Die Anzahl von computer- und datengestützten Werkzeugen nimmt im Bereich der Onkologie rasant zu. Entsprechende Verfahren finden in nahezu allen Anwendungsgebieten Einzug, von Diagnosesystemen, Tumor-Modellierungen bis hin zur Prognose von Krankheitsverläufen. Die schiere kombinatorische Komplexität dieser Krankheit, die aus mehr potenziellen Kombinationen von kanzerösen Mutationen als Atomen im Universum resultiert, führt jedoch zu der Notwendigkeit einer für den Patienten individuell optimierten Krebsbehandlung. Die Verwendung von künstlicher Intelligenz zur Optimierung therapeutischer Interventionen, die darauf abzielen, Krebs innerhalb klinisch sinnvoller Grenzen zu kontrollieren, ist noch immer ein sehr unbekanntes Terrain, das selten über reine in silico Experimente hinaus betreten wurde. In diesem Manuskript erklären wir die Grundlagen der künstlichen Intelligenz, zeigen einige bereits heute etablierte Anwendungen, geben eine Vision eines KI-kontrollierten Therapiesystems und erörtern kurz einige allgemeine ethische Überlegungen.
I. Einleitung
Jeder zweite Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs, der weltweit zweithäufigsten Todesursache. Es gibt mehr als hundert verschiedene Krebsarten mit höchst individuellen Krankheitsverläufen, die aus mehr potenziellen Kombinationen von kanzerösen Mutationen resultieren, als es Atome im Universum gibt.1 Dies macht die Suche nach möglichen Therapien (z.B. Antikörpertherapien) zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Künstliche Intelligenz (KI) hat in der Vergangenheit großes Potential in Anwendungen mit großen Suchräumen gezeigt, wie beispielsweise mit dem Algorithmus AlphaGo,2 welcher mehrfach Großmeister im komplexen Brettspiel GO schlug – einem chinesischen Spiel mit 10170 möglichen Spiel-Kombinationen. Insbesondere Maschinelles Lernen (ML), ein Teilgebiet der KI, kann eine personalisierte Behandlung fördern, indem es Computern ermöglicht, aus Erfahrungen zu lernen, ohne dass Regeln explizit von Menschen vorgegeben werden. Das Potenzial von ML in der Medizin ist enorm und im Vergleich zur herkömmlichen Statistik bietet ML eine Fülle neuer Möglichkeiten.
In der Onkologie wird KI zunehmend eingesetzt, z.B. zur Unterstützung der Auswertung von medizinischer Bildgebung, der Prognose von Krankheitsverläufen und in der Medikamentenentwicklung. Hierfür bilden wachsende Datensätze und die Digitalisierung (elektronische Patientenakten) eine Grundlage, um aus gesammelten Erfahrungen zu lernen. Die Entwicklung und Qualität dieser Anwendungen sind in den letzten Jahren vor allem im Bereich der Bildgebung derart fortgeschritten, dass zertifizierte KI-Produkte bereits in vielen Radiologiezentren und ‑praxen eingeführt wurden.
Methoden des Maschinellen Lernens sind datengetriebene Methoden. Während Statistik3 sich auf die Zusammenfassungen von Datenstichproben und dem Verständnis statistischer Beziehungen zwischen Variablen konzentriert, ist das Hauptziel von ML die Generalisierung auf zuvor ungesehene Daten (z.B. durch eine Vorhersage für einen neuen Patienten). Dabei werden Muster und Subgruppen erkannt, indem Repräsentationen aus verschiedensten Eingabemodalitäten gelernt werden, wie zum Beispiel von Bildern, elektronischen Patientenakten, histopathologischen Daten und genetischen Informationen.
Vor allem Tiefes Lernen, bzw. Deep Learning (DL),4 ein spezialisiertes Teilgebiet von ML, das auf künstlichen tiefen neuronalen Netzen beruht, hat in den letzten Jahren durch die erhöhte Rechenleistung moderner Grafikkarten beachtliche Erfolge erzielt, zum Beispiel in der Verarbeitung von Text,5 Sprache6 und Bildern7. In der
Gabriel Kalweit, Maria Kalweit, Ignacio Mastroleo, Joschka Bödecker und Roland Mertelsmann
Künstliche Intelligenz in der Krebstherapie
1 Khamsi, R. Computing cancer’s weak spots. Science 368, 1174–1177 (2020).
2 Silver, D. et al. Mastering the game of Go with deep neural networks and tree search. Nature 529, 484–489 (2016).
3 Bzdok, D., Altman, N. & Krzywinski, M. Statistics versus machine learning. Nat. Methods 15, 233–234 (2018).
4 LeCun, Y., Bengio, Y. & Hinton, G. Deep learning. Nature 521, 436–444 (2015).
5 Hirschberg, J. & Manning, C. D. Advances in natural language processing. Science 349, 261–266 (2015).
6 Devlin, J., Chang, M.-W., Lee, K. & Toutanova, K. BERT: Pre-training of Deep Bidirectional Transformers for Language Understanding. Preprint at http://arxiv.org/abs/1810.04805 (2019, letzter Zugriff am 14.12.2022).
7 Russakovsky, O. et al. ImageNet Large Scale Visual Recognition Challenge. Int. J. Comput. Vis. 115, 211–252 (2015).
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 3 ) , 1 7 — 2 2
8 Illustration: Flaticon.com.
Medizin hat KI das Potential zur Steigerung der Behandlungs-
und der Versorgungsqualität. Diagnose und Prognostik
sind dabei nur der erste Schritt, denn basierend
auf den Vorhersagen des KI-Modells muss der Arzt die
Therapie seinen Erfahrungen entsprechend anpassen,
um diese zu optimieren. Der nächste Schritt ist das Ziel
der Optimierung der Therapie selbst, selbstverständlich
unter Einhaltung von ethischen und Sicherheitsbeschränkungen,
um den Patienten bestmöglich auf Basis
eines Erfahrungsschatzes von riesigen elektronischen
Patientendatenbanken zu behandeln. Wissen und Erfahrung
sind im Klinikalltag die wichtigsten Säulen eines
guten Behandlungsplans.
II. Was ist KI?
Künstliche Intelligenz (KI) ist ein Teilgebiet der Informatik,
in welchem Computer komplexe Probleme auf
eine Weise lösen, die wir Menschen als intelligent
bezeichnen würden. Dazu gehören z.B. Planung, Wahrnehmung
oder Schlussfolgerung. Probleme werden mittels
Algorithmen (Sequenzen von wohldefinierten Computeranweisungen)
gelöst, welche mathematische
Modelle auf der Grundlage von Datenmengen erstellen.
Diese mathematischen Modelle, sogenannte Funktionen,
bilden Eingabedaten auf gewünschte Ausgaben ab.
Eingaben können Bilder (z.B. Röntgenbilder) und eine
beliebige Folge numerischer (z.B. Laborwerte) oder kategorialer
Daten (z.B. Medikation) sein. Die ausgewählten
Eingaben werden später als Eingabemerkmale bezeichnet.
Um die Abbildung darzustellen, können verschiedene
Funktionsrepräsentationen verwendet werden, wie
Polynomfunktionen, Entscheidungsbäume, oder künstliche
tiefe neuronale Netze.
In der KI gibt es im Wesentlichen drei Lernparadigmen:
das Überwachte Lernen, das Unüberwachte Lernen
und das Bestärkende Lernen, siehe Abbildung 1.
Beim Überwachten Lernen werden der Maschine die gewünschten
Ausgaben für bestimmte Datenpunkte vorgegeben.
Das System steht dann vor der Aufgabe, dieses
vorgegebene Wissen auf neue Datenpunkte zur Laufzeit
zu übertragen. Das Gegenstück zum Überwachten Lernen
ist das Unüberwachte Lernen. Beim Unüberwachten
Lernen bekommt die Maschine lediglich die Datenpunkte
– ohne Vorgabe der gewünschten Ausgabe. Vielmehr
sollen hierbei unterliegende Strukturen gefunden werden,
welche die Datenpunkte möglichst gut separieren,
jedoch nicht anhand eines vorgegebenen Merkmals. Etwas
abseits vom Überwachten und Unüberwachten Lernen
liegt das Bestärkende Lernen. In diesem letztgenannten
Paradigma versucht die Maschine, ein sequentielles
Entscheidungsproblem durch Versuch und Irrtum anhand
einer Belohnung zu lösen.
ML-Systeme können entweder auf fixen Datensätzen
trainiert werden, oder anhand eines wachsenden Datensatzes,
welches beispielsweise im Falle des Bestärkenden
Abbildung 1: Lernparadigmen in der Künstlichen Intelligenz.8
Mertelsmann ·KI in der Krebstherapie 1 9
9 Rosete-Beas, E., Mees, O., Kalweit, G., Boedecker, J. & Burgard, W.
Latent Plans for Task Agnostic Offline Reinforcement Learning.
in Proceedings of the 6th Conference on Robot Learning (CoRL)
(2022).
10 Degrave, J. et al. Magnetic control of tokamak plasmas through
deep reinforcement learning. Nature 602, 414–419 (2022).
11 Hügle, M., Kalweit, G., Mirchevska, B., Werling, M. & Boedecker,
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China, November 3–8, 2019 7566–7573 (IEEE, 2019). doi:10.1109/
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12 Bionic Pancreas Research Group et al. Multicenter, Randomized
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13 Farina, E., Nabhen, J. J., Dacoregio, M. I., Batalini, F. & Moraes, F.
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15 Kalweit, M. and Kalweit, G. and Boedecker, J.. AnyNets: Adaptive
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16 Nartowt, B. J. et al. Robust Machine Learning for Colorectal Cancer
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17 Cuplov, V. & André, N. Machine Learning Approach to Forecast
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et al. Machine Learning-Based Models for Prediction of Toxicity
Outcomes in Radiotherapy. Front. Oncol. 10, 790 (2020).
Lernens durch Exploration gesammelt wird. Auf Basis
aktueller Vorhersagen wird die Performanz eines MLSystems
gemessen und anschließend verbessert. Modelle
können entweder auf Echtweltdaten oder in Simulationen
trainiert und in Applikationen wie Robotik,9 der
Infrastrukturoptimierung10 oder dem autonomen Fahren11
eingesetzt werden. Menschliche Krankheiten können
jedoch nicht zuverlässig simuliert werden, da nicht
alle zugrunde liegenden komplexen und miteinander
verbundenen biologischen Prozesse berücksichtigt werden
können. Da zudem das direkte Trainieren von MLSystemen
am Patienten aus ethischen Gründen und
Gründen der schwachen Interpretierbarkeit bisher vermieden
wird, werden ML-Systeme hauptsächlich auf
historischen Datensätzen trainiert und ausgewertet. Um
die Qualität der Modelle zu bewerten, werden die Datensätze
in verschiedene Kontingente aufgeteilt, wobei der
größte Teil dieser Daten für das Training verwendet wird
(Trainingsdatensatz). Die restlichen Daten werden zur
Bewertung der Leistung verwendet (Validierungs- und
Testdatensatz). Der Testdatensatz wird für eine abschließende,
unvoreingenommene Leistungsbewertung verwendet,
um die Generalisierbarkeit des Systems im Hinblick
auf neue Datenpunkte auszuwerten. Die Performanz
des Modells kann in Bezug auf einen Datensatz
anhand verschiedener Metriken wie Genauigkeit, Sensitivität,
Spezifität und der Fläche unter der Grenzwertoptimierungskurve
für Klassifikationsaufgaben und des
mittleren quadratischen Fehlers für Regressionsaufgaben
bewertet werden. Bei überzeugenden Leistungen eines
KI-Systems kann dieses dann unter strengen Sicherheitsvorkehrungen
und idealerweise als kontrollierte klinische
Studie an echten Kontrollgruppen evaluiert werden.
Dies geschah bereits bei einer automatisierten
Insulinpumpe für Diabetes.12
III. Wo KI bereits eingesetzt wird
Die ML-basierte Insulinpumpe ist jedoch immer noch
eine große Ausnahme und befindet sich zum Zeitpunkt
der Erstellung dieses Papiers noch in der Endphase der
Bewertung durch die entsprechenden Zulassungsbehörden.
Bisher werden ML-Werkzeuge fast ausschließlich in
der KI-assistierten Entscheidungsfindung bei Therapien
von Medizinern eingesetzt.13 Ein sehr großer Bereich ist
die Analyse von Bilddaten, die während der routinemäßigen
Krebsbehandlung erfasst werden, wie beispielsweise
MRTs, CTs oder Histopathologien. Anwendungen
beinhalten die Erkennung von Krankheiten, wie beispielsweise
die Erkennung von Metastasen und deren
Segmentierung, Klassifizierung und Charakterisierung
und Überwachung.14 Außerdem wird KI für die automatisierte
Nutzung von Patientendaten aus großen Datenbanken
mit elektronischen Patientenakten, z.B. zur Vorhersage
des weiteren Krankheitsverlaufs und der Wirkung
von Medikamenten15 eingesetzt. Elektronische
Patientenakten können auch zur Risikostratifizierung
genutzt werden, also der Einschätzung, ob eine vorliegende
fortschreitende Erkrankung zu Komplikationen
oder zum Tod führen kann.16 Außer der Risikoeinschätzung
können auch Behandlungskomplikationen und
Nebenwirkungen mit KI vorhergesagt werden, wie beispielsweise
die Toxizität von Bestrahlung und Chemotherapie.
17 Das Anschlagen von Therapien, beispielsweise
2 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 3 ) , 1 7 — 2 2
18 Trebeschi, S. et al. Predicting response to cancer immunotherapy
using noninvasive radiomic biomarkers. Ann. Oncol. 30,
998‑1004 (2019).
19 Bibault, J.-E., Chang, D. T. & Xing, L. Development and validation
of a model to predict survival in colorectal cancer using a
gradient-boosted machine. Gut 70, 884–889 (2021); Senders, J.
T. et al. An Online Calculator for the Prediction of Survival in
Glioblastoma Patients Using Classical Statistics and Machine
Learning. Neurosurgery 86, E184–E192 (2020).
von kostenintensiven Behandlungen wie Immuntherapien,
kann vorhergesagt werden.18 Zudem wurden Überlebensvorhersagen
für viele Krebsarten entwickelt, darunter
Brust‑, Prostata- und Lungenkrebs.19 KI wird auch in
der Medikamentenentwicklung eingesetzt und identifiziert
schnell potenzielle neue Kandidaten zu erschwinglichen
Kosten und beschleunigt so die klinische Forschung.
Eine Übersicht zu aktuellen, sowie potenziellen
Anwendungsfeldern der KI innerhalb der Onkologie ist
in Abbildung 2 dargestellt. Was in der realen Umsetzung
weiterhin fehlt, ist der Wechsel von einer KI-assistierten
hin zu einer KI-optimierten Therapie des Patienten.
IV. Die Vision einer KI-kontrollierten Therapie
Im Allgemeinen werden Medikamente entwickelt, um
möglichst vielen Patienten eines bestimmten Krankheitsbildes
zu helfen. In klinischen Studien werden
Dosen gefunden, indem die maximal mögliche Dosis
mit ertragbaren Nebenwirkungen gesucht wird, um ein
möglichst breites Spektrum an Patienten mit dieser einen
Einstellung abzudecken. Oft gibt es keine weiteren Studien,
in denen Kombinationen mit niedrigeren Dosen und
unterschiedlichen Frequenzen untersucht werden, die
Krebszellen besser bekämpfen und die starken Nebenwirkungen
von Krebstherapien verringern könnten. Wie
oben dargelegt, ist dies jedoch genau das, was für die
Behandlung von Patienten mit dem Hauptziel der Kontrolle,
aber nicht der Heilung der Krankheit erforderlich
sein kann: personalisierte Krebstherapie auf Basis von
(geeigneten) Tumormarkern als individuellen Indikator.
In der Zukunft sollte daher ein medizinisches Gerät auf
Basis von Messungen von allerlei stromsparenden Sensoren
den Krebspatienten stets überwachen und eine
zielgerichtete Therapie in Form von gerade notwendigen
Dosen geeigneter Medikamente zeitgenau durchführen,
um die Krankheit innerhalb klinisch sinnvoller Grenzen
für den Patienten zu kontrollieren. Die KI als stets verfügbarer
Arzt, der sich den höchst individuellen Krankheitsverlauf
lückenlos merkt und analysiert. Eine solche
Vision einer KI-kontrollierten Therapie stellt die computergestützte
Medizin allerdings aktuell noch vor große
Abbildung 2: Aktuelle und potenzielle Anwendungsfelder der KI in der Onkologie. Das »?« dient als Symbol für
alle noch zu entdeckenden Anwendungen in diesem aufstrebenden Zukunftsfeld.
Mertelsmann ·KI in der Krebstherapie 2 1
20 Ritchie, H., Spooner, F. & Roser, M. Causes of death. Our World in
Data (2019).
21 World Health Organization International Agency for Research
on Cancer (WHO IARC). All cancers. Source: Globocan 2020. 2
https://gco.iarc.fr/today/data/factsheets/cancers/39-All-cancersfact-
sheet.pdf (2020, letzter Zugriff am 14.12.2022).
22 Sung, H. et al. Global Cancer Statistics 2020: GLOBOCAN Estimates
of Incidence and Mortality Worldwide for 36 Cancers in
185 Countries. CA. Cancer J. Clin. 71, 209–249 (2021).
23 Mukherjee, S. The emperor of all maladies: a biography of cancer.
(Lions, 2011).
Herausforderungen: (1) Gegeben eine höchst tödliche
Form von Krebs wie ein Befall der Bauchspeicheldrüse,
was sind geeignete Tumormarker, die (i) kostengünstig
und akkurat messbar sind und (ii) eine hohe Korrelation
zum Krankheitsverlauf haben, sowie (2) gegeben diese
Tumormarker, wie kann ein solch hochkomplexes kombinatorisches
Problem anhand weniger Datenpunkte
individuell optimal und sicher gelöst werden? Um zu
Antworten zu diesen so wichtigen und grundlegenden
Fragen zu gelangen, schlagen wir vor, das Konzept auf
zwei große Meilensteine aufzuteilen (vgl. Abbildung 3).
Zunächst könnten und sollten erste Erkenntnisse in vitro
gesammelt werden. Sensoren wie bildgebende Mikroskope
oder Fluidsensoren könnten Zellen in einem Medium
unter gegebenen Medikamenten aufzeichnen und
Proben auf etwaige Inhaltsstoffe untersuchen. Ist ein System
erst mal aufgesetzt, welches solche Untersuchungen
unter einem hohen Durchlass erlaubt, könnte auf diese
Art ein erster Datensatz aufgezeichnet werden, welcher
in Folge durch Bestärkendes Lernen optimiert werden
könnte. Durch eine wohlsortierte Auswahl an Medikamenten
und wahrscheinlich interessanten Messpunkten,
zusammengestellt und ausgewählt von menschlichen
Experten, könnten hierbei die Dateneffizienz und damit
die Realisierbarkeit erhöht werden. In einem Folgeschritt
müssten die gefundenen Tumormarker auf ihre
Transferierbarkeit in Bezug auf in vivo Systeme untersucht
werden. Wenn es gelingt, eine verallgemeinernde
Gruppe von Tumormarkern zu finden, könnte man z.B.
versuchen, in Einzelfallstudien bei Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs,
denen durch andere Therapieformen
nicht geholfen werden kann, eine gezielte Gabe von
Folsäure und Methotrexat innerhalb von gesicherten
Dosisgrenzen, analog zur Langzeitgabe bei rheumatischen
Erkrankungen, durchzuführen und den Krankheitsverlauf
zu erfassen.
V. Ethische Überlegungen der KI-gestützten Krebstherapie
Wie genannt, ist Krebs die zweithäufigste Todesursche
weltweit.20 Im Jahr 2020 gab es 10 Millionen krebsbedingte
Todesfälle – 70 % davon in Ländern mit niedrigem
und mittlerem Einkommen21 – und bis 2040 wird
ein Anstieg auf 16,3 Millionen Todesfälle erwartet.22
Krebs wird aufgrund seiner biologischen Komplexität
auch als »Königin aller Krankheiten«23 bezeichnet und
ist daher ein geeigneter Bereich für die Anwendung von
künstlichen Lernsystemen, die dazu beitragen können,
diese globale Belastung der öffentlichen Gesundheit zu
Abbildung 3: Schematische Darstellung eines Regelkreises zur KI-optimierten, individuellen Krebstherapie. Konzepte
für Systeme agiernd in vitro (rechts) und in vivo (links).
2 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 3 ) , 1 7 — 2 2
24 Mastroleo, I. List of reporting guidelines for AI interventions for
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Zugriff am 14.12.2022); World Health Organization (WHO). Ethics
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26 American Cancer Society (ACS). The Global Cancer Burden.
(2022); Ward, E. et al. Cancer Disparities by Race/Ethnicity and
Socioeconomic Status. CA. Cancer J. Clin. 54, 78–93 (2004).
27 Mastroleo, I. List of reporting guidelines for AI interventions for
human health. https://zenodo.org/record/7007570 (2022, letzter
Zugriff am 14.12.2022) doi:10.5281/zenodo.7007570; Minssen, T.,
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Bull. World Health Organ. 98, 290–292 (2020).
28 Hügle, M., Omoumi, P., van Laar, J. M., Boedecker, J. & Hügle, T.
Applied machine learning and artificial intelligence in rheumatology.
Rheumatol. Adv. Pract. 4.
verringern. In diesem Manuskript haben wir ein Konzept
für einen neuartigen Therapieansatz auf Basis von
KI beschrieben, welcher die Behandlung von Bauchspeicheldrüsenkrebs
gegenüber Standardtechniken verbessern
könnte und das Potenzial hat, kosteneffektiv und
skalierbar zu sein. Mit Blick auf die Zukunft sollte eine
diagnostische und therapeutische Intervention, die auf
diesem Konzept basiert, die üblichen ethischen Sicherheitsvorkehrungen
für Forschung und Entwicklung
durchlaufen, bevor sie von den Gesundheitssystemen in
der Öffentlichkeit eingeführt wird. Geeignete Aufsichtsgremien
sollten z.B. eine unabhängige ethische Prüfung
durch eine Forschungsethikkommission, die auf die spezifischen
Anforderungen von KI-Gesundheitsinterventionen
zugeschnitten ist,24 oder eine staatliche Gesundheitstechnologiebewertung
sein. Diese oben beschriebenen
ethischen Standardschutzmaßnahmen
berücksichtigen jedoch nur teilweise die gesundheitliche
Ungleichheit bei neuen Interventionen. Unter gesundheitlichen
Ungleichheiten verstehen wir gesundheitliche
Ungleichheiten zwischen relevanten Gruppen von Menschen
innerhalb und zwischen Ländern, die als unfair
oder ungerecht angesehen werden, weil sie mit realistischen
Mitteln vermeidbar sind.25 Gesundheitliche
Ungleichheiten bei Krebs zeigen sich in ungerechten
Unterschieden bei Inzidenz, Tod und Lebensqualität
sowie bei der Teilnahme an klinischen Studien und dem
Zugang zu wirksamer Behandlung.26 Ohne ein weiteres
angemessenes Bündel von Sicherheitsvorkehrungen, zu
denen ethisches Design, die Ausbildung von Fachkräften,
gesellschaftliches Engagement, das regulatorische
Umfeld und globale Anreize gehören, werden KIGesundheitsmaßnahmen
höchstwahrscheinlich die derzeitigen
gesundheitlichen Ungleichheiten aufrechterhalten
oder verschärfen, anstatt sie zu verringern, wie in der
Literatur über die Ethik der KI im Gesundheitswesen
anerkannt wird.27 Erfreulicherweise werden diese machbaren
und realistischen breiteren ethischen Schutzmaßnahmen,
wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, parallel
zu den KI-Gesundheitsinterventionen bei Krebs
entwickelt. Das Hauptziel solcher Schutzmaßnahmen ist
die Förderung der gesundheitlichen Chancengleichheit
und der Gesundheitsergebnisse, insbesondere für Bevölkerungsgruppen
und Gemeinschaften in prekären Situationen,
um das soziale Versprechen zu erfüllen, das mit
jeder Einführung neuer Technologien im Gesundheitswesen
einhergeht.
Gabriel Kalweit, Collaborative Research Institute Intelligent
Oncology (CRIION) und am Department of Computer
Science, University of Freiburg. Maria Kalweit,
Collaborative Research Institute Intelligent Oncology
(CRIION) und am Department of Computer Science,
University of Freiburg. Ignacio Mastroleo, Collaborative
Research Institute Intelligent Oncology (CRIION), Freiburg,
Program of Bioethics, Facultad Latinoamericana
de Ciencias Sociales (FLACSO), Buenos Aires, Argentina
und National Scientific and Technical Research Council
(CONICET), Buenos Aires, Argentina. Joschka Bödecker
Collaborative Research Institute Intelligent Oncology
(CRIION) und am Department of Computer Science,
University of Freiburg. Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Roland
Mertelsmann, Vorstandsvorsitzender der Mertelsmann
Foundation. Die Arbeit an diesem Papier wurde von
der Mertelsmann-Stiftung unterstützt. Ignacio Mastroleo
dankt auch für die finanzielle Unterstützung durch
den Nationalen Forschungsrat Argentiniens (CONICET)
und UBACyT 20020220400007BA. Die im Text zum Ausdruck
gebrachten Meinungen sind ausschließlich die
der Autoren und nicht unbedingt die der unterstützenden
Institutionen. Relation zu vorherigen Publikationen:
In dem Abschnitt “Was ist KI?” finden sich generelle
Aussagen und Erklärungen über KI in der Medizin
aus der Publikation “Applied Machine Learning and Artificial
Intelligence in Rheumatology” von Hügle et. al
(2020.).28 Maria Kalweit geb. Hügle ist Co-Autorin dieses
Manuskripts.
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