Freiheit
Freiheit hält den Europäer in Unruhe und Bewegung. Denn er will die Freiheit und weiß zugleich, daß er sie nicht hat. Wo er ihrer sicher im Besitz zu sein glaubt, ist sie schon verloren. Freiheit kommt dem Menschen als Menschen zu. Aber der Europäer ist sich dessen bewußt geworden. Was ist Freiheit ?
Freiheit ist Überwindung der Willkür. Denn Freiheit fällt zusammen mit der Notwendigkeit des Wahren. Bin ich frei, so will ich nicht, weil ich so will, sondern weil ich mich vom rechten überzeugt habe. Der Anspruch der Freiheit ist daher, nicht aus Willkür, nicht aus blindem Gehorsam, nicht aus äußerem Zwang zu handeln, sondern aus eigener Vergewisserung, aus Einsicht. Daher der Anspruch, selbst zu erfahren, gegenwärtig zu verwirklichen, aus eigenem Ursprung zu wollen durch Suchen des Ankers im Ursprung aller Dinge.
In der Freiheit wurzeln nun zwei weitere europäische Phänomene: Das Bewußtsein der Geschichte und der Wille zur Wissenschaft.
Geschichte
Aus der Freiheit wächst der Wille zur Geschichte. Denn der Europäer will konkrete Freiheit, das heißt die Freiheit der Menschen im Einklang miteinander und mit der sie erfüllenden Welt.
Einzig im Abendlande ist im Bewusstsein des Einzelnen die Freiheit gebunden an die Freiheit der Zustände. Da aber die Freiheit niemals für alle und darum im abendländischen Sinne für keine erreicht ist, ist Geschichte notwendig, um Freiheit zu erringen, oder bringt der Drang zur Freiheit die Geschichte hervor.
Unsere Geschichte ist nicht bloßes Anderswerden, nicht bloß Abfall und Wiederherstellung einer zeitlosen Idee, nicht die Verwirklichung eines als bleibend gedachten Totalzustandes, sondern eine sinnhafte Folge des Auseinanderhervorgehens, das sich bewußt wird als Ringen um die Freiheit. Solche Geschichte gibt es jedenfalls in Europa, wenn auch die Masse des europäischen Geschehens wie überall in der Welt ist: das Forttreiben des Unheils von einer Gestalt in die andere.
Der Schmerz wird zur Geburtsstätte des Menschen, der Geschichte will. Nur der Mensch, der sich innerlich dem Unheil aussetzt, kann erfahren, was ist, und den Antrieb gewinnen, es zu ändern. Daß er sich nicht abkapselt, nicht nur blind sich vernichten läßt oder wartet, bis es vorbei ist, und dann lebt, als ob es gar nicht gewesen sei, das ist Bedingung der Geburt seiner konkreten Freiheit.
Die Größe unserer abendländischen Geschichte sind die Freiheitsbewegungen im Miteinanderreden: in Athen, im republikanischen Rom, im frühen Island, in den Städten des späten Mittelalters, in den Konstituierungen der Schweiz und der Niederlanden, in der Idee der Französischen Revolution trotz ihres Abfalls und ihres Übergangs in Diktatur, in der klassischen politischen Geschichte der Engländer und Amerikaner. Wo die Freiheit in einer Abstraktion zum Ziel gemacht wird, da wird sie eine Phrase auf dem Weg zu irgendeiner neuen Gewaltsamkeit. Wo in Freiheit redliche Selbstbezwingung aller, die miteinander handeln, stattfindet, da geschehen konkrete Schritte zur Verwirklichung der Freiheit der Zustände.
Zur Freiheit gehört es, daß wir uns geschichtlich einsenken und dabei doch keiner totalen Geschichtsdeutung uns unterwerfen. Aber die weltgeschichtlichen Perspektiven, das unablässige Bewußtmachen des Wirklichen und Möglichen, die Steigerung des geschichtlichen Bewußtseins ist mit der Geschichte selber ein Grundzug unsereres europäischen Geistes.
Wissenschaft
Freiheit fordert Wissenschaft, nicht nur als unverbindliche Beschäftigung in der Muße, nicht nur als praktische Technik für Daseinszwecke, nicht nur als Spiel des zwingenden Gedankens, sondern als unbedingtes, Universales Wissenwollen des Wißbaren. Die Leidenschaft der
Karl Jaspers
Vom europäischen Geist1
1 Karl Jaspers, Vom europäischen Geist, 1947, S. 10–16 (gekürzt).
Ordnung der Wissenschaft 2022, ISSN 2197–9197
2 2 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 2 ) , 2 2 3 — 2 2 4
Wissenschaft ist ebenso Europa eigen, wie das gewaltige
Ergebnis der Wissenschaften in der modernen Forschung.
Europäische Wissenschaft ist schrankenlos allem zugewandt,
was ist und denkbar ist. Nichts gibt es, das sich
ihr nicht lohne; sie scheint sich ins Endlose zu zerstreuen.
Aber, was immer sie erkennt, nimmt sie hinein in Zusammenhänge.
Universale Weite vereint sie mit der Konzentration
allen Erkennens im Kosmos der
Wissenschaften.
Sie duldet kein Verschleiern; sie erlaubt nicht die
Ruhe fixierter Meinungen. Ihre erbarmungslose Kritik
bringt Tatbestände und Möglichkeiten an den Tag. Ihre
kritische Unbefangenheit aber kehrt sie jederzeit auch
gegen sich selber. Sie erhellt ihre Methoden, erkennt die
Weiten ihres Wissens, den Sinn und die Grenzen ihres
Erkennens.
Was Europa ist als Drang zur Freiheit, als eigentliche
Geschichte, als Quelle universaler Wissenschaft, das bedeutet
seine grundsätzliche Unvollendbarkeit. Denn
Freiheit, Geschichte, Wissenschaft erreichen nie ihr Ziel.
Daher ist Europa nicht fertig und daher muß, was wir
aus unserem Grunde sein können, sich immer noch zeigen.
Jene Wesenszüge müssen, gerade weil sie kein Besitz
werden können, uns stets neue Chancen eröffnen. Die
Zeitlichkeit ist in Europa ernst.
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