Der Autor Peter-André Alt ist Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft, ehemaliger Präsident der Freien Universität Berlin und derzeitiger Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, zusätzlich ausgewiesen auch durch frühere universitäre Leitungsämter als Institutsdirektor und Dekan.
Wer ein in der Wolle gefärbter Hochschulmensch ist, der wird von seinem Buch „Exzellent!? Zur Lage der deutschen Universität“1 gefesselt, weil man sich dieser vielschichtigen Ausleuchtung der deutschen universitären Welt in jüngerer Geschichte und Gegenwart ebenso wenig entziehen kann wie den Vorschlägen des Autors für Gestaltungspotentiale der zukünftigen Universität. Das Buch nimmt die Leser mit auf eine große Fahrt und fordert sie praktisch auf jeder Seite heraus, die eigenen Positionen mit denen des Autors abzugleichen, wobei man bei der erkennbaren Redlichkeit des Autors vermuten möchte, dass ihm kritische Reflexionen genauso willkommen sind, wie zustimmende.
Von den vielen Beobachtungen, Erkenntnissen und Vorschlägen ganz abgesehen, ist Peter-André Alt schon stilistisch ein Meisterwerk geglückt. In einer fast atemberaubenden Verdichtung gelingt es ihm auf 264 Seiten den Kosmos der deutschen Universität in ihrer Geschichte seit den 1960-Jahren, in ihrer derzeitigen Verfasstheit und mit einer Einschätzung der zukünftigen Chancen und Risiken zu durcheilen. Das Buch liest sich auch da elegant und flüssig, wo Alt komplexe Abläufe und Wirkungsmechanismen in hochkomprimierter Darstellung gleichsam diagnostisch ausleuchtet.
Diagnose ist ein weiteres Stichwort, das der Rezensent in diese Vorbemerkung einbringen möchte. Es ist der Blick eines Wissenschaftlers, der gewissermaßen mit tiefenpsychologischer Methode die „Wesenheit“ der Universität in der Form einer klassischen Exploration zuerst in ihrer jüngeren Entwicklungsgeschichte aufblättert, daraus in analytischer Methode einen konzeptionellen, organisatorischen, aber vor allem auch mentalen Befund ableitet und im dritten Teil dem untersuchten Wesen Universität Vorschläge für eine erfolgreiche Entwicklung auf den Weg gibt, wobei die Potentiale, die schon vorhanden sind, besser ausgeschöpft werden sollten.
Für die eiligen Leser, die den nachfolgenden fiktiven Dialog für entbehrlich halten, sei hier der Versuch gemacht, einen thematischen Überblick über das Werk von Peter-André Alt zu skizzieren.
Das Buch spannt in seinem ersten Teil den großen Bogen des permanenten Reformgeschehens ausgehend von der Ordinarienuniversität der frühen Nachkriegsjahre über den universitären Infarkt der 68-Jahre hin zur Gremienuniversität und von dort aus zu den verschiedenen Ausprägungen der Neoliberalen Universität.
In die Liste der großen Themen dieser Umbrüche, bei dem im Dom der Weisheit – überspitzt gesagt – kein Stein mehr auf dem anderen blieb, gehört der mentale und organisatorische Strukturwandel, bei dem die ursprünglich fast unbeschränkte Hoheit der Ordinarien durch die Veränderung der Gewichte innerhalb der Statusgruppen und später in mehreren weiteren Schritten durch die Umsetzung einer neueren Steuerungsphilosophie und durch die Einführung neuer Leitungsstrukturen abgelöst wurde. Während der Umbruch von der Ordinarienuniversität zur Gremienuniversität stark von einer von außen kommenden ideologisch-zeitgeistlichen Einwirkung geprägt war und im wissenschaftlichen Sinn keinen erfolgreichen Reformprozess darstellt, greifen die Vielzahl der Reformschritte der von Alt so bezeichneten Neoliberalen Universität tief in die Frage der Wissenschaftsadäquanz ein. Im Mittelpunkt steht die vielfach umstrittene Frage, wie die Antinomie von Wissenschaftsfreiheit und Steuerung im Sinne einer effizienten und innovativen Wissenschaft zu lösen ist. Alt breitet das gesamte Spielfeld des „New Public Managements“ aus, wobei er die wichtigen Instrumente der neuen Steuerung, u.a. Kennzahlen, Evaluation, Drittmittelbelohnung, Zielvereinbarungen usw. in durchaus dialektischer Form begutachtet, also Vorzüge und Risiken benennt. Die Drittmittelthematik verknüpft Alt mit der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses, der häufig auf befristeten Drittmittelstellen arbeitet. Insgesamt räumt Alt in seinem Buch der schwierigen Situation des wissenJürgen
Heß
Gefesselt vom Kosmos der Universität. Ein fiktiver Dialog mit Peter-André Alt über sein Buch
Exzellent!? Zur Lage der deutschen Universität
1 C.H.Beck, München 2021, 297 Seiten.
Ordnung der Wissenschaft 2022, ISSN 2197–9197
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schaftlichen Nachwuchses im Spannungsfeld zwischen
Wissenschaftsinnovation und der mit befristeten Stellen
verbundenen Existenzsorgen einen breiten Raum ein
und votiert für eine Reduktion der befristeten zugunsten
von unbefristeten Stellen. Im Ergebnis sieht Alt die wettbewerbliche
Ausgestaltung der Neoliberalen Universität
als wichtig und überwiegend richtig an, weist aber auch
in seiner durchgängig abwägenden Form auf die Nachteile
und Risiken der neuen Steuerungsinstrumente hin.
In diese Übersicht ist die von Alt als zentral erachtete
Frage aufzunehmen, was von der Humboldtschen Universitätsidee
noch übrig ist bzw. welche Elemente dieser
Idee heute erneut fruchtbar gemacht werden können. Im
dritten Teil unterbreitet Alt dazu Gestaltungsvorschläge,
wobei er unterschiedliche Perspektiven wie etwa den
Blick auf die Fachhochschulen und einen Vergleich mit
den US-amerikanischen und englischen Eliteuniversitäten
darstellt. Unter dem Begriff „Multiversität“ spricht
Alt ein starkes Plädoyer für das Format der Vielfalt durch
die Kraft unterschiedlicher Denkhaltungen aus, etwa
durch Erreichen einer Balance unterschiedlicher Interessen
und das Produktivmachen von Gegensätzen.
Um nicht – bei herkömmlichen Rezensionen fast unvermeidlich
– an der Oberfläche zu bleiben wählt der
Rezensent den Weg eines fiktiven Dialogs. Dieser soll
über Zustimmung und Kritik hinaus zusätzlich Perspektiven
zur Diskussion stellen und in einigen Fällen Lücken
schließen.
Wenn ich, sehr geehrter Herr Alt – quasi in klassischplatonischer
Tradition – die Form eines fiktiven Dialogs
wähle, so möge darin zum Ausdruck kommen, dass Ihr
Buch, vermutlich von Ihnen so gewollt, praktisch an jeder
Stelle zum gedanklichen Disput auffordert.
Ich folge gerne dem Pfad Ihrer Darstellung, möchte
aber auf einige wesentliche Gesichtspunkte hinweisen,
die ich in Ihrem Buch nicht oder nicht hinreichend deutlich
gefunden habe. Vielleicht lässt sich durch diesen Dialog
ja auch ein gewisser Mehrwert generieren.
Zu einem Dialog gehört, dass sich der nicht bekannte
Dialogpartner vorstellt. Dies geschieht hier ausschließlich
zu dem Zweck, dass die wechselseitigen Beobachtungsperspektiven
vergleichbar gemacht werden.
Meine Aussichtsplattform (etwas tiefer als Ihre) ist die
eines Zeitzeugen der Hochschulentwicklung in unterschiedlichen
Funktionen. Mein persönlicher Beobachtungszeitraum
umfasst ähnlich wie Ihrer ein halbes Jahrhundert.
In der ersten Phase meines 1964 beginnenden
Jurastudiums war ich studentisches Mitglied im akademischen
Senat der Universität Tübingen und habe die
damalige dramatische Veränderung der universitären
Welt hautnah erlebt. Das galt auch für die sich daran anschließende
Zeit als Assistent. Über Stationen im Bankund
Justizbereich war ich seit 1981 praktisch durchgängig
im Hochschulbereich tätig u.a. Kanzler einer kleinen
Neugründung und danach einer großen und alten Universität
und zuletzt in einer kürzeren Phase als Generalsekretär
der Hochschulrektorenkonferenz. Nach der Beendigung
meiner hauptamtlichen Funktionen widmete
ich mich der Etablierung des Wissenschaftsmanagements
als akademisches Fach an unterschiedlichen
Orten.
Wie Sie sehen haben wir viele parallele – wenn auch
etwas zeitverschobene – universitäre Erfahrungen, wobei
ich mich mit meinen Diskussionspunkten auf den
Zeitraum bis ins erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts beziehe.
Die von mir hier zur Diskussion gestellten Themenfelder
folgen weitgehend, aber nicht immer, der
Gliederung Ihres Buches.
(1.) Meine erste Überlegung wird Sie nicht überraschen.
Der Titel „Exzellent !?“ ist offenkundig eine ironische
Zuspitzung. Der Begriff verbunden mit den Satzzeichen
ist natürlich genial gewählt, um gebührende Aufmerksamkeit
zu erzeugen, zumal der Begriff der Exzellenzinitiative
ja zumindest im universitären Bereich in
aller Munde ist. Da Ihr Buch aber alle deutschen Universitäten
in den Blick nimmt, die ja bekanntlich sehr verschieden
sind, galt die frühere – teilweise gesetzlich verankerte
– Fiktion, dass alle gleich gut sind, noch nie. Auf
einer Skala unterschiedlicher Qualitäten kann die äußerste
Steigerung „exzellent“, wenn überhaupt, nur für
einige wenige in Betracht kommen. Daher kann man als
Feststellung den Begriff exzellent auf alle deutschen Universitäten
bezogen schon aus logischen Gründen so
nicht stehen lassen. Das gilt sicher noch mehr für die
Ausrufezeichen-/Frageform. Ich erwähne das auch deshalb,
weil der Versuch der Bundesregierung durch die
Exzellenzinitiative einige Universitäten an die Spitzenuniversitäten
in USA und England näher heranzuführen,
bei vielen Professorinnen und Professoren höchst
unterschiedlich, vielfach sehr kritisch beurteilt wird.
Losgelöst von dieser Einschränkung ist die Überschrift
sicher geeignet, neugierige Leser anzuziehen. Eine gewisse
ironische Provokation darf sein.
(2.)Sie entwickeln den Ausgangspunkt des Reformgeschehens
völlig zu Recht mit einer ausführlichen Würdigung
der überaus wichtigen Studien von Schelsky
(1963) , Picht (1964) und Dahrendorf (1965), die mit unterschiedlicher
Akzentsetzung gravierende Mängel im
Bildungsbereich allgemein und im universitären Bereich
im Besonderen identifiziert haben. Freilich sind aus meiHeß
· Gefesselt vom Kosmos der Universität 2 2 7
ner Sicht mit deren Argumenten die schwerwiegenden
Defizite (ich vermeide das Picht’sche Wort Katastrophe)
der Ordinarienuniversität nur unzureichend beschrieben.
Ich muss an dieser Stelle meine eigene Verklärung
getragen von der Bewunderung hervorragender professoraler
Lehrer, von deren Wissen ich heute noch zehre,
ausblenden, weil diese Verklärung den Blick dafür verstellt,
dass die Stellung und mehr noch die Mentalität der
Professoren (Professorinnen habe ich selbst damals nicht
erlebt) in nicht unerheblicher Weise dazu beigetragen
haben, dass die gut begründeten Reformvorschläge von
der Politik und den Universtäten nicht hinreichend ernst
genommen und auf gewisse Weise von dem Chaos der
68er-Bewegung überrollt wurden.
Die Ordinarienuniversität war in zweifacher Hinsicht
irgendwie aus der damaligen Zeit gefallen oder besser
gesagt, nicht in die Nachkriegsgegenwart, bei der es
auch um den Aufbau eines neuen Gesellschaftsbildes
ging, hineingewachsen.
Sie hatte auf gewisse Weise eine aristokratische Prägung.
Die Ordinarien verstanden sich als Herrscher ihrer
Korporation Universität, verteidigten mit großem
Einsatz ihre Erbhöfe, akzeptierten keine übergeordnete
Instanz und hatten zumindest im geistes- und sozialwissenschaftlichen
Bereich nur geringe Neigung zu wissenschaftlicher
Kooperation mit Kollegen, um etwa gemeinsame
Projekte auf den Weg zu bringen. Insbesondere interpretierten
sie das Grundrecht auf wissenschaftliche
Freiheit sehr individuell und höchst unterschiedlich entsprechend
ihrem ganz persönlichen Lebensplan. Die von
mir erwähnten hochgeschätzten Professoren engagierten
sich in der Lehre, andere setzten allein auf die eine
hohe Reputation gewährleistende Forschung und weniger
auf die Lehre. Stellvertretend dafür erwähne ich einen
Professor, dessen überragende Gelehrtheit ich erst
später erkannte, der aber bei seinen Vorlesungen innerhalb
von drei Vorlesungsterminen das zunächst randvolle
Audimax bis auf drei verbleibende Studierende leerte
und mit dem kleinen Kreis dann statt Vorlesung zu halten
ins nahe gelegene Café ging. Warum erwähne ich
das? Es gab keine Instanz oder Aufsicht, die bereit war
Fälle von offenkundig fehlerhafter Amtsausübung zu rügen
bzw. Mängel zu beheben. Bei einem feudalistischen
Chorgeist ist eine Intervention von höherer Stelle
schlicht nicht vorgesehen. Es hat den Kreis der Gelehrten
im meinem Fach offenbar auch nicht gestört, dass
der Großteil der Jura-Studierenden mit einem recht hohen
finanziellen Aufwand sich beim Repetitor das Wissen
holte, das die Fakultät hätte vermitteln sollen. Zudem
lag der Anteil der Studienanfänger, der nach Ablegung
der beiden Staatsexamina für juristische Berufe
qualifiziert war, bei ca. 20% – 25%. In anderen geisteswissenschaftlichen
Fächern war die Abbrecherquote noch
höher. Kein Unternehmen der Welt wäre lebensfähig,
wenn nur ein Viertel des Produktionsprozesses letztlich
marktfähig ist. Diese bizarre Situation hat aber offenbar
niemanden gestört, weder die Universität noch die Politik.
Die Universitäten waren ähnlich wie (bis in die
jüngste Vergangenheit) die Kirchen praktisch
unantastbar.
Ein zweiter Punkt gehört zu einer rückblickenden
Bewertung der Ordinarienuniversität dazu. Sie hat offenbar
in einer in der Vorkriegszeit petrifizierten Form
den politischen Untergang und den – zumindest äußeren
– gesellschaftlichen Wandel gewissermaßen untertunnelt
und zunächst ohne Selbstreflexion keinen grundlegenden
Änderungsbedarf gesehen. Was die Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit angeht, so muss man
fächerübergreifend sicher zu differenzierenden Beurteilungen
kommen. Viele hochengagierte Gelehrte haben
sich in vorbildlicher Weise um den Aufbau der demokratischen
Gesellschaft verdient gemacht. Freilich ist bedrückend,
dass – nicht nur aber vor allem in der Jurisprudenz
– zahlreiche hochangesehene Professoren im Zuge
des politischen Zusammenbruchs schlichtweg einen Gedächtnisinfarkt
erlitten und sich nicht mehr an ihr völlig
anderes Wissenschaftsverständnis in ihren Publikationen
vor 1945 erinnern konnten. Der Geist der früheren
Zeit wehte in subtiler Form bis weit in die 60-er Jahre hinein.
Das ist natürlich auch den Studierenden nicht ganz
verborgen geblieben. Als Beispiel nenne ich hier nur die
Äußerung eines Professors, der in den Hörsaal schauend
eine zahlenmäßige Minderheit von jungen Frauen sah
und meinte, er bedaure, dass nun Frauen den Männern
ihre zukünftigen Arbeitsplätze nehmen. Schwerer als ein
solches Beispiel wiegt die Tatsache, dass der Dom der
Weisheit diesen unerfreulichen Teil seiner Geschichte
nie aufgearbeitet, sondern in den Bereich des kollektiven
Vergessens verdrängt hat. Dies war sicher nicht die einzige
aber doch eine nicht ganz unerhebliche Ursache dafür,
dass sich die 68-er-Tsunamiwelle aufbauen konnte.
(3.)Den Untergang der Ordinarienuniversität im Exzess
des 68er-Sturms und den Weg in die Verelendung in
Gestalt der Gremienuniversität kann man nicht besser
beschreiben als Sie das getan haben. Wenn man hier das
Wort Reform verwendet, so allenfalls im Sinne der Kernidee
der Nibelungen-Sage, wonach man erst eine alte
Welt zerstören muss, um später eine neue aufzubauen.
Das ist für diejenigen, zu denen ich gehörte, kein Trost,
die erleben mussten, dass viele Lehrveranstaltungen mit
massiver Gewalt auch körperlicher Art gesprengt wurden.
Die ehemals stolze akademische Elite setzte der
Randale, die gesellschaftspolitisch motiviert und auch
von außen befeuert war, wenig Widerstand entgegen.
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Das hätte sie ohne polizeiliche Hilfe (die meist von der
Universitätsleitung abgelehnt wurde) wohl auch nicht
können. Der Dom der Weisheit wurde zu einem würdelosen
Tollhaus und Ihre Kritik, sehr geehrter Herr Alt, an
den Protagonisten dieser ‚Bewegung‘, die offenbar von
einigen Rezensenten als völlig überzogen angesehen
wird, geht völlig in Ordnung. Freilich schließt Ihre berechtigte
und deutliche Kritik nicht aus, dass man Ursachen
identifizieren muss, die es brauchte, um eine solche
Eruption zu bewirken. Von dem aristokratischen Gestus
vieler Gelehrter war schon die Rede, auch von einer
nicht aufgearbeiteten Vergangenheit. Als zusätzliche Ursache
möchte ich die These anbieten, dass ein großer Teil
der Professorenschaft nicht über seine Verantwortung
und nicht über seinen Standort in der Gesellschaft und
über seine Beziehung zur Außenwelt reflektiert hat. Er
hat verkannt, dass das wissenschaftliche Arbeiten zwar
immer frei von politischen Einflüssen sein muss, dass
aber die Universität als Institution Teil der Gesellschaft
und damit auch Teil eines gesamtpolitischen Raumes ist.
Das abgegrenzte Eigenleben (Elfenbeinturm!) ist der
Universität in den ‚68-Jahren‘ auf die Füße gefallen, ähnlich
wie das heute in gewisser Weise auch der Kirche geschieht
(viele Universitäten haben danach aus dieser Erfahrung
gelernt und zahlreiche Brücken vom Campus in
die Gesellschaft geschlagen).
Von der Lähmung durch den 68er-Schock in die häufig
fruchtlosen Debattenorgien der Gremienuniversität
war es kein weiter Weg. Auch hier tut man sich schwer
von einer Reform zu sprechen. Ganz sicher war es für
das wissenschaftliche Wirken keine erfolgreiche Reform.
Man kann der Gremienuniversität allenfalls insofern etwas
Positives abgewinnen, als in einem zähen und stufenweisen
Prozess (mit gerichtlicher Hilfe) am Ende eine
gewisse Balance der Statusgruppen erreicht wurde.
(4.) Mit dem weiteren Verlauf Ihrer Darstellung der
Reformgeschichte habe ich gewisse Probleme, nicht was
Ihre im Kern positive Bewertung der Entwicklung angeht,
sondern in Bezug auf Zusammenhänge, die zu einem
neuen Universitätstypus geführt haben. Sie beschreiben
ihn mit dem Begriff ‚Neoliberale Universität‘.
Ich finde die Veränderung der Beziehung der staatlichen
Seite zur Universität nicht ausreichend beleuchtet (dazu
unten Ziff. 5), auch sehe ich den Begriff ‚Neoliberale
Universität‘ als problematisch an (dazu unten Ziff. 6)
und vermisse einzelne Bausteine der neuen Universitätswelt,
die ich für wichtig halte (dazu unten Ziff. 7), auch
solche, die nach einem kurzfristigen Dasein gescheitert
sind (dazu unten Ziff. 12).
(5.) Ihre im Übrigen glänzende Beschreibung der
großen Herausforderungen, die mit der Umgestaltung
bzw. Neugründung von Universitäten in der ehemaligen
DDR nach der Wende verbunden waren, erweckt den
Eindruck, dass es bei dem Reformgeschehen der Universitäten
im Westen bis in die 90-er Jahre hinein einen
Stillstand gab und die Konfrontation mit dem Neuerungsbedarf
im Osten die entscheidende Schubkraft für
eine Reform der Universitäten im Westen auslöste. Das
kann ich zumindest aus südwestdeutscher Sicht nicht so
stehen lassen. Freilich muss ich dazu mit Blick auf das
Steuerungssystem der Universität eine Ebene einziehen,
die ich offen gestanden als Ausgangspunkt des danach
folgenden Reformenbündels in Ihrer Darstellung nicht
behandelt sehe, nämlich die schrittweise und am Ende
weitreichende Reduktion des staatlichen Einwirkungspotentials.
Für mich stehen alle neuen Steuerungsinstrumente
und Leitungsstrukturen unter der großen Überschrift:
Der Rückzug des Staates aus der Steuerung der
Universität. Zumindest im Lande Baden-Württemberg,
das damals in dieser Frage eine Vorreiterrolle einnahm,
gab es seit Beginn der 80-er Jahre ein zähes Ringen um
eine Verlagerung der Steuerungskompetenz von der
staatlichen Ebene auf die Ebene der Universität. Das haben
natürlich die Administratoren und vor allem die
Kanzlerinnen und Kanzler viel stärker gespürt als die
Wissenschaft. Um das zu erläutern muss ich historisch
etwas ausholen. Die deutsche Universität hat seit den berühmten
Reformen am Anfang des 19. Jahrhunderts einen
Sonderweg in der universitären Verfasstheit beschritten,
nämlich das Konstrukt der sogenannten janusköpfigen
Universität. Verkürzt bedeutet dieser Begriff,
dass die Universität die Hoheit über die wissenschaftlichen
Angelegenheiten und der Staat die Aufsicht in allen
administrativen Fragen hat. Zur Zeit der Einrichtung
dieser Struktur war das ein Befreiungsschlag für die Wissenschaft,
in meiner Amtszeit als Universitätskanzler
habe ich die Kehrseite des Modells erfahren. Die Idee,
dass Wissenschaft von Administration, also insbesondere
von finanziellen Ressourcen, getrennt werden kann,
ist unhaltbar. Fast alle wissenschaftlichen Entscheidungen
(besonders im Berufungsbereich) hängen in hohem
Maße von der Verfügbarkeit von Ressourcen ab. Die
Aufstellung des Haushaltsplans, der zweckgebundene
Geldtöpfchen und funktionsbestimmte Planstellen auswies,
war der mächtige Hebel des Staates. Kleinteilige
bürokratische Regeln engten die beschränkten Spielräume
noch weiter ein. Andere Felder staatlicher Einwirkung
(z.B. Eingriffe in das Berufungsverfahren durch
Veränderung der Berufungsliste) lasse ich hier weg, da
eine entsprechende Vertiefung hier nicht geleistet werde
kann.
Heß · Gefesselt vom Kosmos der Universität 2 2 9
In anfangs zähen, später zunehmend kooperativen
Gesprächen mit der ministeriellen Seite haben die Universitäten
Schritt für Schritt ihre Haushalte flexibilisieren
können, sich zunehmend einem Globalhaushalt nähernd.
Jeder einzelne Schritt war eine Kompetenzverlagerung
und damit ein Reformschritt im Sinne einer größeren
Handlungsfreiheit der Universität. Ab einem
bestimmten Zeitpunkt wurde die vom Staat eingeräumte
„Beinfreiheit“ mit Zielvereinbarungen verbunden, die
dann nochmal unter der Gruppe der neuen Steuerungsinstrumente
zu diskutieren sind.
Es kann also festgehalten werden, dass ab den 80-er
Jahren ein (nicht nur) aber hauptsächlich finanzbezogenes
substantielles Reformgeschehen (länderunterschiedlich)
stattfand, welches die Grundlage und die Voraussetzung
für die spätere Einführung von Formen des
‚New Public Managements‘ bildete. Ich sehe in dem
Rückzug des Staates den alles andere überragenden
Strukturwandel der sogenannten permanenten Reform
mit ihren zahlreichen ausdifferenzierten
Reformmodulen.
(6.) Sie befassen sich unter der Überschrift „Neoliberale
Universität“ mit den vielschichtigen Veränderungen
der gesamten universitätsbezogenen Steuerungsphilosophie,
die ganz unterschiedliche Elemente sowohl im
Hinblick auf Ressourcenzuteilung als auch bezogen auf
die Veränderung der Leitungsstrukturen umfasst. Nun
mag es sein, dass dieser Begriff nach meiner aktiven Zeit
sich als Typusbezeichnung verfestigt und etabliert hat
(vergleichbar mit dem Begriff Humboldt’sche Universitätsidee).
Aus leidvoller Erfahrung halte ich diesen Begriff
für ungeeignet, in gewisser Weise auch für schädlich.
Zum einen hat der Begriff eine gewisse politische
Konnotation, die der wissenschaftlichen Organisation
fremd ist. Den zweiten Grund will ich an folgendem persönlichen
Beispiel verdeutlichen. Ich habe in einem frühen
Stadium der neuen Steuerungselemente einen Aufsatz
verfasst, der ganz in Ihrem Sinne den Wandel in eine
neue Steuerungsidee begrüßt und verteidigt, ohne die
Risiken zu übersehen. Der Aufsatz hat, soweit ich diesen
meinem Umfeld vorab geschickt habe, überwiegend Empörung
ausgelöst und eine Fachzeitschrift hat ihn abgelehnt
(er wurde dann ‚nur‘ im Zusammenhang mit einem
Symposium gedruckt). Nicht die Ablehnung
schmerzte mich, sondern vielmehr die Tatsache, dass ich
(auch bei weiteren Vorträgen) ein ‚Branding‘ als Ökonomisierer
dauerhaft ertragen musste. Dabei sprach ich nie
von einem ökonomischen Markt, dem sich die Wissenschaft
stellen müsse, allerdings durchaus von Wettbewerb
mit marktsimulierenden Elementen. Es ist mir im
Umkreis der gelehrten Häupter nicht gelungen zu vermitteln,
dass Finanzen zwar immer eine Rolle spielen,
die Steuerung selbst aber keine Marktwirtschaft im klassischen
Sinn darstellt. Der in den angelsächsischen Ländern
schon lange akzeptierte Wettbewerb sollte natürlich
aus meiner Sicht nicht fiskalisch, sondern natürlich
wissenschaftlich ausgerichtet sein. Der Begriff ‚Neoliberale
Universität‘ drückt die Universität in eine quasi ökonomistische
Ecke (siehe zahlreiche Kommentierung im
Internet), wo sie nicht hingehört. Ich habe daher stets
von der wettbewerblichen Universität gesprochen, wobei
es einen inneren und einen äußeren Wettbewerb gibt.
(7.) Ihre überzeugende und hochkomprimierte Gesamtdarstellung
des neoliberalen Ansatzes verdient insgesamt
uneingeschränkte Anerkennung, egal wie man
zu den einzelnen Steuerungselementen steht. Sie haben
recht, dass jedes einzelne Modul dieser Steuerungswelt,
die Ihren Ausgangspunkt ja in der Entwicklung des New
Public Managements hatte, neben dem Gewinn von
Leistungstransparenz auch unvermeidliche Nachteile
hat. Bei Veröffentlichungszahlen hat man das Problem
der Zitierkartelle, bei Studienabschluss-Erfolgszahlen
besteht die Gefahr der Qualitätssenkung im Interesse einer
hohen Absolventenzahl, bei internen Evaluationen
kann das Kollegialitätsprinzip und bei externen Evaluationen
können Konkurrenzeffekte eine Rolle spielen.
Auch bei Zielvereinbarungen können Strategien Platz
greifen, die weniger der wissenschaftlichen Qualität als
dem Grad der Zielnäherung geschuldet sind. Sie weisen
in Ihrer dialektischen Methode natürlich zu Recht auf
diese Risiken hin. Aber ernsthaft, solche Risiken dürfen
doch nicht den Blick dafür verstellen, dass das frühere
Gießkannenprinzip und die Erbhofmentalität nun wirklich
keine wissenschaftliche Ratio hatten. Gewiss, einen
qualitätsbasierten Wettbewerb gab es auch in der ’alten‘
Universität durch die Fördermaßnahmen der DFG. Aber
die Neigung sich einem aufwändigen Antragsverfahren
zu unterwerfen, war innerhalb der Fächer sehr unterschiedlich.
Wer gesicherte Besitzstände hatte, konnte
sich dem Schaulaufen entziehen. Wenn ich irgendetwas
bei Ihrer antinomistisch angelegten Aufblätterung der
Steuerungsinstrumente vermisse, dann allenfalls die
Überlegung, wie man in einem iterativen Prozess die
aufgezeigten Risiken minimieren kann. Jedenfalls muss
in diesem Punkt noch viel Denkarbeit investiert
werden.
(8.)In Ihrer trotz inhaltlicher Verdichtung sehr anschaulichen
Skizze der Bewertung und Belohnung wissenschaftlicher
Effizienz vermisse ich eine breitere Darstellung
und Kommentierung der Reform der Besol2
3 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S s c h a f T 4 ( 2 0 2 2 ) , 2 2 5 — 2 3 4
dungsordnung für Professorinnen und Professoren; also
den Übergang von der C- in die W‑Besoldung. Obwohl
diese Reform bei weitem nicht eine so tiefgreifende Veränderung
gebracht hat wie etwa die Themenfelder Evaluation,
Akkreditierung und leistungsbezogene Mittelverteilung,
war die Empörung bei großen Teilen der betroffenen
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen
ganz außergewöhnlich. Ich habe die Aufregung nie ganz
verstanden. Das offizielle Widerstandsnarrativ war eine
vermutete Einsparaktion. Es war aber tatsächlich eher
die Sorge, dass der Rest des Kollegialitätsprinzips völlig
abschmilzt („wir sind doch alle gleich“). Im Grunde war
es schon lange unhaltbar, dass an den starren Besoldungsgruppen
festgehalten wurde, losgelöst davon, ob
eine Professorin oder ein Professor das Amt im Stile der
Selbstausbeutung bis ans Limit wahrnahm oder sich
eher der Einsicht verschrieb, dass das Leben neben der
Wissenschaft noch andere reizvolle Seiten (ggf. auch Nebentätigkeiten)
zu bieten hat. Wenigstens ein Stück weit
musste die Besoldung auch besondere Leistungen oder
auch die Wahrnehmung von Leitungsfunktionen in der
Selbstverwaltung belohnen. Und das System, dass Bezüge
nur durch auswärtige Berufungen und sich daran anschließende
Bleibeverhandlungen verbessert werden
können, trägt der Tatsache nicht Rechnung, dass Professorinnen
und Professoren an ihren Universitäten herausragende
Leistungen zeigen und darüber hinaus sich
in Selbstverwaltungsaufgaben engagieren und auch keine
Neigung haben, die Universität zu verlassen. Diese
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten in
der alten C‑Besoldungsordnung nicht mit höheren Bezügen
belohnt werden. Last but not least war ein deutlich
breiterer Besoldungsrahmen auch notwendig, um Spitzenkräfte
aus dem Ausland zu gewinnen bzw. zurück zu
holen. Auch hier kann man die wettbewerbliche Note
der neuen Universität erkennen.
(9.) Vor dem hier von mir nachfolgend angesprochenen,
in engem Zusammenhang mit der neuen Steuerungsphilosophie
stehenden Thema, möchte ich
betonen, dass Ihre sensible Herausarbeitung der „Führungsparadoxien“
brillant ist und Pflichtlektüre für alle
ins Amt kommenden Führungspersönlichkeiten sein
sollte. Ihr Fokus ist auf die universitären Führungsämter
gerichtet. Nun hat meine Behauptung im gesamten Reformgeschehen
sei kein Stein auf dem anderen geblieben,
eine zusätzliche Bestätigung durch die Schaffung eines
Hochschul- oder Universitätsrats gefunden, der offenkundig
dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft
nachempfunden ist. Er wird von Ihnen in unterschiedlichen
Kontexten erwähnt. Wichtig wäre aber jetzt nach
ca. 2 Jahrzehnten eine Bilanz zu ziehen, ob diese zusätzliche
Führungsebene den erwünschten strategischen
und innovativen Erfolg gebracht hat. Welche Erfahrungen
haben Sie gemacht und welche sind Ihnen berichtet
worden? Der Grundgedanke einer Kompensation des
von mir angesprochenen Rückzugs des Staates liegt
nahe. Der Hochschulrat, der in den meisten Fällen hälftig
aus externen Persönlichkeiten (Führungspersonal
aus der Wirtschaft, der Gesellschaft und der staatlichen
Seite) besetzt ist (in wenigen Fällen nur außeruniversitäre
Mitglieder), sollte zum einen Expertise aus der ’Außenwelt‘
einbringen, welche die möglicherweise verengte
akademische Perspektive ergänzt oder gar aufbricht
(umgangssprachlich würde man vielleicht von der Überwindung
universitärer Betriebsblindheit sprechen). Zum
anderen sollte dieses Gremium die staatliche Aufsicht zu
einem wesentlichen Teil ersetzen. Sind diese vernünftigen
Zwecke erreicht worden oder ist im Gegenteil zusätzliches
Konfliktpotential mit Reibungsverlusten entstanden?
Ich hatte immer Mühe, mir die Zweckmäßigkeit
dieses Konstrukts vorzustellen. Nach meiner beruflichen
Erfahrung ist man mit der Führungsfunktion in
der eigenen Institution so stark ausgelastet, dass für die
Einarbeitung in das innere Geschehen einer Universität
die nötige Zeit fehlt. Dies gilt ganz besonders, wenn man
Erfahrungen aus der Spitze eines Unternehmens in die
so völlig andere Wirkungswelt der Universität einbringen
will. Und schließlich müsste auch noch die Frage beleuchtet
werden, ob der Staat sich wirklich auch vollständig
zurückgezogen hat oder ob er sich in wichtigen Fragen
noch Eingriffe vorbehält.
Hier mache ich eine Zäsur um die Geduld der Leser
dieses fiktiven Dialogs nicht zu überstrapazieren. Da die
Liste weiterer lohnender Diskussionspunkte noch groß
ist, bleibt mir nichts anderes übrig als die wichtigsten davon
herauszugreifen und sie im Staccato-Format
anzusprechen.
(10.) Sie plädieren dafür, einen gewissen Anteil der
befristeten Nachwuchsstellen zu entfristen. Das ist unter
dem Gesichtspunkt der Fürsorge und der Existenzsicherung
sehr verständlich. Dann muss allerdings ein Mechanismus
gefunden werden, der die latente Gefahr eines
Innovationsverlustes für die Hochschulen minimiert.
Ich habe durchgängig die Erfahrung gemacht,
dass Dauerstellen, die keine fakultätsbezogenen Funktionsstellen,
sondern einer Professur zugeordnet waren,
bei einer Neubesetzung der Professur häufig größte
Schwierigkeiten verursacht haben, weil die oder der
‚Neue‘ geltend machten, eine ganz andere Richtung einzuschlagen
und deshalb eine weitere freie zugeordnete
Heß · Gefesselt vom Kosmos der Universität 2 3 1
Stelle beanspruchte. Das zumeist herbe Schicksal der auf
diese Weise abgehängten Nachwuchspersönlichkeiten ist
Ihnen bekannt. Hier muss dann eine von den zuständigen
Gremien der Universität verantwortete Nachwuchsplanung
Platz greifen, die akademische Abschiebebahnhöfe
vermeidet.
(11.) Zustimmungswürdig finde ich Ihre Ausführungen
zur Mission der Fachhochschulen. Freilich hätte ich
den Blick auf die Fachhochschulen in Ihrem Buch viel
früher erwartet, nämlich im ersten Teil, wo es grob gesagt
um die von Ihnen beschriebene Verelendung der
Universität ging, die nicht nur, aber zu einem erheblichen
Teil, an dem riesigen Zuwachs an Studierenden lag,
die bei einem miserablen Betreuungsverhältnis nicht annähernd
richtig geführt werden konnten. Ich hatte in
den 80-er Jahren den Slogan auf der Zunge, wer die Universitäten
liebt, baut die Fachhochschulen aus.
Die damals unsägliche Antinomie im Verständnis
der Aufgaben der Universitäten und der Fachhochschulen
hat die Umsetzung dieses Gedankens nicht ganz,
aber zu einem großen Teil verhindert. Ich erinnere mich
an ein Symposium Anfang der 80-er Jahre mit dem Titel
„Große Universitäten – kleine Universitäten“. Bei diesem
waren die meisten Rektoren bzw. Präsidenten der großen
deutschen Universitäten anwesend und – ich traute
meinen Ohren nicht – verkündeten frohen Mutes, ihre
Größe sei kein Problem, sie könnten durchaus noch größer
werden. Damals gab es an den Universitäten Studierende
in der Größenordnung von ca. 1 Million (heute
sind es wohl bereits rund 1,7 Millionen). Aber damals
wie heute war klar, dass die Mehrzahl der Studierenden
keinen Beruf mit höchster wissenschaftlich-theoretischer
Ausrichtung haben wollte, sondern einen Beruf,
bei dem ein bestimmtes Maß an wissenschaftlicher Ausbildung
für die Ausübung eines anwendungsbezogenen
anspruchsvollen Berufs im Vordergrund steht. Im Grunde
genommen hätten im tertiären Sektor die Fachhochschulen
den größeren Teil der Studierenden ausbilden
müssen. Natürlich war damals die Kapazität der Fachhochschulen
nicht annähernd dafür ausgelegt. Fazit:
Nicht nur die Politik, sondern auch die Universitäten
tragen Schuld an vielen schief gelaufenen Studien – und
Lebensbiografien.
(12.) Verfolgt man den Begriff ‚Permanente Reform‘
über die gesamte Wegstrecke der universitären Nachkriegsgeschichte,
sollte auch ein ganz wesentlicher, letztlich
aber gescheiterter Reformversuch Erwähnung finden,
nämlich die Erhebung von Studiengebühren. Sie
wurden in einigen Bundesländern für eine bestimmte
Zeit eingeführt, inzwischen aber wieder abgeschafft.
Auch auf der Diskussionsagenda sind sie verschwunden.
Sie streifen das Thema nur kurz und lassen erkennen,
dass Sie Studiengebühren ablehnen. Das ist der einzige
Punkt, wo ich völlig anderer Meinung bin. Die Gebührenfreiheit
ist weltweit gesehen ein deutscher Sonderweg,
von einer ehemaligen Bundeswissenschaftsministerin
als große deutsche soziale Errungenschaft bezeichnet.
Nun hätte die Bevölkerung in einer Zeit, in der unzählige
Milliarden für diverse Krisen zusätzlich
ausgegeben werde, wenig Verständnis, wenn man jetzt
auch noch über Studiengebühren sprechen würde. Aus
meiner Sicht hat Deutschland und haben die deutschen
Universitäten zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts eine
große Chance vertan, die universitäre Finanzierung zumindest
in einem verhältnismäßig kleinen Teil zu stabilisieren.
Man muss kein Wahrsager sein um zu vermuten,
dass der Staat in einer mittleren Zukunft um Einsparungen
nicht herumkommt, wenn der große Schuldenberg
nicht völlig auf die nachfolgenden Generationen
umgewälzt werden soll.
Hier nur stichwortartig einige Gründe für
Studiengebühren:
- Studiengebühren sind sozial, weil diejenigen, die
später von einem höherwertigen Arbeitsplatz profitieren
auch einen höheren Beitrag für das System leisten sollen
als andere Steuerzahler, die keine Hochschule besucht
haben. - Die Hochschulqualifikation ist ein großartiger
Wert, der sich nicht nur finanziell ausdrückt, sondern
auch im immateriellen Sinn eine phantastische Lebensbereicherung
darstellt. - Studiengebühren erhöhen die Motivation der Studierenden
und führen im Übrigen zu einer rascheren
Überprüfung, ob man das richtige Fach gewählt hat.
Studiengebühren müssen allerdings mit allen möglichen
Formen sozialverträglicher Gestaltung verbunden
werden. Ein wichtiger Weg dazu wäre die in anderen
Ländern erfolgreich erprobten nachlaufenden
Studiengebühren.
(13.) Etwas ratlos bin ich darüber, dass der Bologna-
Prozess zwar in einigen Verbindungen mit anderen Themen
kurz angesprochen wird, aber eine breitere Auseinandersetzung
mit dieser Reform im Hinblick auf die Ziele
und Kernpunkte und auf die völlig neue inhaltlichstrukturelle
Prägung in Ihrem Buch fehlt. Die bereits in
der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts vor allem
unter Governance-Gesichtspunkten umfassend umgebaute
Universität erfährt zu Beginn des jetzigen Jahr2
3 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S s c h a f T 4 ( 2 0 2 2 ) , 2 2 5 — 2 3 4
hunderts durch den sogenannten Bologna-Prozess eine
tiefgreifende Strukturreform, die mit fast allen Traditionen
der bisherigen Studienorganisation bricht und ein
völlig anderes Erscheinungsbild der universitären Lehre
mit sich bringt. Es wäre überaus wünschenswert, wenn
der Bologna-Reform im ganzen Formenkreis der „permanenten
Reform“ eine herausgehobene Beurteilung
zuteil würde. Diese Reform hat weit mehr als alle anderen
Reformen neben den universitätsinternen Umgestaltungsherausforderungen
auch eine über den Campus hinaus
wirkende Außenwahrnehmung. Dieser Blick von
außen fällt häufig sehr kritisch aus, meist ohne detaillierte
Kenntnis der wesentlichen Ziele dieser Reform. Die
vorherrschende Vorstellung unterstellt der Bologna-
Struktur eine erhebliche Qualitätsminderung und einen
Verlust an Reputation deutscher Studienabschlüsse.
Schon aus diesem Grund ist es unverzichtbar eine breitere
Öffentlichkeit über Ziele und Merkmale dieser Reform
zu informieren.
Was den inneren Transformationsprozess angeht, so
muss man mit höchstem Respekt anerkennen, dass die
Universitäten mit äußerster Anstrengung aller Lehrenden
die Herkulesaufgabe der Neugestaltung der Studiengänge
gemeistert haben.
Wenn hier das Fehlen der Darstellung und die Bewertung
des Bologna-Prozesses als Desiderat dargestellt
wird, gibt es keinen Sinn, hier eine detaillierte Abwägung
der Vor- und Nachteile des neuen Lehrgebäudes
vorzunehmen. Aber eine kurze persönliche Positionierung
sei mir gestattet. Für mich war diese Reform überfällig.
Im Hinblick auf die große Zahl der Studierenden
und deren ganz unterschiedlichen Ausbildungs- und Berufsziele
bietet die Zweistufigkeit der Bologna-Struktur,
also die Untergliederung in Bachelor- und Masterstudiengänge,
eine dringend gebotene Anpassung an unterschiedliche
Qualifikationsziele. Die weitere Kernidee einer
europäischen Harmonisierung der Studiengänge, die
Auslandssemester ohne Zeitverlust möglich machen
soll, ist ein höchst wünschenswertes, allerdings in der
Praxis schwieriges Ziel. Dass durch die Verteilung von
Leistungspunkten (ECT) während des Studiums die
Angst vor der Abschlussprüfung verringert wird, ist
ebenso wichtig wie die Tatsache, dass die Absolventen
von Bachelor-Studiengängen in einem früheren Lebensalter
den beruflichen Einstieg finden können.
Nicht alles läuft perfekt; das ist bei einer solchen
fundamentalen Reform unvermeidlich. In der Umsetzung
sind Fehler gemacht worden, die man durch
Nachjustieren beheben muss. Die im Kern richtige Bologna-
Reform kämpft noch mit vielen Unebenheiten
und ist keineswegs ideal. An diesem Punkt sei mir eine
starke These gestattet: Hätte die deutsche Universität zu
einem viel früheren Zeitpunkt aus eigener Kraft und eigener
Zielsetzung eine Studienreform auf den Weg gebracht,
die der großen Zahl der Studierenden mit ihrem
unterschiedlichen Qualifizierungspotential gerecht wird,
dann hätte man in Deutschland keine Bologna-Reform
gebraucht. Man hätte eher die berechtigte Erwartung gehabt,
dass das europäische Ausland sich wie in früheren
Zeiten an der deutschen Universitätskultur orientiert
und sich ihrerseits an ein deutsches System anpasst.
Aber dazu hat der deutschen Universität die Kraft und
der innere Antrieb gefehlt. Dieses Versäumnis wird nunmehr
zu einem gewissen Grad durch die Bologna Reform
kompensiert.
(14.)Am Schluss will ich mich einer Ihrer ganz zentralen
Aussagen zuwenden, die ein Leitmotiv für die jetzige
und die zukünftige Universität sein können. Die
Humboldt‘sche Universitätsidee hat an vielen Stellen Ihres
Buches ihre Leuchtkraft gezeigt. Ein wunderbares
Kapitel trägt ja die Überschrift‚ was von Humboldt
bleibt‘. Die von Ihnen aufgezeigte Trias aus Konzentration,
Autonomie und Kooperation (als ein von Humboldt
geschaffenes kunstvolles Balancesystem) ist ein vorzügliches
Leitbild, das eigentlich in jedem Mission Statement
einer deutschen Universität Aufnahme finden sollte. Sie
zeigen auch Wege auf, wie diese humboldtschen Ideen in
der heutigen Praxis verwirklicht werden können, wobei
der Schutz der individuellen Innovation und der Freiheit
einen besonders hohen Rang hat, aber die Kooperation
als organisatorische Gesamtheit letztlich die Kraft ausstrahlt,
die es für wissenschaftlichen Fortschritt bedarf.
Ihre überzeugende Vision hat für mich nur ein Problem,
das ich aus Gründen der historischen Ehrlichkeit
bekunden möchte.
Sie lassen das ja auch selbst anklingen. Viele Leser könnten
nach meinen langjährigen Erfahrungen bei allzu
flüchtiger Lektüre Ihres Buches meinen, es hätte früher
eine Humboldt-Universität gegeben, die im Lauf der Zeit
verspielt wurde. Eine von den Humboldt´schen Prinzipien
gestaltete Universität gab es nie und sie konnte es
erst recht in Zeiten der Massenuniversität nicht geben.
Kurioserweise ist die maßgebliche Schrift von Humboldt
„Über die innere und äußere Organisation der höheren
wissenschaftlichen Anstalt in Berlin“ erst rund 100 Jahre
nach ihrer Abfassung im Jahr 1903 veröffentlicht worden.
Sie ist Sinnbild für einen nachgeschobenen Gründungsmythos,
bezogen auf die Universitätsreform zu Beginn
des 19. Jahrhunderts und da speziell auf die Friedrich-
Wilhelms-Universität zu Berlin. Dieser Mythos wurde
nach der Entdeckung der Schrift zu allen möglichen
Zwecken eingesetzt. Als Literaturwissenschaftler wissen
Sie, dass ein Mythos eine legitime Wirkmacht sein kann,
auch wenn der historische Hintergrund den Mythos fakHeß
· Gefesselt vom Kosmos der Universität 2 3 3
tisch nicht trägt. Bitter wird es in meinem Verständnis
nur, wenn Gelehrte bei praktisch jedem Reformgeschehen
den Vorwurf in den Mund nehmen, man mache die
Humboldt-Universität kaputt. Die Humboldt-Universität
gab es nie und kann es in ihrer idealisierten Vorstellung
nicht geben. Wenn man aber, wie Sie, den inneren
Sinngehalt der ‚Humboldt-Idee‘ schöpft und ihn in die
Welt der heutigen Universität überträgt, dann kann
etwas entstehen, was in Richtung „Exzellenz“ geht.
Ich danke Ihnen und den Leser für Ihre Geduld. Bleiben
Sie mir trotz gelegentlichen Widerspruchs
wohlgesonnen.
Dr. Jürgen Heß war von 1988 bis 1994 Kanzler der Universität
Konstanz, von 1994 bis 2000 Kanzler der Universität
Freiburg und von 2000 bis 2003 Generalsekretär
der Hochschulrektorenkonferenz.
2 3 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S s c h a f T 4 ( 2 0 2 2 ) , 2 2 5 — 2 3 4