I. Wissenschaft und grüne Transformation: die Aus- gangsfrage
Es ist ein langer Hebel, den die Europäische Union zur Erreichung ihrer Klimaziele ansetzt. Ein wichtiger Bei- trag ist ein nachhaltigkeitswirksames Finanzwesen, mit dem Kapitalflüsse hin zu nachhaltigen Investitionen gelenkt werden. Dem dienen die EU-Nachhaltigkeitsre- geln. Und vor allem die neue EU Taxonomie, ein Klassi- fikationssystem für wirklich nachhaltige Wirtschaftsak- tivitäten, also ein Kriterienkatalog, um den vielzitierten „Green Deal“ im wirtschaftlichen Bereich zu konkreti- sieren und umzusetzen1. Im Juni 2023 hat die Kommissi- on nun die neuen EU-Taxonomiekriterien für Wirt- schaftstätigkeiten genehmigt2, die wesentliche Beiträge zur Erreichung von vier Umweltzielen leisten sollen. Damit gibt es nun endlich Taxonomiekritierien für alle sechs Umweltziele der EU: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verringerung von Umweltverschmutzung und Schutz und Wiederherstel- lung von Biodiversität und Ökosystemen. Damit zeich- net die EU den Weg vor, mit dem sie bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden und die Gesellschaft auf eine gerechte und nachhaltige Zukunft ausrichten will. Gut abgesichert ist diese grüne ökonomische Trans- formation, denn sie hat die Unterstützung durch das von den Europäerinnen und Europäern gewählte EU-Parla- ment3. Und sie integriert die Sustainable Development Goals (SDG ́s) der Vereinten Nationen, die in einem weltweiten partizipativen Prozess entwickelt und 2015 verabschiedet worden sind.
Es steht völlig außer Frage, dass in diesem Umgestal- tungsprozess Wissenschaft, Forschung und Innovation eine zentrale Rolle spielen werden. Die Umweltziele hal-
- 1 Pressemitteilung EU „Nachhaltiges Finanzwesen und EU- Taxonomie: Kommission unternimmt weitere Schritte, um Geld in nachhaltige Tätigkeiten zu lenken“, 21.4.2021
- 2 Pressemitteilung EU „Nachhaltiges Finanzwesen: Kommission geht
Ordnung der Wissenschaft 2024, ISSN 2197–9197
Martina Schraudner, Elif Özmen, Hans-Hennig von Grünberg
Der „Green Deal“ und die neue Verantwortung der Wissenschaft
ten eine Vielzahl von Ansätzen und möglichen Bestäti- gungsfelder für die Forschung bereit, wie z.B. erneuerba- re Materialien nachhaltiger Herkunft oder die Verbesse- rung der Recyclingfähigkeit von Produkten, die Umstel- lung auf nachhaltige Mobilität und Energieversorgung, die Konzeptionierung einer Kreislaufwirtschaft, die Farm-to-Fork-Initiative, ein „Null-Schadstoffziel für eine schadstofffreie Umwelt“ oder den Erhalt von Biodi- versität. Oder: Man denke einmal an die Möglichkeiten biotechnologisch hergestellter Lebensmittel und was das für die Tierhaltung mit all ihren negativen Umweltaus- wirkungen bedeuten würde, die damit ja auf ein Mini- mum reduziert werden könnten. Möglicherweise entste- hen zudem, z.B. durch die Nutzung von nachwachsen- den Rohstoffen in biotechnologischen Anwendungen, auch ganz neue Unternehmen in neuartigen, eher regio- nalen Ökosystemen.
Hier hat Forschung also messbare Wirkung, steht auf breitem gesellschaftlichem Konsens und wird in den Techniken und Verfahren, die dazu angewendet werden müssen, in keinster Weise eingeschränkt. Die Technolo- gieoffenheit stößt allein an das „Do-not-harm“ Gebot der EU, also die Vorgabe, keines der sechs Umweltziele zu verletzen. Um auch soziale Mindeststandards einzu- halten und die anstehende Transformation gerecht, fair und inklusiv zu gestalten, erscheint zudem die Mitwir- kung von Sozial- und Geisteswissenschaften unumgäng- lich („Green and just transition“). So könnte es beispiels- weise die Rolle der Geisteswissenschaften sein, „den dringend benötigten Kompass ›Mensch werden im 21. Jahrhundert‹ zu konzipieren, der alle gegenwärtigen und zukünftigen Schritte in Richtung individueller, kollekti- ver und institutioneller Veränderungen strukturieren, verändern und ausrichten kann. […] Erforscht werden müssen die Praktiken und Denkweisen, die den Einzel- nen motivieren und in die Lage versetzen, individuell
weitere Schritte zur Förderung von Investitionen in eine nachhaltige
Zukunft“, 13.6.2023
3 Verordnung (EU) 2020/852 des europäischen Parlamentes und
des Rates vom 18. Juni 2020.
8 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2024), 7–12
und kollektiv nicht-nachhaltige Produktions- und Kon- summuster zu überwinden.“4
Dass also Wissenschaft, Forschung und Technik ei- nen wesentlichen Beitrag zur grünen Transformation der Gesellschaft leisten könnten, lässt sich wohl kaum bestreiten. Ob sie es auch sollen oder gar müssen, das ist hier die Frage.
II. Zwischen Wissenschaftsfreiheit und externer Zwecksetzung
Darf sich die Wissenschaft überhaupt für die sozio-öko- logische Zeitenwende in die Pflicht nehmen lassen, etwa indem sie ihre Forschungsthemen auf „grüne“ Innovati- onsfelder abstimmt? Oder wäre das ein Versuch der poli- tischen Regulierung und gesellschaftlichen Einflussnah- me, die dem Wesen der Wissenschaft zuwiderläuft? Das lässt sich auf zwei verschiedene Weisen beantworten. Zum einen erscheint es alles andere als abwegig, Wissen- schaft, Gesellschaft und Politik zusammenzuführen und die wichtige Rolle der Wissenschaft nicht nur für wissen- schaftliche, sondern für gesamtgesellschaftliche Prob- lemlagen zu betonen. Zu Erinnerung: Die vielzitierte Wissensgesellschaft bezeichnete nie nur den postindust- riellen und postfossilen Strukturwandel: weg von Roh- stoffen, Arbeit und Kapital, hin zu kollektiver Wissens- produktion und ‑organisation. Vielmehr ist der Wis- sensgesellschaft eine positive Bewertung der gesellschaftlichen Dominanz des Wissens – Hoffnungen und Erwartungen auf gesamtgesellschaftliche Verbesse- rungen und Neuerungen – inhärent.5 Diese Verbindung von Wissen, Innovation und Fortschritt lässt sich gegen- wärtig auch mit Bezug auf die grüne Transformation, den Klimawandel und seine drastischen Folgen für das menschliche Leben und die belebte und unbelebte Natur
- 4 M. Gabriel et al., Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung – Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften, transcript Verlag, Bielefeld (2022); Die Autoren plädieren für „zukunftsori- entierte Geisteswissenschaften, auf deren Grundlage eine Neue Aufklärung entstehen kann, die von einem interdisziplinären und transsektoralen Netzwerk getragen wird“. Sie fordern in Ihrem Aufruf, dass eine grundlegend neue, ökologische Perspektive eingenommen wird, „die den Menschen als einen Akteur sieht, der neben anderen Lebewesen in interdependenten Ökosystemen Nischen bildet.“
- 5 Noch immer relevant G. Böhme, N. Stehr, The Knowledge Society, The Growing Impact of Scientific Knowledge on Social Relations (1986), St. Böschen, I. Schulz-Schaeffer (Hrsg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft (2003), für die Rolle des wissenschaftli- chen Wissens in der demokratischen Wissengesellschaft vgl. E. Özmen, Welches Wissen, wessen Meinung? Über die epistemi- schen Hoffnungen der Demokratie, in: Julian Nida-Rümelin, Andreas Oldenbourg (Hrsg.): Normative Konstituenzien der Demokratie (2023), i.E.
- 6 Tatsächlich kommt hierbei auch und gerade den Geisteswis-
aktivieren. Insofern und in dem Maße, in dem sich moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften bei ihren komplexen Verfahren der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung auf (primär wissenschaftliches) Wissen verlassen, werden sie prosperieren – oder wenigstens die Klimakatastrophe abwenden. Auch wegen dieser gesamtgesellschaftlichen Erwartungen an die Wissenschaft scheint es prima facie völlig klar zu sein, dass man nicht bloß von einem möglichen Beitrag der Wissenschaft, sondern einem Imperativ an die Wis- senschaften sprechen kann: Wissenschaftliche For- schung kann – und sollte – aktiv und explizit an der sozio-ökologischen Zeitenwende mitwirken und auf die grüne Transformation hin abgestimmt werden.6 Das ist die eine der zwei möglichen Antworten.
Die zweite Antwort fällt deutlich skeptischer aus, denn eine solche Finalisierung der Wissenschaft – und sei es zu mutmaßlich guten Zwecken wie Klima- und Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Verantwortung und Ge- rechtigkeit für zukünftige Generationen – weckt den Verdacht, die Freiheit der Wissenschaft und Forschung zu untergraben.7 Zu dem Übel einer möglichen Ein- schränkung und Verletzung eines garantierten Grund- rechts, das, gemeinsam mit Meinungs‑, Presse- und Kunstfreiheit nicht zufällig zum festen Bestand pluralis- tischer freiheitlicher Demokratien gehört, kommt ein weiteres Übel hinzu. Ohne freie, d.h. von staatlicher Steuerung und Sanktionierung unabhängige Wissen- schaft, gibt es keine gute Wissenschaft. Das Bundesver- fassungsgericht hat das bestechend klar formuliert: da- mit sich „Forschung und Lehre ungehindert an dem Be- mühen um Wahrheit ausrichten können, ist die Wissen- schaft zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwor- tung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt worden.“8
senschaften eine wichtige systematisierende, integrierende und normativ-orientierende Funktion zu, vgl. M. Gabriel et. al, Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung – Ein Plädoyer für zu- kunftsorientierte Geisteswissenschaften (2022).
7 Zu der aktuellen öffentlichen Debatte um mutmaßliche Ge- fährdungen und Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit durch Politsierung, Ideologisierung und Moralisierung vgl. die Beiträge in dem Schwerpunkt-Heft Aus Politik und Zeitgeschichte 46/2021 und in E. Özmen (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen (2021).
8 So der Wortlaut des einflussmächtigen Hochschulurteils des BVerfGE 35, 79 (113). Zum Art. 5. Abs. 3 GG vgl. G. Britz, Kom- mentierung zu Art. 5 Abs. 3 GG, in: Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von H. Dreier (2013), K. F. Gärditz, Die äußeren und inne- ren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, in: Wissenschaftsrecht
– Zeitschrift für deutsches und europäisches Wissenschaftsrecht 51 (2018), 5–44, zu den philosophischen Hintergründen E. Özmen, Epistemische Offenheit als Wagnis. Über Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie, in: Özmen 2021, a.a.O., 29–47.
Ohne Freiheit weniger gute Wissenschaft — und damit wohlmöglich auch weniger gute Lösungen für gesell- schaftliche Problemlagen. Zunächst paradox anmutend ist von der Wissenschaft also vor allem dann ein gesell- schaftlicher Nutzen zu erwarten, wenn man Wissen- schaft und Forschung von Nützlichkeitsimperativen und externen Zwecksetzungen freistellt.
Eine Frage, zwei Antworten: hier ein neuer Imperativ und das Zulassen externer Zwecksetzungen im Zeichen der grünen Transformation, dort das Bestehen auf der Autonomie der Wissenschaft. Man fühlt sich an die 1970er Jahre und den Finalisierungsstreit erinnert. Wenn die Forschung einer Disziplin erst einmal in ihre letzte, ihre postparadigmatische Phase gekommen sei, so die „Finalisten“ von damals, brauche es zusätzliche, von au- ßen kommende Kriterien, mit denen über die theoreti- sche Relevanz weitere Forschung entschieden werden könne. Nur so könne die Wissenschaftspolitik For- schung rational planen. Diese Forderungen gingen da- mals im Sturm der Empörung unter.9 In den 1990er Jah- ren wurden dann vielfältige programmatische Versuche unternommen, außerepistemische Ansprüche in die Forschung mit einzubeziehen. In den letzten zehn Jah- ren schließlich hat sich der prozessorientierte Ansatz ei- ner vorausschauenden, reflexiven, inklusiven und reakti- onsfähigen Technologie-Governance durchgesetzt10. Dieser ist in Europa insbesondere unter dem Begriff der „Responsible Research and Innovation“ (RRI) bekannt, einer neuen Programmatik, mit der der Geltungsbereich der wissenschaftlichen Verantwortung viel weiter gefasst wird. Bereits der laufende Forschungsprozess soll — um Innovationen für externe Anspruchsgruppen auch wirk- lich relevant zu gestalten — im Hinblick auf einen verant- wortungsbewussten Umgang mit Innovationen begleitet werden.11 Eine ähnliche Forderung, nämlich die Auswir- kungen seiner Forschung beim Forschungsdesign mit- zudenken, findet sich in allerersten Ansätzen auch in den „Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die für alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland bindend sind (siehe weiter unten).12 Und auch die OECD sieht im partizipativen Agenda-Setting, in der Ko-Kreation und einer wertebasierten Gestaltung
- 9 Für einen Überblick über die wissenschaftsinterne und begleiten- de öffentliche Debatte A. Leendertz, Finalisierung der Wissen- schaft: Wissenschaftstheorie in den politischen Deutungskämpfen der Bonner Republik, in: Mittelweg 36 (2013), 93–121.
- 10 Stilgoe, J., Lock S.J. Wilsdon J., Why should we promote public engagement with science? Research Policy, 42(9), 1568–1580, 2014
- 11 Vgl. R. Owen, P. Macnaghten und J. Stilgoe (2012). Responsible Research and Innovation: From Science in Society to Science for Society, with Society. Science and Public Policy 39(6), 751–760.
von Technologien vielversprechende Mittel zur Umset- zung der RRI-Grundsätze. RRI Grundsätze sollen in al- len Disziplinen Anwendung finden, insbesondere aber in „Forschungsdomänen nahe an Mensch und Gesell- schaft“, in der Umweltforschung, Mobilitätsentwicklung oder Stadtplanung.13
III. Was folgt aus dem ökologischen Imperativ von Hans Jonas?
Während es hierbei um den Umgang mit externen Ansprüchen an die Wissenschaft geht, schürft die von uns verhandelte Frage nach der neuen Verantwortung der Wissenschaft im Zeitalter der grünen Transformati- on tiefer. Man kann dabei gut anknüpfen an ältere Dis- kussionen um die Verantwortung der Wissenschaft für ihre risikoreichen technischen Anwendungen. Diskussi- onen, die schon früh in der Wissensgesellschaft began- nen, nämlich mit dem Manhattan Projekt und der Betei- ligung von Wissenschaftlern an der Entwicklung von militärischen Massen- bzw. Weltvernichtungswaffen. Aber erst in Verbindung mit der ökologischen Kritik an dem technologischen Imperativ der Wissenschaft nah- men diese Diskussionen eine systematische – und mit der Technikfolgenabschätzung auch eine institutionali- sierte – Form an. Die Erkenntnis, dass sich das Zerstö- rungspotential der Wissenschaft seit Mitte des 20. Jahr- hunderts drastisch erhöht hatte, ließ eine normative Ergänzung der funktionellen wissenschaftlichen Selbst- kontrolle und Selbstregulierung unumgänglich erschei- nen.14 Die Autonomie der Wissenschaft bedeutet näm- lich keineswegs, dass sie ethisch neutral oder indifferent, ohne Verantwortung für ihre möglichen technischen Anwendungen und gesellschaftlichen Folgen ist. Das wird ja schon in dem Urteil des Bundesverfassungsge- richts deutlich, das eben nicht nur die Freiheit der Wis- senschaft von staatlicher Fremdbestimmung betont, sondern zugleich die „Verantwortung des einzelnen Wis- senschaftlers“ thematisiert. Für diese wissenschaftsethi- sche Debatte steht prominent Hans Jonas „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, der das Prin- zip Verantwortung zur Norm allen individuellen und kollektiven Handelns erklärt. Der neue ökologische
12 https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rah- menbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf (zuletzt abgerufen am 15.10.2023).
13 Vgl. S. Maasen, Innovation und Relevanz: Forschung im Geran- gel widerstreitender Anforderungen. In: Competing Knowledges – Wissen im Widerstreit 9 (2020), 123.
14 Vgl. H. Lenk, Zwischen Wissenschaft und Ethik (1992), Ch. Hubig, Technik- und Wissenschaftsethik (1995), A. Grunwald, Technikfolgenabschätzung (2022).
Schraudner/Özmen/Grünberg · Der „Green Deal“ 9
10 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2024), 7–12
Imperativ lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. Oder negativ ausge- drückt: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit sol- chen Lebens.“15 Mit Blick auf die Zerstörungspotentiale der Nukleartechnologie war für Hans Jonas die univer- selle Geltungskraft dieses Imperativs evident.
Nun ist das Zerstörungs- und Weltvernichtungspo- tential durch den menschengemachten Klimawandel nicht geringer, so dass sich fragen lässt – und das ist un- sere Frage hier! – ob dieser ökologische Imperativ von Hans Jonas sich nicht nur als Pflicht zur Enthaltung von bestimmten Forschungen und Technologien verstehen lässt, sondern positiv gewendet werden kann zu einem Mitwirkungs- und Gestaltungsauftrag an die Wissen- schaft. Wie aber könnte ein wissenschaftsethischer Ko- dex aussehen, der die Wissenschaft zur Beteiligung an der grünen Transformation anhält und sie so in den Dienst des dauerhaften Wohle der Menschen und einer gerechten nachhaltigen Gesellschaft stellt? Wie könnten die Gefahren einer Finalisierung der freien Wissenschaft vermieden und zugleich eine neue Verantwortung der Wissenschaft für die grüne Transformation bestimmt werden? Wäre nicht eine ethische Selbstverpflichtung – eine „Großzügigkeit im Dienste des Menschen“, also eine Großzügigkeit bei der Nutzung der Wissenschaftsfrei- heit, wie es der Nobelpreisträger André Cournand in sei- nem scientist’s code einst vorgeschlagen hat16 – eine be- denkenswerte Möglichkeit, Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft zusammenzuführen? Wir finden schon.
IV. Weltverstehen und Weltgestalten: der Auftrag und die Einheit der Wissenschaft
Die Wissenschaft hat zwei distinkte Grundrichtungen, die zurückgehen auf ihre zwei Aufträge: Weltverstehen und Weltgestalten,17 mit zwei dazugehörigen, grund- sätzlich verschiedenen Qualitätsdiskursen: Exzellenz versus Relevanz18. Hier der Blick auf innerwissenschaft- liche Anerkennung (Exzellenz), dort der Blick auf gesell- schaftliche Anerkennung (Relevanz). Hier ein wesent- lich auf das Verstehen gerichtetes, exzellentes Wissen (Grundlagen), dort ein ökonomisch verwertbares und/
15 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979), 36.
16 A. Cournand, M. Meyer, The Scientist’s Code, in: Minerva 14 (1976), S. 79–96.
17 P. Strohschneider, Zur Politik der Transformativen Wissenschaft. In: Die Verfassung des Politischen: Festschrift für Hans Vorländer
oder gesellschaftlich relevantes, möglichst partizipativ gewonnenes und normativ akzeptables Wissen (Anwen- dung)19. Diese charakteristische „Zweiseitenform von Wissenschaft“20 wird durchaus von der Politik gespie- gelt, die ja via Finanzierung und Förderung die Entwick- lungsrichtung der Wissenschaft wesentlich mitbestimmt. Da gibt sie zum einen der Wissenschaft im Vertrauen auf ihre systemeigenen Verteilprozeduren zweckungebun- dene Finanzmittel, man denke etwa an das Budget der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder die Grundmit- tel, die eine Universität erhält. Und da gibt es anderer- seits die zweckgebundenen Mittel, z.B. die der öffentli- chen Fördergeber (BMBF, EU) mit ihren thematisch ein- gegrenzten Programmen und den vorab definierten Förderzielen, über die die Wissenschaft dann für die Lösung konkreter Probleme in den Dienst genommen und auf relevantes Wissen hin geeicht wird.
In welchem relativen Verhältnis die ungebundenen zu den gebundenen Mitteln stehen, ist allerdings keine rein wissenschaftliche, sondern eine politische Entschei- dung. Ja, die Wissenschaft ist autonom – und eben dar- um ist ihre Finanzierung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Aber es ist der Politik nicht untersagt – keine Einschränkung der Autonomie der Wissenschaft! – über die Mittelverteilung die weitere Entwicklung der Wis- senschaft zu steuern. Was soll dann aber die Forderung nach einer Selbstverpflichtung zum Mittun im Sinne ei- nes André Cournand, wenn die Wissenschaft ja doch am (mehr oder weniger kurzen) Zügel der öffentlichen Fi- nanzen geführt wird?
Unsere Antwort ist: Weil eine solche Selbstverpflich- tung am Ende die Wissenschaftsautonomie stärkt. Und weil die Wissenschaft damit in eigener Regie und als Ganzes auf einen drängenden Veränderungsimpuls der Welt reagiert. Täte sie es nicht, würde sie nicht aus eige- ner Kraft, aus eigenem Willen und als Ganzes auf die neue, auf die menschheitsgefährdende Lage reagieren, so liefe sie – dann ganz von außen gesteuert — Gefahr, end- gültig und dauerhaft in ihre zwei Teile zu zerfallen: in eine auf externe Zwecke gerichtete, anwendungs- und lö- sungsorientierte, den Relevanzerwartungen der Gesell- schaft entsprechende Wissenschaft auf der einen Seite und eine von dem Weltgeschehen entkoppelte, ganz dem Verstehen gewidmete, grundlagenorientierte und sich autonom ihre Ziele setzende, aber von der Gesellschaft
(2014), 175–192.
18 S. Maasen, Innovation und Relevanz: Forschung im Gerangel
widerstreitender Anforderungen. In: Competing Knowledges–
Wissen im Widerstreit 9 (2020), 123. 19 Vgl. S. Maasen (2020)
20 Vgl. P. Strohschneider (2014)
als kaum relevant erachtete Wissenschaft auf der ande- ren Seite. Das darf nicht passieren. Wissenschaft wird (noch) als Ganzes von der Gesellschaft wahrgenommen, anerkannt, verstanden und genutzt – und ein solches Ganzes soll sie bleiben; auch um ihrer gesamtgesell- schaftlichen Anerkennung willen.
Würde sich die Wissenschaft von sich aus in die Pflicht nehmen, aktiv an der grünen Transformation mitzuwirken, so wäre ein Doppeltes erreicht: niemand könnte einerseits die relevante Anwendung von Wissen- schaft aus dem System innerwissenschaftlicher Aner- kennung und andererseits die rein erkenntnisorientier- ten Wissenschaften aus dem System gesellschaftlicher Anerkennung herausdrängen. Trotz ihrer natürlichen Zweiseitenform von Weltverstehen und Weltgestalten muss es einer wahrhaft autonomen Wissenschaft ein An- liegen sein, sich einer großen neuen Aufgabe als Ganzes zu verschreiben. Hierin aber liegt der eigentliche Kern der neuen Verantwortung der Wissenschaft.
V. Die großen Wissenschaftsorganisationen zur Nachhaltigkeit
Die großen deutschen Wissenschaftsorganisationen befassen sich nicht explizit mit der hier verhandelten wissenschaftsethischen Frage, positionieren sich aber in Programm und Mission zum Thema Nachhaltigkeit. Nicht überraschend bezieht die Helmholtz Gemein- schaft in ihrem Mission Statement („Nachhaltige For- schung gestaltet Zukunft“) am deutlichsten Position21: „Auftrag der Helmholtz-Gemeinschaft ist Forschung, die wesentlich dazu beiträgt, große und drängende Fra- gen von Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft zu beantworten. […] Die Arbeit der Helmholtz-Gemein- schaft zielt darauf, die Lebensgrundlagen des Menschen langfristig zu sichern […].“22 Die Frage, ob es in der Wissenschaft eine ethische Pflicht zum Mitwirken bei der Beforschung der drängendsten Zukunftsfragen gibt, wird also in einer Gemeinschaft, die sich schon in Pro- gramm und Mission genau dazu verpflichtet, kollektiv beantwortet. Und auch die Fraunhofer Gesellschaft hat einen ähnlichen Auftrag und findet daher ebenso zu einer solchen kollektiven Antwort, wenn sie sich zu dem
- 21 https://www.helmholtz.de/ueber-uns/wer-wir-sind/mission/
- 22 Dieser Anspruch wird auch in der „Helmholtz Sustainability Challenge” erkennbar, die sich an transdisziplinäre Forscher- teams wendet und zum Nachdenken über nachhaltige Wert-schöpfungsketten und eine Kreislaufwirtschaft auffordert. https://www.helmholtz.de/forschung/aktuelle-ausschreibungen
- 23 https://www.fraunhofer.de/de/ueber-fraunhofer/corporate-res-ponsibility/governance/leitbild.html
24 https://www.fraunhofer-zukunftsstiftung.de/
folgenden Leitsatz bekennt23: „Wir tragen durch unsere Forschung zu einer nachhaltigen Entwicklung im Sinne einer ökologisch intakten, ökonomisch erfolgreichen und sozial ausgewogenen Welt bei. Dieser Verantwor- tung fühlen wir uns verpflichtet.“ Am weitesten bei die- ser Selbstverpflichtung geht allerdings die Fraunhofer- Zukunftsstiftung, wenn sie schreibt24: „Wir unterstützen und gestalten die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise. […] Unsere Förderung ermöglicht die Entwicklung von Produkten, Dienstleis- tungen und Geschäftsmodellen, die einen wichtigen Bei- trag zur Lösung globaler Herausforderungen leisten. Dabei orientieren wir uns verstärkt am Leitbegriff der »Nachhaltigen Entwicklung« sowie den Sustainable- Development-Goals der Vereinten Nationen (SDGs).“
Schaut man hingegen in die „Leitlinien zur Siche- rung guter wissenschaftlicher Praxis“, braucht es viel gu- ten Willen, um aus der Leitlinie 9 zum Forschungsdesign abzulesen, dass man bei der Wahl seines Forschungsthe- mas auch beachten sollte, was als drängende Frage wirk- lich ansteht25: „Die Identifikation relevanter und geeig- neter Forschungsfragen setzt sorgfältige Recherche nach bereits öffentlich zugänglich gemachten Forschungsleis- tungen voraus.“ In ihren Empfehlungen „Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankes im DFG-Förderhandeln“ geht die DFG allerdings einen erheblichen Schritt weiter, indem sie in allen Förderformaten die Reflexion über Nachhaltigkeitsaspekte im Forschungsprozess verpflich- tend integriert.26 Die Missionen der Leibnizgemein- schaft27 und der Max-Planck Gesellschaft28 durchsucht man hinsichtlich der hier verhandelten Fragen vergeblich.
Anlässlich des 70. Jahrestags des Inkrafttretens des Grundgesetzes im Jahr 2019 hat die Allianz der Wissen- schaftsorganisationen ein Thesenpapier zum Grund- recht der Wissenschaftsfreiheit vorgelegt.29 Dies wäre ein guter Moment gewesen, um auf die aus der Freiheit resultierende Verantwortung der Wissenschaft näher einzugehen. „Das vorliegende Memorandum versteht sich als Selbstverpflichtung der Wissenschaft in Deutsch- land, die Freiheit der Wissenschaft zu schützen, sich ge- gen ihre Beschränkungen zur Wehr zu setzen und sie für künftige Herausforderungen zu stärken.“ Der Schutz der
25 Vgl. Fußnote 12
26 https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/grundlagen_the-
men/nachhaltigkeit/empfehlungen.pdf
27 https://www.leibniz-gemeinschaft.de/ueber-uns/ueber-die-leib-
niz-gemeinschaft
28 https://www.ip.mpg.de/de/das-institut/mission-statement.html 29 https://wissenschaftsfreiheit.de/abschlussmemorandum-der-
kampagne/
Schraudner/Özmen/Grünberg · Der „Green Deal“ 1 1
12 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2024), 7–12
Wissenschaftsfreiheit steht allerdings in diesem Papier im Vordergrund, während die damit einhergehenden Pflichten und Verantwortlichkeiten der Wissenschaft nur in Ansätzen ausgeführt werden. Ein Überarbeiten der Wissenschaftsethik im Sinne von Cournand wird nicht diskutiert.
Martina Schraudner ist Professorin an der TU Berlin und akademische Leiterin des dortigen Fraunhofer Center for Responsible Research and Innovation.
Elif Özmen besetzt eine Professur für Praktische Phi- losophie an der Universität Gießen.
Hans Hennig von Grünberg ist Professor für Wissens- und Technologietransfer an der Universität Potsdam.