Übersicht
I. Einleitung
II. Grundgesetzliche Regelungen
- Ausgangskonstellation
- Neufassung von Art. 91b GG
III. Diskussion - Grundsätzliche Überlegungen
- Bessere Bildungspolitik?
a) Konzeption einer Gemeinschaftsaufgabe
b) Durchführung einer Gemeinschaftsaufgabe - Mehr Geld für die Bildung?
IV. Fazit
Die föderalen Zuständigkeiten in Bildung und Wissenschaft werden seit Gründung der Bundesrepublik diskutiert. In den vergangenen Jahren ist die Debatte besonders intensiv geführt worden und hat zu einer Serie von Grundgesetzänderungen geführt. Die Ampelkoalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag nun für ein „Kooperationsgebot“ in der Bildung ausgesprochen, ohne allerdings die grundgesetzliche Umsetzung zu konkretisieren. In diesem Beitrag wird zunächst die kompetenzrechtliche Ausgangslage im Bildungsbereich skizziert. Es wird eine Neufassung des Art. 91b GG vorgestellt, mit der sich das „Kooperationsgebot“ verwirklichen ließe. Im Anschluss werden die grundlegenden Vor- und Nachteile von Gemeinschaftsaufgaben beleuchtet.
I. Einleitung
Der Koalitionsvertrag der Ampelparteien benennt eine „engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation aller Ebenen (Kooperationsgebot)“ in der Bildungspolitik als Ziel. „Soweit erforderlich“ werden Gespräche über eine Grundgesetzänderung angeboten. Eine Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Kommunen zur künftigen Zusammenarbeit soll installiert und ein „Bildungsgipfel“ organisiert werden. Damit sollen eine „neue Kultur der Bildungszusammenarbeit“ begründet und „neue Formen der Zusammenarbeit“ etabliert werden.1 Jenseits der bildungsbezogenen Ziele ist geplant, den Föderalismus insgesamt zu reformieren. Um eine „transparentere und effizientere Verteilung der Aufgaben“ zu erreichen, soll ein „Föderalismusdialog“ zu verschiedenen Politikfeldern geführt werden.2
Die Koalitionäre bekennen sich zwar nicht unkonditioniert zu einer Grundgesetzänderung im Bildungsbereich. Dass sie für erforderlich gehalten wird, zeigen aber die begleitenden Wortmeldungen. Die neue Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hat sich mehrfach dazu bekannt und ein baldiges Angebot an die Länder angekündigt.3 Naturgemäß noch deutlicher fielen die Äußerungen vor der Wahl aus.4 Ob und wie eine Grundgesetzänderung politisch umgesetzt werden kann, ist eine hier nicht zu vertiefende Frage. Die erforderlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, die tat1
Alle: SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP, Mehr Fortschritt wagen — Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit (Koalitionsvertrag 2021–2025), https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf (zuletzt abgerufen am 10.3.2022), S. 94.
2 Beide: SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP (Fn. 1), S. 11.
3 In: Wiarda, Jan-Martin, „So, wie es ist, kann es nicht bleiben“ — Interview mit Bettina Stark-Watzinger (9.2.2022), https://www.jmwiarda.de/2022/02/09/so-wie-es-ist-kann-es-nicht-bleiben/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2022); in: Scholz, Anna-Lena/Spiewak, Martin, „Wir bleiben unter unseren Möglichkeiten“ – Interview mit Bettina Stark-Watzinger, in: Die Zeit (13.1.2022), S. 40; in: Schmoll, Heike/Thiel, Thomas, „Keine zentrale Bildungspolitik“ – Interview mit Bettina Stark-Watzinger, Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.12.2021), S. 4.
4 „Der Bildungsföderalismus ist überfordert. […] Es ist Zeit für einen grundlegenden Systemwechsel […] Für die Freien Demokraten hätte eine Reform des Bildungsföderalismus bei einer Regierungsbeteiligung höchste Priorität.“ In: Stark-Watzinger, Bettina, Das ist das Ergebnis von 16 Jahren bildungspolitischem Stillstand (6.8.2021), https://www.welt.de/debatte/kommentare/article233379177/Bettina-Stark-Watzinger-Wir-brauchen-eine-Bildungsrevolution.html (zuletzt abgerufen am 2.2.2022). Vgl. den FDP-Parteichef, in: Lindner, Christian, Mehr Verantwortung für den Bund, in: FAZ (21.2.2020), S. 8; FDP-Anträge: BT-Drs. 19/31173, S. 2; BT-Drs. 19/15767, S. 3. Auch in ihrem Wahlprogramm sprach sich die FDP für eine „Reform des Bildungsföderalismus“ und eine „Grundgesetzänderung“ aus (FDP, Nie gab es mehr zu tun — Wahlprogramm der FDP, https://www.fdp.de/sites/default/files/2021–08/FDP_BTW2021_Wahlprogramm_1.pdf (zuletzt abgerufen am 13.2.2022), S. 13). SPD und Grüne formulierten in ihren Wahlprogrammen jeweils etwas offener, hatten sich aber zuvor immer wieder für eine Grundgesetzänderung ausgesprochen (Grüne: BT-Drs. 19/29280; S. 3; BT-Drs. 19/27826; S. 3; Grüne/FDP: BT-Drs. 19/4556, S. 2. Zu den zahlreichen Wortmeldungen der Jahre zuvor: Geis, Max-Emanuel, Das „Kooperationsverbot“ des Art. 91b GG oder: Die bildungspolitische Büchse der Pandora, in: ZG 2013 (28. Jg.), S. 305, 313 ff.; Speiser, Guido, Der deutsche Wissenschaftsföderalismus auf dem Prüfstand – der neue Art. 91b Abs. 1 GG, 2017, S. 49 ff.
Ordnung der Wissenschaft 2022, ISSN 2197–9197
Guido Speiser
Eine neue Gemeinschaftsaufgabe
Bildung in Art. 91b GG
2 0 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 2 ) , 1 9 9 — 2 1 2
5 Der Bund soll „stärker und dauerhafter Verantwortung“ übernehmen:
Stark-Watzinger in Wiarda (Fn. 3). Vgl. Stark-Watzinger
(Fn. 4); Lindner (Fn. 4), S. 8; Baerbock, Annalena, in: Grußwort
zum 29. Gewerkschaftstag der GEW, 10.6.2021; diess., Kinder sind
nur so stark wie ihre Chancen – Impulspapier für eine nationale
Bildungsoffensive (10.7.2021), https://www.gruene.de/artikel/
kinder-sind-nur-so-stark-wie-ihre-chancen (zuletzt abgerufen
am 20.3.2022).
6 SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP (Fn. 1), S. 94.
7 BVerfGE 1, 14 (34); 6, 309 (346f.); 36, 342 (360f.); 81, 310 (334).
8 BVerfGE 34, 9 (19f.). Vgl. Art. 79 Abs. 3 GG, der die Bundestaatlichkeit
dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers
entzieht.
9 BVerfGE 36, 193 (202).
10 BVerfGE 32, 145 (156); 63, 1 (38ff.); 108, 169 (182); 119, 331 (364f.).
11 BVerfGE 15, 1 (17); 88, 203 (332).
12 BVerfGE 6, 309 (346).
13 BVerfGE 26, 338 (390f.); 81, 312 (314); Stern, Klaus, Das Staatsrecht
der Bundesrepublik Deutschland (Bd. II.), 1980, S. 1138.
14 Siehe unten zu Finanzhilfen III. 2. a)
sächlichen Machtverhältnisse und die daraus folgenden
Kompromisserfordernisse sind bekannt.
Angesichts der heutigen Kompetenzregeln, die die
Mitwirkung des Bundes in der Bildung zuallererst begrenzen
(s. II. 1.), stärkt jede plausible kooperationsfördernde
Grundgesetzänderung zugleich die Rolle des
Bundes. Auch dieses Ziel wurde vor der Wahl deutlicher
artikuliert als im Vertragstext.5 Dazu passen die zahlreichen
Vorhaben, die der Koalitionsvertrag im Bildungsbereich
benennt. Gemeinsam mit den Ländern will der
Bund die „öffentlichen Bildungsausgaben deutlich
steigern“6. Länder und Kommunen sollen „dauerhaft“
bei der Digitalisierung des Bildungswesens unterstützt
werden. Neben dem schnelleren Mittelabfluss des laufenden
Digitalpakts gehört dazu ein „Digitalpakt 2.0“
mit einer Laufzeit bis 2030. Mit den Ländern sollen
Kompetenzzentren für digitales Lernen und Plattformen
für Open Educational Ressources eingerichtet werden.
Mit dem Programm „Startchancen“ sollen 4.000 sozial
benachteiligte Schulen gefördert werden. Das Programm
umfasst Investitionsmittel, von den Schulen frei einsetzbare
Mittel und die dauerhafte Unterstützung schulischer
Sozialarbeit. Nochmals 4.000 Schulen sollen mit
Zusatzstellen für schulische Sozialarbeit unterstützt werden.
Weitere Maßnahmen in den Bereichen frühkindliche
Bildung, Ganztagsausbau, Lehrer- und Erwachsenenbildung
sowie BAföG kommen hinzu. Vielfach werden
die jeweiligen Kosten und Eckdaten der Vorhaben
zwar nicht benannt. Unverkennbar ist jedoch die Absicht
des Bundes, sich im Bildungssektor stark zu engagieren.
Ebenfalls deutlich wird das Bestreben, in verschiedenen
Bereichen wie der Digitalisierung national
strukturierend und über längere Zeit hinweg tätig zu
werden.
II. Grundgesetzliche Regelungen - Ausgangskonstellation
Nach Art. 20 GG verfügen die Länder über eine Eigenstaatlichkeit.
7 Ihnen kommen jeweils eigene Kompetenzen
in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung
zu. Diese Kompetenzen können zwar durch den verfassungsändernden
Gesetzgeber modifiziert werden, aber
nicht unbegrenzt. Den Ländern muss stets ein „Kern
eigener Aufgaben als ´Hausgut´ unentziehbar
verbleib[en]“8, damit ihre Staatsqualität nicht gefährdet
wird. Hinsichtlich der Kompetenzverteilung bringt das
Grundgesetz zwei Prinzipien in Anschlag. Zum einen
sind Doppelzuständigkeiten – ob bereichsspezifisch,
themenbezogen oder generalisiert – nur in Ausnahmefällen
vorgesehen bzw. zulässig.9 Das kompetenzielle
Trennprinzip gilt auch für die Verwaltungsräume. Bund
und Länder haben ihre jeweiligen Verwaltungsaufgaben
grundsätzlich in eigener Verantwortung zu erfüllen.10
Die so erzeugte Verantwortungsklarheit ist für die Verwirklichung
des Bundesstaats- und Demokratieprinzips
erforderlich (Art. 20 Abs. 1–2 GG). Zum anderen gilt die
Auffangzuständigkeit der Länder nach Art. 30 GG bzw.
Art. 70, 83 und 92 GG. Danach fallen alle Kompetenzen
den Ländern zu, wenn das Grundgesetz keine Bundeszuständigkeit
festlegt oder zulässt. Kein Kompetenztitel
der Länder, aber alle Kompetenztitel des Bundes bedürfen
der Rechtfertigung.11 Art. 30 GG ist für alle Staatsfunktionen
und Sachmaterien anzuwenden. In Bildung,
Kultur und Wissenschaft normiert das Grundgesetz faktisch
nur wenige Zuständigkeiten des Bundes. Die sich
daraufs ergebende Kulturhoheit der Länder hat das
BVerfG schon 1957 als „Kernstück [ihrer] Eigenstaatlichkeit“
bezeichnet.12
Nach dem Lastentragungsgrundsatz des
Art. 104a Abs. 1 GG müssen Bund und Länder die ihnen
jeweils zukommenden Verwaltungsaufgaben finanzieren.
Zugleich sind Querfinanzierungen grundsätzlich
ausgeschlossen, d.h. eine Gebietskörperschaft darf weder
vollständig noch teilweise Aufgaben finanzieren, für
die sie nicht zuständig ist.13 Von Art. 104a Abs. 1 GG gibt
es nur eng begrenzte Ausnahmen.14 Damit das Querfinanzierungsverbot
nicht zur einer defizitären Aufgabenfinanzierung
führt, haben Bund und Länder nach
Art. 106 Abs. 4 GG Anspruch auf eine jeweils angemesSpeiser
· Eine neue Gemeinschaftsaufgabe Bildung in Art. 91b GG 2 0 1
15 Zum s.g. „goldene Zügel“: Kisker, Gunter, Kooperation im Bundesstaat,
1971, S. 36 ff.; Siekmann, Helmut, Finanzzuweisungen
des Bundes an die Länder auf unklarer Kompetenzgrundlage, in:
DÖV 2002 (15), S. 629, 629.
16 Seckelmann, Margrit, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, - Erg.-Lfg. II/16 2015, Art. 91b GG, Rn. 3; Henneke, Hans-Günter,
in: Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, - Aufl. 2022, Art. 91b, Rn. 54.
17 Suerbaum, Joachim/Ratka, Jacqueline, Der neue Art. 91b Abs. 1
GG – eine erste Zwischenbilanz, in: RdjB 2017 (1), S. 11, 12; Kienemund,
Andreas, in: Wolff (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland, 13. Aufl. 2022, Art. 91a GG, Vorbem/Rn. 1;
Haug, Volker, Perspektiven der gemeinsamen Bund-Länder-Förderung
unter dem neuen Art. 91b GG: Chancen und Streitpunkte,
OdW 2017 (4), S. 267, 267; Siekmann, Helmut, in: Sachs (Hrsg.),
Grundgesetz Kommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 91b, Rn. 5.
18 Vgl. die pflichtigen Gemeinschaftsaufgaben des Art. 91a GG:
Seckelmann, Margrit, Konvergenz und Entflechtung im Wissenschaftsföderalismus
von 1998 bis 2009 — insbesondere in den
beiden Etappen der Föderalismusreform, in: Seckelmann/Lange/
Horstmann (Hrsg.), Die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und
Ländern in der Wissenschafts- und Bildungspolitik, 2010, S. 75.
Vgl. Stern (Fn. 13), S. 835; Siekmann (Fn. 17), Rn. 9.
19 Heun, Werner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2018,
Art. 91b, Rn. 8; Mager, Ute/Vasel, Jochen, in: Kämmerer/Kotzur
(Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Band 2: Art. 70 bis 146), 7.
Aufl. 2021, Art. 91b, Rn. 12.
20 Werner, Georg, Abbau von Mischfinanzierungen, ZG 2002 (17),
S. 14, 17; Volkmann, Uwe/Kaufhold, Ann-Katrin, in: Huber/Voßkuhle
(Hrsg.), Grundgesetz — Band 3, 7. Aufl. 2018, Art. 91b, Rn.
29.
21 Siekmann (Fn. 17), Rn. 12.
22 Heun (Fn. 19), Rn. 19; Mager/Vasel (Fn. 19), Rn. 33.
23 BT-Drs. 18/2710, S. 6; Suerbaum/Ratka (Fn. 17), S. 11 ff. Die neuen
Fördermöglichkeiten wurden erstmals für die Förderlinie „Exzellenzuniversitäten“
im Rahmen der Exzellenzstrategie genutzt.
sene Mittelausstattung. Der Lastentragungsgrundsatz
geht auf historische Erfahrungen zurück. Ab Ende der
1950er Jahre organisierte sich der Bund mit der s.g.
Fondswirtschaft über Mitfinanzierungen verfassungsrechtlich
fragwürdige Steuerungskompetenzen in Politikbereichen,
für die er keine Zuständigkeit besaß.15 Die
weitgehende Verwaltungszuständigkeit der Länder im
Bildungsbereich führt deshalb zu deren ebenso weitgehenden
Finanzierungspflichten sowie zum Verbot einer
aufgabendissoziierten Mitfinanzierung des Bundes. Das
kaum beschränkte Finanzierungsverbot für den Bund in
der Bildung wird technisch korrekt als „Kooperationsverbot“
bezeichnet. In der politischen Debatte wird der
Begriff allerdings uneinheitlich oder gar nicht definiert.
16 Offen ist deshalb auch, was mit dem begrifflichen
Gegenstück des „Kooperationsgebots“ im politischen
Diskurs gemeint ist.
Die in Abschnitt VIII.a. des Grundgesetzes normierten
Gemeinschaftsaufgaben stellen Ausnahmen zu beiden
o.g. kompetenzrechtlichen Prinzipien dar. Zum einen
etablieren sie eine verwaltungsmäßige Mitzuständigkeit
des Bundes in bestimmten Bereichen, v.a. in der
gesetzesfreien Verwaltung. Als lex specialis zu Art. 30 GG
heben sie in diesen Bereichen die Alleinzuständigkeit
der Länder auf. Zum anderen ermöglichen oder bestimmen
sie eine gemeinsame Aufgabenerfüllung von Bund
und Ländern und schaffen so eine Mischverwaltung.17
Art. 91b Abs. 1 — 2 GG regeln Gemeinschaftsaufgaben
in Bildung und Wissenschaft. Die Gemeinschaftsaufgaben
sind fakultativ, d.h. Bund und Länder können zusammenwirken,
müssen es aber nicht.18 Die in beiden
Absätzen jeweils verlangten Vereinbarungen sind in der
politischen Praxis Verwaltungsvereinbarungen, die die
Regierungen von Bund und Ländern jeweils ohne zwingende
Parlamentsbeteiligung verhandeln und abschließen.
Mit einer Vereinbarung wird eine gemeinsame Verwaltungszuständigkeit
von Bund und den beteiligten
Ländern für das Fördergebiet etabliert. Zwar kann das
Gebiet sowohl in der originären Zuständigkeit der Länder
als ursprünglich auch des Bundes liegen.19 Mit Blick
auf die tatsächliche Zuständigkeitsverteilung ist die erstgenannte
Konstellation in der Praxis allerdings weit häufiger.
In diesem Fall erhält der Bund eine verwaltungsmäßige
Teilzuständigkeit, die er vorher nicht hatte.
Qua gemeinsamer Zuständigkeit wirken die Partner
bei der Fördermaßnahme zusammen, etwa hinsichtlich
Planung, Durchführung, Steuerung und Wirksamkeitsmessung.
20 Nicht umfasst ist allerdings die Durchführung
im Einzelfall.21 Nach dem Lastentragungsgrundsatz
müssen die Partner die gemeinsame Aufgabe auch
gemeinsam finanzieren. In aller Regel bedeutet das, dass
der Bund eine Aufgabe mitfinanzieren kann und muss,
die vorher allein von den Ländern zu finanzieren war
oder aber als solche noch gar nicht existierte. Wie die
Kosten aufgeteilt werden, können die Partner nach
Art. 91b Abs. 3 GG nach eigenem Ermessen vereinbaren.
Möglich ist damit auch die überwiegende oder vollständige
Kostenübernahme durch den Bund. Mit der von
den Exekutiven abgeschlossenen Vereinbarung werden
die Haushaltsrechte der betroffenen Parlamente allerdings
nicht beschnitten. Sie müssen die vorgesehenen
Ausgaben gemäß ihrer parlamentarischen Rechte im jeweiligen
Haushaltsverfahren bewilligen.22
Art. 91b Abs. 1 GG regelt Gemeinschaftsaufgaben in
der Wissenschaft. 2015 wurde der Kooperationsbereich
der Norm substanziell erweitert: Zuvor waren im Hochschulsektor
nur befristete Projekte förderfähig, seither
können Hochschulen auch institutionell und damit dauerhaft
gefördert werden.23 Seitdem können Bund und
Länder den gesamten Bereich der Wissenschaft gemein2
0 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 2 ) , 1 9 9 — 2 1 2
24 Der außeruniversitäre Bereich war bereits vor 2015 weitgehend
förderfähig. Zum Wissenschaftsbegriff maßgeblich: BVerfGE 35,
79 (113).
25 Volkmann/Kaufhold (Fn. 20), Rn. 22; Seckelmann (Fn. 16), Rn.
19 f. A.A. Kienemund, Andreas, in: Wolff (Hrsg.), Grundgesetz
für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 2022, Art. 91b
GG, Rn. 6; Wolff, Johanna, Der neue Artikel 91b GG — erweiterte
Kooperation im Wissenschaftsföderalismus, DÖV 2015 (Heft 18),
S. 771, 776.
26 Löwer, Wolfgang, Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des
Deutschen Bundestags zum Thema „Verfassungsrechtliche Grenzen
und Perspektiven einer besseren Zusammenarbeit von Bund
und Ländern in Bildung und Wissenschaft“, BT-Drs. 17(18)265g,
S. 5; Seckelmann (Fn. 16), Rn. 28; Speiser (Fn. 4), S. 128 ff. In der
Literatur ist allerdings auch die Auffassung der Definierbarkeit
verbreitet, etwa: Volkmann/Kaufhold (Fn. 20), Rn. 24; Heun (Fn.
19), Rn. 13. Vgl. die ähnliche Problematik des Begriffs „gesamtstaatlich
bedeutsam“ des Art. 104c Satz 1 GG.
27 Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (GWK), Gemeinsame Förderung
des Bundes und der Länder auf der Grundlage des Artikels
91b GG (18.11.2021), https://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/
Dokumente/Papers/GemFofoe-2020–2021_final.pdf (zuletzt
abgerufen am 4.2.2022). Zur Entwicklung der Ausgaben: Hintze,
Patrick, Kooperative Wissenschaftspolitik – Verhandlungen und
Einfluss in der Zusammenarbeit von Bund und Ländern, 2020,
S. 323 ff.
28 Ausführlich dazu: Guckelberger, Annette, Bildungsevaluation als
neue Gemeinschaftsaufgabe gemäß Art. 91b Abs. 2 GG. RdJB
2008 (3), S. 267, 267 ff. Vgl. Heun (Fn. 19), Rn. 16; BT-Drs. 16/813,
S. 10.
29 Mager/Vasel (Fn. 19), Rn. 29; Volkmann/Kaufhold (Fn. 20), Rn.
1; Heun (Fn. 19), Rn. 16. Vgl. die wenigen Zuständigkeiten des
Bundes in der Bildung, v.a. Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 Alt 1 GG (Ausbildungsbeihilfen)
und Art. 74 Abs. 1 Nr. 11/12 GG (berufliche
Bildung).
30 Siekmann (Fn. 17), Rn. 23a; Seckelmann (Fn. 16), Rn. 45; Heun
(Fn. 19), Rn. 16; Henneke (Fn. 16), Rn. 48;
31 Volkmann/Kaufhold (Fn. 20), Rn. 34 f.
32 Bundesregierung, Bekanntmachung des Verwaltungsabkommens
über das Zusammenwirken von Bund und Ländern gemäß
Artikel 91b Abs. 2 des Grundgesetzes. BAnz Nr. 106 (13.6.2007),
S. 5861 ff. Vgl. Siekmann (Fn. 17), Rn. 32.
sam fördern.24 Umfasst sind alle Förderformate, Förderempfänger
und Fördergegenstände. Auch der allgemeine
Hochschulbau ist aus hiesiger Sicht förderfähig.25 Die
von der Norm verlangte „überregionale Bedeutung“ einer
Fördermaßnahme lässt sich kaum plausibel definieren
und bleibt als Kriterium wirkungslos.26
Obwohl als verfassungsrechtliche Ausnahme angelegt,
hat Art. 91b Abs. 1 GG eine erhebliche förderpraktische
und systemprägende Bedeutung erlangt. Auf die
Norm stützen sich die zentralen wissenschaftspolitischen
Fördermaßnahmen der vergangenen beiden Dekaden.
Dazu zählt der Zukunftsvertrag bzw. zuvor der
Hochschulpakt, die Exzellenzstrategie bzw. zuvor die Exzellenzinitiative,
der Pakt für Forschung und Innovation
sowie zahlreiche weitere Einzelmaßnahmen. Im Jahr
2021 wendeten Bund und Länder ca. 16,5 Mrd. Euro auf
Grundlage des Art. 91b Abs. 1 GG auf.27 Art. 91b Abs. 1 GG
gilt überdies als paradigmatische und erfolgreiche Form
des kooperativen Föderalismus.
In Art. 91b Abs. 2 GG werden Gemeinschaftsaufgaben
in der Bildung normiert. Die seit 2006 unveränderte
Regelung erlaubt das Zusammenwirken von Bund
und Ländern zur Feststellung der internationalen Leistungsfähigkeit
des Bildungswesens sowie bei entsprechenden
Berichten und Empfehlungen. Auf Grundlage
der Norm können bildungssystemrelevante Daten und
Informationen erhoben, analysiert und in eine international
vergleichende Perspektive gesetzt werden.28 Der
Kooperationsbereich wurde gegenüber der aus dem Jahr
1970 stammenden Vorgängerfassung, die noch auf den
weiteren Begriff der Bildungsplanung abhob29, absichtsvoll
eng geschnitten. Nicht umfasst sind jegliche Umsetzungsmaßnahmen,
die in den Empfehlungen enthalten
sind oder sich daraus ableiten lassen.30 Solche Maßnahmen
kommen qua originärer Zuständigkeit weiterhin
überwiegend den Ländern zu. Durch die Empfehlungen
ausgelöste, indirekte Steuerungseffekte bleiben davon
gleichwohl unberührt.31 Auf die Norm stützt sich ein
2007 geschlossenes Verwaltungsabkommen32, auf dessen
Grundlage Bildungsvergleichsstudien wie PISA,
TIMSS und IGLU durchgeführt werden.
Während der Förderbereich des Art. 91b Abs. 1 GG
also das gesamte Feld der Wissenschaft umfasst, bleiben
die Möglichkeiten der gemeinsamen Bildungsförderung
äußerst schmal. Auf Grundlage von Art. 91b Abs. 2 GG
kann der Bund nicht substanziell im Bildungsbereich
mitwirken und mitfinanzieren. Gestattet ist nur die Diagnose,
nicht die Therapie von Defiziten. Um das „Kooperationsgebot“
umzusetzen, rücken deshalb eine gegenständliche
Erweiterung von Art. 91b Abs. 2 GG oder
eine Fusion mit Art. 91b Abs. 1 GG in den Blick. - Neufassung von Art. 91b GG
Der Kooperationsbereich des Art. 91b Abs. 2 GG kann in
verschiedenen Graden erweitert werden. Denkbar ist
eine maximal weite Fassung, etwa mit der Formulierung
Speiser · Eine neue Gemeinschaftsaufgabe Bildung in Art. 91b GG 2 0 3
„Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen
bei der Bildungsförderung zusammenwirken“.33
Alternativ möglich ist die Streichung des
Art. 91b Abs. 2 GG und die Einfügung des Begriffs „Bildung“
in die Aufzählung der Förderbereiche des
Art. 91b Abs. 1 Satz 1 GG. Würde zugleich die tautologische
Trias „Wissenschaft, Forschung und Lehre“ des Satz
1 auf ein schlichtes, aber ausreichendes „Wissenschaft“
reduziert sowie das wirkungslose Kriterium der „überregionalen
Bedeutung“ gestrichen, ergäbe sich die Formulierung:
„Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen
bei der Förderung von Bildung und Wissenschaft
zusammenwirken.“ Auch eine textlich
nochmals entschlackte Variante wäre möglich: „Bund
und Länder können auf Grund von Vereinbarungen Bildung
und Wissenschaft gemeinsam fördern.“
Mit der Neufassung wird das föderale Zusammenwirken
im gesamten Bildungsbereich34 möglich, soweit
die sonstigen Voraussetzungen des Art. 91b GG erfüllt
sind. Gegenstand, Format, Empfänger, Dauer und
Volumen von Fördermaßnahmen können frei verhandelt
werden. Auch die Umsetzungsmodalitäten – etwa
hinsichtlich von Gremien, Verfahrenswegen und
Ausschüttungsmechanismen – sind ad libidum regelbar.
Nach dem unverändert gültigen Art. 91 Abs. 3 GG
können die Partner auch die Kostenaufteilung frei
verhandeln und müssen diese in der Vereinbarung
niederlegen. Möglich wäre etwa diese fiktive
Fördermaßnahme: Bund und Länder vereinbaren,
dauerhaft bei der Förderung von zusätzlichen, fest
angestellten Lehrerinnen in MINT-Fächern an
Regelschulen zusammenzuwirken. Um eine Förderung
zu erhalten, müssen die Schulen ein pädagogisches
MINT-Konzept einreichen und sich in einem
wettbewerblichen Verfahren durchsetzen. Das
Programm wird vom Wissenschaftsrat administriert
und zu 90 Prozent vom Bund finanziert.
Unterhalb der skizzierten, textlichen Maximalvariante
lässt sich der Kooperationsbereich des
Art. 91b Abs. 2 GG in unterschiedlicher Weise enger fassen.
Denkbar ist beispielweise die Variante „Bund und
Länder können auf Grund von Vereinbarungen bei der
Förderung von Bildungsinfrastruktur zusammenwirken.“
Die Formulierung lehnt sich an Art. 104c GG an,
ohne aber u.a. die dortige Beschränkung auf kommunale
Infrastruktur zu übernehmen.35 Damit sind u.a. Gemeinschaftsaufgaben
möglich, mit denen die bauliche
und digitale Infrastruktur gefördert wird. Förderungen
jenseits der Infrastruktur sind nicht möglich, etwa die
dauerhafte Förderung von Personalstellen. Ansonsten
können Bund und beteiligte Länder aber auch bei dieser
Variante die Modalitäten des Zusammenwirkens frei
vereinbaren.
Beide Varianten normieren wie bisher fakultative Gemeinschaftsaufgaben.
Sie ermöglichen die Zusammenarbeit
von Bund und Ländern, erzwingen sie aber nicht.
Notwendig bleiben der Abschluss einer Vereinbarung
und damit die politische Verständigung von Bund und
Ländern. Allein die im Hinblick auf den Sachbereich
neue verfassungsrechtliche Möglichkeit des Zusammenwirkens
bedeutet allerdings eine kompetenzielle Verschiebung
– zumal diese aus noch zu diskutierenden
Gründen in der politischen Praxis intensiv genutzt werden
dürfte. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundes
dehnen sich damit auf eine Länderdomaine aus. A fortiori
gilt dies, wenn die fakultative zugleich in eine pflichtige
Gemeinschaftsaufgabe umgewandelt wird. Analog
zu Art. 91a GG lässt sich dies durch den Verzicht auf das
Modalverb „können“ erreichen. Ein Kooperationszwang
dürfte aber aus Bundessicht wenig attraktiv sein, weil damit
der mit der Kann-Norm verbundene, politisch attraktive
Handlungsspielraum verloren geht.36 Zugleich
wären erhebliche Widerstände von Länderseite zu erwarten.
Es ist deshalb wahrscheinlich, dass der Begriff
33 Die Idee einer „Gemeinschaftsaufgabe Bildung“ ist im politischen
Diskurs der vergangenen Jahre immer wieder aufgetaucht,
allerdings fast immer ohne Konkretion: FDP: BT-Drs. 19/31173,
S. 2; BT-Drs. 19/15767, S. 3; FDP/Grüne: BT-Drs. 19/4556, S. 2;
Stark-Watzinger (Fn. 4); Grüne: BT-Drs. 17/1984, S. 2; SPD: BTDrs.
17/5911, S. 2; Linke: BT-Drs. 18/3162, S. 1; BT-Drs. 18/6875, S.
2; BT-Drs. 18/588, S. 3. Vgl. die vage in diese Richtung deutenden
Positionierungen von Länderseite: BR-Drs. 621/17, S. 2; BT-Drs.
18/2710, S. 8; Vgl. überdies Überlegungen in der Literatur: Seckelmann,
Margrit, Stellungnahme in der Öffentlichen Anhörung
zum Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b)“, BT-Drs.
18(18)48d, 2014, S. 6; Wieland, Joachim, Von der Verhinderungsverfassung
zur Ermöglichungsverfassung, ZG 2012 (3), S. 266,
273 ff.; GEW, Stellungnahme in der Öffentlichen Anhörung zum
Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b)“, BT-Drs. 18(18)48g,
2014, S. 3 f.; Deutscher Städtetag, Münchner Erklärung des
Deutschen Städtetags „Bildung gemeinsam verantworten“ (8. 11
2012), http://www.miz.org/dokumente/2012_muenchner_erklaerung_
staedtetag.pdf (zuletzt abgerufen am 30.1.2022), S. 3 f. Vgl.
die kurze Diskussion in: Funke, Ariane, Hochschul- und Wissenschaftsfinanzierung
als bundesstaatliche Probleme, 2022, S. 397 f.
34 Zum Umfang des Begriffs: Mager/Vasel (Fn. 19), Rn. 28; Siekmann
(Fn. 17), Rn. 23.
35 Vgl. zu Finanzhilfen: III. 2. a). Zum Begriff der Infrastruktur:
Siekmann, Helmut, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, - Aufl. 2021, Art. 104c, Rn. 10/12.
36 Der Bund, so Haug mit Blick auf Art. 91b Abs. 1 GG, möchte „vermeiden,
in das graue Alltagsgeschäft der allgemeinen […] Hochschulfinanzierung
der Länder hineingezogen zu werden“. Daher
ziele er darauf, seine Ressourcen auf „´Leuchtturm´-Förderungen
[zu] konzentrieren“: Haug (Fn. 17), S. 271.
2 0 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 2 ) , 1 9 9 — 2 1 2
des „Kooperationsgebots“ nicht im rechtlichen Sinn als
bindende Anordnung, sondern im politischen Sinn als
Empfehlung (die eben der rechtlichen Ermöglichung bedarf)
verstanden wird.
Zeithistorisch betrachtet setzte sich mit einer Erweiterung
des Kooperationsbereichs in der Bildung eine
Gegenbewegung zur Föderalismusreform von 2006 fort.
Mit der Reform sollten die damaligen Kompetenzen von
Bund und Ländern entflochten, das Trennprinzip gestärkt
und die Eigenständigkeit der Länder gefördert
werden.37 Seitdem hat es eine Serie von rückabwickelnden
Grundgesetzänderungen gegeben, die den Verflechtungsgrad
wieder erhöht und dem Bund mehr Gestaltungs-
und/oder Finanzierungsmöglichkeiten im Wissenschafts-
und Bildungsbereich eröffnet haben.38 Eine
Erweiterung des Art. 91b Abs. 2 GG würde in der Bildung
jene Entwicklung spiegeln, die in der Wissenschaft
mit der Novelle des Art. 91b Abs. 1 GG im Jahr 2015 bereits
vollzogen wurde.39
III. Diskussion - Grundsätzliche Überlegungen
Die Vorstellung, mit einer Änderung der kompetenzrechtlichen
Regelungen und einer stärkeren Rolle des
Bundes zentrale Defizite des Bildungssystems zu beheben
oder substanziell zu mildern, ist weit verbreitet. Die
zugrundeliegende These ist ein kontrafaktischer Vergleich:
Hätte der Bund eine stärkere Stellung, wäre das
Politikergebnis gegenüber der weitgehenden Länderzuständigkeit
besser. In analoger Weise wird vorgebracht,
die Erfüllung der von Bund und Ländern gemeinsam
verantworteten Aufgaben sei problematisch und auch
hier müssten die Gewichte stärker zum Bund verschoben
werden.40
Weil sie den Vorzug der empirischen Existenz haben,
wird bei diesem Vergleich regelmäßig nur das politische
Handeln der Länder und der Status Quo des Bildungssystems
betrachtet. Die Zuständigkeit der Länder, so das
Argument, führe zu mehr oder weniger uneinheitlichen,
unübersichtlichen, ineffizienten und ineffektiven Lösungen.
Der Befund wird auf verschiedene bildungspolitische
Teilbereiche bezogen, etwa Schulabschlüsse, Lehrpläne,
Lehrerbildung, G8/G9, Ferienregelungen oder die
bauliche und digitale Schulinfrastruktur.41 Von dieser
Defizitanalyse wird auf die Notwendigkeit eines stärkeren
Bundesengagements geschlossen. Die Überlegenheit
von „Bundeslösungen“ hat in Teilen der medialen und
politischen Debatte geradezu axiomatischen Status erlangt.
Paradigmatisch findet sich das Argument in einem
Namensbeitrag von FDP-Parteichef Lindner aus dem
Jahr 2020. Die länderverantwortete Schulpolitik, so
Lindner, erbringe insgesamt desolate Ergebnisse. Nötig
sei deshalb eine „nationale Koordination für die Gestaltung,
Evaluation und Weiterentwicklung von Schulen“
sowie ein „Bundesministerium für Bildungsinnovation
& Schulqualität“42.
Neue Nahrung hat dieses Argumentationsmuster
durch die Corona-Krise erhalten. Die föderal verteilte
Bildungszuständigkeit hat sich danach als schlecht gerüstet
erwiesen, der Pandemie zu begegnen. In ungeahnter
Klarheit habe die Corona-Krise überdies die strukturelle
Mangelhaftigkeit des Bildungsföderalismus freigelegt,
die sich auch in weiteren Defiziten zeige.43 Der Föderalismus
– so ließe sich der Gedanke zuspitzen – ist
nicht mehr die richtige Antwort auf die vielen bildungspolitischen
Aufgaben der heutigen Zeit.44
Mit einem erweiterten Art. 91b GG ließe sich nun
eine stärkere Beteiligung des Bundes in der Bildung und
damit die zweite Seite des Vergleichs realisieren. Zu diesem
Vergleich sind zwei grundsätzliche Bemerkungen
zu machen. Erstens ist es unplausibel, dass eine stärker
bundesgeprägte Lösung bei allen Bildungsaufgaben
überlegen ist. Zum einen sind einige der monierten De-
37 „Entflechtungseuphorie“: Seckelmann, Margrit, Die Gemeinschaftsaufgaben
von Bund und Ländern in der Wissenschaftsund
Bildungspolitik — zur Einleitung, in: Seckelmann/Lange/
Horstmann (Hrsg.), Die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und
Ländern in der Wissenschafts- und Bildungspolitik, 2010, S. 18.
Vgl. Meyer, Hans, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 239 ff.
38 Siehe zur Veränderung von Art. 104b‑c GG III. 2. a).
39 Analoges trifft auf den Verlauf der verfassungspolitischen Debatte
zu. Seinerzeit stand der als zu eng aufgefasste Kooperationsbereich
des Art. 91b Abs. 1 GG in der Kritik, die schließlich zur
Grundgesetzänderung von 2015 führte.
40 Referierend: Wiarda, Jan-Martin, Der Traum von einem neuen
Bildungsföderalismus, https://www.jmwiarda.de/2021/11/23/
der-traum-von-einem-neuen-bildungsf%C3%B6deralismus/
(24.11.2021) (zuletzt abgerufen am 19.1.2022).
41 Beispielhaft: Lindner (Fn. 4), S. 8. Vgl. die Problembeschreibungen
verschiedener Autoren im Band Bildungsföderalismus in der
Kritik, ifo-Schnelldienst 2019 (Nr. 72).
42 Lindner (Fn. 4), S. 8. Ähnlich Stark-Watzinger (Fn. 4).
43 „Brennglas“: Stark-Watzinger in Wiarda (Fn. 3). Vgl. beispielhaft
die abgewogene Analyse: Illan, Luis, Bildungsföderalismus in
Zeiten der Corona-Krise. GWP 2020 (3), 273, passim.
44 Darüber hinaus existieren grundsätzliche Zweifel, ob der Föderalismus
in seiner jetzigen Ausprägung die beste aller möglichen
Staatsorganisationen ist. Moniert werden u.a. die regulatorische
Zersplitterung, die Behäbigkeit und wenig krisentaugliche Komplexität
der föderalen Verfahren, die inkonsistente Umsetzung
verabredeter Maßnahmen und die Kosten von Mehrfachstrukturen.
Speiser · Eine neue Gemeinschaftsaufgabe Bildung in Art. 91b GG 2 0 5
fizite erkennbar gar nicht oder teilweise nicht auf die
weitgehende Politikgestaltung durch die Länder und die
korrespondierende unterdimensionierte Rolle des Bundes
zurückzuführen. Einschlägig können andere Faktoren
sein, etwa der politikpraktische Umgang mit den föderalen
Strukturen (statt der Strukturen selbst), politisch
motivierte Blockaden oder Umsetzungsprobleme auf regionaler
bzw. lokaler Ebene. Die Vorstellung des „Mehr
Bund ist immer besser“ kann aus diesem Grund nicht
überzeugen.
Zweitens ist Art. 91b GG kein Allzweckwerkzeug, um
bei jeder Bildungsaufgabe eine stärkere Rolle des Bundes
zu organisieren. Die Norm regelt das Zusammenwirken
in der gesetzesfreien Verwaltung, wozu die gemeinsame,
also bundesmitgetragene Finanzierung von Fördermaßnahmen
gehört. Alle sonstigen, weitgehend den Ländern
zukommenden Zuständigkeiten in der Bildung bleiben
unberührt.45 Das gilt etwa für die Schulgesetzgebung,
die schulbezogene Haushaltsgesetzgebung und zahlreiche
untergesetzliche Zuständigkeiten. Auch die horizontale
Abstimmung und gemeinsame Strategiebildung, die
sich auf die benannten Materien bezieht, bleibt ungeschmälert
Ländersache. Eine Reihe der problematisierten
Bildungsaufgaben fällt aber vollständig oder hauptsächlich
in diese Kategorie. Vis-a-vis dieser Aufgaben
bliebe ein novellierter Art. 91b GG wirkungslos oder jedenfalls
wirkungsarm. Würden für diese Aufgaben stärker
bundesgeprägte Arrangements angestrebt, wären andere
Regelungen anzupassen, etwa Gesetzgebungskompetenzen.
Ein erweiterter Art. 91b GG ist damit von
vornherein nur für eine Teilmenge jener Bildungsdefizite
relevant, für deren Behebung eine größere Rolle des
Bundes als sinnvoll erachtet wird.
Nur in diesen einschlägigen Fällen lohnt sich der genaue
Vergleich der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung
mit der heutigen Konstellation. Die erforderliche
aufgabenscharfe Betrachtung kann hier zwar nicht in
Gänze geleistet werden. Dargestellt werden können aber
die typischen positiven und negativen Wirkungen von
Gemeinschaftsaufgaben, die sich bei spezifischen Bildungsaufgaben
jeweils unterschiedlich ausprägen. - Bessere Bildungspolitik?
a) Konzeption einer Gemeinschaftsaufgabe
Um eine gemeinsame Aufgabenzuständigkeit auf
Grundlage von Art. 91b GG zu schaffen, bedarf es der
Einigung von Bund und Ländern. Die Vielzahl und
unterschiedlichen Interessenlagen der beteiligten
Akteure können die Verhandlungen langwierig und
kompliziert gestalten.46 Dies gilt insbesondere dann,
wenn die Gemeinschaftsaufgabe fakultativ und der
Einigungsdruck deshalb geringer ist. Zur Komplexität
der Verhandlungen trägt überdies bei, dass eine
gemeinsame Verwaltungszuständigkeit etabliert wird
und deshalb vielfältige Durchführungsdetails der Fördermaßnahme
zu regeln sind. Dazu zählen Zweckbestimmung
der Mittel, Empfänger, Allokationsmechanismen
und Einzelheiten der Mittelverwendung. Auch
von den Empfängern zu leistende Berichtspflichten
und vorgesehene Evaluationen werden i.d.R. festgelegt.
Zwar sind Bund und Länder gleichberechtigte Verhandlungspartner.
Gleichwohl fällt der Einfluss des Bundes
auf die Konzeption der Gemeinschaftsaufgabe regelmäßig
desto stärker aus, je höher sein Anteil an der Gesamtfinanzierung
ist. Die „Asymmetrisierung der
Machtverhältnisse“47 birgt das Risiko, dass sich Ungleichheiten
zwischen den Ländern verschärfen und somit
die Kohäsion des Bundesstaats nicht nur nicht gestärkt,
sondern geschwächt wird. Zwar ist dem Bund
eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung
der Länder verfassungsrechtlich untersagt.48 Möglich
sind aber Vereinbarungen, die aus sachlichen Gründen
nur mit ausgewählten Ländern abschlossen werden,
etwa weil nur diese von der Fördermaßnahme betroffen
sind. Überdies kann ein vom Bund allen Ländern
vorgelegtes Angebot so ausfallen, dass es nicht für alle
attraktiv ist. Eine potenzielle Bruchlinie verläuft
zwischen den absehbar stark profitierenden und den
weniger oder gar nicht profitierenden Ländern. Eine
andere Bruchlinie verläuft zwischen den Ländern, die
45 Volkmann/Kaufhold (Fn. 20), Rn. 12.
46 Umfassende Analyse des Einflusses der beteiligten Akteure in der
kooperativen Wissenschaftspolitik: Hintze (Fn. 27), S. 13 ff.
47 Seckelmann (Fn. 18), S. 69. Vgl. Hintze (Fn. 27), S. 322/357 ff.; Kisker
(Fn. 15), S. 289; Pasternack, Peer, Die föderale Kompetenzordnung
im deutschen Hochschulwesen: Entwicklung und Status, in:
Pasternack (Hrsg.), Hochschulen nach der Föderalismusreform,
2011, S. 21, 33.
48 Eine Konsequenz aus dem Gebot zu länderfreundlichem Verhalten:
BVerfGE 1, 299 (315); 72, 330 (404). Vgl. die analoge Anforderung
bei Finanzhilfen: BVerfGE 12, 205 (255ff.); 41, 291 (300ff.).
2 0 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 2 ) , 1 9 9 — 2 1 2
die mit der Gemeinschaftsaufgabe einhergehenden Ko-
Finanzierungspflichten schultern können, und jenen,
die es nicht können. Um derartige Spalteffekte zu
vermeiden, liegen länderseitige Veto-Rechte wie in
Art. 91b Abs. 1 Satz 2 GG nahe. Dann allerdings wird die
Zustimmung eines Landes zum handelbaren Gut.49 Dies
macht Verhandlungsergebnisse wahrscheinlicher, die
für alle Länder hinreichend vorteilhaft sind. Beispielsweise
kann die Mittelallokation so konzipiert werden,
dass alle Länder auf die ein oder andere Weise profitieren.
Ebenso können länderseitige Ko-Finanzierungspflichten
„weich“ formuliert werden, um die Anrechnung
bereits bestehender Finanzierungsflüsse zu ermöglichen.
50 Ein verwandtes Risiko sind Lösungen, die andere
Gegenstände berücksichtigen als jene, um die es in
der Gemeinschaftsaufgabe geht. Dass Verfassungsregeln,
die zu Großlösungen, Ausgleichszahlungen und Koppelgeschäften
einladen, zur Zielgenauigkeit und Wirtschaftlichkeit
der Mittelverwendung beitragen, ist immer wieder
bezweifelt worden.51
Die geschilderten Komplexitäten sind eng mit dem
Instrument der Gemeinschaftsaufgaben verknüpft.
Strukturell vermeiden lassen sich, indem die inhaltliche
Steuerungsmöglichkeit des Bundes reduziert wird. Strebt
man dies an (oder nimmt es jedenfalls in Kauf) und
möchte zugleich eine finanzielle Beteiligung des Bundes
an Bildungsaufgaben organisieren, bieten sich Finanzhilfen
an. Unter restriktiven Bedingungen (v.a. der Befristung
und Überprüfungspflichtigkeit der Mittel) ermöglichen
Art. 104b GG und insbesondere Art. 104c GG
Finanzhilfen des Bundes an die Länder im Bildungsbereich.
Art. 104c GG wurde 2017 ins Grundgesetz eingefügt.
Bereits 2019 wurde die Norm verändert, indem der
Empfängerkreis erweitert und die finanzierbaren Ausgabearten
erweitert wurden.52 Auch die Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten
des Bundes sind mit einer Veränderung
des Art. 104b Abs. 2 GG in den Jahren 2017/2019
und der Einfügung von Art. 104c Satz 3 GG im Jahr 2019
erweitert bzw. differenziert worden. Ebenfalls 2017 wurden
die Prüfkompetenzen des Bundesrechnungshofs in
Art. 114 Abs. 2 Satz 2 GG ausgeweitet.53 Die letztgenannten
Veränderungen waren interessanterweise Folge der
auf Bundesseite weit verbreiteten Kritik, man könne auf
die Verwendung der Finanzhilfemittel zu wenig Einfluss
nehmen. Mit dem Anwachsen der Finanzhilfen wurde
diese Kritik virulenter.54 Überdies ist der maßgeblich
vom Bund bestimmte Zweck von Finanzhilfen verbindlich
und muss neben anderen Einzelheiten bundesgesetzlich
oder per Verwaltungsvereinbarung bestimmt
werden.55
Dennoch bleiben Finanzhilfen Instrumente der Finanzverfassung.
Mit ihrer Nutzung wird die für Gemeinschaftsaufgaben
charakteristische gemeinsame
Verwaltungszuständigkeit gerade nicht konstituiert. Beispielsweise
bleibt die Bildungszuständigkeit der Länder
durch den auf Art. 104c GG gestützten Digitalpakt unberührt.
Dem Bund ist es auch nicht gestattet, Finanzhilfen
an Einvernehmens‑, Zustimmungs- oder Genehmigungsvorbehalte
und weitere Auflagen zu knüpfen.56
Deshalb sind die Länder Empfänger von Finanzhilfen.57
49 Speiser (Fn. 4), S. 175.
50 Siehe unten III. 2. b).
51 Scharpf, Fritz, Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische
Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: PVS
1985 (Heft 4), S. 323, 330 ff.; Werner (Fn. 20), S. 26; Siekmann (Fn.
17), Rn. 7. Ob Gemeinschaftsaufgaben jenseits der geschilderten
Phänomene bestmöglich konzipiert werden (u.a. mit Blick auf
die Zweckmäßigkeit und Messbarkeit des Förderzwecks, die Evaluations-
und Reporting-Mechanismen, die Ausschüttungsmodalitäten
und ggf. Haftungstatbestände) und ob der Bund seine
inhaltlichen Gestaltungsmöglichkeiten hinreichend nutzt, ist eine
weitere, vorwiegend politische und offenere Frage. Vgl. die genau
aus diesem Grund vehemente Kritik des Bundesrechnungshofs
am Hochschulpakt: Bundesrechnungshof, Bericht an den Haushaltsausschuss
des Deutschen Bundestages über die Prüfung der
zweckentsprechenden Verwendung restlicher Hochschulpaktmittel
und der Bedingungen des Zukunftsvertrags Studium und
Lehre stärken, 2020, S. 53 f.
52 Siekmann (Fn 35), Rn. 7 ff.; Speiser, Guido, Bundesfinanzhilfen
im Bildungsbereich — der neue Art. 104c GG, DÖV 2020 (1), 14,
passim.
53 Siehe unten III. 2. b) zu weiteren Details.
54 Die Überlegung ist auch heute noch zu hören: „Wir werden
[bei der Digitalisierung der Schulen] mehr machen wollen und
müssen, aber wir werden nicht unkonditioniert Geld an Länder
geben können“: MdB Jarzombek, in: BT-Plenarprotokoll 20/11
(13.1.2022), S. 590. „Derzeit kann der Bund im Schulbereich nur
Geld geben […] Das passt nicht in die Zeit“: Bildungsministerin
a.D. Karliczek, in: Burchard, Amory/Birnbaum, Robert, Karliczek
fordert mehr Kooperation für die digitale Schule (20.6.2021),
https://www.tagesspiegel.de/politik/bundesbildungsministerinfuer-
grundgesetzaenderung-karliczek-fordert-mehr-kooperationfuer-
die-digitale-schule/27301702.html (zuletzt abgerufen am
15.1.2022).
Deutlich auch die in der vergangenen Legislatur für den Bildungsetat
zuständigen Haushälter der großen Koalition MdB
Rehberg (CDU) und MdB Schulz (SPD), in: Wiarda, Jan-Martin,
„Wir müssen nicht die besten Freunde der Regierung sein“ –
Interview mit Eckardt Rehberg und Swen Schulz (26.11.2020),
https://www.jmwiarda.de/2020/11/26/wir‑m%C3%BCssen-nichtdie-
besten-freunde-der-regierung-sein/ (zuletzt abgerufen am
18.2.2022). Vgl. zahlreiche Hinweise in der Literatur, statt aller:
Seiler, Christian, Wider die Kompetenzverflechtung, ZG 2018 (33),
329, 330 ff.
55 Art. 104b Abs. 2 Satz 1 GG. Vgl. BVerfGE 39, 96 (115ff.); Siekmann
(Fn. 35), Rn. 14b.
56 BVerfGE 39, 96 (120). Vgl. BVerfGE 41, 291 (313); 86, 148 (268).
57 BVerfGE 39, 96 (121f.); 41, 291 (313); Siekmann (Fn. 35), Rn. 7.
Speiser · Eine neue Gemeinschaftsaufgabe Bildung in Art. 91b GG 2 0 7
Sie setzen die Mittel in eigener haushalterischer Verantwortung
ein und leiten sie ggf. an die Kommunen als
Letztempfänger weiter. Aus gleichem Grund entkoppeln
Finanzhilfen die Bereitstellung und Verwendungssteuerung
von Bundesmitteln. Im Gegensatz zu Gemeinschaftsaufgaben
durchbrechen sie somit den Lastentragungsgrundsatz
des Art. 104a Abs. 1 GG.58 Folglich stehen
Finanzhilfen in Spannung zu Art. 109 Abs. 1 GG,
nach dem die Haushaltsräume von Bund und Ländern
getrennt sind. Das BVerfG hat daher wiederholt den
Ausnahmecharakter von Finanzhilfen unterstrichen: Sie
dürfen kein Instrument zur dauerhaften finanziellen Beteiligung
des Bundes an Länderaufgaben sein.59 Verfassungssystematisch
haben Finanzhilfen deshalb eine Nutzungsbegrenzung,
die allerdings nirgendwo präzise definiert
ist.
Sollen die Länder dauerhaft für ihre Bildungsaufgaben
finanziell ertüchtigt werden, ohne dem Bund eine
stärkere inhaltliche Mitwirkung zu ermöglichen, sind Finanzhilfen
deshalb nicht das richtige Instrument. Um einen
strukturellen Ressourcenmangel der Länder zu beheben,
bietet sich die Anpassung der Regelfinanzierung
der Länder bzw. des bundesstaatlichen Finanzausgleichs
nach Art. 106/107 GG an.60 Damit wird eine Dysbalance
zwischen Mittel- und Aufgabenverteilung der Staatsebenen
korrigiert, ohne das Konnexitätsprinzip zu durchbrechen.
Politisch ist dies allerdings schwierig durchzusetzen,
nicht zuletzt weil erst 2020 ein neuer Finanzausgleich
in Kraft getreten ist und das Thema damit zunächst
als erledigt gelten dürfte.61 Alternativ kann der
Bund die Länder entlasten, indem er höhere Finanzierungsanteile
an bereits bestehenden gemeinsamen Aufgaben
übernimmt, etwa bei den auf Art. 91b Abs. 1 GG
gestützten Fördermaßnahmen in der Wissenschaft. Auf
Bundesseite werden diese Lösungen oft skeptisch betrachtet,
weil sie entweder dem Bundeshaushalt dauerhaft
Mittel oder aber länderseitig frei werdende Mittel
der eigenen Einflusssphäre entziehen.62 In beiden Fällen
kann der Bund seine Steuerungsinteressen, etwa die gezielte
Mittelverwendung im Bildungssektor, nicht wirksam
durchsetzen.
Zurück zu einem veränderten Art. 91b GG. Neben
der Frage, welchen Einfluss der Bund auf die Konzeption
von Gemeinschaftsaufgaben hat, ist von Interesse, welcher
Akteur auf Bundesebene diesen Einfluss faktisch
ausübt. Bundestagsabgeordnete monieren seit Jahren,
das Parlament werde bei wichtigen Vorhaben des Bundes
in Bildung und Wissenschaft zu wenig beteiligt. „Das
Parlament“, kritisieren die Abgeordneten Esdar und
Schulz (SPD), „wird vor vollendete Tatsachen gestellt
und zum Notar degradiert“. Der Bundestag sei gezwungen,
die ausverhandelten Programme abzusegnen, ohne
inhaltlich Einfluss nehmen zu können oder auch nur adäquat
informiert worden zu sein. Dies sei in Zukunft zu
ändern, sonst könne man „doch mal aus […] demokratischen
Erwägungen das Geld verweigern“63. Tatsächlich
wurde eine solche Mittelsperrung 2020 bereits vollzogen,
als der Haushaltsausschuss des Bundestags 190 Mio.
Euro der Hochschulpaktmittel sowie die Mittel für ein
KI-Programm vorläufig sperrte.64 Überdies wurde der
Maßgabebeschluss gefasst, dass „ohne angemessene Information
und Beteiligung des Haushaltsausschusses
[…] keine Mittel für Bund-Länder-Vereinbarungen
mehr freigegeben“ werden. Damit eskalierte eine Auseinandersetzung
zwischen Exekutive und Legislative, die
bereits 2019 (dem Jahr des Abschlusses mehrerer großvolumiger
Bund-Länder-Vereinbarungen) anhängig gewesen
war.
Die Kritik spiegelt grundsätzliche Bedenken wider,
die schon seit Jahrzehnten in der Literatur geäußert wer-
58 Siekmann (Fn. 35), Rn. 3; Hellermann, Johannes, in: Huber/Voßkuhle
(Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 2018 (7. Aufl.), Art.
104c, Rn. 3; BT-Drs. 19/3440, S. 1.
59 BVerfGE 127, 165 (86ff.). Vgl. BVerfGE 39, 96 (115ff.); Kirchhof,
Ferdinand, Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung
Aufgaben- und Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern
und Gemeinden stärker zusammenzuführen? in: 61. Deutscher
Juristentag, Verhandlungen, Band I (S. Gutachten D), 1996, D1,
D43; BT-Drs. 16/813, S. 19.
60 Siekmann (Fn. 17), Rn. 44. Vgl. Ministerpräsident Kretschmann
in: BR-Plenarprotokoll 958 (2.6.2017), S. 268f.; Bäumerich, Maik/
Schneider, Maximilian, Kooperation von Bund und Ländern –
Grundlagen und Grenzen, in: Die Verwaltung 2019 (52), S. 118 ff.
61 Das systematische Gegenstück zur (mitwirkungsfreien) Neuzuweisung
von bisherigen Mitteln des Bundes an die Länder ist die
(mittelfreie) Neuzuweisung von Aufgaben von den Ländern zum
Bund. Diese Überlegung ist allerdings eher theoretisch, weil sie,
im Bildungsbereich zumal, auf die Opposition der Länder stoßen
dürfte.
62 Vgl. die diesbezügliche Kritik an der vollständigen Übernahme
des BAföG im Jahr 2015 und die in diesem Punkt ähnliche Kritik
an Finanzhilfen, siehe oben.
63 Alle in: Esdar, Wiebke/Schulz, Swen, Den Hochschulpakt besser
aufstellen, Tagesspiegel (31.1.2019), S. 21. Vgl. die Abgeordneten
Schulz und Rehberg in Wiarda (Fn. 54).
64 BT-Drs. 19/23324, S. 183.
2 0 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 2 ) , 1 9 9 — 2 1 2
den. Bereits in den Jahren rund um die Einfügung der
Gemeinschaftsaufgaben ins Grundgesetz 1969 wurde bemängelt,
die darauf gründenden Vereinbarungen werden
ausschließlich von den Regierungen von Bund und
Ländern verhandelt. Die exekutive Hegemonie höhle die
Haushaltsrechte des Parlaments aus.65 Formal blieben
diese Rechte zwar unberührt, weil Verwaltungsvereinbarungen
nur Kompetenzen der Regierungen betreffen
und deshalb auch nur von diesen geschlossen werden
müssten. Der faktische Druck auf die Parlamente, die in
den Vereinbarungen vorgesehenen Haushaltsmittel freizugeben,
sei jedoch offenkundig. Überdies wurden
Zweifel daran geäußert, dass Teile der Wissenschaftsförderung
wie die Exzellenzinitiative dem Gesetzesvorbehalt
genügen.66
Strukturell ist allerdings eine Vorrangstellung der Exekutiven
kaum zu vermeiden. Zum einen ist es Sache der
Regierungen, Verwaltungsvereinbarungen zu verhandeln
und abzuschließen. Zum anderen wäre die intensive
Einbindung der Parlamente in die Verhandlungen
wegen der Komplexität der verhandelten Materien und
der drohenden Immobilität des dann schwergängigen
Prozesses schwierig.67 Ähnliches gilt für die Idee, statt
Verwaltungsvereinbarungen künftig Staatsverträge einzusetzen.
Begleitende Frage‑, Auskunfts- und Informationsrechte
dürften in der Praxis die weitreichendste Einbindungsmöglichkeit
der Parlamente in die Verhandlungen
sein.68 Das bedeutet aber: Je mehr Mittel über Gemeinschaftsaufgaben
vergeben werden, desto relevanter
das Problem der Parlamentsbeteiligung.
Auch aus einem weiteren Grund können Gemeinschaftsaufgaben
die Haushaltshoheit der Parlamente gefährden.
Die Vereinbarungen binden i.d.R. für längere
Zeiträume beträchtliche Haushaltsmittel von Bund und
Ländern (vgl. etwa den Hochschulpakt bzw. dessen
Nachfolgeprogramm Zukunftsvertrag). In der politischen
Praxis sind diese Bindungen kaum mehr veränderlich.
Die „finanzielle Pfadabhängigkeit“69 erstreckt
sich regelmäßig nicht nur über mehrere Haushaltsjahre,
sondern über Legislaturperioden und daher u.U. über
unterschiedliche Regierungskonstellationen. Dies kann
neben den für die Fördermaßnahme selbst aufgewendeten
Mittel auch Zusatz- und Folgekosten betreffen, die
im Bildungsbereich fast immer auf Länderseite anfallen.
Dazu zählen etwa die langfristige Unterhaltung von Infrastruktur
oder die Vorsorge für Personalstellen, inklusive
etwaiger Pensionsansprüche.70 Das Problem lässt sich
zwar durch die Gestaltung der Förderprogramme mildern,
etwa deren Entfristung oder das Vorsehen von ausreichenden
Overheads. Allerdings sind Ausgaben, deren
Nutzen sich erst in der Zukunft entfaltet, in der Gegenwart
nicht immer leicht durchzusetzen.
Die Situation kann aus Sicht der jeweiligen Bildungsministerien
zwar ein Vorteil sein, weil die Mittel in den
Haushalten langfristig reserviert und dem Zugriff des eigenen
Finanzministers entzogen sind.71 Allerdings kann
darin eine Einschränkung der Haushaltshoheit von
künftigen Bundestagen und Länderparlamenten gesehen
werden.72 Für den BMBF-Etat ist diese Überlegung
insbesondere einschlägig, weil darin der Anteil der entsprechend
gebundenen Mittel bereits heute hoch ist.
Zugleich können die Länder politisch gezwungen
sein, solche Bindungen „sehenden Auges“ einzugehen.
Einer Gemeinschaftsaufgabe nicht beizutreten, ist einer
Landesregierung bzw. den sie tragenden Fraktionen
zwar möglich, kann aber erhebliche symbolische und
materielle Kosten nach sich ziehen. Zum einen verzichtet
das Land auf Reputationsgewinne, die vor allem in
wettbewerblichen Formaten winken (vgl. die Exzellenzstrategie).
Zum anderen verzichtet man auf oft dringend
benötigte Mittel. „Gegen den Sog von Zuschüssen“,
macht Werner geltend, „haben andere Zwecke […] kaum
eine Chance“73. Die langfristige Mittelbindung bei faktisch
fehlender politischer Wahlfreiheit verschärft die
Bedenken hinsichtlich der parlamentarischen Rechte.
65 Vgl. Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die
Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 1966, Tz. 60;
Kisker (Fn. 15), S. 289 ff.; Collin, Peter, Entwicklungslinien verfassungsrechtlicher
Konturierung und verfassungsdogmatischer
Problematisierung der Gemeinschaftsaufgaben im Bildungs- und
Forschungsbereich, in: Seckelmann/Lange/Horstmann (Hrsg.),
Die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern in der Wissenschafts-
und Bildungspolitik, 2010, S. 55; Werner (Fn. 20), S. 27
ff.; Pfost, Heinz/Franz, Thomas, Mischfinanzierungen zwischen
Bund und Ländern — ein Element notwendiger Föderalismusreformen
aus Sicht der Finanzkontrolle des Bundes, in: ZG 2003
(18), S. 339, 345; Heun (Fn. 19), Rn. 19; Siekmann (Fn. 17), Rn. 42;
Mager/Vasel (Fn. 19), Rn. 42.
66 Zur Exzellenzinitiative: Sieweke, Simon, Verfassungsrechtliche
Anforderungen an die Fortsetzung der Exzellenzinitiative, DÖV
2009 (Heft 22), S. 946, 948 ff.; Marzlin, Christian, Die Exzellenzinitiative
von Bund und Ländern auf dem verfassungsrechtlichen
Prüfstand, 2015, S. 81 ff.; Funke (Fn. 33), S. 208 ff.; a.A. Volkmann/
Kaufhold (Fn. 20), Rn. 14. Vgl. die Darstellung in Suerbaum/Ratka
(Fn. 17), S. 22.
67 Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Einzelfragen
zu Bund-Länder-Verwaltungsabkommen (WD 4–3000-003/20),
2020, S. 11.
68 Vgl. Esdar/Schulz (Fn. 63), S. 21.
69 Collin (Fn. 65), S. 56. Ähnlich Kirchhof (Fn. 59), D78; Werner (Fn.
20), S. 31.
70 Vgl. die fiktiven Fördermaßnahmen oben II. 2. Hinsichtlich der
Exzellenzstrategie: Stark-Watzinger in Schmoll/Thiel (Fn. 3), S. 4.
71 Zum Wissenschaftsbereich: Hintze (Fn. 27), S. 321/442.
72 Kruis, Konrad, Finanzautonomie und Demokratie im Bundesstaat,
DÖV 2003 (Heft 1), S. 10, 12 ff.; Bundesrechnungshof in:
BT-Drs. 16/160, S. 106.
73 Werner (Fn. 20), S. 33.
Speiser · Eine neue Gemeinschaftsaufgabe Bildung in Art. 91b GG 2 0 9
b) Durchführung einer Gemeinschaftsaufgabe
Ist die Gemeinschaftsaufgabe vereinbart, sind die schon
zu Beginn des kooperativen Föderalismus in den frühen
1960er Jahren und seitdem immer wieder beschriebenen
Vorteile des staatsebenenübergreifenden Zusammenwirkens
einschlägig.
In zentralen Förderbereichen ermöglichen Gemeinschaftsaufgaben
eine koordinierte Kräftekonzentration.
74 Eine nationale Ressourcenbündelung legt nicht zuletzt
die zunehmende internationale Konkurrenz in vielen
Themenfeldern nahe.75 Zuletzt wurde diese Überlegung
vor allem bei der Digitalisierung der Schulen
vorgebracht, etwa bei digitalen Lern- und Lehrplattformen
oder der Zertifizierung von Lern-Apps.76
Mit Gemeinschaftsaufgaben wird überdies die finanzielle
und administrative Überforderung von einzelnen
Ländern und damit die drohende Hierarchisierung in
der Ländergemeinschaft vermieden. So werden gleichwertige
Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gestärkt.77
Zugleich werden Mehrfachstrukturen und Doppelförderungen
vermieden sowie ggf. Synergie- und Skaleneffekte
erzielt.78 Überdies kann der Bund als Druckmacher
und Integrator wirken, etwa indem gemeinsame Standards,
Verfahren und Zwischenziele festgelegt werden.79
Dahinter steht ein gewisses – und nach verbreiteter Auffassung
auch erfahrungsgesättigtes – Misstrauen hinsichtlich
des Koordinationsvermögens der Länder
untereinander.80
Schließlich lassen sich mit Gemeinschaftsaufgaben
s.g. „free-rider“-Effekte vermeiden, bei denen Länder
von den Investitionen anderer Länder profitieren und
deshalb eigene Investitionen vermeiden.81 Solche Effekte
dürften in der Bildung allerdings weniger ausgeprägt
sein als in der Wissenschaft, weil die Anreize für eigene
Investitionen oftmals hoch sind (vgl. den mitunter entscheidenden
Einfluss der Schulpolitik auf
Landtagswahlen).
Zugleich bringen Gemeinschaftsaufgaben potentiell
Nachteile für die Qualität der Aufgabenerledigung mit
sich. Viele dieser Probleme wurden im Kontext der Föderalismusreform
von 2006 diskutiert und sind in ihrer
Substanz weiterhin relevant. Gemeinschaftsaufgaben
werden moniert, weil sie komplexe, langwierige und ineffiziente
Abstimmungsprozesse erfordern können.82
Die Zuwendungsgeber sind teilweise intensiv in die
Durchführung von Fördermaßnahmen eingebunden,
etwa im Rahmen von GWK-Gremien. Auch die Finanzkontrolle
kann kompliziert sein, weil die Prüftätigkeiten
der beteiligten Rechnungshöfe koordiniert werden müssen.
Mit Einfügung des Satz 2 in Art. 114 Abs. 2 GG im
Jahr 2017 wurde die Kontrollbefugnis des Bundesrechnungshofs
auch auf Stellen außerhalb der Bundesverwaltung
und damit auf Stellen im Bereich der Länder ausgedehnt.
Die Ermächtigung erfasst ausdrücklich Fälle, in
denen „zweckgebundene Finanzierungsmittel zur Erfüllung
von Länderaufgaben“ fließen.83
In grundsätzlicher Weise mag man die gegenständliche
Erweiterung des Art. 91b GG kritisieren, gerade weil
sie die beiden genannten kompetenzrechtlichen Prinzipien
des Grundgesetzes durchbricht. Zum einen wird
damit das Kompetenzgefüge zulasten der Länder verschoben
und Art. 30 GG eine weitere Ausnahme hinzugefügt.
Wie skizziert, dehnen sich mit der Neufassung
die Bundeskompetenzen in der gesetzesfreien Verwaltung
auf die Bildung und damit auf einen traditionell
identitätsprägenden Politikbereich der Länder aus. Der
Gestaltungsföderalismus, der zuletzt aus vielerlei Gründen
unter Druck geraten ist, wird damit weiter geschwächt.
Würde diese Entwicklung fortgesetzt, führte
sie ab einem gewissen Punkt zu einer Gefährdung der
Länderstaatlichkeit und zu einem Konflikt mit
Art. 20 Abs. 1 GG.84 Vertreter einer Reihe von Ländern,
besonders aber Baden-Württemberg, haben diesen
grundlegenden staatsorganisatorischen Aspekt wiederholt
in die Debatte eingebracht.85
74 Zu Art. 91a GG: Kienemund (Fn. 17), Rn. 2. Zu Art. 91b GG:
Suerbaum/Ratka (Fn. 17), S. 12.
75 Pasternack (Fn. 47), S. 33 f.
76 Stark-Watzinger in: Wiarda (Fn. 3).
77 Siehe bereits das Finanzreformgesetz von 1968: BT-Drs. V/2861,
Tz. 9 ff.; Volkmann/Kaufhold (Fn. 20), Rn. 11. Vgl. Art. 72 Abs. 2
GG und Art. 106 Abs. 3 GG. Auch der Koalitionsvertrag bringt
das „Kooperationsgebot“ in Zusammenhang mit gleichwertigen
Lebensverhältnissen: SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP (Fn. 1),
S. 94.
78 Zentrale Probleme, die eine überakzentuierte Kompetenztrennung
von Bund und Ländern erzeugt, werden weithin unter
dem Stichwort der „Entflechtungsfalle“ gefasst: Benz, Arthur,
Föderalismusreform in der „Entflechtungsfalle“, in: Europäisches
Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des
Föderalismus 2007, 2008, S. 180, 187 ff.
79 Stark-Watzinger (Fn. 4).
80 Volkmann/Kaufhold (Fn. 20), Rn. 11.
81 Seckelmann (Fn. 18), S. 83; Scharpf, Fritz, Föderalismusreform -
Kein Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle?, 2009, S. 151.
82 Kirchhof (Fn. 59), D77; Pfost/Franz (Fn. 65), S. 344 f.; Suerbaum/
Ratka (Fn. 17), S. 21.
83 Vgl. Wissenschaftlicher Dienst (Fn. 67), S. 11 f.
84 Siehe oben II. 1.
85 Vgl. Ministerpräsident Kretschmanns Bedenken gegen den
„falschen Geist des Zentralstaats“, in: BR-Plenarprotokoll 958
(2.6.2017), S. 268. Vgl. bzgl. Art. 91b‑c: Bäumerich/Schneider
(Fn. 60), S. 99.
2 1 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 2 ) , 1 9 9 — 2 1 2
Zum anderen weicht ein novellierter Art. 91b GG das
Trennprinzip weiter auf. Auch diese Kritik ist in der Literatur
immer wieder formuliert worden. Gemeinschaftsaufgaben
führen demnach zu unklaren Verantwortlichkeiten,
einer verminderten politischen Zurechenbarkeit
und einer einhergehenden Hemmung des Demokratieprinzips.
Die „Diffusion der politischen Verantwortung“
86 wurde in der Vergangenheit z.T. als so gravierend
eingeschätzt, dass auch darin eine Gefährdung der
Eigenstaatlichkeit der Länder gesehen wurde.87 Im Fall
eines erweiterten Art. 91b GG sind diese Probleme potenziell
gewichtig, weil sie einen politisch und finanziell
bedeutenden Politikbereich betreffen. Interessanterweise
fordert der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien
„transparentere“ und „effizientere“ Zuständigkeiten von
Bund und Ländern.88 Das „Kooperationsgebot“ steht
mit diesem Ziel in Spannung. Jenseits ihrer möglichen
Vorteile ist eine stärkere Politikverflechtung einer höheren
Verantwortungsklarheit nicht zuträglich. - Mehr Geld für die Bildung?
Mit einer gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung wird
fast immer der Vorteil verbunden, dass zusätzliche Mittel
für den Förderzweck mobilisiert werden. Nominell
bezieht sich diese Erwartung auf Bund und Länder gleichermaßen.
Tatsächlich ruhen die Hoffnungen aber
meist auf dem Bund. Die Aussicht auf Bundesmittel
kann die politische Bewertung einer Gemeinschaftsaufgabe
dominieren – was immer dann gut sichtbar wird,
wenn die einhergehende inhaltliche Mitsteuerung des
Bundes kritisch gesehen wird.89Analog wird i.d.R. die
Veränderung des Art. 91b GG als solche bewertet, also
die Bedingung der Möglichkeit additiver Bundesmittel.
In diesem Sinne wird mit einem novellierten Art. 91b GG
eine finanzielle Stärkung des Bildungssektors verbunden.
90 Als weiterer Vorteil gilt, dass Gemeinschaftsaufgaben
ggf. bestehende Zweifel an der Legitimität bestehender
Mittelflüsse beseitigen können. Problematische
Umgehungsfinanzierungen werden vermeidbar.91
Ist die Erwartung berechtigt, dass mit einem novellierten
Art. 91b GG zusätzliche Mittel in den Bildungssektor
fließen?
Unzweifelhaft werden mit einer Normänderung die
Voraussetzungen dafür geschaffen. Ein erweiterter
Art. 91b GG eröffnet einen neuen Finanzierungskanal
für den Bund in der Bildung. Im Rahmen des Zusammenwirkens
kann der Bund Maßnahmen mitfinanzieren,
bei denen dies vorher nicht, sachlich begrenzt bzw.
nur unter restriktiven Bedingungen möglich war, etwa
mittels Finanzhilfen nach Art. 104c GG. Beispielsweise
könnte der Bund die Personalkosten für fest angestellte
MINT-Lehrerinnen an Regelschulen mitfinanzieren.92
Allerdings garantiert eine Normänderung den Mittelzufluss
nicht. Dafür sind der politische Wille der beteiligten
Regierungen, mithin eine Verständigung der jeweiligen
Regierungskoalitionen und der Abschluss einer
Vereinbarung notwendig. Für all dies wiederum muss
der haushalterische Spielraum bei den beteiligten Partnern
vorhanden sein. Gerade aus Sicht des Bundes sind
die Rahmenbedingungen derzeit schwierig. Zu berücksichtigen
sind die in den Corona-Jahren entstandene
historische Verschuldung, die ab 2023 mutmaßlich wieder
einzuhaltende Schuldenbremse, die ambitionierten
Vorhaben der Ampel-Koalition in nahezu allen Politikbereichen,
die jüngst avisierten hohen Zusatzausgaben
im Verteidigungsbereich, verschärfte Mittelkonkurrenzen
zwischen den Ressorts sowie Effizienz‑, Umschichtungs-
und Priorisierungsdruck in den Einzelplänen.
Auch die Tatsache, dass der BMBF-Etat in den vergangenen
Jahren regelmäßig stärker gewachsen ist als der Gesamthaushalt,
kann bei der Mittelverteilung zum Malus
werden.
Sind diese Hürden überwunden und eine Vereinbarung
geschlossen, sind die Mittelflüsse, wenn auch nicht
86 Scharpf (Fn. 51), S. 336. Vgl. das umfassendere Konzept der
„Politikverflechtung“, ausführlich in: Scharpf, Fritz/Reissert,
Bernd/Schnabel, Fritz, Politikverflechtung: Theorie und Empirie
des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976. Vgl.
auch in dieser Hinsicht die im Zuge der Föderalismusreform
2006 vorgebrachten Argumente, etwa in BT-Drs. 16/813, S. 7 f.
87 Kirchhof (Fn. 59), D77; Kisker (Fn. 15), S. 298 ff. Vgl. die analoge
Kritik an Finanzhilfen: Seiler (Fn. 54), S. 330 ff; Siekmann (Fn. 35),
Rn. 16.
88 Siehe oben I.
89 Vgl. die von Scharpf zitierte Aussage eines Landesvertreters zum
damaligen Art. 91a GG a.F.: „Wenn der Bund den Vorschlag
gemacht hätte, wir nehmen die Zahl der Apfelbäume für den
Wegebau, und das wäre für mein Land günstig gewesen, ich hätte
mich nicht dagegen gewehrt. […] Entscheidend ist, ich muss für
mein Land etwas Besseres herausholen, bzw. möglichst wenig
verlieren“ (Scharpf (Fn. 81), S. 29). Vgl. bzgl. der Wissenschaftspolitik:
Hintze (Fn. 27), S. 321; Speiser (Fn. 4), S. 160 ff.
90 Vgl. die politischen Positionierungen in Fn. 4.
91 Es hat immer wieder Beispiele für zweifelhafte Konstruktionen
und Vorgänge gegeben, etwa die energetische Schulsanierung im
Konjunkturpaket II bzw. im Kommunalinvestitionsförderungsgesetz
oder die damalige Bundesfinanzierung des Kita-Ausbaus.
Vgl. analoge Fälle in der Wissenschaft, z.B. „Zwittereinrichtungen“
aus AUF und Hochschulen (Suerbaum/Ratka (Fn. 17), S.
14), die problematische Etikettierung von Fördermaßnahmen als
„Vorhaben“ oder die Verschiebung des IFM-GEOMAR von der
Leibniz-Gemeinschaft zur Helmholtz-Gemeinschaft im Jahr 2012
(beide: Geis (Fn. 4), S. 310 ff.).
92 Siehe das fiktive Beispiel oben II. 2.
Speiser · Eine neue Gemeinschaftsaufgabe Bildung in Art. 91b GG 2 1 1
haushaltsrechtlich, so doch politisch fixiert. Jenseits dieser
„Absicherung nach unten“ können jedoch Substitutionseffekte
auftreten. Die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
eingesetzten BMBF-Mittel können andere
bildungsbezogene BMBF-Mittel vollständig oder teilweise
ersetzen. Im (eher theoretischen) Extremfall kann sich für
den Förderbereich ein Nullsummenspiel ergeben. Alternativ
oder zusätzlich möglich ist die Mittelverdrängung
im Bereich der Bildungsausgaben des Bundes insgesamt.
Beispielsweise ist es denkbar, dass der Bund die Mittel für
die fiktive Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung von
MINT-Lehrerinnen aufbringt, zugleich aber die Mittel für
schulbezogene Projektfördermaßnahme kürzt bzw. hierfür
vorgesehene Mittelsteigerungen nach unten anpasst.
Solche Umschichtungen können schwer nachzuvollziehen
sein, u.a. weil sie unspezifisch konzipiert sind (etwa
als globale Minderausgabe), zeitlich gestreckt werden und
sich auf öffentlich unbekannte planerische Mittelansätze
beziehen, also keine „Kürzungen“ nach sich ziehen. Anders
formuliert: Die Idee der „zusätzlichen Mittel“, die mit
Gemeinschaftsaufgaben verbunden wird, lässt sich nur
schwer operationalisieren.93 Verstöße gegen das „Zusätzlichkeitsgebot“
sind deshalb schwierig nachzuweisen.
Analoge Überlegungen lassen zu den jeweils von den
Ländern im Rahmen von Gemeinschaftsaufgaben aufgewendeten
Mittel anstellen.94 Da die Länder das Gros der
klassischen Bildungsfinanzierung leisten, bieten sich in
ihren Haushalten wesentlich mehr Substitutionsgelegenheiten.
Zugleich fallen die für eine Gemeinschaftsaufgabe
jeweils eingesetzten Landesmittel z.T. geringer aus als
die Bundesmittel, die Dimension des potenziellen Phänomens
ist in solchen Fällen kleiner.
Darüber hinaus können bei gemeinschaftlichen Finanzierungen
Landes- durch Bundesmittel substituiert
werden. Dies kann insbesondere Landesmittel betreffen,
die für den Förderbereich vorgesehen sind und nicht zur
landesseitigen Ko-Finanzierung der Gemeinschaftsaufgabe
zählen. In der Theorie ist es sogar vorstellbar, dass
sich diese Landesmittel um den vollen Betrag der zufließenden
Bundesmittel verringern. Substituiert das Land
überdies seine eigenen Mittel, würde die Gemeinschaftsaufgabe
vertragstreu bedient, es kämen netto aber nicht
mehr Mittel im Förderbereich an als vorher. Nur der Finanzierungsmix
hätte sich zulasten des Bundes verschoben.
Ob eine Substitution von Landes- durch Bundesmittel
stattfindet, ist aus analogen Gründen wie den genannten
schwer festzustellen. Vor diesem Hintergrund
sind Gemeinschaftsaufgaben kritisiert worden, weil sie
zu einer gefühlten Entpflichtung der Länder führen.95
IV. Fazit
Das von der neuen Bundesregierung geplante „Kooperationsgebot“
in der Bildung lässt sich mit einer Neufassung
des Art. 91b GG plausibel verwirklichen. Der
Kooperationsbereich der Norm kann so erweitert werden,
dass der Bildungssektor insgesamt oder in zentralen
Teilbereichen erfasst wird. Das Zusammenwirken von
Bund und Ländern, das auf dieser Grundlage vereinbart
wird, stellt eine doppelte Ausnahme von der kompetenzrechtlichen
Ausgangslage des Grundgesetzes dar. Es hebt
die Alleinzuständigkeit der Länder für den vereinbarten
Förderbereich auf, indem der Bund eine
Verwaltungsmitzuständigkeit erhält. Überdies durchbricht
es das Trennprinzip, weil Bund und Länder
gemeinsam für die betreffende Aufgabe zuständig sind.
Ein novellierter Art. 91b GG eröffnet allerdings nur die
Möglichkeit, einem Teil der weithin beklagten Defizite im
Bildungssystem zu begegnen. Neben der föderalen Aufgabenverteilung
wirken vielfältige weitere Ursachen auf die
Politikergebnisse im Bildungssektor ein. Messianische Erwartungen
an eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung gehen
deshalb fehl. Für bestimmte Bildungsaufgaben ist eine
Verwaltungszusammenarbeit und die damit einhergehende
größere Rolle des Bundes initial jedoch ein aussichtsreicher
Lösungsansatz. Um für diese Aufgaben zu einer
begründeten Bewertung zu gelangen, ist jeweils die (hypothetische)
gemeinsame Zuständigkeit von Bund und
Ländern der (faktischen) Alleinzuständigkeit der Länder
gegenüberzustellen. Bei einem solchen Vergleich sind die
jeweils spezifischen Ausprägungen jener Vor- und Nachteile
von Gemeinschaftsaufgaben zu analysieren, die in
diesem Beitrag in grundsätzlicher Weise dargestellt
wurden.
Vor allem ein potentieller Vorteil von Gemeinschaftsaufgaben
spielt in der Debatte eine zentrale Rolle: Die
Aussicht auf zusätzliche Bundesmittel für eine bestimmte
Bildungsaufgabe. Wie dargelegt, ist nicht garantiert,
dass diese Erwartung stets erfüllt wird. Zum einen müssen
der budgetäre Spielraum und der politische Wille
93 Hinsichtlich Art. 104b‑c GG stellt sich ein analoges Problem:
Speiser (Fn. 52), S. 19 ff.
94 Vgl. die kritischen Hinweise zur Gegenfinanzierung des
Zukunftsvertrags: Bundesrechnungshof (Fn. 51), S. 47 ff. Von Substitutionseffekten
zu unterscheiden sind die Fehlverwendung von
Mitteln, wozu auch das Bilden von unzulässigen Ausgaberesten
gehört, sowie die intransparente bzw. fehlende Dokumentation
der Mittelverwendung. Diese Kritikpunkte hat der Bundesrechnungshof
vor allem hinsichtlich des Hochschulpakts bzw. des Zukunftsvertrags
vorgebracht: Bundesrechnungshof (Fn. 51), S. 16 ff.
95 Bundesrechnungshof (Fn. 51), S. 9 f./62.
2 1 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 2 ) , 1 9 9 — 2 1 2
des Bundes gegeben sein, um die finanziellen Mittel für
eine Gemeinschaftsaufgabe aufzubringen. Zum anderen
sind Substitutionseffekte möglich, die die Zusätzlichkeit
der Mittel im Förderbereich unterlaufen.
Wird mit Gemeinschaftsaufgaben vor allem oder
ausschließlich die finanzielle Besserstellung der Länder
verbunden, sind sie nicht das richtige Instrument. Dann
geht es nicht um die verwaltungsmäßige Mitwirkung des
Bundes in der Bildung, sondern um die Korrektur einer
kurzfristigen oder strukturellen Dysbalance zwischen
Mittel- und Aufgabenverteilung der Staatsebenen. Steht
dieses Ziel im Mittelpunkt, bieten sich Finanzhilfen oder
eine Anpassung der Regelfinanzierung als geeignetere
Optionen an. Vor einer möglichen Veränderung des
Grundgesetzes sollte deshalb eine politische Verständigung
darüber stehen, welcher Kernzweck verfolgt wird.
Danach sollte sich richten, welches Instrument gewählt
wird und ob dasselbe einer Anpassung bedarf.
Guido Speiser ist im Berliner Büro der Max-Planck-
Gesellschaft tätig. Der vorliegende Beitrag spiegelt seine
Meinung wider, nicht die der Max-Planck-Gesellschaft.