung
    der aner­kann­ten ethi­schen Stan­dards der wis­sen­schaft­li­chen For­schung
    geschieht.“
    anerkannt.59 Auch ist der Ver­ant­wort­li­che nach
    Art. 5 Abs. 1 lit. e Hs. 2 DS-GVO ver­pflich­tet, geeig­ne­te
    Garan­tien für den Schutz der betrof­fe­nen Daten nach
    Art. 89 Abs. 1 DS-GVO zu tref­fen. Wei­ter­ge­hend bleibt
    auch die Anony­mi­sie­rungs­pflicht für den Fall der feh­len­den
    Not­wen­dig­keit der Nut­zung nicht anony­mi­sier­ter
    Daten bestehen. Dar­aus lässt sich schlie­ßen, dass die
    Pri­vi­le­gie­rung im Rah­men der Spei­cher­be­gren­zung nur
    zu einer Ver­schie­bung des Maß­stabs zuguns­ten der For­schen­den
    führt. Das heißt, dass For­schen­den ein grö­ße­rer
    Spiel­raum bei der Spei­cher­dau­er gewährt wird, wäh­rend
    die Pflicht zur fort­lau­fen­den Prü­fung der Not­wen­dig­keit
    der Spei­che­rung nicht ent­fällt.
    c) Die Ein­wil­li­gung
    Auch im Rah­men der Ein­wil­li­gung berück­sich­tigt die
    DS-GVO die beson­de­ren Anfor­de­run­gen wis­sen­schaft­li­cher
    For­schung. Die Ein­wil­li­gung in die Ver­ar­bei­tung
    der eige­nen Daten muss nach der Legal­de­fi­ni­ti­on des
    Art. 4 Nr. 11 DS-GVO durch eine frei­wil­li­ge, unmiss­ver­ständ­li­che,
    in infor­mier­ter Wei­se abge­ge­be­ne Wil­lens­er­klä­rung
    von der betrof­fe­nen Per­son für den kon­kre­ten
    Ein­zel­fall erfol­gen. Die Fest­le­gung auf einen bestimm­ten
    Fall ist umso spe­zi­fi­scher vor­zu­neh­men, des­to stär­ker
    der Ein­griff in die Per­sön­lich­keits­rech­te des Betrof­fe­nen
    wiegt.60 Da im Rah­men von For­schungs­vor­ha­ben regel­mä­ßig
    bei Erhe­bung der per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten
    noch nicht vor­her­ge­se­hen wer­den kann, in wel­chem
    Umfang eine Ver­ar­bei­tung den Zwe­cken des For­schungs­vor­ha­bens
    dient, oder ob Daten spä­ter für wei­te­re For­schungs­zwe­cke
    wei­ter sinn­voll genutzt wer­den könn­ten,
    ist das Kri­te­ri­um der Bestimmt­heit ein beson­de­res Hin­der­nis
    für eine Ver­ar­bei­tung für For­schungs­zwe­cke auf
    der Grund­la­ge von Ein­wil­li­gun­gen. Dies gilt ins­be­son­de­re
    bei beson­ders sen­si­blen Daten, wie z. B. gene­ti­schen
    Daten und Gesund­heits­da­ten, wenn­gleich die­se auch
    von beson­de­rem Inter­es­se für die Wis­sen­schaft sind.
    Die­ses Pro­blem wird von ErwG 33 auf­ge­grif­fen. Nach
    die­sem sol­len Betrof­fe­ne auch in die Ver­ar­bei­tung ihrer
    Daten in bestimm­ten For­schungs­be­rei­chen, also nicht
    nur für ein­zel­ne For­schungs­vor­ha­ben, ein­wil­li­gen kön­nen.
    61 Vor­aus­set­zung hier­für ist die „Ein­hal­tung aner­kann­ter
    ethi­scher Stan­dards“ durch die Forschenden.62
    Kon­kre­ti­siert wird dies durch ErwG 33 S. 3, nach dem
    auch eine Ein­wil­li­gung in Teil­pro­jek­te eines For­schungs­be­rei­ches
    mög­lich sein soll.
    Danach gibt es gute Grün­de, das Bestimmt­heits­er­for­der­nis
    im Rah­men wis­sen­schaft­li­cher For­schung groß­zü­gi­ger
    aus­zu­le­gen. Es ist über­zeu­gend, den ein­wil­li­gen­den
    Per­so­nen, die Mög­lich­keit zuzu­ge­ste­hen, ihren Kon­sens
    auf bestimm­te For­schungs­be­rei­che, wie z. B. die
    Krebs­for­schung, zu erste­cken. Dane­ben wird so auch
    For­schen­den eine pra­xis­taug­li­che Ver­wen­dung der Ein­wil­li­gung
    ermög­licht, ohne die Betrof­fe­nen schutz­los zu
    stel­len.
    So ver­stan­den kann die Ein­wil­li­gung des Betrof­fe­nen
    im Bereich wis­sen­schaft­li­cher For­schung eine sinn­vol­le
    und auch prak­ti­ka­ble Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge dar­stel­len.
    Da die Ein­wil­li­gung als direk­ter Aus­druck des Rechts
    auf Schutz der per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten aus
    Art. 8 GRCh eine Ver­ar­bei­tung ohne Ein­griff in das
    Recht der Betrof­fe­nen ermög­licht (vgl. Art. 8
    Abs. 2 GRCh), soll­ten For­schen­de stets zunächst prü­fen,
    ob eine Ein­wil­li­gung als Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge für das
    jewei­li­ge Vor­ha­ben vor­liegt und hin­rei­chend ist.
    d) Ein­schrän­kung der Betrof­fe­nen­rech­te
    Neben der Bevor­zu­gung durch wei­ter­ge­hen­de Rech­te im
    Rah­men der Ver­ar­bei­tung wird die For­schung auch
    durch die Mög­lich­keit der Ein­schrän­kung der Betrof­fe­nen­rech­te
    pri­vi­le­giert. Art. 89 Abs. 2 DS-GVO ent­hält
    eine uni­ons­recht­li­che Öff­nungs­klau­sel, die es den
    Mit­glieds­staa­ten erlaubt, die Rech­te der Betrof­fe­nen
    zum Schutz ihrer Daten zum Zwe­cke der For­schung ein­zu­schrän­ken.
    Dies ist dann zuläs­sig, wenn die Gel­tend­ma­chung
    der Daten­schutz­rech­te die Ver­wirk­li­chung der
    For­schungs­zwe­cke unmög­lich machen oder erheb­lich
    erschwe­ren wür­de. Auf Basis der Öff­nungs­klau­sel kön­nen
    Mit­glieds­staa­ten fol­gen­de vier Rech­te beschrän­ken:
    das Aus­kunfts­recht der Betrof­fe­nen nach Art. 15 DSGVO,
    das Recht auf Berich­ti­gung aus Art. 16 DS-GVO,
    das Recht auf Ein­schrän­kung der Ver­ar­bei­tung nach
    Art. 18 DS-GVO, das Recht auf Wider­spruch aus
    Art. 21 DS-GVO sowie die Mit­tei­lungs­pflicht aus
    Art. 19 DSGVO. Die Öff­nungs­klau­sel des
    Art. 89 Abs. 2 DS-GVO wur­de in Deutsch­land durch
    § 27 Abs. 2 BDSG sowie durch § 13 Abs. 4 LDSG BW
    umge­setzt.
    Beschränk­bar ist wei­ter das Recht auf Daten­über­tra­gung
    aus Art. 20 DS-GVO, wobei die­ses bei der Ver­ar­Be­cker
    · Wis­sen­schafts­pri­vi­le­gie­rung in der DS-GVO 1 0 9
    63 Roß­na­gel (Fn. 5), 163.
    64 Die Wis­sen­schafts­frei­heit des Art. 13 GRCh umfasst die Frei­heit
    von For­schung und aka­de­mi­scher Leh­re (Jarass in Jarass, Char­ta
    der Grund­rech­te der Euro­päi­schen Uni­on, 4. Auf­la­ge 2021,
    Art. 13 GRCh, Rn. 7).
    65 Wei­chert (Fn. 9), 19; Roß­na­gel (Fn. 5), 159.
    66 Dies.
    67 Vgl. Ruf­fert in Calliess/Ruffert EUV/AEUV, 6. Auf­la­ge 2022,
    Art. 13 GRCh, Rn. 6.
    68 Roß­na­gel (Fn. 5), 159; Jarass in Jarass, Char­ta der Grund­rech­te der
    EU, 4. Auf­la­ge 2021, Art. 13 GRCh, Rn. 8.
    69 Augs­berg in von der Groeben/Schwarze/Hatje, Euro­päi­sches Unionsrecht,
  11. Auf­la­ge 2015, Art. 13 GRC, Rn. 5.
    70 Vgl. Say­ers, in Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Char­ter of
    Fun­da­men­tal Rights, 2014, Art. 13 GRC, Rn. 13, 41.
    71 M.w.N.: Berns­dorff in: Meyer/Hölscheidt, Char­ta der Grund­rech­te
    der Euro­päi­schen Uni­on, 5. Auf­la­ge 2019, Art. 13 GRCh, Rn. 5.
    72 Ders., Rn. 7.
    73 Erläu­te­run­gen zur Char­ta der Grund­rech­te (2007/C 303/02); dort
    heißt es zu Art. 13 GRCh: „Die­ses Recht lei­tet sich in ers­ter Linie
    aus der Gedan­ken­frei­heit und der Frei­heit der Mei­nungs­äu­ße­rung
    ab“. Es ist inso­weit zu beach­ten, dass die Erläu­te­run­gen nicht
    rechts­ver­bind­lich sind, aber eine der zen­tra­len Rechts­er­kennt­nis­quel­len
    der Char­ta bil­det; Scheu­ing, Zur Grund­rechts­bin­dung der
    Mit­glieds­staa­ten, EuR 2005, 162, 185.
    74 Schwerdt­fe­ger in Meyer/Hölscheidt, Char­ta der Grund­rech­te der
    Euro­päi­schen Uni­on, 5. Auf­la­ge 2019, Art. 51 GRCh, Rn. 66.
    bei­tung von Daten im öffent­li­chen Inter­es­se oder durch
    öffent­li­che Gewalt ohne­hin nicht anwend­bar ist nach
    Art. 20 Abs. 3 DS-GVO. Hier­durch ist die­ses Recht bei
    der For­schung durch öffent­li­che Stel­len auch ohne die
    Öff­nungs­klau­sel des Art. 89 Abs. 2 DS-GVO bereits von
    Vorn­her­ein ausgeschlossen.63 Auch das Recht auf Löschung
    aus Art. 17 Abs. 1 DS-GVO ist nicht anwend­bar,
    soweit die Ver­ar­bei­tung zu For­schungs­zwe­cken erfor­der­lich
    ist nach Art. 17 Abs. 3 lit. d DS-GVO.
    Die­se weit­rei­chen­den Ein­schrän­kun­gen sind dabei
    durch die Rück­kopp­lung an stren­ge Bedin­gun­gen gut
    ver­tret­bar. Es ist dabei zu beach­ten, dass die­se Ein­schrän­kun­gen
    ohne­hin nur die Rech­te betref­fen, die sich
    nach dem Vor­lie­gen einer legi­ti­men Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge
    sei­tens des Betrof­fe­nen erge­ben. Das Erfor­der­nis
    der Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge wird durch sie nicht
    berührt. Vor­sicht ist indes bei der Aus­le­gung des „unver­hält­nis­mä­ßi­gen
    Auf­wands“ gebo­ten, der nach
    § 27 Abs. 2 BDSG bzw. § 13 Abs. 4 LDSG BW eine Ein­schrän­kung
    des Aus­kunfts­rechts begrün­det. Um dem
    Sinn der Norm gerecht zu wer­den soll­te dabei ein „unver­hält­nis­mä­ßi­ger
    Auf­wand“ nur in gut begrün­de­ten
    Aus­nah­me­fäl­len ange­nom­men wer­den.
    V. Die Wis­sen­schafts­frei­heit
    Die For­schungs­pri­vi­le­gie­run­gen der DS-GVO, die oben
    dar­ge­legt wur­den, sind am euro­päi­schen Grund­recht der
    Wis­sen­schafts­frei­heit aus Art. 13 GRCh zu messen.64
    Die­ses steht in einem Span­nungs­ver­hält­nis zum Recht
    auf Schutz der per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten aus
    Art. 8 GRCh und Art. 16 AEUV. Auch im Rah­men der
    GRCh ist der Begriff der For­schung nicht defi­niert. Zum
    Teil wird vor dem Hin­ter­grund, dass Art. 13 GRCh als
    maß­geb­lich durch Art. 5 Abs. 3 GG inspi­riert gilt,65 die
    Defi­ni­ti­on des BVerfG als Ori­en­tie­rungs­maß­stab her­an­ge­zo­gen.
    66 Dies erscheint aber zwei­fel­haft, weil der
    Grund­rechts­schutz auf EU-Ebe­ne sich an den Ver­fas­sungs­über­lie­fe­run­gen
    aller Mit­glied­staa­ten ori­en­tiert
    und die Stel­lung der For­schungs­frei­heit in der Ver­fas­sung
    des GG außer­ge­wöhn­lich ist, sowohl im euro­päi­schen
    Ver­gleich als auch mit Blick auf den Schutz durch
    die EMRK.67 Nach wohl über­wie­gen­der Ansicht ist
    sowohl die pri­va­te als auch die öffent­li­che For­schung
    vom Schutz­be­reich erfasst.68 Es besteht wei­ter – nach der
    Lite­ra­tur – kei­ne Unter­schei­dung zwi­schen Grund­la­gen­for­schung
    und ange­wand­ter Forschungstätigkeit.69
    Neben der ter­mi­no­lo­gi­schen Unschär­fe des For­schungs­be­griffs
    hat sich bzgl. der Reich­wei­te des Schutz­be­rei­ches
    bis­her kein umfas­sen­der Kon­sens in der Lite­ra­tur
    gebildet.70 Auch in der Recht­spre­chung des Gerichts­hofs
    der Euro­päi­schen Uni­on wur­de die Wis­sen­schafts­frei­heit
    bis­her nicht ver­tieft diskutiert.71 Einen
    ers­ten Ansatz­punkt, um den Schutz­be­reich der Wis­sen­schafts­frei­heit
    zu skiz­zie­ren, bie­tet die his­to­ri­sche Aus­le­gung
    von Art. 13 GRCh. Bei den Ver­hand­lun­gen war die
    Ver­an­ke­rung eines eigen­stän­di­gen Wis­sen­schafts­rechts
    umstrit­ten und Tei­le des Grund­rech­te­kon­vents sahen die
    Wis­sen­schafts­frei­heit, wie in den meis­ten Mit­glied­staa­ten
    und der EMRK, als vom Recht auf Mei­nungs­frei­heit
    hin­rei­chend geschützt an.72 Die Ver­bin­dung von Wis­sen­schafts­frei­heit
    und Mei­nungs­frei­heit ist auch für die
    Aus­le­gung der fina­len Fas­sung von Art. 13 GRCh erhal­ten
    geblie­ben. Dies ergibt sich direkt aus den Erläu­te­run­gen
    zu Art. 13 GRCh.73 Nach die­sen sind die Ein­schrän­kun­gen,
    die bei der Mei­nungs­frei­heit aus Art. 10 EMRK
    bestehen, auf die Wis­sen­schafts­frei­heit anzu­wen­den.
    Der Bezug zu Art. 10 EMRK macht deut­lich, dass die
    Wis­sen­schafts­frei­heit, als Teil der in Art. 10 EMRK ver­bürg­ten
    Mei­nungs­frei­heit, den nach Art. 52 Abs. 3 GRCh
    rele­van­ten Min­dest­schutz­ge­halt von Art. 13 GRCh beinhal­tet.
    74 Nach Art. 52 Abs. 4 GRCh sind zudem Char­ta­grund­rech­te,
    die sich aus den gemein­sa­men Ver­fas­sungs­über­lie­fe­run­gen
    der Mit­glieds­staa­ten erge­ben, im
    Ein­klang mit die­sen aus­zu­le­gen. Die Wis­sen­schafts­frei­heit
    ist aber nicht in allen Ver­fas­sun­gen der Mitglieds1
    1 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 2 ) , 1 0 3 — 1 1 4
    75 Kei­ne Garan­tie der Wis­sen­schafts­frei­heit beinhal­ten die Ver­fas­sun­gen
    von Däne­mark, Irland, Mal­ta, Schwe­den und den Nie­der­lan­den.
    76 Jarass in: Jarass, Char­ta der Grund­rech­te der EU, 4. Auf­la­ge 2021,
    Art. 52 GRCh, Rn. 67.
    77 Kri­tisch zur Über­tra­gung der Wer­tun­gen des Art. 5 Abs. 3 GG
    auch: Ruf­fert (Fn. 67), Rn. 6.
    78 Berns­dorff (Fn. 71), Rn. 15.
    79 Buchner/Tinnefeld in Kühling/Buchner (Hrsg), DS-GVO-BDSGTTDSG,
  12. Auf­la­ge 2020, § 27 BDSG, Rn. 8; Mes­ter in Taeger/Gabel
    (Hrsg), DSGVO BDS­unG, 3. Auf­la­ge 2019 Art. 9 DS-GVO, Rn. 1.
    80 Ibid.
    81 Ibid.
    82 Auch die eng­li­sche („Para­graph 1 shall not app­ly if one of the fol­lo­wing
    appli­es“), spa­ni­sche („El apar­ta­do 1 no será de apli­ca­ción
    cuan­do con­cur­ra una de las cir­cuns­tanci­as sigu­i­en­tes“) und fran­zö­si­sche
    Sprach­fas­sung („Le para­gra­phe 1 ne s‘applique pas si l‘une
    des con­di­ti­ons sui­van­tes est rem­p­lie“) spre­chen nicht von einer
    Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge, son­dern nur vom Ent­fall des Ver­bots aus
    Art. 9 Abs. 1 DS-GVO.
    83 Pau­ly in Paal/Pauly (Hrsg), Datenschutz‑, Bundesdatenschutzgesetz,
  13. Auf­la­ge 2021, § 27 BDSG, Rn 2.
    84 Vgl. Schiff in Ehmann/Selmayr (Hrsg), Daten­schutz-Grund­ver­ord­nung,
    2017, Art. 9 DS-GVO, Rn. 32.
    85 BT-Drs. 18/11325, 99.
    staa­ten enthalten.75 Dies ist für die Annah­me einer gemein­sa­men
    Tra­di­ti­on zwar nicht erforderlich,76 lässt in
    Ver­bin­dung mit den Ver­hand­lun­gen den­noch dar­auf
    schlie­ßen, dass der Schutz­um­fang von Art. 13 GRCh
    nicht dem hohen Schutz­ni­veau des Vor­bilds aus
    Art. 5 Abs. 3 GG entspricht.77 Ob Art. 13 GRCh neben einer
    abwehr­recht­li­chen auch eine orga­ni­sa­ti­ons­recht­li­che
    Dimen­si­on zukommt, ist zudem nicht abschlie­ßend geklärt.
    78 Die Frei­heits­ga­ran­tie der For­schungs­frei­heit ist
    durch eine Beschrän­kung der frei­en Daten­nut­zung
    durch For­schen­de jeden­falls betrof­fen, soweit For­schen­de
    nicht in vol­lem Umfang die für ihre For­schung nöti­gen
    Daten erhe­ben kön­nen oder bei dem Erhe­bungs­pro­zess
    ein­ge­schränkt sind.
    VI. Das For­schungs­pri­vi­leg nach Art. 9 Abs. 2 lit. j
    DS-GVO und sei­ne natio­na­le Umset­zung
    Eine zen­tra­le Mög­lich­keit von For­schen­den, Daten auch
    ohne Ein­wil­li­gung der betrof­fe­nen Per­so­nen zu erhe­ben,
    bil­det die Aus­nah­me­vor­schrift des Art. 9 Abs. 2 lit. j DSGVO.
    Die Vor­schrift stellt dies unter die Vor­aus­set­zung
    einer Abwä­gung der Inter­es­sen der For­schen­den und des
    Betrof­fe­nen. Die Ver­ar­bei­tung ist dabei legi­tim, soweit
    die Ver­ar­bei­tung für die For­schungs­zwe­cke erfor­der­lich
    ist, das For­schungs­ziel in ange­mes­se­nen Ver­hält­nis zum
    Daten­schutz der betrof­fe­nen Per­son steht und geeig­ne­te
    Garan­tien nach Art. 89 Abs. 1 DS-GVO getrof­fen werden.
  14. Die Kon­struk­ti­on von Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO
    Die Nut­zung beson­de­rer Kate­go­rien von Daten nach
    Art. 9 Abs. 1 DS-GVO ist als Ver­bot mit Erlaub­nis­vor­be­halt
    aus­ge­stal­tet. Unei­nig­keit besteht in der Fra­ge, ob die
    in Art. 9 Abs. 2 DSGVO benann­ten Aus­nah­men, wie die
    Ein­wil­li­gung nach Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO oder die
    For­schungs­aus­nah­me aus Art. 9 Abs. 2 lit. j DSGVO,
    eine selbst­stän­di­ge Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge dar­stel­len
    oder ob kumu­la­tiv eine der Ver­ar­bei­tungs­grund­la­gen
    aus Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 DSGVO, also bspw. eine Ein­wil­li­gung
    nach Art. 6 Abs. 1 lit. a DS-GVO oder die Not­wen­dig­keit
    der Ver­ar­bei­tung für die Wah­rung lebens­wich­ti­ger
    Inter­es­sen für die betrof­fe­ne Per­son nach Art.
    6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. d, vor­lie­gen muss. Für eine eigen­stän­di­ge
    Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge wird vor­ge­bracht, dass die
    in Art. 9 Abs. 2 DS-GVO benann­ten Vor­aus­set­zun­gen
    alle Ele­men­te einer Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge enthalten.79
    Wei­ter sei­en die in Art. 9 Abs. 2 DS-GVO gefass­ten Aus­nah­men
    enger als die in Art. 6 Abs. 1 DS-GVO benann­ten
    Verarbeitungsgrundlagen.80 Das Erfor­der­nis einer
    kumu­la­ti­ven Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge aus
    Art. 6 Abs. 1 DSGVO wür­de somit zur rei­nen For­ma­li­tät
    verkommen.81
    Gegen die­se Ansicht spricht zunächst der Wort­laut
    von Art. 9 Abs. 2 DS-GVO: Dem­nach führt das Vor­lie­gen
    einer der Ver­ar­bei­tungs­vor­aus­set­zun­gen nur dazu,
    dass das gene­rel­le Ver­ar­bei­tungs­ver­bot aus Art. 9 Abs.
    1 DS-GVO nicht gilt.82 Dar­aus ergibt sich noch kei­ne
    Schutz­lo­sig­keit der Daten, son­dern viel­mehr sind die­se
    wie per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten zu behandeln.83 Den­noch
    wer­den im Regel­fall bei Vor­lie­gen der Vor­aus­set­zun­gen
    von Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO auch die Vor­aus­set­zun­gen
    der Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge aus Art. 6
    Abs. 1 Uabs. 1 lit. f DS-GVO mit­er­füllt sein. Die Über­la­ge­rung
    von Art. 6 DS-GVO durch Art. 9 DS-GVO steht
    dabei der Annah­me einer par­al­le­len Wir­kung nicht ent­ge­gen,
    wenn­gleich das Bedürf­nis einer dop­pel­ten Prü­fung
    bei­der Tat­be­stän­de entfällt.84 Eine dop­pel­te Prü­fung
    ist auf­grund der höhe­ren Anfor­de­run­gen von
    Art. 9 Abs. 2 lit. j DSGVO gegen­über
    Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 DS-GVO obso­let.
    Vom Erfor­der­nis einer par­al­lel not­wen­di­gen Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge
    aus Art. 6 Abs. 1 DS-GVO ist aus­weich­lich
    der Geset­zes­be­grün­dung zu § 27 BDSG auch
    der Bund beim Erlass des BDSG ausgegangen.85 Der bei
    Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO bestehen­den Öff­nungs­klau­sel
    wur­de durch § 27 Abs. 1 BDSG Rech­nung getra­gen.
    § 27 Abs. 1 BDSG beinhal­tet dabei – im Gegen­satz zu
    Art. 9 Abs. 1 DS-GVO – die Wer­tung, dass das Recht der
    Betrof­fe­nen auf Schutz ihrer per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten
    bevor­zugt wird. So muss nach § 27 Abs. 1 BDSG das
    Ver­ar­bei­tungs­in­ter­es­se des Ver­ant­wort­li­chen das der
    Becker · Wis­sen­schafts­pri­vi­le­gie­rung in der DS-GVO 1 1 1
    86 BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300.
    87 BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314.
    88 BVerfG (Fn. 86), Rn. 44; BVerfG (Fn. 87). Rn. 43 ff.
    89 Ibid.
    90 Küh­ling, Das „Recht auf Ver­ges­sen­wer­den“ vor dem BVerfG –
    November®evolution für die Grund­rechts­ar­chi­tek­tur im Meh­re­be­nen­sys­tem,
    NJW 2020, 275, 279.
    91 Ders., 277.
    92 BVerfG (Fn. 87), Rn. 42.
    93 BVerfG (Fn. 87), Rn. 78.
    betrof­fe­nen Per­so­nen „erheb­lich über­wie­gen“. Im
    Rah­men der für Hoch­schu­len in Baden-Würt­tem­berg
    rele­van­ten Rege­lung des § 13 Abs. 1 LDSG BW ist
    dem­ge­gen­über bereits ein „Über­wie­gen“ aus­rei­chend,
    wäh­rend bei Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO bereits ein
    „ange­mes­se­nes Ver­hält­nis“ der gegen­über­ste­hen­den
    Inter­es­sen von Ver­ant­wort­li­chem und Betrof­fe­nem
    aus­reicht. Die Vor­schrift des Art. 9 Abs. 2 lit. j DSGVO
    und ihre Umset­zun­gen beinhal­ten mit­hin eine Mög­lich­keit
    für For­schen­de, per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten zu ver­ar­bei­ten,
    ohne die Betrof­fe­nen unan­ge­mes­sen zu
    benach­tei­li­gen.
  15. Grund­recht­li­cher Maß­stab im Lich­te der BVerfG­Recht­spre­chung
    „Recht auf Ver­ges­sen I“ und
    „Recht auf Ver­ges­sen II“
    Die Vor­schrif­ten des Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO sowie
    des § 27 BDSG und des § 13 Abs. 1 LDSG kodi­fi­zie­ren
    eine Abwä­gung zwi­schen dem Recht des Betrof­fe­nen auf
    Schutz sei­ner per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten einer­seits und
    dem Recht der For­schen­den auf Nut­zung die­ser zu For­schungs­zwe­cken
    ande­rer­seits. In die­sem Zusam­men­hang
    ist zunächst zu unter­su­chen, ob hier­bei auf die Uni­ons­grund­rech­te
    oder auf die Grund­rech­te des GG abzu­stel­len
    ist. Das Ver­hält­nis von Uni­ons­grund­rech­ten und
    natio­na­len Grund­rech­ten wur­de durch die Beschlüs­se
    des BVerfG zu „Recht auf Ver­ges­sen I“86 und „Recht auf
    Ver­ges­sen II“87 neu geord­net. Hier­nach ist bei der Aus­le­gung
    von Vor­schrif­ten, die Uni­ons­recht umset­zen oder
    auf uni­ons­recht­li­chen Öff­nungs­klau­seln beru­hen, ent­schei­dend,
    ob sich die Vor­schrift in einem voll­stän­dig
    durch das Uni­ons­recht deter­mi­nier­ten Bereich des
    Rechts befindet.88 Hier­nach rich­tet es sich, ob die natio­na­len
    Grund­rech­te oder die der Grund­rech­te­char­ta
    Anwen­dung finden.89
    Soweit es sich um einen nicht voll­stän­dig deter­mi­nier­ten
    Bereich han­delt, sind dem Grun­de nach sowohl die
    Grund­rech­te der Char­ta als auch die Grund­rech­te des
    GG anwendbar.90 Dabei gilt die wider­leg­ba­re Ver­mu­tung,
    dass die Char­ta­grund­rech­te durch die Grund­rech­te
    des GG mit­ge­währ­leis­tet sind.91 Die Grund­rech­te­char­ta
    bil­det damit im Bereich der Rege­lun­gen der LDS­Ge
    und des BDSG das Min­dest­maß an Schutz für die
    Grund­rech­te der betrof­fe­nen Per­so­nen. In der Pra­xis
    wird dies auf­grund des hohen Schutz­ni­veaus der Wis­sen­schafts­frei­heit
    aus Art. 5 Abs. 3 GG sowie des Rechts
    auf infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung aus
    Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG nur in sel­te­nen
    Fäl­len rele­vant wer­den.
    Liegt dage­gen eine Vor­schrift vor, wel­che durch das
    Uni­ons­recht voll­stän­dig deter­mi­niert ist, sind allein die
    Char­ta­grund­rech­te Maß­stab der Grundrechtsprüfung.92
    Es ist somit zunächst abzu­gren­zen, ob sich die Rege­lun­gen
    des § 27 Abs. 2 BSDG und des § 13 Abs. 1 LDSG BW
    im voll­stän­dig durch das Uni­ons­recht deter­mi­nier­ten
    Bereich befin­den. Ent­schei­dend ist inso­weit, dass die
    Öff­nungs­klau­sel des Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO einen
    hin­rei­chen­den Spiel­raum für die Anwen­dung natio­na­ler
    Grund­rech­te belässt. Aus der Tat­sa­che, dass bei der DSGVO
    die Rechts­form der Ver­ord­nung gewählt wur­de,
    kann nicht geschlos­sen wer­den, dass es sich zwangs­läu­fig
    um einen Bereich des voll­stän­dig durch das Uni­ons­recht
    deter­mi­nier­ten Rechts handelt.93 In Anbe­tracht
    der sehr wei­ten Hand­lungs­spiel­räu­me, die die DS-GVO
    den Mit­glieds­staa­ten im Rah­men der For­schung durch
    öffent­li­che Stel­len über­lässt, ist dahin­ge­hend ein nicht
    voll­stän­dig deter­mi­nier­ter Bereich anzu­neh­men. Mit­hin
    ist bei § 13 Abs. 1 LDSG BW, sowie ande­ren die For­schung
    durch öffent­li­che Stel­len betref­fen­den lan­des­recht­li­chen
    Rege­lun­gen, pri­mär auf die natio­na­len
    Grund­rech­te abzu­stel­len. In Unter­schei­dung zu
    § 27 Abs. 1 BDSG kann § 13 Abs. 1 LDSG BW auf­grund
    der Öff­nungs­klau­seln des Art. 6 Abs. 2 und 3 DS-GVO
    zudem als selbst­stän­di­ge Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge ange­se­hen
    wer­den. Gegen­über der pri­va­ten For­schung besteht
    für die Mit­glieds­staa­ten hier­bei näm­lich die Mög­lich­keit,
    auch im Rah­men von Art. 6 Abs. 1 DS-GVO eige­ne
    Rege­lun­gen zu erlas­sen.
    Dem­ge­gen­über ist den Mit­glieds­staa­ten hin­sicht­lich
    der Regu­lie­rung pri­va­ter For­schung ein klei­ne­rer Hand­lungs­spiel­raum
    belas­sen wor­den, da für die­se die Öff­nungs­klau­seln
    des Art. 6 Abs. 2 und 3 DS-GVO gera­de
    kei­ne Anwen­dung fin­den. Es ist inso­weit frag­lich, ob
    die­ser Hand­lungs­spiel­raum für die Annah­me eines nicht
    voll­stän­dig deter­mi­nier­ten Berei­ches den­noch aus­reicht.
    Dage­gen spricht, dass Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO nach
    der hier ver­tre­te­nen Ansicht gera­de kei­ne selbst­stän­di­ge
    Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge ist und auch nicht zum Erlass
    einer sol­chen durch die Mit­glieds­staa­ten berech­tigt. Es
    könn­te daher ange­nom­men wer­den, dass der not­wen­di­ge
    Rück­griff auf die Ver­ar­bei­tungs­grund­la­gen des
    Art. 6 DS-GVO kei­nen Platz für die Anwen­dung natio1
    1 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 2 ) , 1 0 3 — 1 1 4
    94 Vgl. Pau­ly (Fn. 83), Rn 2
    95 BVerfG (Fn. 87).
    96 Wei­chert (Fn. 40), Rn. 48.
    97 Der Schutz der Umwelt ist zwar kein Grund­recht, wird aber als
    Staats­ziel­be­stim­mung in Art. 20a GG benannt. Der Umwelt­schutz
    ist damit bei Abwä­gungs­ent­schei­dun­gen zu berück­sich­ti­gen und
    kann auch als Recht­fer­ti­gung bei Grund­rechts­ein­grif­fen her­an­ge­zo­gen
    wer­den. Sie­he hier­zu: Huster/Rux in Epping/Hillgruber,
    Beck­OK Grund­ge­setz, 48. Edi­ti­on 2021, Art. 20a GG, Rn. 7f.
    Der Schutz der Umwelt im Sin­ne des Kli­ma­schut­zes hat zudem
    eine frei­heits­recht­li­che Dimen­si­on, die das BVerfG in sei­nem
    Kli­maur­teil her­aus­ge­ar­bei­tet hat, BVerfG, Kli­ma­be­schluss vom
    24.3.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20,
    NJW 2021, 1723.
    98 Buchner/Tinnefeld (Fn. 79), Rn. 12.
    99 Ibid.
    100 Sie­he Fn 97.
    101 Mar­ti­ni, Black­box Algo­rith­mus – Grund­fra­gen einer Regu­lie­rung
    Künst­li­cher Intel­li­genz, 2019, 333 ff.
    102 Specht-Rie­men­schnei­der/­Wag­ner, KI kann kon­trol­liert wer­den,
    wenn der Staat nur will, FAZ Ein­spruch vom 23.11.2021, abruf­bar
    unter: https://www.faz.net/-irg-aia5h (zuletzt abge­ru­fen am:
    2.12.2021)
    naler Grund­rech­te belässt. Hier­ge­gen spricht jedoch,
    dass eine Öff­nungs­klau­sel im Rah­men einer Vor­schrift,
    deren Kern eine Abwä­gung bil­det, auch für die Anwen­dung
    natio­na­ler Grund­rech­te offen sein soll­te. Andern­falls
    wür­de eine mit­glieds­staat­li­che Aus­ge­stal­tung nur
    kos­me­ti­scher Natur sein. Dass die kumu­la­tiv not­wen­di­ge
    Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge aus Art. 6 DS-GVO dabei im
    Bereich der pri­va­ten For­schung in Erman­ge­lung einer
    ent­spre­chen­den Öff­nungs­klau­sel an den Char­ta­grund­rech­ten
    zu mes­sen ist, steht einer Anwen­dung der natio­na­len
    Grund­rech­te bei der Umset­zungs­re­gel nicht ent­ge­gen.
    Dies gilt ins­be­son­de­re, da die Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge
    des Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. f DS-GVO bereits in
    Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO inkor­po­riert ist.94 Soweit der
    Min­dest­stan­dard der Uni­ons­grund­rech­te dabei nicht
    unter­schrit­ten wird, steht die Not­wen­dig­keit einer Ver­ar­bei­tungs­grund­la­ge
    aus Art. 6 DS-GVO der Anwen­dung
    natio­na­ler Grund­rech­te nicht ent­ge­gen. Dies ent­spricht
    auch dem vom BVerfG ver­tre­te­nen Ver­hält­nis
    von GG und GRCh im nicht voll­stän­dig-deter­mi­nier­ten
    Bereich.95 Auch § 27 Abs. 1 BDSG ist mit­hin an den natio­na­len
    Grund­rech­ten des GG zu mes­sen, eben­so wie
    § 13 Abs. 1 LDSG BW. Pri­va­te For­schung rich­tet sich dabei
    nach der Rege­lung des § 27 Abs. 1 BDSG. Die Norm
    unter­schei­det dabei nicht zwi­schen pri­va­ter und öffent­li­cher
    For­schung, soweit die pri­va­te For­schung den oben
    beschrie­be­nen Kri­te­ri­en ent­spricht. Im Rah­men pri­va­ter
    For­schungs­vor­ha­ben ist aber kri­tisch zu hin­ter­fra­gen, ob
    die Inter­es­sen der For­schen­den in die­sen Fäl­len erheb­lich
    die der Betrof­fe­nen über­wie­gen. Soweit sich die For­schungs­in­ter­es­sen
    nur auf die Stei­ge­rung der Pro­fi­te des
    Unter­neh­mens rich­tet, kann dies aus­ge­schlos­sen
    wer­den.
  16. Schluss­fol­ge­run­gen für die Aus­le­gung
    Dem Cha­rak­ter der Nor­men als Aus­nah­me­vor­schrif­ten
    fol­gend, sind § 27 Abs. 1 BDSG und § 13 Abs. 1 LDSG
    zunächst eng auszulegen.96 Dies wird bei
    § 27 Abs. 1 BDSG noch durch den Wort­laut der Norm
    ver­stärkt, die, wie oben zitiert, ein „erheb­li­ches Über­wie­gen“
    des Inter­es­ses am For­schungs­vor­ha­ben for­dert.
    Hier­bei ist zuguns­ten des For­schungs­vor­ha­bens jedoch
    nicht allein auf die Rech­te des For­schen­den zu rekur­rie­ren.
    Viel­mehr sind auch die Zie­le des For­schungs­vor­ha­bens
    als sol­che, wie bei­spiels­wei­se hoch­ran­gi­ge Gemein­wohl­zwe­cke
    wie der Schutz der Gesund­heit oder der
    Umwelt,97 in den Blick zu neh­men. Soweit ein For­schungs­vor­ha­ben
    auch den Schutz oder die För­de­rung
    ande­rer Inter­es­sen und Grund­rech­te für sich gel­tend
    machen kann, kön­nen die­se zu einem „erheb­li­chen
    Über­wie­gen“ i. S. d. § 27 Abs. 1 BDSG bei­tra­gen. Anwen­dungs­fäl­le,
    in denen ein erheb­li­ches Über­wie­gen regel­mä­ßig
    vor­liegt, sind For­schungs­vor­ha­ben, die bei­spiels­wei­se
    erheb­li­che Vor­tei­le für die Gesund­heit der Bevöl­ke­rung
    mit sich bringen.98 Glei­ches gilt für
    For­schungs­vor­ha­ben, die der sozia­len Sicherung99 oder
    dem Umweltschutz100 erheb­lich die­nen.
    Auch im Rah­men der For­schung zur Bekämp­fung
    der Covid-19-Pan­de­mie ist ein Abstel­len auf
    § 27 Abs. 1 BDSG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 Uabs. 1 lit. f DSGVO
    mög­lich. For­schungs­vor­ha­ben in die­sem Bereich
    kön­nen zunächst erheb­li­che Vor­tei­le für die öffent­li­che
    Gesund­heit und die öffent­li­che Gesund­heits­ver­sor­gung
    mit sich brin­gen. Dane­ben kön­nen sie auch dem Schutz
    der Fort­be­we­gungs­frei­heit die­nen, indem sie
    Kon­takt­be­schrän­kungs­maß­nah­men und Lock­downs
    ver­hin­dern. Die For­schungs­vor­ha­ben grei­fen damit,
    wenn sie nicht anony­mi­sier­te Per­so­nen­da­ten nut­zen,
    zwar in das Grund­recht auf infor­ma­tio­nel­le
    Selbst­be­stim­mung ein, kön­nen aber für sich u. a. den
    Schutz der kör­per­li­chen Unver­sehrt­heit nach
    Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und der Fort­be­we­gungs­frei­heit
    nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für sich gel­tend machen.
    Ein wei­te­rer Anwen­dungs­be­reich für das For­schungs­pri­vi­leg
    ergibt sich im Rah­men der For­schung
    zur Kon­trol­le von KI. KI bil­det eine Schlüs­sel­tech­no­lo­gie
    des 21. Jahr­hun­derts. Ein dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er Ein­satz
    die­ser Tech­no­lo­gien kann dabei, nach einer vor­drin­gen­den
    Ansicht, nur bei hin­rei­chen­der Erklär­bar­keit und
    Trans­pa­renz des KI-Sys­tems erreicht werden.101 Dem­entspre­chend
    ist auch die For­schung an der Ver­wirk­li­chung
    von Trans­pa­renz und Erklär­bar­keit von beson­de­rer
    gesell­schaft­li­cher Bedeutung.102 Die For­schung anhand
    per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten erfor­dert dabei zwar,
    Becker · Wis­sen­schafts­pri­vi­le­gie­rung in der DS-GVO 1 1 3
    wenn kei­ne Ein­wil­li­gung vor­liegt, einen Ein­griff in das
    Recht auf infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung, dient aber
    auch des­sen Schutz beim zukünf­ti­gen Ein­satz von künst­li­cher
    Intel­li­genz. Die Aus­nah­me­vor­schrif­ten, die auf
    Basis des Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO ergan­gen sind,
    fin­den somit auf die For­schung in die­sem Bereich
    Anwen­dung. Dies gilt auch bei der lan­des­recht­li­chen
    Vor­schrift des § 13 LDSG BW, wobei bei die­sem bereits
    ein ein­fa­ches Über­wie­gen der For­schungs­in­ter­es­sen aus­reicht.
    Die Anknüp­fung an das For­schungs­vor­ha­ben ist
    dabei sowohl bei pri­vat als auch bei öffent­lich finan­zier­ter
    For­schung zu beach­ten. Wenn­gleich die DS-GVO
    auch pri­vat finan­zier­te For­schung grund­sätz­lich pri­vi­le­giert,
    so ist im Rah­men der­sel­ben den­noch kri­tisch zu
    prü­fen, ob die For­schungs­in­ter­es­sen erheb­lich über­wie­gen.
    Dies kann ins­be­son­de­re dann aus­ge­schlos­sen wer­den,
    wenn For­schungs­vor­ha­ben dem öffent­li­chen Inter­es­se
    sogar entgegenstehen.103
    VII. Fazit
    Die DS-GVO weist grund­sätz­lich eine aus­ge­wo­ge­ne
    Balan­ce zwi­schen den Inter­es­sen wis­sen­schaft­li­cher For­schung
    und den Inter­es­sen Betrof­fe­ner am Schutz ihrer
    per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten auf. Dies ist der Fall, da sie
    die Pri­vi­le­gie­rung der For­schung stets an die Not­wen­dig­keit
    der Ver­ar­bei­tung für den For­schungs­zweck sowie
    an die Ange­mes­sen­heit gegen­über den Inter­es­sen der
    Betrof­fen bin­det.
    Ins­ge­samt wird den Mit­glieds­staa­ten durch die DSGVO
    zwar einer­seits ein umfang­rei­cher regu­la­to­ri­scher
    Spiel­raum ein­ge­räumt, jedoch nicht ohne die­se ande­rer­seits
    auf den Min­dest­stan­dard zu ver­pflich­ten: Bei der
    Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten soll­ten For­schen­de
    zunächst stets prü­fen, ob die vor­ge­se­he­ne Ver­ar­bei­tung
    auch mit anony­mi­sier­ten Daten erfol­gen kann.
    Dies ist vor­zugs­wür­dig, da die Ver­ar­bei­tung so ohne
    Ein­griff in das Recht auf Schutz der per­so­nen­be­zo­ge­nen
    Daten erfol­gen kann. Auch ist die Ein­ho­lung der Ein­wil­li­gung
    durch den Betrof­fe­nen, soweit sie für das gege­be­ne
    For­schungs­vor­ha­ben mög­lich ist, grund­sätz­lich vor­zugs­wür­dig,
    um die Rech­te Betrof­fe­ner zu wah­ren.
    Soweit eine Ein­wil­li­gung nicht erfol­gen kann oder
    für das jewei­li­ge For­schungs­vor­ha­ben nicht prak­ti­ka­bel
    ist, kön­nen For­schen­de – abhän­gig davon, für wen sie tätig
    wer­den – ihre For­schungs­vor­ha­ben auf
    § 27 Abs. 1 BDSG oder auf die jewei­li­ge lan­des­recht­li­che
    Vor­schrift i. V. m. Art. 6 Abs. 1 DSGVO stüt­zen. Hier ist
    eine Aus­le­gung der Vor­schrif­ten im Lich­te des GG zwar
    erfor­der­lich, aber auch aus­rei­chend. Danach ist die Nut­zung
    per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten für die For­schung selbst
    ohne Ein­wil­li­gung ins­be­son­de­re bei sol­chen For­schun­gen
    ver­fas­sungs­kon­form und uni­ons­rechts­kon­form
    mög­lich, die auch dem Schutz ande­rer grund­rechts­re­le­van­ter
    Inter­es­sen oder Gemein­wohl­zie­le, wie dem Schutz
    der Gesund­heit der Bevöl­ke­rung oder der Umwelt die­nen.
    Wird dage­gen von pri­va­ten Akteu­ren nur im Eigen­in­ter­es­se
    geforscht, wie im Fal­le der For­schung zu Mar­ke­ting­zwe­cken,
    kann jeden­falls nicht auf das For­schungs­pri­vi­leg
    abge­stellt wer­den. Bei die­ser sind For­schen­de
    auf die Ein­wil­li­gung der betrof­fe­nen Per­so­nen
    ange­wie­sen.
    Der Autor ist aka­de­mi­scher Mit­ar­bei­ter am Insti­tut für
    öffent­li­ches Recht (Abt II: Völ­ker­recht, Rechts­ver­glei­chung)
    der Albert-Lud­wigs-Uni­ver­si­tät Frei­burg. Er ist
    dort tätig im Teil­pro­jekt „Legal Pro­vi­si­ons for Access
    and Use of Health-Rela­ted Data for Rese­arch Pur­po­ses“
    (Spre­che­rin: Prof. Dr. Sil­ja Vöneky) des BMBF Pro­jek­tes
    „Data Access and Data Use in Health Set­tings“
    (Spre­cher: PD Dr. Joa­chim Boldt). Er pro­mo­viert bei
    Prof. Dr. Sil­ja Vöneky zum The­ma „Die Ver­ar­bei­tung
    von Daten durch Con­su­mer Health Appli­ka­tio­nen und
    Weara­bles zu For­schungs­zwe­cken: Eine daten­schutz­recht­li­che
    und wis­sen­schafts­recht­li­che Betrach­tung“.
    103 Ein Bei­spiel für ein sol­ches For­schungs­vor­ha­ben kann die Mar­ke­ting-
    For­schung von Cam­bridge Ana­ly­ti­ca zur Beein­flus­sung von
    Wah­len sein (sie­he hier­zu: Kolb, Die schmie­ri­gen Geschäf­te von
    Cam­bridge Ana­ly­ti­ca, SZ Online vom 23.3.18. https://www.sueddeutsche.
    de/­po­li­ti­k/­da­ten­miss­brauch-bei-face­book-die-schmie­ri­gen-
    geschaefte-von-cambridge-analytica‑1.3915057, zuletzt abge­ru­fen
    am 2.12.21).
    1 1 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 2 ( 2 0 2 2 ) , 1 0 3 — 1 1 4