Beschäftigungsverbot für Wissenschaftler aus Risikostaaten? 131–138
Interdisziplinäre Forschung als möglicher Impulsgeber für eine evidenzbasierte Regulierung – Programmatische Überlegungen am Beispiel des Urheberrechts im digitalen Zeitalter 139–146
Ressortforschung. Eine institunalisierte Rationalität im politisch-gubernativen Gefüge 147–160
Arbeitszeiterfassungspflicht an privaten Hochschulen – auch für Professorinnen und Professoren? 161–164
Social Media-Nutzung von Hochschulen vor dem Aus? Verfassungsrechtliche Analyse der Untersagungsverfügung des BfDI gegen das BPA vom 17.02.2023 165–172
Akademisches Höchstalter für die Juniorprofessur
Zur Einordnung der Juniorprofessur mit und ohne Tenure-Track in das System wissenschaftlicher Qualifizierung 173–180
Manfred Löwisch und Marie Anselment
Hannah Schmid-Petri, Steliyana Doseva,
Jan Schillmöller und Dirk Heckmann
A. Katarina Weilert
Frank Wertheimer
Anne Paschke
Simon Pschorr
Heft 3 / 2023
Aufsätze
ISSN 2197–9197
O RDN U N G D E R WI S S E N S C HA F T ( 2 0 2 3 )
Die Kunst des Ausdrucks besitzen 187–189
Balthasar Gracian
Ausgegraben
ISSN 2197–9197
Bericht
Antonia Hagedorn
Wissenschaft und Exportkontrolle
Bericht über die Tagung des Vereins zur
Förderung des deutschen und internationalen
Wisssenschaftsrechts e.V. am 27. April 2023
181–186
I. Die Empfehlungen von Deutscher Forschungsgemeinschaft und Leopoldina
Der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina eingerichtete Gemeinsame Ausschuss zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung hat mit Stand vom 1. November 2022 Empfehlungen zum verantwortlichen Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung beschlossen.1 Ziel der Empfehlungen ist die Minimierung des Risikos missbräuchlicher Verwendung von Forschungsergebnissen in sicherheitsrelevanten Bereichen: In nahezu allen Wissenschaftsbereichen bestehe die Gefahr, dass für sich genommen neutrale oder nützliche Ergebnisse der Forschung durch andere Personen zu schädlichen Zwecken missbraucht werden. Herausforderungen bestünden insbesondere bei wissenschaftlichen Arbeiten, bei denen die Möglichkeit besteht, dass sie Wissen, Produkte oder Technologien hervorbringen, die unmittelbar von Dritten missbraucht werden können, um Menschenwürde, Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Umwelt oder ein friedliches Zusammenleben erheblich zu schädigen (sog. besorgniserregende sicherheitsrelevante Forschung- Dual-Use Research of Concern).
Als Beispiele nennt der Ausschuss die Verteidigungstechnik, in der die Materialforschung und die Nanotechnologie zur Entwicklung von Angriffswaffen führen könne, die Forschung zu autonom agierenden Robotern, die zur Konstruktion intelligenter Kriegsroboter befähigen könne, die Kernenergieforschung, die Forschung zu pathogenen Mikroorganismen und Toxinen, die möglicherweise für neue Biowaffen und für terroristische Anschläge nutzbar seien, die Analysen in der molekularen Pflanzengenetik, die gezielte Angriffe auf Saatgut ermöglichen könnten, Forschungen in der Informationstechnologie, die zur umfassenden Überwachung und Repression von Personen genutzt werden könnten, medizinische oder neurobiologische Forschungen, welche die Manipulation von Personen bis hin zu Folter unterstützen könnten, und linguistische Forschungen an Spracherkennungssystemen, die unter Umständen auch für missbräuchliche Kommunikationsüberwachung einsetzbar seien. Letztlich könnten sogar Geistes‑, Kultur‑, Sozial- und Verhaltenswissenschaften sicherheitsrelevante Ergebnisse hervorbringen.2
Die Verpflichtung zur Risikominimierung trifft nach den Empfehlungen nicht nur die Forschenden und die an ihren Projekten mitwirkenden Personen selbst, sondern auch die Einrichtungen, an denen jene tätig sind. Die Einrichtungen sind danach zu Sicherheitsmaßnahmen verpflichtet und haben bei missbrauchsgefährdeter Forschung Mitarbeitende und Kooperationspartner sorgfältig und unter Berücksichtigung ihrer Verlässlichkeit und ihres Verantwortungsbewusstseins auszuwählen. Dabei sollen Maßnahmen zur Risikominimierung auch darin bestehen können, dass einzelne Forschungen nur in bestimmten Kooperationen durchgeführt werden und unter dem Aspekt der Risikominimierung auf Partner oder Mitarbeiter aus bestimmten Staaten verzichtet wird. Wörtlich heißt es dazu in den Empfehlungen:
„Maßnahmen zur Risikominimierung können auch darin bestehen, dass einzelne Forschungen nur in bestimmten Kooperationen durchgeführt werden. Internationale Kooperation ist zwar ein Grundprinzip erfolgreicher Forschung, im Einzelfall kann sich unter dem Aspekt der Risikominimierung gleichwohl eine Einschränkung der Zusammenarbeit oder ein Verzicht auf Partnerinnen oder Partner oder Mitarbeitende aus beManfred
Löwisch/Marie Anselment
Beschäftigungsverbot für Wissenschaftler aus
Risikostaaten?
1 Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Deutsche Forschungsgemeinschaft (2022): Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverantwortung – Empfehlungen zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung/Scientific Freedom and Scientific Res ponsibility – Recommendations for Handling of Security-Relevant Research, 2. Aktualisierte Auflage, abrufbar unter www.sicherheitsrelevante-forschung.org.
2 Empfehlungen S. 9 f; hinsichtlich der Informations technologie könnte man die Gefahr umfassender sys tematischer Cyberangriffe hinzufügen, vgl. die Berichte über Hacker-Angriffe aus Nordkorea ( siehe etwa Süddeutschen Zeitung vom 07.02.2023 https://www.sueddeutsche.de/wissen/atom-un-nordkoreas-hacker‑s tehlen-rekordsummen-kim-rues tet-auf-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101–230207-99–498851).
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 3 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 3 1 — 1 3 8
3 Allgemein zur Relevanz solcher Ausfuhrbeschränkungen für
die Wissenschaft siehe den Tagungsbereicht „Wissenschaft und
Exportkontrolle“ von Antonia Hagedorn in diesem Heft S. 183 ff.
4 Callies/Ruffert/Brechmann, EUV/AEUV 6. Aufl. 2022,
Art. 45 AEUV Rn 46; Geiger/Khan/Kotzur/Kirchmair/Khan/Gerckens,
- Aufl. 2023, AEUV Art. 45 Rn 27.
5 EuGH 18.07.2017, C- 566/15, Rn. 33; Callies/Ruffert/Brechmann aaO
Rn 51.
6 Callies/Ruffert/Brechmann aaO Rn 54.
7 EuGH 06.6.2000 C ‑281/98, Rn 30 ff (Angonese); Callies/Ruffert/
Brechmann aaO Rn 54; BeckOK Migrations- und Integrationsrecht/
Dittrich, 14. Ed. 15.1.2023, AEUV Art. 45 Rn 8.
8 Callies/Ruffert/Brechmann aaO Rn 113f.
9 Callies/Ruffert/Brechmann aaO Rn 115.
stimmten Staaten oder Institutionen empfehlen. Anhaltspunkte
für Staaten, in denen ein Missbrauch bestimmter
Forschungsergebnisse zu befürchten ist, können
sich aus den nationalen und internationalen Vorschriften
oder Listen über Ausfuhrbeschränkungen
ergeben“.3
Dass der Gemeinsame Ausschuss für den Einzelfall
den Verzicht nicht nur auf Partner aus bestimmten Staaten,
sondern auch auf Mitarbeiter aus bestimmten Staaten
empfiehlt, wirft die Frage nach deren Diskriminierung
auf: Ist es zulässig, die Einstellung von Wissenschaftlern
deshalb abzulehnen, weil sie Angehörige eines
bestimmten Staates sind oder auch, ohne diese Staatsangehörigkeit
zu besitzen, aus diesem Staat kommen?
Dieser Frage wird im Folgenden nachgegangen.
II. Wissenschaftler aus Staaten der Europäischen Union - Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Art. 45 Abs. 1 AEUV gewährleistet innerhalb der EU die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Nach Absatz 2 der Vorschrift
umfasst diese Freizügigkeit die Abschaffung jeder
auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen
Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten
in Bezug auf Beschäftigung. Aus der Vorschrift folgt bei
Einstellungen grundsätzlich ein absolutes Differenzierungsverbot
aus Gründen der Staatsangehörigkeit.4 Wie
für alle Beschäftigten gilt das auch für Wissenschaftler.
Das Verbot erfasst dabei nicht nur die unmittelbare
Differenzierung wegen der Staatsangehörigkeit, sondern
auch jede andere nationale Regelung, die, wenn auch
ohne direkte Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit,
geeignet ist, den Gebrauch der Freizügigkeit
durch einen Unionbürger zu behindern oder weniger attraktiv
zu machen.5 Das verbietet es im Grundsatz auch,
sich bewerbende Unionsbürger deshalb nicht einzustellen,
weil sie zuvor in einem anderen Staat tätig gewesen
sind.
Adressat des Art. 45 AEUV und damit auch des Differenzierungsverbots
bei Einstellungen ist in erster Linie
der Mitgliedstaat als Träger öffentlicher Gewalt. Staatliche
Regelungen und andere staatliche Maßnahmen dürfen
Bürger anderer Unionsstaaten grundsätzlich nicht
schlechter stellen als Deutsche.6 Erfasst werden damit
die staatlichen Hochschulen, aber, soweit sie als Anstalten
des öffentlichen Rechts organisiert sind, auch die
Universitätsklinika.
Art. 45 AEUV gilt nach der Rechtsprechung des
EuGH aber auch für private Arbeitgeber, weil diese sonst
kraft ihrer Vertragsfreiheit Hindernisse für die Freizügigkeit
der Arbeitnehmer aufrichten könnten, die dem
Staat verboten wären.7 Dementsprechend erklärt
Art. 7 Abs. 4 der Freizügigkeitsverordnung
(VO [EU] 492/2011) Regelungen in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen
oder sonstigen Kollektivvereinbarungen
betreffend den Zugang zur Beschäftigung für nichtig, soweit
sie für Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer
Mitgliedstatten sind, diskriminierende Bedingungen
vorsehen oder zulassen. Die Folge ist, dass auch privatrechtlich
organisierte Forschungseinrichtungen wie die
Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer Gesellschaft,
die Helmholtz Gesellschaften und die Institute der Leibniz
Gemeinschaft, die durchweg als eingetragene Vereine
organisiert sind, Wissenschaftler aus Unionsstaaten
grundsätzlich nicht wegen ihrer Staatsangehörigkeit von
einer Beschäftigung ausschließen dürfen. - Einschränkung wegen Sicherheitsrelevanz
Auch die Freizügigkeit ist nicht schrankenlos gewährleistet.
Eine erste Ausnahme konstituiert Art. 45 AEUV in
seinem Absatz 4 selbst. Danach findet die Bestimmung
keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen
Verwaltung. Unter öffentlicher Verwaltung versteht
das europäische Recht hier wie in anderen Vorschriften
freilich nur die Stellen, die unmittelbar oder mittelbar
hoheitliche Befugnisse ausüben. Die Mitgliedstaaten
dürfen nur konkrete, mit einer bestimmten Funktion
verbundene Stellen in der öffentlichen Verwaltung eigenen
Staatsangehörigen vorbehalten.8 Zu diesen zählen in
Hochschulen und staatlichen Forschungseinrichtungen
möglicherweise Leitungsfunktionen, nicht aber die
Wahrnehmung bloßer Lehr- und
Forschungstätigkeiten.9
Relevanter ist die zweite, in Art. 45 Abs. 3 AEUV enthaltene
Ausnahme, nach der die Freizügigkeit in Bezug
auf die Beschäftigung unter dem Vorbehalt der aus
Löwisch/Anselment · Beschäftigungsverbot für Wissenschaftler aus Risikostaaten? 1 3 3
10 BeckOGK/Spindler, 1.2.2023, BGB § 823 Rn 256.
11 Zum Anspruch auf Vertragsschluss als Konsequenz von
§ 249 Abs. 1 BGB siehe allgemein BGH 6. 6. 1974, II ZR 157/72, DB
1974, 1719; BAG 16. 3. 1989, 2 AZR 325/88, DB 1989, 1728.
12 Roloff/Lampe, JuS 2007, 354, 355; Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht/
Benecke, 5. Auflage 2021, § 32 Rn. 161; für eine analoge
Anwendung des § 15 Abs. 6 AGG auf das Maßregelungsverbot des
§ 612a BGB BAG 21.09.2011, 7 AZR 150/10, juris; dem BAG folgend
Horcher, RdA 2014, 93, 99.
13 Henssler/Willemsen/Kalb/Tillmanns, Arbeitsrecht Kommentar,
Art.45 AEUV, Rn 8.
14 Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft
andererseits über die Freizügigkeit.
15 Henssler/Willemsen/Kalb/Tillmanns, Arbeitsrecht Kommentar,
Art.45 AEUV, Rn 8; Erfurter Kommentar/Schlachter, Arbeitsrecht,
Art. 45 AEUV Rn 8; AR/Krebber, 10. Auflage 2021 Art. 45 AEUV
Rn 10.
Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit
gerechtfertigten Beschränkungen steht. Das Risiko
des Missbrauchs sicherheitsrelevanter Forschung ist
gewiss Gegenstand der öffentlichen Sicherheit.
Indessen genügt die allgemeine Erwägung, Angehörige
bestimmter Risikostaaten könnten sicherheitsrelevante
Forschungen auf einem oder auch mehreren Feldern
missbrauchen, nicht zur Beschränkung ihrer Freizügigkeit.
Nach Art. 27 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie
2004/38/EG darf bei Maßnahmen, welche die
Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung
und Sicherheit beschränken, ausschließlich das persönliche
Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein.
Nach Art. 27 Abs. 3 muss dieses persönliche Verhalten
eine tatsächliche gegenwärtige Gefahr darstellen, die ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt; vom Einzelfall
losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen
sind nicht zulässig.
Ein allein auf die Staatsangehörigkeit oder die bisherige
Tätigkeit in einem bestimmten Staat abstellender
Ausschluss der Einstellung von Unionsbürgern lässt sich
mit dieser Vorgabe nicht vereinbaren. Zulässig ist ein
Ausschluss nur, wenn konkrete Umstände in der Person
des betreffenden Wissenschaftlers ein sicherheitsrelevantes
Risiko von Gewicht begründen, etwa ihre Veröffentlichungen,
ihre bisherige Tätigkeit oder auch die Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Organisation den
Schluss nahelegen, sie neige zu einem unbegrenzten Gebrauch
auch missbrauchsanfälliger
Forschungsergebnisse. - Rechtsschutz
Art. 45 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Freizügigkeitsverordnung
(VO [EU] 492/2011) dienen dem Schutz
der Unionsbürger auch in Bezug auf ihre Beschäftigung.
Sie sollen gewährleisten, dass sie beim Eingehen von
Arbeitsverhältnissen nicht wegen ihrer Staatsangehörigkeit
diskriminiert werden. Als in Deutschland unmittelbar
geltende Rechtsnormen kommen ihnen damit
Schutzgesetzcharakter im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB
zu.10
Verletzt ein potenzieller Arbeitgeber Art. 45 AEUV,
verpflichtet ihn das nach Maßgabe der §§ 249ff BGB
zum Schadensersatz. Dabei gilt nach § 249 Abs. 1 BGB in
erster Linie der Grundsatz der Naturalrestitution: Kann
ein Bewerber nachweisen, dass er eingestellt worden
wäre, wenn sein Recht auf Freizügigkeit beachtet worden
wäre, hat der Anspruch auf Abschluss eines entsprechenden
Arbeitsvertrags.11
Aus § 15 Abs. 6 AGG folgt nichts Anderes. Der dort
für die Diskriminierungsfälle des AGG angeordnete
Ausschluss eines Anspruchs auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses
gilt hier entgegen der wohl
herrschenden Meinung12 nicht. § 15 AGG enthält eine
ausgewogene Gesamtregelung der schadensrechtlichen
Folgen der Verletzung eines Diskriminierungsverbots,
die in Absatz 2 insbesondere auch einen Anspruch auf
Ersatz des immateriellen Schadens umfasst. Aus dieser
kann nicht isoliert ein einzelner Teil analog angewandt
werden. Eine analoge Anwendung der ganzen Vorschrift
und damit auch des Absatzes 2 scheitert aber am Analogieverbot
des § 253 Abs. 1 BGB. - Wissenschaftler aus assoziierten Staaten
Angehörigen von Staaten des Europäischen Wirtschaftraums
(neben den Staaten der EU derzeit Island,
Norwegen und Liechtenstein) kommt nach Art. 28 des
Abkommen über den EWR vom 2.05.1992 und dessen
Anhang V vollumfängliche Freizügigkeit iSd.
Art. 45 AEUV zu.13 Für die Beschäftigung von Wissenschaftlern
aus diesen Staaten gelten deshalb die gleichen
Regeln wie für Wissenschaftler aus Staaten der EU.
Auch Schweizer Staatsangehörige genießen aufgrund
des Freizügigkeitsabkommen EU-Schweiz vom
21.06.1999 Arbeitnehmerfreizügigkeit14, so dass für sie
ebenfalls die gleichen Regeln gelten.
Das Assoziationsabkommen zwischen der Türkei
und der EWG vom 12.09.1963 billigt zusammen mit den
konkretisierenden Beschlüssen, die unmittelbar wirken,
ein Recht auf weitere Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis
zu, wenn die Beschäftigung ein Jahr ordnungsgemäß
durchgeführt wurde.15 In Art. 12 des Assoziierungsabkommens
hat die EU mit der Türkei vereinbart, schrittweise
die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen.
Vom EUGH wird dies so interpretiert, dass die ihm Rahmen
von Art. 45 AEUV geltende Grundsätze so weit wie
1 3 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 3 1 — 1 3 8
16 EuGH, 19.7.2012, C‑451/11, juris, Rn 48.
17 Siehe zu Art. 40 Kooperationsabkommen EWG-Marokko EUGH
v.2.03.1999, Rs. C- 416/96, NZA 1999, 533, 537; für die Ukraine
siehe Art. 17 des Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen
Union und ihren Mitglieds taaten einerseits und der Ukraine
andererseits; für Albanien siehe Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
mit Albanien.
18 Geiger/Khan/Kotzur/Kirchmair/Khan/Gerckens, 7. Aufl. 2023,
AEUV Art. 45 Rn. 14.
19 Näher Geiger/Khan/Kotzur/Kirchmair/Khan/Gerckens, - Aufl. 2023, AEUV Art. 45 Rn. 15 f.
20 Schultheiß, Aufenthaltsrechte von dritts taatsangehörigen Wissenschaftlern,
OdW 2018, 3, 4; demnächs t auch Cas tendyk OdW 2023,
Heft 4.
21 Schultheiß, aaO OdW 2018, 3, 6.
möglich auf Arbeitnehmer aus der Türkei zu übertragen
sind.16
Andere Assoziierungs- und Kooperationsabkommen enthalten
zwar hinsichtlich der Arbeitsbedingungen Diskriminierungsverbote
wegen der Staatsangehörigkeit,
beziehen diese aber nicht auf die Zulassung zur Beschäftigung.
Dies gilt etwa für die Abkommen mit den Maghreb-
Staaten und die Assoziationsabkommen mit Albanien
und der Ukraine.17
Für Arbeitnehmer aus dem Vereinigten Königreich
gilt das Austrittsabkommen Großbritanniens mit der
EU, welches die Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen der
EU und Großbritannien infolge des Brexit beendet hat.18
Britische Staatsangehörige, die vor dem 31.12.2020 in der
EU ansässig waren, genießen jedoch hinsichtlich der
Freizügigkeit Bestandsschutz.19
III. Wissenschaftler aus Drittstaaten - Besondere Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Forschung
a. Grundsätzlicher Anspruch auf Erteilung
Nach § 18d Absatz 1 Aufenthaltsgesetz wird einem Ausländer
ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit
eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Forschung
erteilt, wenn er eine wirksame Aufnahmevereinbarung
oder einen entsprechenden Vertrag mit einer Forschungseinrichtung
abgeschlossen hat, die Forschung
betreibt. Die Vorschrift erfasst alle in der Forschung tätigen
Wissenschaftler, auch Assistenten, wissenschaftliche
Mitarbeiter, Postdoktoranden und Gastwissenschaftler.20
Nach § 18 d Abs. 5 Satz 1 AufenthG berechtigt die
Aufenthaltserlaubnis zur Aufnahme der Forschungstätigkeit
bei der in der Aufnahmevereinbarung bezeichneten
Forschungseinrichtung und zur Aufnahme von Tätigkeiten
in der Lehre. Die Berechtigung umfasst die
Aufnahme der entsprechenden Erwerbstätigkeit und damit
auch den Abschluss eines entsprechenden
Arbeitsvertrags.21
§ 18 d AufenthG setzt für Wissenschaftler die Bestimmungen
der Richtlinie 2016/801/EU über die Bedingungen
für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen
zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur
Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem
Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder
Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit
um. Diese enthält in ihren Artikeln 9 und 10 nähere
Richtlinien für die Zulassung von Forschungseinrichtungen
und die Ausgestaltung der
Aufnahmevereinbarungen.
b. Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis wegen
Sicherheitsbedenken
Das Aufenthaltsgesetz sieht keine Möglichkeit vor, Wissenschaftlern,
die Angehörige eines bestimmten Staates
sind oder aus einem bestimmten Staat kommen, die Aufenthaltserlaubnis
zu verweigern. § 19 f des Gesetzes
erlaubt nur die Ablehnung aus den im Einzelnen aufgezählten
Gründen. In Betracht kommt lediglich die
Bestimmung des § 19 f Abs. 4 Nr. 6, nach der auch der
von Forschern gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
abgelehnt werden kann, wenn Beweise
oder konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der
Ausländer den Aufenthalt zu anderen Zwecken nutzen
wird als zu jenen, für die er die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis
beantragt.
Dass ein Ausländer die ihm mit der Aufenthaltserlaubnis
ermöglichte Forschungstätigkeit zum Missbrauch
sicherheitsrelevanter Forschungsergebnisse
nutzt, ist aufenthaltsrechtlich gewiss zweckwidrig. Die
Ablehnung auch wegen dieser Gefahr setzt nach der
Vorschrift aber Beweise oder konkrete Anhaltspunkte dafür
voraus, dass in der Person des betreffenden Forschers
eine solche Gefahr besteht.
Aus den Bestimmungen der Richtlinie 2016/801/EU
ergibt sich nichts Anderes. Nach deren Art. 7 Abs. 6 ist
Drittstaatsangehörigen, die als Bedrohung für die öffentliche
Ordnung, Sicherheit und Gesundheit angesehen
werden, die Zulassung zu verweigern. Aber auch das gilt
Löwisch/Anselment · Beschäftigungsverbot für Wissenschaftler aus Risikostaaten? 1 3 5
22 Schultheiß aaO OdW 2018, 3, 5.
23 BVerfG 10. 5. 1988, 1 BvR 1166/85, BVerfGE 78, 179, 197.
24 Allgemein zur Problematik der abschließenden Statuierung von
Diskriminierungsmerkmalen jetzt Hülya Erbil, Möglichkeiten und
Grenzen eines pos tkategorialen Antidiskriminierungsrechts in:
Picker/Gräf, Funktionalität und Effektuierung des Antidiskriminierungsrechts,
2023, S. 42 f.
25 BVerfG 7. 2. 2012, 1 BvL 17/07, Rn 46.
wie bei allen Ablehnungsgründen nach Art. 20 Abs. 1 lit. f
nur, wenn der Mitgliedstaat Beweise oder ernsthafte und
sachliche Anhaltspunkte dafür hat, dass der Drittstaatsangehörige
seinen Aufenthalt zu anderen Zwecken nutzen
würde als jene, für die er die Zulassung beantragt.
Auch muss nach Art. 20 Abs. 4 diese wie jede andere
Entscheidung, einen Antrag abzulehnen, die konkreten
Umstände des Einzelfalls berücksichtigen und den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einhalten.
Auch drittstaatsangehörige Wissenschaftler können
deshalb nicht allein wegen ihrer Staatsangehörigkeit
oder ihrer bisherigen Tätigkeit in einem bestimmten
Staat von einer Beschäftigung an einer deutschen Hochschule
oder Forschungseinrichtung ausgeschlossen werden.
Möglich ist der Ausschluss im Wege der Ablehnung
der Aufenthaltserlaubnis nur, wenn konkrete Umstände
in ihrer Person ein sicherheitsrelevantes Risiko von Gewicht
begründen.
c. Rechtsschutz
Die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
stellt einen Verwaltungsakt dar, gegen den sich der
Betroffene mit den einschlägigen verwaltungsverfahrensrechtlichen
und verwaltungsgerichtlichen Mitteln
zur Wehr setzen kann. Das Aufenthaltsgesetz enthält
hierfür in seinen §§ 77 bis 85 eine Reihe von Sondervorschriften. - Ablehnung durch Hochschule oder Forschungseinrichtung
a. Staatliche Hochschulen und öffentlich-rechtliche Einrichtungen
Um eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Forschung
in Deutschland zu erhalten, muss der Wissenschaftler
nach § 18d Abs. 1 Nr. 1 AufenthG über eine Aufnahmevereinbarung
oder einen entsprechenden Vertrag
mit einer deutschen Hochschule oder Forschungseinrichtung
verfügen.22 Das führt zu der Frage, ob Hochschulen
und Forschungseinrichtungen, den Empfehlungen
des Gemeinsamen Ausschusses folgend, selbst die
Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen allein wegen
deren Staatsangehörigkeit oder wegen deren bisherigen
Tätigkeit in einem bestimmten Staat ablehnen können.
Die Frage ist zu verneinen.
Lehnten staatlichen Hochschulen, Universitätsklinika
oder öffentlich-rechtlich organsierte Forschungseinrichtungen
die Beschäftigung drittstaatsangehöriger
Wissenschaftler allein aus diesen Gründen ab, verletzte
das deren Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 S. 1
und Art. 3 Abs. 1. S. 1 GG:
Zwar können sich die drittstaatsangehörigen Wissenschaftler
nicht auf die Deutschen vorbehaltenen Grundrechte
des gleichen Zugangs zum öffentlichen Dienst
nach Art. 33 Abs.2 GG und der Berufsfreiheit nach Art.
12 GG berufen. Ihnen kommt aber für ihre rechtliche Befugnis,
in Deutschland tätig zu werden, der dem Rechtsstaatsprinzip
immanente Vorbehalt des Gesetzes zu
Gute, dessen Beachtung auch der Ausländer über
Art. 2 Abs. 1 GG verlangen kann. Der Vorbehalt des Gesetzes
verbietet es, eine so gravierende Beeinträchtigung
der Entfaltung der Persönlichkeit wie sie die Verweigerung
der Beschäftigung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
oder wegen der bisherigen Tätigkeit im Ausland
darstellt, ohne gesetzliche Grundlage vorzunehmen.23
Dies gilt für eine Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit
des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ebenso. Eine entsprechende
gesetzliche Grundlage fehlt, weil wie dargestellt,
das AufenthG eine Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis
und damit einer Beschäftigung allein aus diesen
Gründen gerade nicht vorsieht.
Auch gehört die Staatsangehörigkeit zwar nicht zu
den unzulässigen Differenzierungsmerkmalen des
Art. 3 Abs. 3 GG und des AGG.24 Doch dürfen nach dem
allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Ausländer
wegen der Staatsangehörigkeit nicht willkürlich, das
heißt ohne Vorliegen eines legitimen sachlichen Grundes,
benachteiligt werden.25 Ein solcher legitimere Grund
fehlt angesichts der Tatsache, dass der Gesetzgeber im
Aufenthaltsgesetz selbst zum Ausdruck bringt, dass nur
1 3 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 3 1 — 1 3 8
26 BVerfG 05.08.1994, 1 BVR 1402/89 Rn 21 f, juris; mit umfassenden
Nachweisen Staudinger/Oechsler,2021, § 826 Rn 579 ff; HK-BGB/
Ansgar Staudinger, 11. Aufl. 2021, BGB § 826 Rn 18.
27 BGH vom 02.12.1974, BGHZ 63,282, 287; Grunewald, Vereinsaufnahme
und Kontrahierungszwang, AcP 182, 81, 192 ff.
28 Staudinger/Oechsler, 2021, § 826 BGB Rn 587.
29 Zur Leis tungsfunktion der Grundrechte siehe Jarass/Pieroth/Jarass,
GG 17. Aufl. 2022, Vorbem. vor Art. 1 Rn 4 ff.
in der betreffenden Person liegende Gründe eine Ablehnung
rechtfertigen.
b. Privatrechtlich organisierte Hochschulen und Forschungseinrichtungen
Als Arbeitgeber genießen privatrechtlich organisierte
Hochschulen und Forschungseinrichtungen nach
§ 105 Satz 1 GewO hinsichtlich des Abschlusses von
Arbeitsverträgen grundsätzlich Vertragsfreiheit. Das gilt
auch für die Einstellung von Wissenschaftlern. Mit welchen
Personen sie Arbeitsverträge als Wissenschaftler
abschließen, unterliegt grundsätzlich ihrer freien Entscheidung.
Diese Freiheit ist zwar durch die Diskriminierungsverbote
des AGG gesetzlich eingeschränkt. Zu
den Diskriminierungsverboten zählt die unterschiedliche
Behandlung wegen einer bestimmten Staatsangehörigkeit
oder wegen der vorherigen Tätigkeit in einem
bestimmten Staat nicht.
In Rechtsprechung und Literatur ist aber anerkannt,
dass die Weigerung, mit bestimmten Personen Verträge
abzuschließen eine sittenwidrige Schädigung im Sinne
von § 826 BGB darstellen kann mit der Folge, dass auch
ohne Bestehen einer entsprechenden gesetzlichen Regelung
die Abschlussfreiheit eingeschränkt ist. Voraussetzung
dafür ist auf der einen Seite eine besondere Machtposition
der den Vertragsschluss verweigernden potenziellen
Vertragspartei und auf der anderen Seite ein besonderes
Schutzinteresse der den Vertragsschluss
begehrenden potenziellen Vertragspartei.26
Vom Vorliegen einer besonderen Machtposition wird
dabei insbesondere dort ausgegangen, wo Private Leistungen
vergeben, welchen ihnen von der öffentlichen
Hand zur Verfügung gestellt werden.27 Ein besonderes
Schutzinteresse des abgelehnten Vertragspartners besteht
vor allem dort, wo die Abschlussverweigerung ein
grundrechtliches Schutzgut betrifft.28
Beides kommt hier in Betracht. Die großen privatrechtlich
organisierten Forschungseinrichtungen Max-
Planck-Gesellschaft, Fraunhofer Gesellschaft, Helmholtz
Gesellschaften und Institute der Leibniz Gemeinschaft
erhalten in erheblichem Umfang staatliche Mittel zur
Förderung von Wissenschaft und Forschung. Diese dienen
auch dem Zweck, Wissenschaftler zu beschäftigen
und sollen so zugleich im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG
deren persönliche wissenschaftliche Entwicklung fördern.
Ihnen den Zugang zu dieser Förderung lediglich
wegen ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer bisherigen
Tätigkeit in einem anderen Staat zu verweigern, wäre
willkürlich. Legitim ist eine solche Verweigerung nur,
wenn konkrete in ihrer Person liegende Gründe die Ablehnung
rechtfertigen.
Auch hier setzt deshalb die Ablehnung aus Sicherheitsgründen
den Nachweis voraus, dass gerade ihre Beschäftigung
aus in ihrer Person liegenden Gründen ein
sicherheitsrelevantes Risiko darstellt.
c. Rechtsschutz
Staatliche Hochschulen und öffentlich-rechtliche Einrichtungen
sind unmittelbar an die Grundrechte gebunden.
Werden Bewerber um eine Stelle an einer staatlichen
Hochschule, einem öffentlich-rechtlich organisierten
Universitätsklinikum oder einer
öffentlich-rechtlichen Forschungseinrichtung allein
wegen ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer vorherigen
Beschäftigung in einem bestimmten Staat abgelehnt,
können sie, gestützt auf die Leistungsfunktion ihrer
Grundrechte aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 und
Art. 3 Abs. 1 GG nach Maßgabe der sonst für die betreffende
Stelle zu erfüllenden Voraussetzungen und zu
beachtenden Verfahrensschritte Einstellung verlangen
und arbeitsgerichtlich durchsetzen.29
Bewerbern, welche von einer privatrechtlich organisierten
Forschungseinrichtung oder Hochschule zu Unrecht
allein wegen ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer
vorherigen Beschäftigung in einem bestimmten Staat
nicht eingestellt worden sind, haben, wie unter b dargelegt,
Anspruch auf Schadensersatz nach § 826 BGB.
Auch dieser führt nach § 249 Abs. 1 BGB zum Anspruch
auf Abschluss eines entsprechenden Arbeitsvertrags.
Auch diesem Anspruch steht § 15 Abs. 6 AGG nicht im
Wege (siehe oben unter II 3).
IV. Ergebnis
Wissenschaftlern aus Sicherheitsgründen die Beschäftigung
an staatlichen oder privaten Hochschulen,
Löwisch/Anselment · Beschäftigungsverbot für Wissenschaftler aus Risikostaaten? 1 3 7
an staatlichen oder privatrechtlich organisierten Forschungseinrichtungen
oder an Universitätsklinika allein
wegen ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer bisherigen
Tätigkeit in einem bestimmten Staat zu verweigern, ist
rechtlich nicht haltbar.
Bei Wissenschaftlern aus Staaten der EU steht dem
die durch Art. 45 AEUV gewährleistete Arbeitnehmerfreizügigkeit
entgegen. Wissenschaftler aus Drittstaaten
haben Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
zum Zweck der Forschung und können sich gegenüber
Hochschulen und Forschungseinrichtungen auf
ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG berufen.
Zulässig ist die Ablehnung eines Wissenschaftlers
nur dann, wenn konkrete, in seiner Person liegende Umstände
ein sicherheitsrelevantes Risiko von Gewicht begründen,
etwa seine Veröffentlichungen, die bisher ausgeübte
Tätigkeit oder auch die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Organisation nahelegen, er neige zu einem
unbegrenzten Gebrauch auch missbrauchsanfälliger
Forschungsergebnisse.
Manfred Löwisch ist Professor an der Albert-Ludwigs-
Universität Freiburg und Leiter der Forschungsstelle
für Hochschulrecht und Hochschularbeitsrecht. Marie
Anselment ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.
1 3 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 3 1 — 1 3 8
I. Einleitung
Die Digitalisierung und die damit verbundenen neuen Kommunikations‑, Produktions- und Vervielfältigungsmöglichkeiten stellen auch die Wissenschaft vor Herausforderungen. Aufgrund der leicht zugänglichen Fülle an Informationen und der vielfältigen Verarbeitungsmöglichkeiten, haben sich die Rollen von Konsument:innen und Nutzer:innen mit denen der Produzent:innen von Inhalten vermischt: In Online-Umgebungen kann jede/r vergleichsweise einfach Inhalte generieren, neu zusammenstellen und publizieren.1
Dies führt dazu, dass sich durch die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten traditionelle Prozesse der Wissensgenese, ‑prüfung und ‑verbreitung grundlegend verändern.2 Gerade in der Produktion von neuem Wissen haben urheberrechtliche Fragen eine große Relevanz, die durch neue Praktiken in digitale Umgebungen vor Herausforderungen gestellt werden. Vor allem durch plattformkuratierte Inhalte ergeben sich Fragen dahingehend, wer „Wissen, Wahrheit und Rationalität im öffentlichen Diskurs für sich beanspruchen kann“3– was durch die nicht immer eindeutig identifizierbaren Urheber:innen von Kommunikationsprodukten und das Verwischen vormals relativ klar getrennter Rollen in Online-Umgebungen zusätzlich erschwert wird.
Vor diesem Hintergrund sind zahlreiche Herausforderungen für das Urheberrecht entstanden. Insbesondere haben die Rechtsinhaber, zu denen auch Hochschulen und einzelne Wissenschaftler:innen zählen, in einer Welt, in der Inhalte von jedem ohne große Kosten erstellt, verbreitet und rezipiert werden können, ihre Verfügungsgewalt über die Werke verloren.4 Hierzu haben nicht nur Filesharing-Dienste beigetragen, deren Geschäftsmodelle die deutsche und europäische Rechtsprechung in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt haben,5 sondern insbesondere in den letzten Jahren auch die „Plattformisierung“ des Internets. Große Medienintermediäre wie zum Beispiel „Youtube“ spielen nicht nur eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von urheberrechtlich geschützten Inhalten, sie werden gleichsam auch zum Normensetzer für das Urheberrecht. Im Rahmen von privaten Richtlinien und geschützt von Haftungsprivilegien wie sie im US-amerikanischen Digital Millennium Copyright Act, der europäischen E‑Commerce-Richtlinie und nun auch im Digital Services Act vorgesehen sind,6 bestimmen sie den Umfang und die Anwendung des Urheberrechts in einem großen Teil des digitalen Ökosystems.7 Diese Entwicklungen und auch die Diskussion über die Verantwortlichkeit der Medienintermediäre für die auf ihren Plattformen begangenen Urheberrechtsverletzungen hat dazu geführt, dass das Urheberrecht schon seit den 1990er Jahren die Speerspitze der digitalen Rechtsdurchsetzung bildet.8 So nimmt die algorithmische Filterung von Inhalten und die automatisierte Suche nach Urheberrechtsverletzungen zu. Probleme bei der algorithmischen Rechtsdurchsetzung — vor allem die mangelnde Fähigkeit der Algorithmen
Hannah Schmid-Petri, Steliyana Doseva, Jan Schillmöller, Dirk Heckmann
Interdisziplinäre Forschung als möglicher Impulsgeber für eine evidenzbasierte Regulierung – Programmatische Überlegungen am Beispiel des Urheberrechts im
digitalen Zeitalter
1 Bruns, Blogs, Wikipedia, Second Life, and beyond: From production to produsage, Peter Lang, 2008.
2 Neuberger/Weingart/Fähnrich/Fecher/Schäfer/Schmid-Petri/Wagner, Der digitale Wandel der Wissenschaftskommunikation. Wissenschaftspolitik im Dialog, eine Schriftenreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2021, Abrufbar unter: https://www.bbaw.de/files-bbaw/user_upload/publikationen/Broschuere-WiD_16_PDFA-1b.pdf (letzter Zugriff: 01.05.2023).
3 Neuberger/Bartsch/Reinemann/Fröhlich/Hanitzsch/Schindler, Der digitale Wandel der Wissensordnung. Theorierahmen für die Analyse von Wahrheit, Wissen und Rationalität in der öffentlichen Kommunikation, M&K Medien & Kommunikationswissenschaft, 2019, S. 167.
4 Gray, Google Rules. The his tory and future of copyright under the influence of Google, Oxford University Press, 2020, S. 5–6.
5 Vgl. u. a.: EuGH v. 26.04.2017, C‑527/15, ECLI:EU:C:2017:300; BGH v. 11.06.2015, I ZR 19/14, Tauschbörse I; BGH v. 12.07.2012, I ZR 18/11, Alone in the Dark.
6 Gemeinsam is t diesen Bes timmungen, dass sie die Haftung des Intermediärs als bloßer Vermittler auf die Haftung nach Kenntnis beschränken und sie somit nicht zu aktiven Überprüfungs pflich ten, sondern „nur“ zu einem Notice-and-Take-Down-Verfahren verpflichten.
7 Gray, Google Rules. The his tory and future of copyright under the influence of Google, Oxford University Press, 2020, S. 130.
8 Perel/Elkin-Koren, Accountability in Algorithmic Enforcement: Lessons from Copyright Enforcement by Online Intermediaries, Standford Technology Law Review 2016, S. 476–477.
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 4 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 3 9 — 1 4 6
9 Perel/Elkin-Koren, Accountability in Algorithmic Enforcement:
Lessons from Copyright Enforcement by Online Intermediaries,
Standford Technology Law Review 2016, S. 473
10 Spindler, Der Vorschlag für ein neues Haftungsregime für Internetprovider
– der EU-Digital Services Act, GRUR 2021, S. 545;
Gray, Google Rules. The his tory and future of copyright under the
influence of Google, Oxford University Press, 2020, S. 160; Fenwick/
McCahery/Vermeulen, The End of ‘Corporate’ Governance:
Hello ‘Platform’ Governance, European Business Organization
Law Review, 2019, S. 196.
11 Wimmers/Barudi, Der Mythos vom Value Gap, GRUR 2017, S. 327.
12 National Academy of Sciences, National Academy of Engineering,
and Ins titute of Medicine, Facilitating Interdisciplinary Research,
The National Academies Press, 2005, S. 2
13 Hilgendorf, Bedingungen gelingender Interdisziplinarität – am
Beis piel der Rechtswissenschaft, Juris ten Zeitung (JZ), 2010, S. 913-
922.
kontextsensitive Entscheidungen zu treffen9 — haben dabei
ebenso zu einer Diskussion über die Verantwortlichkeit
der Plattformbetreiber geführt wie die sog. „Value
Gap”-Diskussion.10 Im Rahmen dieser wird kritisiert,
dass ein Missverhältnis zwischen den Einnahmen besteht,
die die Medienintermediäre durch die, teilweise
unberechtigt, auf ihren Plattformen veröffentlichten
Werken erzielen, und den Einnahmen der
Rechtsinhaber.11
Diesen neuen Herausforderungen kann sich die
Rechtswissenschaft nur in interdisziplinären Partnerschaften
angemessen stellen. Um nicht losgelöst von gesellschaftlichen
Debatten und den Bedürfnissen der betroffenen
Gruppen zu agieren und um grundlegende politische
Werte und Rechtsgüter auch bei der Regulierung
von digitalen Medien- und Kommunikationsplattformen
zu sichern, ist es unabdingbar, zunächst die gesellschaftlichen
Erfordernisse zu eruieren, um davon ausgehend
forschungs- und evidenzbasierte Regulierungsoptionen
aufzuzeigen. Idealerweise können dann interdisziplinäre
Kooperationen, beispielsweise zwischen den
Rechts- und Sozialwissenschaften dazu beitragen, die gesellschaftliche
Teilhabe von Bürger:innen, die Handlungsfähigkeit
von Politik und nicht zuletzt faire Bedingungen
in öffentlichen Diskursen und in der Digitalwirtschaft
zu sichern.
Wie eine fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit
gelingen kann, möchten wir im Folgenden am Beispiel
eines durch das Bayerische Forschungsinstitut für
Digitale Transformation (bidt) geförderten Projekts zeigen,
an dem Kommunikations- und Rechtswissenschaft
gemeinsam ausgewählte Herausforderungen der Medien-
und Plattformregulierung bearbeiten.
II. Interdisziplinarität in der Rechtswissenschaft
Interdisziplinarität ist ein Schlagwort, das an Hochschulen
im Rahmen von Forschungsprojekten, Drittmittelanträgen
oder der Konzeption von (neuen) Studiengängen
viel diskutiert wird. Auch wenn die Debatte an sich eine
längere Tradition hat, ist diese häufig der Beobachtung
geschuldet, dass sich aktuelle gesellschaftliche Problemlagen
nicht (mehr) alleine monodisziplinär lösen lassen,
sondern vielmehr gemeinsame Bemühungen um
Erkenntnisgewinn und hinsichtlich der Implementierung
von Lösungen nötig sind.
In der Hochschulpraxis ist unter dem Begriff meist
gemeint, dass mindestens eine weitere, „andere“ Disziplin
zu einem Studiengang oder im Rahmen eines Forschungsprojekts
hinzugezogen wird. An dieser Stelle endet
dann häufig die Zusammenarbeit und gestaltet sich
eher als freundliches „Nebeneinanderherarbeiten“, bei
dem sich die erzielten Erkenntnisse im Idealfall zumindest
ergänzen. Die National Academy of Sciences definiert
Interdisziplinariät als eine Forschungsform, bei der
Informationen, Daten, Methoden, Perspektiven, Konzepte
und/oder Theorien aus verschiedenen Disziplinen
integriert werden, um gesellschaftliche Probleme zu lösen,
deren Reichweite über eine einzelne Disziplin hinaus
geht.12 Diese Integration benötigt eine große Offenheit
von den beteiligten Akteuren und setzt zudem eine
hohe Kommunikationsbereitschaft voraus, da im Rahmen
einer jeden interdisziplinären Kooperation sehr viel
Erklärungs‑, Übersetzungs- und Verständigungsarbeit
nötig ist.
Hilgendorf konstatiert, dass in der Rechtswissenschaft
üblicherweise interdisziplinäre Kooperationen
nur wenig verbreitet sind.13 Als Ursache nennt er dafür
beispielsweise, dass die Begriffe und Methoden der
Rechtswissenschaften häufig sehr speziell sind. Dadurch
wird im Rahmen einer Zusammenarbeit der Erklärungsaufwand
sehr hoch und der Zugang zu rechtswissenschaftlich
akkumuliertem Wissen für andere Disziplinen
schwierig. Darüber hinaus neigt die Rechtswissenschaft
seiner Ansicht nach zu einer eigenen Begriffsbildung
ohne darauf zurückzugreifen, was bereits in anderen
Disziplinen zu diesen vorhanden ist. Diese, zumindest
partielle, Abgeschlossenheit erschwert interdisziplinäre
Kooperationen.
Viele Bereiche der Rechtswissenschaft arbeiten sehr
anwendungsorientiert. Gerade diese Anwendungsorientierung
macht es nötig, auf Wissen aus verschiedenen
Schmid-Petri/Doseva/Schillmöller/Heckmann · Interdisziplinäre Forschung 1 4 1
14 Dreyer, Wissen zum Recht machen, Impulsvortrag im Rahmen des
Workshops „Die Kommunikationswissenschaft als Impulsgeber
für eine evidenzbasierte Medien- und Plattformregulierung im
Online-Zeitalter“ von Schmid-Petri/ Doseva/ Stark/ Schneiders/
Dreyer, Jahres tagung der DGPuK, 2022.
15 RL (EU) 2019/790 des Europäischen Parlaments und des Rates v.
17.4.2019 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte
im digitalen Binnenmarkt und zur Änderung der RL 96/9/EG und
RL 2001/29/EG (ABl. 2019 L 130, 92).
16 Wandtke/Hauck, Ein neues Haftungssys tem im Urheberrecht
– Zur Umsetzung von Art. 17 DSM-RL in einem „Urheberrechts-
Diens teanbieter-Gesetz“, ZUM 2020; Ludyga, Die EU-Urheberrechtsreform:
„Digitales Update“, jM 2019, 442; Gielen/Tissen, Die
neue Plattformhaftung nach der Richtlinie über das Urheberrecht
im digitalen Binnenmarkt, EuZW 2019.
gesellschaftlichen Bereichen zurückgreifen zu können,
um fundierte und begründete Entscheidungen treffen zu
können. Dreyer unterscheidet hier zwischen Handlungsvoraussetzungswissen
und Handlungswirkungswissen,
das das Rechtssystem idealerweise benötigt, um zum einen
relevante Regulierungsbereiche zu identifizieren
und zum anderen bestehende Normen und/oder getroffene
Entscheidungen zu evaluieren.14 Unter Handlungsvoraussetzungswissen
fallen beispielsweise Erkenntnisse
oder empirische Daten darüber, welche gesellschaftlichen
Probleme oder auch Fehlentwicklungen vorliegen
und als wie relevant und persistent diese einzustufen
sind. Zum Bereich des Handlungswirkungswissens gehört
beispielsweise eine Abschätzung der Wirkungsweise
und Effektivität von bestimmten Regulierungsoptionen
oder auch eine retrospektive Bewertung dahingehend,
ob eine bestimmte Regulierung die gewünschten
Effekte erzielt hat (oder nicht).
Für die evidenzbasierte Fundierung bestimmter
Rechtsvorschriften kann die Rechtswissenschaft folglich
in hohem Maße von den Erkenntnissen aus anderen
Disziplinen profitieren. Im Bereich der Medien- und
Plattformregulierung ist hier die Kommunikationswissenschaft
eine (unter vielen weiteren) sozialwissenschaftliche
Disziplin, die relevantes Wissen in Regulierungsprozesse
einspeisen kann. Dies möchten wir im
Folgenden am Beispiel einer Studie, die im Rahmen der
Novellierung des Urheberrechts durchgeführt wurde,
verdeutlichen. Ziel dieses Beitrages ist es folglich, exemplarisch
darzustellen, wie die interdisziplinäre Forschung
besonders wertvolle Erkenntnisse hervorbringen
kann, die im politischen Prozess den angemessenen Interessenausgleich
bei regulatorischen Vorhaben entscheidend
verbessern. Diese können auch dazu beitragen,
Regulierungsvorschläge evidenzbasiert zu evaluieren
und auf Grundlage der Empirie neue Regulierungsvorschläge
zu unterbreiten.
III. Interdisziplinäre Forschung am Beispiel eines
gemeinsamen Projekts zwischen Kommunikationsund
Rechtswissenschaft - Die EU-Urheberrechtsreform und ihre Umsetzung in
Deutschland
Als Reaktion auf die Diskussion über die Verantwortlichkeit
der Plattformbetreiber und der Frage nach
einem angemessenen urheberrechtlichen Interessenausgleich
sah sich die Europäische Union veranlasst, die
Regelungen zum Schutz des Urheberrechts im Binnenmarkt
nachzuschärfen. Hierzu wurde die Digital Single
Market (DSM)-Richtlinie15 verabschiedet, die das Urheberrecht
an die neuen technischen und gesellschaftlichen
Gegebenheiten des Internets anpassen, den Schutz
der Urheber:innen verbessern und den Urheberrechtsschutz
im Binnenmarkt harmonisieren soll.16
Die bisherigen Regelungen, insbesondere die Haftungsfreistellung
der Medienintermediäre für die Urheberrechtsverletzungen
ihrer Nutzer:innen, solange sie
den betreffenden Beitrag nach einem Hinweis der
Rechtsinhaber unverzüglich entfernen (Artikel 14 der ECommerce-
Richtlinie von 2000), stammen noch aus der
„Anfangszeit“ des Internets und sollte ein innovationsund
entwicklungsoffenes regulatorisches Rahmenwerk
für das Internet schaffen. Die DSM-RL rückt hiervon ab
und regelt eine eigene täterschaftliche Haftung der Plattformbetreiber
für die Urheberrechtsverletzungen ihrer
Nutzer:innen (Art. 17 Abs. 1 DSM-RL). Gleichzeitig
schafft die Regel allerdings auch eine neue Exkulpationsmöglichkeit
für die Plattformbetreiber: Art. 17 Abs. 4
DSM-RL regelt, dass sie dieser Haftung nicht nur durch
den Abschluss von Lizenzen entgehen können, sondern
auch indem sie „nach Maßgabe branchenüblicher Standards“
sicherstellen, dass „bestimmte Werke und sonstige
Schutzgegenstände, zu denen die Rechtsinhaber den
1 4 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 3 9 — 1 4 6
17 Gielen/Tissen, Die neue Plattformhaftung nach der Richtlinie über
das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt, EuZW 2019, S. 644;
Has tedt, Neue Herausforderungen für das Recht durch „Impossibility
Struc tures“, MMR, 2021, S. 696; Kaesling, Die EU-Urheberrechtnovelle
– der Untergang des Internets?, JZ 2019, S. 590;
Ludyga, Die EU-Urheberrechtsreform: „Digitales Update“, jM,
2019, S. 444; Pravermann, Art. 17 der Richtlinie zum Urheberrecht
im digitalen Binnenmarkt, GRUR, 2019, S. 783; Romero-Moreno,
‘Notice and s taydown’ and social media: amending Article 13 of
the Proposed Direc tive on Copyright, International Review of
Law, Computers & Technology, 2020, S. 154.
18 Schillmöller/Doseva/Schmid-Petri/Heckmann, Content ID vs.
„Uploadfilterpflicht” – Wahrnehmung und Bewertung von privaten
und gesetzlich vorgesehenen Filtermaßnahmen, in Schrör/
Keiner/ Müller/ Schumacher (Hrsg.), Entscheidungs träger im
Internet: Private Entscheidungss trukturen und Plattformregulierung,
Nomos Verlagsgesellschaft, 2022, S. 21.
19 Kaesling, Die EU-Urheberrechtnovelle – der Untergang des
Internets? JZ 2019, S. 588; Wandtke/Hauck, Ein neues Haftungssys
tem im Urheberrecht – Zur Umsetzung von Art. 17 DSM-RL in
einem „Urheberrechts-Diens teanbieter-Gesetz“, ZUM 2020, S. 675;
Gielen/Tissen, Die neue Plattformhaftung nach der Richtlinie über
das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt, EuZW 2019, S. 64.
20 Gers ter, Die Legende von der Zers törung des Internets, Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 3.4.2019, https://www.faz.net/aktuell/
politik/der‑s treit-um-das-urheberrecht-und-der-kampfbegriffzensur-
16116729.html (letzter Zugriff am 01.05.2023).
21 Gielen/Tissen, Die neue Plattformhaftung nach der Richtlinie über
das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt, EuZW, 2019, S. 645.
22 Vgl. hierzu u.a. auch Kraetzig, Das Urheberrecht als Zensurrecht,
Mohr Siebeck, 2022.
23 Sagatz, Aufstand der Generation Youtube. Der Tagess piegel v.
9.3.2019, https://www.tagess piegel.de/gesellschaft/medien/protes tgegen-
uploadfilter-aufs tand-der-generation-youtube/24082412.
html (letzter Zugriff am 01.05.2023).
24 Bundesminis terium der Jus tiz, Erklärung der Bundesrepublik
Deutschland zur Richtlinie über das Urheberrecht und verwandte
Schutzrechte im Digitalen Binnenmarkt; insbesondere zu Artikel
17 der Richtlinie v. 15.04.2019, https://www.bmj.de/SharedDocs/
Downloads/DE/News/PM/041519_Protokollerklaerung_Richtlinie_
Urheberrecht.pdf;jsessionid=7D872BBAF20DB4A769A7BE1A
7FFDCE21.1_cid297?__blob=publicationFile&v=1
25 Zur Kritik siehe Schillmöller/Doseva, „Chilling effec ts“ durch
YouTubes Content ID?, MMR, 2022, S. 181
26 game – Verband der deutschen Games-Branche, Stellungnahme
zum Referentenentwurf des Bundesminis teriums der Jus tiz und
für Verbraucherschutz zu einem Zweiten Gesetz zur Anpassung
des Urheberrechts an die Erfordernisse des digitalen
Binnenmarktes v. 6.11.2020, https://www.game.de/wp-content/
uploads/2020/11/2020–11-06-game-Entwurf-Stellungnahme-RefEUmsetzung-
DSM-RL.pdf.
Anbietern dieser Dienste einschlägige und notwendige
Informationen bereitgestellt haben, nicht verfügbar
sind“. Diese Exkulpation setzt nach einhelliger Meinung
allerdings voraus, dass die Medienintermediäre sog. Uploadfilter
einsetzen müssen, um diesen „branchenüblichen
Standard“ zu erfüllen.17 Bei Uploadfiltern handelt es
sich um „Technologien, die Text‑, Video‑, Audio- oder
andere Dateien beim oder nach dem Upload, in jedem
Fall aber noch vor der Veröffentlichung, prüfen und im
Falle einer Rechtsverletzung, die Veröffentlichung verhindern,
oder diese an bestimmte Maßnahmen, zum
Beispiel das Stummschalten einer Audiospur, knüpfen.“
18 Art. 17 Abs. 4 DSM-RL regelt jedoch nicht – wie in
der öffentlichen Diskussion oft kolportiert – eine Pflicht
zum Einsatz von Uploadfiltern, sondern vielmehr nur
eine Uploadfilterobliegenheit.19 Ihr Einsatz dient lediglich
dem Eigeninteresse der Plattformen, nämlich zur
Vermeidung von Rechtsnachteilen, die sich sonst aus der
täterschaftlichen Haftung ergeben würden.
Genau die Einführung dieser „Uploadfilterpflicht“
hat zu europaweiten Demonstrationen gegen die Richtlinie
geführt und zu Petitionen mit mehr als fünf Millionen
Unterschriften. Die Kritiker:innen befürchten, die
„Zerstörung des Internets“20, warnten vor einer schleichenden
Einführung staatlicher Zensurmaßnahmen,
und einer Gefährdung der Meinungsfreiheit durch ein
sogenanntes „Overblocking“.21 Dem Gesetzgeber wurde
vorgeworfen, das Urheberrecht als Zensurrecht in Stellung
zu bringen.22 Außerdem wurde kritisiert, dass die
DSM-Richtlinie – trotz der Proteste und der kontroversen
öffentlichen Diskussion — „hinter verschlossenen Türen“
beschlossen wurde und dass die Forderungen der
(oft schwach organisierten) Inhalteproduzent:innen im
Gesetzgebungsverfahren nicht berücksichtigt wurden.23
Als Reaktion auf den anhaltenden öffentlichen Diskurs
versprach die damalige Bundesregierung, die DSMRL
ohne eine entsprechende Uploadfilterobliegenheit
umzusetzen.24 Das der Umsetzung dienende Urheberrechts-
Diensteanbieter-Gesetz (UrhDaG) kommt jedoch
nicht ohne eine entsprechende Vorschrift aus. Dennoch
wurden im UrhDaG einige über die DSM-RL hinausgehende
Mechanismen eingeführt, um die Auswirkungen
des Uploadfiltereinsatzes zu begrenzen. Die Rechte der
Nutzer:innen sollen durch die Einführung von prozeduralen
Mechanismen abgesichert werden (§§ 10, 11 UrhDaG).
Außerdem wird ihnen ein neues Beschwerdeverfahren
zur Verfügung gestellt (§§ 13–17 UrhDaG).25
Die Einführung dieser Mechanismen war jedoch einer
ausgiebigen Diskussion der beteiligten Stakeholder
ausgesetzt. Diese fand nicht nur im Rahmen des Konsultationsverfahrens
zum Referentenentwurf statt, sondern
auch darüber hinaus. Insbesondere vor dem Hintergrund
der wortlautgetreuen Umsetzung der DSM-RL in
Ländern wie Frankreich und Italien, wurde der deutsche
Sonderweg sowohl von den Medienintermediären, als
auch von den Rechtsinhabern kritisiert, unter anderem
weil er gerade dem Ziel der Harmonisierung des Binnenmarktes
zuwiderlaufen würde.26 Auffällig war gleichSchmid-
Petri/Doseva/Schillmöller/Heckmann · Interdisziplinäre Forschung 1 4 3
27 Dieses Unterkapitel fasst Ergebnisse aus einem empirischen
Projekt zusammen, die im Rahmen folgender Artikel bereits
publiziert wurden: Doseva/Schmid-Petri/Schillmöller/ Heckmann,
Uploaders‘ perceptions of the German implementation of the EU
copyright reform and their preferences for copyright regulation,
Internet Policy Review, 2022; Schillmöller/Doseva/Schmid-Petri/
Heckmann, Content ID vs. „Uploadfilterpflicht” – Wahrnehmung
und Bewertung von privaten und gesetzlich vorgesehenen Filtermaßnahmen,
in Schrör/ Keiner/ Müller/ Schumacher (Hrsg.),
Entscheidungsträger im Internet: Private Entscheidungss trukturen
und Plattformregulierung, Nomos Verlagsgesellschaft, 2022, S. 19-
44; Schillmöller/Doseva, „Chilling effec ts“ durch YouTubes Content
ID?, MMR, 2022, S. 181–183; Schillmöller/Doseva/Schmid-Petri/
Heckmann, Urheberrecht im digitalen Zeitalter – Gesetzgebung
im Interessenkonflikt, bidt-blog, 2021, https://www.bidt.digital/
urheberrecht-im-digitalen-zeitalter-gesetzgebung-im-interessenkonflikt/.
zeitig auch, dass zum Zeitpunkt des deutschen Gesetzgebungsverfahrens
die öffentliche Diskussion um die Einführung
von Uploadfiltern abgeebbt ist und es keine Demonstrationen
gab, die vergleichbar mit jenem im Jahr
2019 waren.
Wie an diesem Beispiel dargestellt, vollzieht sich die
Plattformregulierung oft im Dreiecksverhältnis zwischen
Plattformbetreibern, Rechtsinhabern sowie
Nutzer:innen, deren Interessen gegeneinander abgewogen
werden müssen. Hochschulen und ihre Mitglieder
sind in diesem Spannungsverhältnis sowohl als Inhaber
von Urheberrechten an Inhalten, die auf Plattformen
hochgeladen oder auch von anderen weiterverarbeitet
werden, als auch als Nutzer:innen online verfügbarer
Medienprodukte angesprochen. Gleichzeitig können sie
im Rahmen der von ihnen bereitgestellten Lerninfrastruktur
aber auch in die Rolle des Plattformbetreibers
schlüpfen, der die „Infrastruktur“ für die rechtmäßige
und rechtswidrige Verbreitung urheberrechtlich geschützter
Werke bereitstellt. - Gesetzgebung im Interessenkonflikt: Nutzer:innen als
die leisen Stimmen in der Gesetzgebung?27
Um Regulierungen evidenzbasiert an gesellschaftliche
Erfordernisse anpassen zu können, ist es von Relevanz,
die Positionen, Interessenslagen und mögliche Konfliktlinien
der unterschiedlichen beteiligten Stakeholdergruppen
zu kennen. Zur systematischen Beantwortung
dieser Frage für den vorliegenden Fall der Reform des
Urheberrechts haben wir im Rahmen des Projekts zum
einen eine qualitative Inhaltsanalyse aller abgegebenen
Stellungnahmen (N=107) zum Referentenentwurf vorgenommen.
Zum anderen wurden ergänzend 19 aktive
Nutzer:innen von Videoplattformen (d.h. Personen, die
selbst dort Videos hochladen) zu ihrer Einschätzung im
Rahmen von qualitativen Leitfadeninterviews befragt.
Diese waren im offiziellen Konsultationsverfahren unterrepräsentiert,
so dass ihre Perspektive, trotz ihrer großen
Betroffenheit von urheberrechtlichen Regulierungen,
dort nur unzureichend abgebildet war. Die befragten
Nutzer:innen unterscheiden sich sowohl hinsichtlich
ihres Organisationgrades (stark organisiert wie Unternehmen,
Organisationen und Institutionen, mäßig organisiert
wie ein loser Zusammenschluss von zwei oder
mehr Personen, die gemeinsam einen Kanal betreiben
und schwach organisiert, z. B. Einzelpersonen), als auch
hinsichtlich ihrer Reichweite (hohe Reichweite mit über
5.000 Abonnenten, mittlere Reichweite mit 501 bis 5.000
Abonnenten und geringe Reichweite mit unter 500
Abonnenten).
In den Stellungnahmen zum Referentenentwurf lassen
sich zwei gegensätzliche Standpunkte identifizieren,
mit den Rechtsinhabern und Verwertungsgesellschaften
wie der GEMA auf der einen, und den großen Plattformbetreibern
wie Twitter oder Facebook, als auch
Vertreter:innen der Zivilgesellschaft und einzelnen
Nutzer:innen auf der anderen Seite. Während die Rechtsinhaberseite
bestrebt ist, Einschränkungen ihrer Vertragsfreiheit
(Art. 2 Abs. 1 GG) zu verhindern, um möglichst
umfangreiche und ungebunden Lizenzen mit den
Plattformen vereinbaren zu können und gleichzeitig für
eine präventive Sperrung nicht lizenzierter Materials
plädiert, möchten die Nutzer:innen, aber auch die Plattformbetreiber
möglichst viele Inhalte kostenlos oder gegen
eine pauschale Vergütung zugänglich machen. Für
die Plattformanbieter ist es insbesondere zentral, keine
eigenen urheberrechtlichen Entscheidungen treffen zu
müssen, um ihr Haftungsrisiko zu minimieren. Die Uploadfilterobliegenheit
wird vonseiten der Plattformen
aufgrund ihrer technischen Umsetzbarkeit kritisch hinterfragt.
Ähnlich kritisch sehen die Nutzer:innen den
Einsatz automatisierter Systeme im urheberrechtlichen
Kontext. Grund dafür sei die Gefahr vor Overblocking,
also das Löschen und Sperren von Inhalten, die nicht gegen
das Urheberrecht verstoßen und auch nicht aus anderen
Gründen rechtswidrig sind. Die vom BMJV eingeführten
Mechanismen werden von Nutzer:innen als
nicht weitreichend genug angesehen, um Overblocking
zu vermeiden.
Dies ist insofern von besonderem Interesse, da einige
der in den Interviews befragten Nutzer:innen ihre Tätigkeit
der Content-Erstellung für Kommunikationsplatt1
4 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 3 9 — 1 4 6
28 Hilderbrand, Youtube: Where cultural memory and copyright
converge, Film Quarterly, 2007, S. 56.
formen nicht nur als Hobby betreiben, sondern als Beruf
und diese damit eine wichtige finanzielle Einnahmequelle
darstellt. Von den Änderungen im Bereich des Urheberrechts
sind sie demzufolge direkt finanziell betroffen.
Aufgrund ihrer bereits gesammelten Erfahrungen mit
dem automatisierten System von YouTube zur Identifikation
von Urheberrechtsverletzungen, Content ID, stehen
sie der kommenden Uploadfilterobliegenheit eher
skeptisch gegenüber. Die Fehleranfälligkeit solcher Erkennungssysteme
führt oft dazu, dass die Uploader ihre
Videos nicht monetarisieren können, obwohl sie keine
Urheberrechtsverletzungen begangen haben. Dies ist
insbesondere dann problematisch, wenn es sich bei den
hochgeladenen Inhalten um sog. „appropriative content“
28 handelt – d.h. Inhalte, die auf urheberrechtlich
geschützten Werken anderer beruhen, aber dennoch
neue Werke darstellen und urheberrechtlich zulässig
sind, zum Beispiel Remix-Videos, Parodien, Memes und
Mashups. Da mögliche Fehler bei der automatischen Erkennung
von Urheberrechtsverletzungen die Monetarisierung
unterbinden, sehen sich die Uploader benachteiligt.
Im Falle einer fehlerhaften Erkennung und darauffolgender
Blockierung ihrer Inhalte, fordern die interviewten
Uploader, dass zumindest eingereichte
Beschwerden von Menschen und nicht von automatisierten
Systemen überprüft und bearbeitet werden. Darüber
hinaus fordern sie, dass große Plattformen wie You-
Tube mehr Lizenzvereinbarungen mit den Rechtsinhabern
abschließen, um den Einsatz von Uploadfiltern
überflüssig zu machen oder zumindest ihren Anwendungsbereich
einzuschränken.
Die Einführung von prozeduralen Mechanismen als
Absicherung der Rechte von Nutzerinnen und Nutzern
wird von den befragten Uploadern ebenfalls kritisiert.
Die Uploader betrachten die vorgeschlagenen Mechanismen,
wie zum Beispiel die geringfügige Nutzung (sog.
Bagatellgrenze, § 10 UrhDaG) als willkürlich und nicht
praxistauglich. Weitere Regulierungsmechanismen wie
die Möglichkeit, einen Upload als gesetzlich erlaubte
Nutzung zu kennzeichnen (sog. Pre-Flagging, § 11 UrhDaG),
werden im Allgemeinen positiv und als ein erster
Schritt, um Overblocking zu verhindern, bewertet.
Verglichen mit den vorgeschlagenen Bagatellgrenzen
wird das Pre-Flagging als praxistauglicher wahrgenommen,
insbesondere bei Fällen in der Grauzone, in denen
eine Einzelfallentscheidung erforderlich ist.
Des Weiteren wünschen sich die befragten Uploader
die Möglichkeit, direkt mit den Rechtsinhabern in Kontakt
zu treten und verhandeln zu können. Zugleich sind
einige Uploader der Meinung, dass die Plattformbetreiber
mehr Verantwortung übernehmen und damit auch
sicherstellen sollen, dass die Interessen der Uploader sowie
die Interessen der Rechtsinhaber stärker berücksichtigt
werden.
IV. Fazit und Ausblick: Evidenzbasierte Regulierung -
Chance für einen besseren Interessenausgleich im
Gesetzgebungsprozess
Wie dargestellt, stellen die veränderten Kommunikationsbedingungen
in Online-Umgebungen gerade das
Urheberrecht vor große Herausforderungen. Dies betrifft
auch Hochschulen, da diese sowohl als Urheber:innen,
als auch als Nutzer:innen in Kommunikation auf Plattformen
eingebunden sind. Darüber machen Herausforderungen
dieser Art deutlich, dass es in den meisten Fällen
die Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen
braucht, um einen sinnvollen gesellschaftlichen Umgang
mit solchen Transformationsprozessen zu finden.
Das hier vorgestellte Beispiel hat illustriert, wie sich
eine fruchtbare Zusammenarbeit – in diesem Fall zwischen
Rechts- und Kommunikationswissenschaft – gestalten
kann. Die Kommunikations- und auch andere
Sozialwissenschaften können einen Beitrag dazu leisten,
dass Bedürfnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher
Gruppen Eingang in den Gesetzgebungsprozess finden
und/oder geplante oder bestehende Regulierungen evaluiert
werden. Vor allem nicht organisierte Gruppen mit
wenig Ressourcen laufen Gefahr, im Gesetzgebungsprozess
„unterzugehen“ oder nicht gesehen zu werden. Sie
verfügen in der Regel über keine organisierte Interessensvertretung
und sind in offizielle Verfahren (wie
bspw. Konsultationsprozesse) häufig nicht eingebunden.
Darüber hinaus bietet die große Anwendungsorientierung
der Rechtswissenschaft vielfältige Anknüpfungspunkte
für interdisziplinäre Zusammenarbeit und gerade
diese macht es zudem nötig, auf die Erkenntnisse anderer
Disziplinen zurückzugreifen, um sicherzustellen,
dass sich die Praxis nicht von den gesellschaftlichen Erfordernissen
und Realitäten entfernt.
Die hier illustrierte und empfohlene interdisziplinäre
Kooperation der Rechtswissenschaft mit anderen (SoziSchmid-
Petri/Doseva/Schillmöller/Heckmann · Interdisziplinäre Forschung 1 4 5
al-)Wissenschaften birgt natürlich nicht nur anwendungsbezogene
Potenziale im Sinne verbesserter Wissensgrundlagen
für Regulierungsprozesse und die ihnen
vorgeschalteten Konsultations- und Deliberationsprozesse.
Auch die wissenschaftliche Forschung selbst profitiert
im günstigsten Fall von solcher Zusammenarbeit:
Für die Rechtswissenschaft werden durch Methoden
und Ergebnisse der Sozialwissenschaften die „Betroffenen“
mit ihren Interessen, Erfahrungen und Argumenten
greifbarer und für eine systematische Reflexion verfügbar.
Für Sozialwissenschaftler:innen wird aus solchen
Kooperationen umgekehrt die strukturprägende
Rolle von Recht und Regulierung – als eine wesentliche
Determinante sozialen Handelns – sehr viel deutlicher
erfassbar und kann in Studien wie etwa Interviews oder
Inhaltsanalysen gezielt berücksichtigt werden.
Für die Hochschulen haben diese Perspektiven in
mehrfacher Hinsicht Bedeutung. Zum einen würden
insbesondere große Universitäten von der stärkeren kooperativen
Vernetzung der Rechtswissenschaft mit anderen
Fachgebieten im oben beschriebenen Sinne profitieren.
Sie würden damit auch ihren ‚Impact‘, ihren Beitrag
zur Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen,
noch einmal vergrößern. Zugleich sind Hochschulen
und ihre Angehörigen wie eingangs erwähnt aber auch
„Betroffene“ in Regulierungsfragen wie etwa der Neufassung
von Urheberrechten und dem Digital Services Act,
weil die Wissenschaft auch Produzent von Inhalten ist
und sich publizistisch betätigt. Digitalisierung und Kommerzialisierung
der Wissenschaftspublizistik stellen
auch Hochschulen und ihr Personal vor ähnliche Fragen
und Sorgen wie jene, die in der vorgestellten Interviewstudie
von Video-Uploadern geäußert wurden. Auch
Hochschulen und Wissenschaftler:innen sind von der
zentralen Stellung digitaler Medienintermediäre abhängig
und müssen sich mit den gültigen Regulierungen arrangieren.
Die eigenen Interessen in diesem Kontext zu
vertreten, erfordert indes ein hohes Maß an Expertise
und Engagement – beides würde zweifelsohne von einer
aktiv betriebenen interdisziplinären Kooperation innerhalb
und zwischen Universitäten erheblich profitieren.
Prof. Dr. Hannah Schmid-Petri ist Inhaberin des Lehrstuhls
für Wissenschaftskommunikation an der Universität
Passau und leitet die Forschungsgruppe „Wissenschaftskommunikation“
am Fraunhofer-Exzellenzcluster
„Integrierte Energiesysteme“ CINES. Außerdem ist
sie Mitglied im Direktorium des Bayerischen Forschungsinstituts
für Digitale Transformation und im
Bayerischen Sachverständigenrat für Bioökonomie,
der das Bayerische Wirtschaftsministerium berät. Ihre
Forschungsschwerpunkte sind das Zusammenspiel
von Online- und Offline-Kommunikation, Umweltkommunikation,
politische Kommunikation und computergestützte
Sozialwissenschaften.
Steliyana Doseva (M.A.) ist wissenschaftliche Referentin
am Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale
Transformation in München und Doktorandin an der
Universität Passau. Ihre Forschungsinteressen umfassen
die Bereiche politische Kommunikation, Medienpolitik
und Plattformregulierung.
Jan Schillmöller (M. Iur.) ist wissenschaftlicher Referent
am Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation
in München und Doktorand an der School
of Social Science and Technology der Technischen Universität
München. Sein Forschungsinteresse gilt dem
Schutz von Grundrechten durch und gegenüber Plattformen.
Prof. Dr. Dirk Heckmann ist Inhaber des Lehrstuhls für
Recht und Sicherheit in der digitalen Transformation
an der TU München. Außerdem ist er Mitglied des
Direktoriums des Bayerischen Forschungsinstituts für
Digitale Transformation und Richter am Bayerischen
Verfassungsgerichtshof. Er ist ein ausgewiesener Spezialist
für das Datenschutzrecht, das IT-Sicherheitsrecht,
E‑Government und Rechtsinformatik. Seine Forschungsarbeit
dient seit vielen Jahren der Rechtsgestaltung
für einen menschenwürdigen und dem
Gemeinwohl dienenden digitalen Wandel, etwa in den
Bereichen Persönlichkeitsschutz im Internet oder Digitalisierung
des Gesundheitswesens.
1 4 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 3 9 — 1 4 6
I. Einleitung
Die Corona-Pandemie hat der Ressortforschung in mehrfacher Hinsicht zu ungeahnter Aufmerksamkeit verholfen. Zum einen wurden Institutionen der Ressortforschung, darunter das Robert Koch-Institut, funktional-politisch besonders relevant und entfalteten eine medial zuvor nicht gekannte Präsenz, zum anderen wurde die schon in den 1960er Jahren einen ersten Höhepunkt erlebende Frage nach dem angemessenen Verhältnis von wissenschaftlichen Experten und politischen Entscheidern, in deren Rahmen die institutionalisierte Ressortforschung eine Sonderstellung einnimmt, durch die Pandemie wieder in den Fokus gerückt. Die Pandemiebewältigung warf die Frage auf, welchen Einfluss eine Ressortforschungseinrichtung auf die politischen Entscheidungen hat bzw. ob sie auch zu regulatorischen Instrumenten ermächtigt werden sollte und ließ damit die Problematik um die Trennung oder Symbiose von Risikobewertungen und politischen Risikoentscheidungen virulent werden. Bei der gerichtlichen Überprüfung von staatlich verordneten Corona-Maßnahmen stellten sich ganz konkret auch Fragen nach den Einschätzungsspielräumen von Ressortforschungseinrichtungen. Der vorliegende Beitrag soll in die rechtliche Dimension der Ressortforschung einführen,1 die trotz ihrer weitreichenden Bedeutung in der Praxis noch immer ein gewisses Nischendasein im Wissenschaftsrecht führt2.
Die Unsichtbarkeit der Ressortforschung als eigene Forschungssäule liegt in ihrer doppelten Systemzugehörigkeit begründet, aber auch in ihrer heterogenen Struktur als historisch gewachsenes Phänomen, das durch sachliche und politische Notwendigkeiten geformt wurde. Im System der Forschungslandschaft zählen Ressortforschungseinrichtungen zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, organisatorisch sind sie aber zugleich regelmäßig Teil des nachgeordneten Geschäftsbereiches eines Ministeriums. Die Zugehörigkeit zur Ministerialverwaltung im weiteren Sinne wirft die Frage auf, inwieweit Forschung, die per definitionem in ihrem Kern allein wissenschaftlichen und nicht politischen Vorgaben folgen darf, im Rahmen einer Bundesoberbehörde zulässig ist und unter welchen Umständen Ressortforschung geboten sein kann. Politisches Handeln ist auf eine machterhaltende Problemlösung gerichtet und erfragt von der Wissenschaft vor allem Eindeutigkeit und dadurch geschaffene Legitimation der Entscheidungen, wohingegen die Wissenschaft dahin strebt, sich „ernsthaft und planmäßig“ dem Ungewissen zur Erkenntnisgewinnung bzw. der „Ermittlung der Wahrheit“ zu widmen.3
Aufgabe und Funktion der Ressortforschung ist es, die Ministerialverwaltung in Wahrnehmung ihrer Aufgaben wissenschaftlich zu unterstützen. Dadurch sollen politische Entscheidungen und das Verwaltungshandeln eine Rückbindung zur Wissenschaft erhalten und den Kriterien rationalen Staatshandelns gerecht werden. Dabei kann das Aufgabenspektrum von der Grundlagenforschung im Sinne einer „Vorlaufforschung“ sowie der spezifischen Auftragsforschung einschließlich von Dokumentationen und Datensammlungen als Grundlage politischen Handelns über verschiedene Formen langfristiger und kurzfristiger wissenschaftlicher Politikberatung bis hin zu regulativen Tätigkeiten reichen. Die Ressortforschung begleitet nicht nur konkrete Gesetzesvorhaben und Politiken der Exekutive, sondern soll auch vorausdenkend Themen setzen, die für die jeweiligen Politikfelder in Zukunft wichtig werden können („Antennenfunktion“). Sie entzieht sich durch diese Funktion einer sie prädestinierenden Vereinnahmung durch die Exekutive.
Die Ursprünge der institutionalisierten Ressortforschung der Bundesrepublik Deutschland reichen bereits in die Zeit des Norddeutschen Bundes zurück. So kann
A. Katarina Weilert
Ressortforschung. Eine institutionalisierte
Rationalität im politisch-gubernativen Gefüge
1 Der Artikel basiert auf den Ergebnissen des DFG-geförderten Forschungs projekts zur Ressortforschung, das mit der Monographie (Habilitationsschrift) 2022 in der Reihe Jus Publicum im Verlag Mohr Siebeck unter dem Titel „Ressortforschung. Forschung zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben unter besonderer Berücksichtigung des Bereichs s taatlicher und unionsrechtlicher Gesundheitsverantwortung“ seinen vorläufigen Abschluss gefunden hat. Wortgleiche Zitate aus der vorgenannten Schrift wurden nicht eigens gekennzeichnet.
2 Vgl. zu den Gründen für die Dominanz des Hochschulrechts im Wissenschaftsrecht: Schmidt-Aßmann, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und s taatlicher Ins titutionalisierung, in: Broemel/Kuhlmann/Pilniok, FS für H.-H. Trute, 2023, S. 3 (4).
3 BVerfGE 35, 79 (113, juris Rn. 92) – Hochschulurteil.
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 4 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
4 Siehe Weilert Fn. 1.
5 Vgl. zu den Rationalitätsanforderungen des Rechtss taats prinzips:
Britz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl.2013, Art. 5 III (Wissenschaft)
Rn. 17; Gartz, Begründungs pflicht des Gesetzgebers, 2015,
S. 206 ff.; Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische
Rechtsetzung im demokratischen Rechtss taat, VVDStRL
71 (2012), S. 49 (51 f.); Hesse, Der Rechtss taat im Verfassungssys
tem des Grundgesetzes, in: Hesse/Reicke/Scheuner (Hrsg.),
Staatsverfassung und Kirchenordnung, FS Rudolf Smend, 1962, S.
71 (83 f.); H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, S. 58 ff.; Schulze-
Fielitz, Rationalität als rechtss taatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber,
in: Rodi (Hrsg.), Staaten und Steuern, FS Klaus
Vogel, 2000, S. 311 ff. (insbes. 322); Trute, Die Forschung zwischen
grundrechtlicher Freiheit und s taatlicher Ins titutionalisierung,
1994, S. 193 ff.; Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht
zwischen gesellschaftlicher Selbs tregulierung und s taatlicher
Steuerung, DVBl 1996, S. 950 (956); Voßkuhle, Sachvers tändige
Beratung des Staates, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd.
III, 3. Aufl. 2005 § 43, insbes. Rn. 1.
6 Trute, in: Weingart/Wagner (Hrsg.), Wissenschaftliche Politikberatung
im Praxis tes t, 2015, S. 115.
7 Fassbender, Wissen als Grundlage s taatlichen Handelns in: Isensee/
Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 76.
8 Fassbender, Wissen, Fn. 7, § 76 Rn. 2.
9 Fassbender, Wissen, Fn. 7, § 76 Rn. 3.
10 BVerfGE 157, 30 (161 f., Rn. 240) ‒ Klimaschutz.
11 BVerfGE ebd.
12 Vgl. zur Rs pr. des BVerfG nur Führ, Rationale Gesetzgebung, 1998,
S. 11 ff.
13 Vgl. für eine mögliche methodische Ausfüllung von allgemeinen
Rationalitätsanforderungen an den Gesetzgeber Führ Fn. 12, S. 32
ff.
die damalige in der Norddeutschen Maß- und Gewichtsordnung
von 1868 vorgesehene „Normal-Eichungs-
Kommission“, die zentrale Leitungs- und Aufsichtsstelle
für Maße und Gewichte, als erste wissenschaftliche Bundesbehörde
in Form einer Bundesanstalt gelten. Diese
wurde dann später als Kaiserliche-Normal-Eichungs-
Kommission (1871 bis 1918) fortgeführt. Ein Meilenstein
war die Errichtung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes
durch das Reichshaushaltsgesetz von 1876, dessen Gründung
diesbezügliche Kompetenzstreitigkeiten zwischen
den Ländern und dem Reich vorausgingen. Damals wie
heute liegt die Zuständigkeit für Forschung bei den Ländern
und auch vor diesem Hintergrund sind die Ressortforschungseinrichtungen
des Bundes in ihrer Existenz
begründungsbedürftig.
Der Begriff der Ressortforschung kann auch auf institutionalisierte
politikdienende Forschungsstrukturen
des Unionsrechts übertragen werden, da der aus dem
Französischen stammende Ausdruck „ressort“ den Zuständigkeits-
oder auch Amtsbereich bezeichnet und damit
offen ist für eine Beschreibung einer politikdienenden
Forschung auch außerhalb der deutschen Ministerial-
und Verwaltungsstrukturen.
Im Folgenden soll der zulässige und gebotene Rahmen
von Ressortforschung in einigen Eckpunkten markiert
werden. Dabei begrenzt sich die hiesige Darstellung
auf allgemeine Strukturen der Ressortforschung.
Für den Bereich der Gesundheitsressortforschung, an
dem diese Strukturen verdeutlicht werden können, wird
auf die diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsarbeit
verwiesen.4
II. Pflicht zum wissensbasierten Handeln des Staates
und der Europäischen Union
Die Ressortforschung findet ihren Ausgangspunkt in der
Notwendigkeit, staatliches Handeln rational, effektiv
und zielführend auszurichten. - Rationalitätsgebot
Eine staatliche Pflicht zum wissensbasierten politischen
Handeln kann aus dem materiellen Gehalt des Rechtsstaatsprinzips
abgeleitet werden, das die Rationalität
staatlichen Handelns fordert.5 Der Staat bezieht seine
Legitimität neben demokratischer Repräsentation aus
wissenschaftlicher Rationalität.6 „Wissen“ gilt als die
Grundlage staatlichen Handelns für den rationalen
Staat.7 Das „Vorhandensein von Wissen“ gehört „zu den
Grundlagen, den Voraussetzungen staatlichen Handelns,
so wie das staatliche Personal, die Finanzmittel
und die Organisation des Staates“9; „staatliche Entscheidungen
und Handlungen“ müssen „einer Überprüfung
am Maßstab ‚vernünftigen‘ Wissens standhalten“ . Der
Staat muss also sein Handeln, und zwar das exekutive,
legislative und judikative, auf entsprechendes Wissen
gründen und dieses beibringen. Schwieriger zu beurteilen
ist allerdings, in welcher Intensität und auf welche
Weise der Staat Zugriff auf Wissen haben bzw. nehmen
muss. Im Klimabeschluss des BVerfG10 räumte das
Gericht dem Gesetzgeber im Hinblick auf die Rationalitätsanforderungen
einen weiten Spielraum ein. Eine
generelle aus der Verfassung abgeleitete Sachaufklärungspflicht
des Gesetzgebers, nach der alle zugänglichen
Erkenntnisquellen ausgeschöpft werden müssten,
bestünde nicht.11 Frühere Urteile des BVerfG haben prozedurale
Mindestanforderungen (wie den Rekurs auf
verlässliche Quellen, eine Prognosepflicht, Begründungspflicht
und ggf. die Veranlassung einer Datenerhebung
in Bezug auf die Wirkungen eines Gesetzes) aufgestellt.
12
Das Rechtsstaatsprinzip schreibt zwar keine bestimmte
Art und Weise der Ausrichtung des staatlichen
Handelns an der Wissenschaft vor,13 jedoch sollte im Sinne
eines Untermaßverbotes ein Mindestmaß an Rationalität
im Sinne einer Ausrichtung an wissenschaftlichen
Grundlagen gefordert werden, womit ein Auftrag zu einer
prozeduralen Ausgestaltung und Gewährleistung
Weilert · Ressortforschung 1 4 9
15 Vgl. zu einer prozeduralen Bindung des Gesetzgebers: Gartz Fn. 5,
S. 181.
15 Vgl. zu den Vor- und Nachteilen einer integrativen Struktur durch
die Ressortforschung als Teil der Minis terialverwaltung: Weilert
Fn. 1, S. 134 ff.
16 Scott/Vos, The Juridification of Uncertainty: Observations on the
Ambivalence of the Precautionary Principle within the EU and
the WTO, in: Joerges/Dehousse (Hrsg.), Good Governance in
Europe´s Integrated Market, 2007, S. 253 (253).
17 Umfassend zum unionalen Vorsorgeprinzip: B. Arndt, Das
Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, S. 69 ff. Ers tmals nähere
Konturen erhielt das Vorsorgeprinzip in der Europäischen Union
durch das Grünbuch der Kommission, Allgemeine Grundsätze
des Lebensmittelrechts in der Europäischen Union, KOM (97) 176
endg. sowie durch Mitteilung der Kommission, Gesundheit der
Verbraucher und Lebensmittelsicherheit, KOM (97) 183 endg.;
weitere (rechtsunverbindliche) Klärungen wurden vorgenommen
durch Mitteilung der Kommission, Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips,
KOM (2000) 1 endg.; weitere Nachweise bei Weilert
Fn. 1, S. 389 in Anm. 9.
18 Vgl. Alber-Malchow/Steigleder, Definition der Begriffe Wissenschaft
und Forschung – Eigengesetzlichkeit von Wissenschaft und
Forschung, in: Wagner (Hrsg.), Rechtliche Rahmenbedingungen
für Wissenschaft und Forschung, 2015, S. 23 ff. (32).
19 Triepel, Die Kompetenzen des Bundess taates und die geschriebene
Verfassung, in: FS Paul Laband, Bd. II, 1908, S. 303.
20 Köttgen, Der Einfluß des Bundes auf die deutsche Verwaltung und
die Organisation der bundeseigenen Verwaltung (Berichtszeit:
Legislaturperiode des 1. Bundes tages), JöR 3 (1954), S. 67 (110 f., allerdings
ohne s pezifischen Rekurs auf Annexkompetenz); Meusel,
Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 2. Aufl. 1999,
§ 6 Rn. 124 und § 14 Rn. 226; Kös tlin, Ressortforschungseinrichtungen,
in: Flämig et al. (Hrsg.), Hdb. Wissenschaftsrecht, Bd. II, - Aufl. 1996, S. 1365 (1370); Oebbecke, Verwaltungszus tändigkeit,
in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 136
Rn. 108.; Weilert Fn. 1, S. 236 (mit umfangreichen Nachweisen in
Anmerkung 320).
21 Schmidt-Aßmann, Die Bundeskompetenzen für die Wissenschaftsförderung
nach der Föderalismusreform, in: Depenheuer et al.
(Hrsg.), Staat im Wort, FS Josef Isensee, 2007, S. 405 (419).
verbunden ist.14 Dabei sollte gelten, dass der Grad der
Wissenschaftsabhängigkeit staatlicher Aufgaben über
das Ausmaß der Pflicht zur Beibringung wissenschaftlicher
Expertise entscheidet, sei es durch Einholung entsprechenden
Sachverstandes oder Vorhalten desselben
in der Verwaltung. Die institutionalisierte Ressortforschung
ist dabei eine Möglichkeit des Staates, dem Rationalitätsgebot
Rechnung zu tragen.15
Im Unionsrecht lässt sich eine solche Rationalitätspflicht
aus Art. 114 Abs. 3 AEUV (jedenfalls für binnenmarktpolitisches
Handeln) ableiten, aber auch aus dem ‒
ursprünglich dem deutschen Recht entspringenden16 ‒
Vorsorgeprinzip,17 das sich, zunächst im Umweltrecht
beheimatet, auf Unionsebene mittlerweile fest etabliert
hat. Im Kern besagt das unionsrechtliche Vorsorgeprinzip,
dass trotz bestehender wissenschaftlicher Unsicherheit
das Ergreifen von Vorsorgemaßnahmen möglich ist,
auch wenn die Wahrscheinlichkeit für den Risikoeintritt
und die Schwere des möglichen Schadensausmaßes
noch nicht hinreichend abschätzbar sind. Die Raison für
dieses Prinzip liegt darin, dass wissenschaftliche Unsicherheiten
bei begründeter Besorgnis für gefährliche
Umwelt- oder Gesundheitsschäden dem rechtzeitigen
politischen Handeln nicht entgegenstehen sollen. Diese
Erlaubnis zu Risikomanagemententscheidungen in einem
Bereich wissenschaftlicher Unsicherheiten setzt einen
Prozess der Risikobewertung voraus, ohne den derartige
politische Entscheidungen willkürlich wären.
Das Rationalitätsgebot verlangt mithin die Verpflichtung
und Befähigung zu „informierten“ Entscheidungen
und Handlungen einer demokratisch legitimierten Instanz.
Informierte Entscheidungen müssen nicht notwendigerweise
„richtige“ oder „wahre“ Entscheidungen sein,
aber sie sollten in einem den rechtsstaatlichen Anforderungen
genügenden Prozess zustande gekommen sein.
Die Rationalitätspflicht des Rechtsstaatsprinzips darf
nicht dazu führen, das formale Rechtsstaatsprinzip, das
sich vor allem durch die Gesetzesbindung auszeichnet,
oder auch das Demokratieprinzip auszuhöhlen. Entscheidungen
legitimieren sich im Rechtsstaat nicht in
erster Linie durch ihren Wahrheitsgehalt, sondern durch
ihre Rechtmäßigkeit.18 - Forschungsaufgaben als Annex zur sachgerechten
Wahrnehmung der Verwaltungskompetenzen des Bundes
und der unionalen Sachbereichskompetenzen
a) Annex zu Bundeskompetenzen
Eng mit dem Rationalitätsgebot verbunden ist die
Begründungslinie der Bundeszuständigkeit für die Forschungsaufgaben
der Ressortforschungsbehörden. Diese
wird – schon seit Triepel19 – im Wesentlichen aus der
Annexzuständigkeit zur sachgerechten Wahrnehmung
der jeweiligen (und jeweils zu explizierenden) Bundesverwaltungskompetenz
abgeleitet.20 Die Ministerien sollen
in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben entsprechend
dem Stand von Wissenschaft und Forschung auszuüben.
Die Annexzuständigkeit markiert aber zugleich
auch die Grenze der Bundeskompetenz, denn reine Forschung,
die keinen ministeriellen Nah- oder Fernzwecken
dient, kann nicht mehr mit dem Annexgedanken
begründet werden.21 Insofern Ressortforschungseinrichtungen
verwaltende Aufgaben (z.B. Zulassungsverfahren)
ausführen, ergibt sich eine Bundeszuständigkeit
bereits direkt durch die Bundesverwaltungskompetenz
selbst, das heißt durch Spezialzuweisungen (vgl.
1 5 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
22 von Bogdandy/Wes tphal, Der rechtliche Rahmen eines autonomen
Europäischen Wissenschaftsrates, WissR 37 (2004), S. 224
(234); Glaesner, Außeruniversitäre Forschung in der europäischen
Rechtsordnung, in: Flämig et al. (Hrsg.), Hdb. Wissenschaftsrecht,
Bd. II, 2. Aufl. 1996, S. 1281 (1285 f.).
23 So die Rs pr. seit Fédéchar, zusammenfassend: Nettesheim, in:
Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen
Union, Werks tand: 71. EL Augus t 2020, Art. 1 AEUV (41. EL Juli
2020) Rn. 14.
24 Statt vieler: Berg, Die öffentlich-rechtliche Ans talt, NJW 1985,
S. 2294 (2297).
25 Vgl. Gröb, Die rechtsfähige öffentliche Schule, 2014, S. 58.
Art. 87 Abs. 1 und Art. 87 b GG) oder über die generalklauselartige
Ausnahmeermächtigung nach
Art. 87 Abs. 3 GG.
b) Annex zu Unionskompetenzen
Auch im Unionsrecht lässt sich eine Kompetenz zur Ressortforschung
aus dem Annexgedanken herleiten. Dabei
darf der unionsrechtliche Grundsatz der begrenzten
Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV) nicht
untergraben werden. Auch das Subsidiaritätsprinzip findet
auf die Ressortforschung und Forschungspolitik der
Union Anwendung.22 In der Terminologie des Unionsrechts
wird die Annexkompetenz als implied powers
gefasst. Implied powers werden angenommen, wenn
ohne die ungeschriebene Kompetenz eine vorhandene
Kompetenz der Union sinnlos werden würde bzw. wenn
die vorhandene Vorschrift „nicht in vernünftiger Weise
zur Anwendung gelangen“ könnte.23 Implied powers sollen
also die vorhandenen Kompetenzen effektuieren,
nicht jedoch, wie in der EuGH-Judikatur teils zu finden,
eine unionsrechtliche Aufgaben- oder Zielvorgabe zu
einer Kompetenz ausweiten. Eine Ressortforschungskompetenz
besteht also, insoweit sie notwendig ist, um
eine vorhandene Kompetenz sachgerecht ausüben zu
können. Die Union hat im Rahmen der ihr übertragenen
Politiken wissenschaftliche Erkenntnisse einzuholen
und einzubeziehen.
III. Institutionalisierte Ressortforschung - Institutionalisierte Ressortforschung als Hybrid: Teil
der deutschen Ministerialverwaltung und Säule der
außeruniversitären Forschung
a) Ressortforschungseinrichtungen als Teil der Ministerialverwaltung
Die institutionalisierte Ressortforschung findet schwerpunktmäßig
in Bundeseinrichtungen mit Forschungsund
Entwicklungsaufgaben (FuE) in behördlicher Form
statt, daneben bestehen auch institutionalisierte Forschungskooperationen.
Eine verwaltungsrechtliche
Besonderheit besteht darin, dass Ressortforschungseinrichtungen
als Bundesoberbehörden regelmäßig zugleich
in der Form nichtrechtsfähiger Anstalten organisiert
sind. Der Grund für die Wahl dieser Rechtsformen
liegt darin, dass die Ressortforschung eine dienende,
aber aufgrund ihres Forschungs- und Expertencharakters
auch eigenständige Funktion im Rahmen der Staatsverwaltung
einnimmt. Bis heute gibt es Unklarheiten
darüber, durch welche Kriterien sich eine nichtrechtsfähige
Anstalt auszeichnet24 und welche Rechtsfolgen sich
aus ihrer Organisationsform ergeben. Mit der Bezeichnung
der Ressortforschungseinrichtungen als nichtrechtsfähige
Anstalten soll von ministerieller Seite vor
allem zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich hier
um verselbstständigte Verwaltungseinheiten25 handelt.
Letztlich ist die Einordnung als nichtrechtsfähige Anstalt
teilweise historischer, jedenfalls vornehmlich akademischer
Natur, da in erster Linie für die rechtliche Einordnung
ausschlaggebend die Tatsache ist, dass es sich bei
Ressortforschungseinrichtungen um (selbständige Bundesober-)
Behörden handelt.
Die Rechtsform bedingt die Möglichkeiten des staatlichen
Einflusses auf die Ressortforschungseinrichtungen.
Das Satzungsrecht für die nichtrechtsfähigen Anstalten
liegt beim Bund und wird durch die Bundesministerien
nach ihrem Ermessen ausgeübt, gleichwie die
Ministerien über weitreichende Kompetenzen im Personalernennungsrecht
für die Ressortforschungseinrichtungen
verfügen. Insbesondere aber steht den Ministerien
über ihre Ressortforschungseinrichtungen die Rechtsund
Fachaufsicht zu, die jedoch angesichts des Charakters
der Einrichtungen als wissenschaftliche Behörden
schonend und kooperativ ausgeübt wird. Der rechtlichen
Eingebundenheit in das hierarchische System der
Ministerialverwaltung steht als faktisches Gegengewicht
die besondere Sachkompetenz der Behörden gegenüber,
die zu einer größeren Unabhängigkeit von der Ministerialverwaltung
führen kann. Die Einbindung in die
behördlichen Strukturen bedeutet aber auch, dass Ressortforschungseinrichtungen
hoheitliche Tätigkeiten
(z.B. im Rahmen von Zulassungsverfahren) übertragen
werden können. Aufgrund des Ressortprinzips führen
die Ministerien in ihrem Geschäftsbereich die Ressortforschungseinrichtungen
im Einzelnen sehr
unterschiedlich.
Der Begriff „Ressortforschung“ oder „Ressortforschungseinrichtung“
ist eine ministeriell zugewiesene
Weilert · Ressortforschung 1 5 1
26 Diese Spannung wird angedeutet bereits von Jakob, Forschungsfinanzierung
durch den Bund, Der Staat 24 (1985), S. 527 (560).
27 Vgl. zu den Aufsichtsmitteln der Staatsaufsicht: Kahl, Die Staatsaufsicht,
2000, S. 505 f.
28 Vgl. Meusel Fn. 20, § 19 Rn. 301.
Klassifizierung, kein normativer Begriff mit klaren rechtlichen
Konturen. Dem soll hier eine nach Kriterien definierte
Definition entgegengesetzt werden: Als Ressortforschungseinrichtungen
im engeren Sinne sind danach jene
behördlich organisierten Bundeseinrichtungen mit FuEAufgaben
zu bezeichnen, die in relevantem Umfang Forschung
(und nicht nur Forschungsförderung) betreiben,
so dass die ministerielle Bezeichnung eines Instituts als
Ressortforschungseinrichtung nur als richtungsweisend,
nicht aber als konstituierend für die Ressortforschungseigenschaft
betrachtet wird. Als Ressortforschungseinrichtungen
im weiteren Sinne gelten diejenigen Einrichtungen,
die durch entsprechende Gremienvertretung
von Staatsbediensteten oder auf sonstige Weise durch
den Staat gesteuert werden und überwiegend Ressortforschungsaufgaben
wahrnehmen, was auf die von der
Bundesregierung so bezeichneten FuE-Einrichtungen in
kontinuierlicher Zusammenarbeit zutrifft, aber auch für
andere Einrichtungen gelten kann, die die genannten
Kriterien erfüllen.
b) Ressortforschungseinrichtungen als Teil der außeruniversitären
Forschung
Die Ressortforschungseinrichtungen bilden neben ihrer
ministeriellen Zugehörigkeit eine Säule im Rahmen der
außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Einerseits
sind sie durch ihre behördliche Organisation klar von
anderen außeruniversitären Forschungseinrichtungen
abgegrenzt. Andererseits weichen die Ränder zunehmend
auf, da die strikte Versäulung und Domänenaufteilung
der deutschen Forschungslandschaft selbst mittlerweile
einer fortschreitenden Vernetzung zwischen
den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und
Hochschulen gewichen ist. Die Gründe hierfür liegen in
der Europäisierung der Forschungsförderung sowie der
deutschen Forschungspolitik, die durch Etablierung
einer Konkurrenz um Forschungsmittel und der Anforderung
an kooperatives und vernetztes Forschen den
Status quo der Forschungslandschaft tiefgreifend verändert
hat.
In der Praxis gibt es Überschneidungen, da die
Spannbreite zwischen Grundlagenforschung, angewandter
Forschung und der Übernahme staatlicher Aufgaben
oder spezieller ministerieller Beratung unter den einzelnen
Ressortforschungsinstituten variiert und auch in der
weiteren öffentlichen außeruniversitären Forschung teils
umfangreiche Zweckforschung und politische Beratung
erfolgt.26 So deckt die Fraunhofer-Gesellschaft entsprechend
ihrer Satzung auch Forschungsaufgaben ab, die
ihr von Bund und Ländern übertragen werden, und unterhält
insbesondere vom Bundesverteidigungsministerium
mitfinanzierte wehrwissenschaftlich forschende
Institute. Die Helmholtz-Gemeinschaft verfolgt nach ihrem
Satzungszweck langfristige Forschungsziele des
Staates und der Gesellschaft (staatliche Vorsorgeforschung)
und verbindet Grundlagen- mit angewandter
Forschung. Auch bei der Leibniz-Gemeinschaft gibt es
Überschneidungen in den Forschungsprojekten der Institute
zur Ressortforschung. Einzelne ministerielle Ressorts,
denen Leibniz-Einrichtungen zugeordnet sind, sehen
diese als Teil oder Ergänzung ihrer Ressortforschung.
Der staatliche Einfluss auf die Leibniz-Institute
erfolgt nicht nur durch Vergabe von entsprechenden
Drittmitteln, sondern auch auf institutioneller Ebene
durch entsprechende staatliche Gremienvertreter in den
Einrichtungen. Im Einzelfall kann daher bei Leibniz-
Einrichtungen die Schwelle zu einer Ressortforschungseinrichtung
im weiteren Sinne überschritten sein. Obwohl
das Ausmaß der staatlichen Aufsicht und Kontrolle
nicht notwendigerweise in Korrelation zu der organisatorischen
Verfasstheit der Forschungseinrichtung
steht, folgt doch aus der privaten oder öffentlichen Organisationsform
eine bedeutende Unterscheidung, da die
Aufsichtsmittel der klassischen Staatsaufsicht27 nur bei
öffentlich-rechtlich organisierten Forschungseinrichtungen
angewendet werden können, während der Staat
die privatrechtlich organisierte Forschung über die aus
der öffentlichen Finanzierung folgenden Kontrollmechanismen
(vor allem in Form von Wirtschaftsplanverhandlungen,
Nebenbestimmungen zu Zuwendungsbescheiden
und Gremienvertretungen) beaufsichtigt und
steuert.28 - Formen einer unionsrechtlichen Ressortforschung
a) Ressortforschung im Rahmen der Unionsverwaltung
Die Ausübung der der Europäischen Union übertragenen
Politiken und Verwaltungskompetenzen bedarf
ebenso wie die Aufgabenwahrnehmung durch die nationalen
Ministerien der wissenschaftlichen Beratung und
Unterstützung. Zum Teil erhält die Union diese durch
die mitgliedstaatlichen Ressortforschungsarrangements.
1 5 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
29 von Bogdandy, Die Informationsbeziehungen im europäischen
Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/
Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 3.
Aufl. 2022, § 25 Rn. 34 ff.; Kahl, Der Europäische Verwaltungsverbund:
Strukturen – Typen – Phänomene, Der Staat 50 (2011), S. 353
(360, 365, 384 ff.); Schmidt-Aßmann, Einleitung: Der Europäische
Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts,
in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold (Hrsg.),
Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen
Verwaltungsrechts, 2005, S. 1 ff.
30 Vgl. zum Wissensmanagement in der Europäischen Union: Kaiser,
Wissensmanagement im Mehrebenensys tem, in: Schuppert/Voßkuhle
(Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008, S. 217 ff.
31 EuGH, Rs. 9/56 (Meroni I/Hohe Behörde), Urt. v. 13. Juni 1958, Slg.
1958, 11 (36 ff.); EuGH, Rs. 10/56 (Meroni II/Hohe Behörde), Urt. v. - Juni 1958, Slg. 1958, 53 (75 ff.). Eingehend zu der Meroni-Rs pr.:
Berger, Vertraglich nicht vorgesehene Einrichtungen des Gemeinschaftsrechts
mit eigener Rechts persönlichkeit. Ihre Gründung
und die Folgen für Rechtsschutz und Haftung, 1999, S. 76 ff.
32 Übersichten und Analysen der Rs pr. finden sich bei: Calliess, in:
Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 13 EUV
Rn. 47 ff.; Orator, Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung
von Unionsagenturen, 2017, S. 235 ff.; Bienert, Europäische Regulierungsagenturen,
2018, S. 111 ff.
Der Rekurs der europäischen Gubernative und Verwaltung
auf mitgliedstaatliche Informationsbestände ist
kennzeichnend für den Verwaltungsverbund, der auch
als Informationsverbund charakterisiert worden ist.29
Die Informationsflüsse vollziehen sich vielfach unsichtbar
bzw. über die Verwaltungen vermittelt, indem Ressortforschungsinformationen
die nationalen Behörden
und Stellen in ihrer Wissenskompetenz stärken und Ressortforschungswissen
durch sie auch in die Unionsverwaltung
und die gubernativen Unionstätigkeiten einfließt.
Ressortforschung ist ein spezifischer Baustein im Gefüge
von wissenschaftlicher Politikberatung und sonstiger
Verwaltungsexpertisebeschaffung. Da die Europäische
Union als supranationale Gemeinschaft nicht mit
dem deutschen Staatsaufbau einschließlich der Behördenorganisation
vergleichbar ist, haben sich in der Union
eigene Formen unionsrechtlicher Ressortforschung
herausgebildet. Während in Deutschland die Verwaltungsbehörden
bis hin zu ihrer ministeriellen Spitze
über besonderes Fachwissen verfügen, in das sich die
Ressortforschungsbehörden als wissenschaftliche Behörden
einfügen, kann die Europäische Kommission
nicht in gleicher Weise auf einen hierarchischen Unterbau
an nachgeordneten Behörden zurückgreifen. Allerdings
haben sich andere Formen herausgebildet, die diesen
Raum einnehmen, darunter vor allem das wissenschaftliche
Ausschusswesen und die Gründung von Unionsagenturen.
30 Eine singuläre Form als Teil der
unmittelbaren Kommissionsverwaltung bildet die Gemeinsame
Forschungsstelle, die heute eine Generaldirektion
(vormals eine Dienstelle) der Kommission ist
und als einzige Ressortforschungseinrichtung auch primärrechtlich
verankert ist.
Werden Ressortforschungseinrichtungen als Teil der
unmittelbaren Unionsverwaltung geschaffen, sind rechtlich
verankerte Vorkehrungen notwendig, damit die
normalerweise in diesem Rahmen bestehende Weisungsabhängigkeit
nicht zu einer politischen Vereinnahmung
der Forschung führt. Bei der Gemeinsamen Forschungsstelle
hat sich die Kommission durch das Organisationsstatut
selbst eine Einschränkung der Weisungsbefugnisse
auferlegt (Selbstbindung).
Art. 298 AEUV normiert die Grundsätze der offenen,
effizienten und unabhängigen europäischen Verwaltung.
Effizienz und Unabhängigkeit bedürfen einer Rationalität,
für die Ressortforschungseinrichtungen Garant sein
können. Da gerade die Unabhängigkeit der Forschung in
Spannung zu einer Verwaltungshierarchie steht, kommt
insbesondere dem wissenschaftlichen Ausschusswesen
sowie der Gründung von Ressortforschungseinrichtungen
in Form von Unionsagenturen große Bedeutung zu.
Wissenschaftliche Ausschüsse sind sowohl direkt bei den
Generaldirektionen der Europäischen Union als auch –
und zwar im Zuge der fortgeschrittenen Ausdifferenzierung
der Agenturgründungen – zunehmend bei einzelnen
Agenturen angesiedelt. Gerade weil die Agenturen
als organisatorisch unabhängige Verwaltungseinheiten
mit eigener Rechtspersönlichkeit ein gewisses demokratisches
Defizit aufweisen, sind an die Übertragung forschungsbezogener
hoheitlicher Aufgaben wie etwa Regulierungsaufgaben
die von der Rechtsprechung in Meroni31
und den nachfolgenden Urteilen herausgearbeiteten
Grundsätze32 in Bezug auf die Begrenzung der Aufgabenübertragung
an Agenturen zu beachten. Der Grad
der möglichen hoheitlichen Befugnisübertragung und
des in diesem Rahmen übertragbaren Ermessens hängt
in einer Gesamtabwägung von den Einwirkungsmöglichkeiten
der Kommission und einer nachträglichen
Rechtskontrolle ab. Für die eigentliche Forschungstätigkeit
besteht das Legitimationsproblem, das in Bezug auf
die Unabhängigkeit von Unionseinrichtungen diskutiert
wird, nicht, da die Forschungstätigkeit selbst nur die
Voraussetzung für rechtswirksame Akte ist und überdies
gerade nach einer Struktur verlangt, die eine gewisse Unabhängigkeit
gewährleistet.
Weilert · Ressortforschung 1 5 3
b) Typisierung der unionalen Ressortforschung
Die institutionellen Ressortforschungsarrangements
können sich in zwei Formen einteilen lassen, nämlich
eine „institutionalisierte unionale Eigenressortforschung“
und eine „institutionalisierte und netzwerkartige
Verbundressortforschung“.
aa) Institutionalisierte unionale Eigenressortforschung
Mit der institutionalisierten unionalen Eigenressortforschung
soll die Ressortforschung bezeichnet werden, die
sich nicht auf mitgliedstaatlicher Ebene vollzieht bzw.
nicht durch mitgliedstaatliche Forschung und Forschungsstätten
gestützt wird, sondern originär auf Unionsebene
in institutionalisierter Form angesiedelt ist. In
ihrer reinen Form trifft dies gegenwärtig nur auf die
Gemeinsame Forschungsstelle zu. Die Mitarbeiter der
Forschungsstelle sind Bedienstete der Europäischen
Union und nicht abgesandte Experten der Mitgliedstaaten.
Die Gemeinsame Forschungsstelle ist als einzige
Ressortforschungseinrichtung primärrechtlich
(Art. 8 EAGV) verankert, jedoch ist die Grundlage im
Euratom-Vertrag angesichts des nicht mehr auf die
Kernforschung beschränkten Forschungsauftrags heute
systemfremd, so dass eine Verankerung im AEUV angezeigt
erscheint. Ressortforschung als wissenschaftliche
und technische Unterstützung bei der Ausarbeitung und
Durchführung der Unionspolitiken und des Unionsrechts
findet heute durch die Gemeinsame Forschungsstelle
im Rahmen der direkten (unmittelbare Aufträge
aus den Forschungsprogrammen) und der indirekten
(wettbewerblich eingeworbene Auftragsforschung aus
dem Forschungsrahmenprogramm) Forschung statt.
Die Gemeinsame Forschungsstelle übernimmt insbesondere
auch Wissensmanagementaufgaben, die im
Hinblick auf die stetig ansteigenden Datenmengen und
das wachsende verfügbare Wissen eine zentrale Ressortforschungsaufgabe
darstellen. Im Vergleich zu der deutschen
Ressortforschung ist die Gemeinsame Forschungsstelle
stärker wissenschaftlich ausgerichtet und ist gegenwärtig
nicht mit wissenschaftlichen Routinearbeiten
beauftragt.
Außerhalb ihrer spezifischen auf die Unionsorgane
und Unionseinrichtungen bezogenen Tätigkeiten erstreckt
sich die Funktion der Gemeinsamen Forschungsstelle
im Verwaltungsverbund primär auf den verbesserten
Informationsaustausch zwischen den mitgliedstaatlichen
Behörden sowie zwischen den Behörden
der Mitgliedstaaten (einschließlich der Ressortforschungseinrichtungen)
und der Gemeinsamen Forschungsstelle.
Ein Ausdruck des Verwaltungsverbundes
liegt auch in dem durch mitgliedstaatliche Experten besetzten
Verwaltungsrat. Die Gemeinsame Forschungsstelle
übernimmt hingegen keine Funktionen im Rahmen
von administrativen Verfahren, etwa der Zulassung
im Risikoverwaltungsrecht. Sie erarbeitet keine Beschlussvorlagen
oder ‑entwürfe für die Kommission, wie
es für eine Generaldirektion naheliegend gewesen wäre.
Ihr sind damit keine Aufgaben im unmittelbaren politischen
Risikomanagement zugewiesen, sondern ihre Forschungen
und Risikobewertungen dienen als Unterstützung
der Politiken (einschließlich der Rechtssetzungsvorbereitung)
der Unionsorgane, vornehmlich der
Kommission.
bb) Institutionalisierte und netzwerkartige Verbundressortforschung
Im Gegensatz zur institutionalisierten unionalen Ressortforschung
stammen die Expertise und die zugrundeliegenden
Forschungen bei der institutionalisierten und
netzwerkartigen Verbundressortforschung aus den Mitgliedstaaten,
die aber auf Unionsebene in institutionalisierten
Formen als Verbundressortforschung eine eigene
Dimension gefunden haben. Beispiele für eine solche
Verbundressortforschung sind das wissenschaftliche
Ausschusswesen, Wissensgenerierungen innerhalb von
Informations- und Wissenschaftsagenturen und sekundärrechtlich
verfestigte Informationsnetzwerke. Dabei
können sich diese Formen miteinander vermengen, so
etwa wenn das Ausschusswesen und das Netzwerk unter
dem Überbau einer Agentur bestehen oder wenn eine
Agentur, so wie es bei der Europäischen Arzneimittel-
Agentur der Fall ist, durch die Besetzung ihrer Gremien
ein Netzwerk zwischen den nationalen Zulassungsbehörden
spannt. Die Verbundressortforschung geht über
eine bloße Vernetzung der Ressortforschungen der einzelnen
Mitgliedstaaten hinaus und schafft auf der Unionsebene
institutionalisierte Arrangements. Diese unionale
Verbindung führt nicht nur zu einer Addition des
vorhandenen Wissens, sondern auch zu einer Generierung
neuen Wissens. Zum einen bedeutet allein schon
die Synthese von Wissensbeständen einen über die
Kumulation hinausreichenden Wissenszuwachs, da
hierdurch Dinge vergleichbar werden, Defizite augenfällig,
unterschiedliche Forschungsansätze sichtbar und da
darüber hinaus eine Pluralität von Forschung und Wissen
eintritt. So wird üblicherweise bereits die Darstellung
und Ergründung des Forschungsstandes selbst als
Teil wissenschaftlichen Arbeitens gewertet. Vor allem
aber reicht die Arbeit wissenschaftlicher Ausschüsse (sei
es auf Kommissionsebene oder im Rahmen von Agentu1
5 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
33 Kahl, Der Europäische Verwaltungsverbund, Fn. 29, S. 363.
34 Kahl, Der Europäische Verwaltungsverbund, Fn. 29, S. 358.
35 Vgl. Schmidt-Aßmann, Forschung, Fn. 2, S. 6; Schulze-Fielitz,
in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hdb. des Verfassungsrechts, - Aufl. 1994, § 27 Rn. 24.
ren) über das Zusammentragen vorhandener Forschungsbestände
hinaus, und es wird in der Ausschussarbeit
durch wissenschaftliche Kommunikation ein neuer
Erkenntnisprozess befördert. Die Arbeit
wissenschaftlicher Ausschüsse kann daher als eigene
Kategorie der Verbundressortforschung gelten. Wissenschaftliche
Ausschüsse dienen der Risikoeinschätzung
technisch und wissenschaftlich komplexer Sachverhalte
und unterstützen die politischen Entscheidungsträger
sowohl bei legislativen als auch exekutiven Aufgaben.
Agenturen und wissenschaftliche Ausschüsse können
eine spezifische Funktion im Verwaltungsverbund, insbesondere
im Regulierungsverbund33, einnehmen. Werden
administrativ-politische Entscheidungen durch das
(Regulierungs-)Recht in einer Weise determiniert, dass
diese maßgeblich von der Risikobewertung abhängig
macht, können die Gutachten und Stellungnahmen von
wissenschaftlichen Ausschüssen besonderes administrativ-
politisches Gewicht entfalten und die Entscheidungen
der formal dazu berufenen politischen Entscheidungsträger
faktisch vorgeben. Der Ermessensspielraum
der politischen Handlungsträger wird empfindlich,
zuweilen sogar gänzlich, reduziert, wenn entsprechende
Voten wissenschaftlich hochkarätig besetzter Ausschüsse
ergehen, die die zentralen Wissens- und Forschungsbestände
unionsweit einbeziehen. Insbesondere wenn
die Ausschussmitglieder paritätisch nach Mitgliedstaatenzugehörigkeit
besetzt sind oder zugleich als Behördenvertreter
der Mitgliedstaaten fungieren (wie beim
Humanarzneimittelausschuss der Europäischen Arzneimittel-
Agentur), tritt zu der Legitimation kraft Sachverstandes
eine spezifische demokratische Legitimation.
Die Ressortforschung als Mixtum zwischen Forschung
und Politik zeichnet sich in diesen Fällen zusätzlich
durch die hybride Struktur unionalen und mitgliedstaatlichen
Entscheidens aus, die gerade für Agenturen
als Akteuren im Verwaltungsverbund typisch ist. Die
Struktur und Organisation von Unionsagenturen, die
eine Schnittmenge unionaler und mitgliedstaatlicher
Verwaltung darstellen, „eine Zwischenform zentralisierter
und dezentralisierter Integration“34 bilden und in einer
Spannung zwischen verwaltungsrechtlichem Eingebundensein
und verwaltungsrechtlicher Unabhängigkeit
stehen, stellen eine geeignete Form für die Verbundressortforschung
dar, die noch ausbaufähig ist.
Eine über den Regulierungsverbund hinausweisende
Funktion kann die Verbundressortforschung im sogenannten
Informationsverbund einnehmen. Hier geht es
um eine breitere Verwendung von Wissen jenseits klar
definierter Regulierungsverfahren. Wissensaustauschund
Wissensakkumulation sowie Datensammlungen
dienen als Grundlage für weniger klar vorgezeichnete
politisch-administrative Entscheidungen sowohl durch
Unionsorgane als auch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen
und Regierungen. Es geht um Bereiche, in denen,
wie bei Fragen der Infektionsabwehr, präventive Maßnahmen
zum Schutze der Bevölkerung (oder im Umweltbereich
der natürlichen Lebensgrundlagen) ergriffen
werden sollen, aber verschiedene politische Handlungsmöglichkeiten
in Konkurrenz zueinander stehen.
Die zu ergreifenden Maßnahmen sind hier nicht nur Teil
eines rechtlich vorbestimmten Verwaltungsverfahrens,
sondern des politischen Auslotens von gubernativen
Entscheidungen.
Hier bereitet Ressortforschung, vor allem in Form
von Netzwerken zur Daten- und Informationssammlung,
den Nährboden, um informierte politische Entscheidungen
treffen zu können. Die Aufgabe der Experten
ist die Sachinformation und die Exploration von Risiken,
während die Nutzen-Risiko-Abwägung einschließlich
der daraus zu ergreifenden konkreten
Maßnahmen aufgrund ihrer weitreichenden politischen
Tragweite (etwa für die Wirtschaft eines Landes oder
den europäischen Binnenmarkt) durch die Experten
nicht vorgegeben werden kann. In jenen Politikbereichen,
in denen die Europäische Union lediglich über koordinierende,
unterstützende und ergänzende Kompetenzen
verfügt, ist eine Verbundressortforschung (anstelle
einer institutionalisierten unionalen Eigenressortforschung)
schon kompetenzrechtlich geboten, da eine
Forschungs-Annexkompetenz der sachbereichsspezifischen
Unionskompetenz auch in ihrem Umfang folgt.
IV. Ressortforschung und Wissenschaftsfreiheit - Ressortforschungsfreiheit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips
in Verbindung mit der objektivrechtlichen
Garantie der grundrechtlichen Wissenschaftsfreiheit
Die Freiheit der Wissenschaft und Forschung nach
Art. 5 Abs. 3 GG genießt dank der nur durch verfassungsimmanente
Schranken möglichen Begrenzung
einen besonderen verfassungsrechtlichen Status und ist
prägend für das gesamte Wissenschaftsrecht.35 Der
Grund für diese herausgehobene Stellung liegt darin,
dass sie nicht nur die Wissenschaftler selbst schützt und
Weilert · Ressortforschung 1 5 5
36 Eingehend zur Frage, ob Ressortforschung als Forschung im Sinne
von Art. 5 Abs. 3 GG gelten kann: Weilert Fn. 1, S. 217 ff., S. 224 ff.
(mit umfangreichen Nachweisen) sowie Britz Fn. 5, Art. 5 III (Wissenschaft)
Rn. 22 („[a]uch bei der s taatlichen Ressortforschung
kann begrifflich durchaus Forschungs tätigkeit vorliegen“), Rn. 24:
(„solange der Methode nach autonome wissenschaftliche Arbeit
gegeben is t.“); Trute, Wissenschaft und Technik, in: Isensee/
Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 88 Rn. 25; Trute,
Forschung, Fn. 5, S. 102.
37 Eingehend zur objektivrechtlichen Funktion der Wissenschaftsfreiheit:
Weilert Fn. 1, S. 228 ff.
38 Stern, Idee und Elemente eines Sys tems der Grundrechte, in:
Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR IX, 3. Aufl. 2011, § 185 Rn. 80..
39 BVerfGE 35, 79 (112, juris Rn. 91) ‒ Hochschulurteil.
40 BVerfGE 35, 79 (114, juris Rn. 95).
41 Näher Weilert Fn. 1, S. 232 f.
42 Vgl. ausführlich und mit weiteren Nachweisen zur Verhältnisbes
timmung von objektivrechtlichem Gehalt und subjektivem Recht
Weilert Fn. 1, S. 233 ff. sowie Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 69 VI, S. 978 (bes. auch
S. 988 f.).
43 Vgl. zur Verfassungshis torie Schulze-Fielietz, in: Dreier (Hrsg.),
GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtss taat) Rn. 19; zur
„vornehmlichen Verankerung“ des Rechtss taats prinzips in
Art. 20 Abs. 3 GG: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022,
Art. 20 Rn. 37; zu den verfassungsrechtlichen Aus prägungen des
Rechtss taats prinzips in anderen Grundrechts- und Verfassungsbes
timmungen siehe Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021,
Rn. 77.
den staatlichen Universitäten eine entsprechende Selbstverwaltung
garantiert, sondern dass in Art. 5 Abs. 3 GG
auch eine Garantie der freien Wissenschaft zum Wohle
der Gesellschaft verbürgt ist. Problematisch ist jedoch
die Wissenschaftsfreiheit in Bezug auf staatliche Ressortforschungseirichtungen
und die hier tätigen Wissenschaftler,
da für die Ressortforschung als Teil der Ministerialverwaltung
innerhalb der behördlichen Hierarchie
in Bezug auf die Aufgabenerfüllung grundsätzlich keine
Staatsfreiheit eingefordert werden kann. Ausgangspunkt
einer Argumentation hat jedoch die Überlegung zu sein,
dass Forschung sich in einem Kernbereich dadurch konstituiert,
dass sie staatsfrei ist und nur ihrer Eigengesetzlichkeit
unterliegt. Damit geht es weniger um die grundrechtlich
sonst im Vordergrund stehende individuelle
Entfaltungsfreiheit, als vielmehr um die Gewährleistung
des Versprechens selbst, dass Ressortforschung auch
Forschung enthält. Den Forschungscharakter verliert die
Ressortforschung weder durch ihre Zweckgebundenheit
noch automatisch durch die Einbindung in den Verwaltungsapparat.
Entscheidend für die Abgrenzung zwischen
Forschung und Verwaltungstätigkeit ist das Streben
nach neuen Erkenntnissen unter Einsatz einer wissenschaftlichen,
d.h. der Eigengesetzlichkeit der
Wissenschaft folgenden, Methodik. Damit ist die Ressortforschung,
jedenfalls in ihren tatsächlich forschungsbezogenen
Aufgaben, ein potentielles Schutzgut im Sinne
von Art. 5 Abs. 3 GG.36
Um die Frage nach der Geltung der Wissenschaftsfreiheit
im Rahmen der Ressortforschung einer angemessenen
Lösung zuzuführen, ist an die objektivrechtliche
Dimension der Wissenschaftsfreiheit37 anzuknüpfen,
die besonders für dogmatische Weiterentwicklungen offen
ist38, und diese in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
(Verfassungsbindung der Staatsgewalten) dahingehend
auszulegen, dass der Staat auch die Ressortforschung
in bestimmten Grundparametern freiheitlich
auszugestalten und eine diesen Mindestanforderungen
genügende Ressortforschung strukturell zu gewährleisten
hat. Im Hochschulurteil von 1973 führt das BVerfG
die aus Art. 5 Abs. 3 GG folgende „objektive, das Verhältnis
von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat
regelnde wertentscheidende Grundsatznorm“ näher
aus39 und betont die „Schlüsselfunktion, die einer freien
Wissenschaft […] auch für die gesamtgesellschaftliche
Entwicklung zukommt“.40
Auch wenn sich die Postulate, die das BVerfG im vorgenannten
Hochschulurteil als Leitplanken eingeschlagen
hat, nicht unmittelbar auf die Ressortforschung beziehen
lassen,41 so kann immerhin festgehalten werden,
dass Art. 5 Abs. 3 GG in objektivrechtlicher Hinsicht ein
Interesse an einer freien, mithin nicht durch den Staat
verformten, Wissenschaft verbürgt. Diese objektivrechtliche
Begrenzung staatlichen Handelns besteht nicht nur
zur Verstärkung individualrechtlicher Positionen, sondern
auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse.42
Gleichfalls gilt nach dem Rationalitätsgebot des Rechtsstaatsprinzips,
dass der Staat sein Handeln nicht auf nur
vermeintliche wissenschaftliche Kenntnisse stützen darf
und dass er diejenige Forschung, auf die er sich zu stützen
vorgibt, auch ermöglichen muss. Das Gemeinwesen
hat ein berechtigtes Interesse an wissenschaftlichen Ergebnissen,
die im Rahmen der Eigengesetzlichkeit der
Wissenschaft vorgebracht wurden, gerade auch dann,
wenn wissenschaftliche Erkenntnisse zur Grundlage
staatlichen Handelns gemacht werden.
Dogmatisch lassen sich hier verschiedene Wege beschreiten:
Möglich ist es, den objektivrechtlichen Gehalt
der Wissenschaftsfreiheit als jenseits subjektiver Rechte
bestehendes Rechtsprinzip zu verstehen, auf das durch
Art. 20 Abs. 3 GG, der zentralen Norm des Rechtsstaatsprinzips,
43 Bezug genommen wird. Damit würde die
Wissenschaftsfreiheit im Kontext der Ressortforschung
nicht direkt, sondern über Art. 20 Abs. 3 GG vermittelt
gelten. Denkbar wäre aber auch, die Anforderungen an
die Ausgestaltung der Ressortforschung als Teil des Rati1
5 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
44 Den Begriff der Legitimationsforschung führt bereits Classen,
Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S. 351, ein.
45 Vgl. Gärditz, Politisierte Wissenschaft als Machttechnik – Bes prechung
von Cas par Hirschi, Skandalexperten – Expertenskandale,
WissR 2018, S. 244 (247).
46 BVerfGE 35, 79 (115, juris Rn. 96 f.) ‒ Hochschulurteil. Zum
Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren: früh schon
K. Hesse, Bes tand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik
Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427 (434 ff.). Aus dem jüngeren
Schrifttum: Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013,
Vorb. vor Art. 1 Rn. 105 f; Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit
nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in:
Becker/Bull/Seewald (Hrsg.), FS Werner Thieme, 1993, S. 697 ff.
47 BVerfGE 35, 79 (115, juris Rn. 97) ‒ Hochschulurteil.
48 BVerfGE 35, 79 (115 f., juris Rn. 97).
49 Näher Weilert Fn. 1, S. 254 ff.
50 Vgl. zur Fachaufsicht Weilert Fn. 1, S. 54; zur Unterscheidung
zwischen Lenkung und Kontrolle sowie der Einordnung von
Genehmigungsvorbehalten siehe Groß, Was bedeutet „Fachaufsicht“?,
DVBl 2002, S. 793 (797 ff.).
51 Graf von Kielmansegg, Das Sonders tatusverhältnis, JA 2012, S. 881
ff.; Loschelder, Grundrechte im Sonders tatus, in: Isensee/Kirchhof
(Hrsg.), HdbStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 202; Starck, in: v. Mangoldt/
Klein/Starck, GG, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 298.
52 So auch Graf von Kielmansegg Fn. 51, S. 885.
onalitätsgebotes des Rechtsstaatsprinzips zu begreifen
und die für die Forschungsfreiheit entwickelten Gehalte
nur als Orientierungspunkte im Rahmen des Rationalitätsgebots
des Rechtsstaatsprinzips zu betrachten. Letzteres
würde aber, da der Begriff der Rationalität als Verfassungsbegriff
unterbestimmt ist, die Gefahr einer beliebigen
Rechtsauslegung mit sich bringen.
Das sich aus dem objektivrechtlichen Gehalt der
Wissenschaftsfreiheit und dem Rechtsstaatsprinzip ableitende
Verbot einer Legitimationsforschung44 bedeutet,
dass nicht nur ein Anschein von Rationalität erzeugt
werden darf. Die Legitimationsforschung ist in mehrfacher
Hinsicht problematisch, erstens durch das Täuschen
über die Grundlagen der politischen Entscheidungen,45
zweitens aufgrund der fehlenden Rationalität des Exekutivhandelns
dort, wo sie ihr Handeln hätte auf Forschung
stützen müssen, dies aber nicht getan hat, und drittens
durch die politische Vereinnahmung von Forschung in
einer Weise, die in den Forschungsprozess eingreift und
aufgrund der bestehenden Forschungskommunikationsbeziehungen
die außerstaatliche Forschung zu beeinflussen
geeignet ist.
Forschungsmethoden und Ergebnisinterpretation
dürfen staatlich nicht vorgegeben oder beeinflusst werden,
da solche Reglementierungen den Forschungscharakter
selbst untergraben. Das BVerfG hat auf die Bedeutung
der Beziehung von Organisation und Grundrechtsverwirklichung
hingewiesen.46 Die innerbetrieblichen
Anforderungen für die Organisation von Wissenschaftseinrichtungen
bemäßen sich danach, „daß das Grundrecht
der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit
unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der
anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen
und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten
möglich“47 ist. Dies kann auch individualrechtliche
Positionen einschließen, um dem „Interesse des Gemeinwesens
an einem funktionierenden Wissenschaftsbetrieb“
48 gerecht zu werden. Der die Forschung
ausmachende Kerngehalt der Forschungsfreiheit ist organisationsrechtlich
durch gesetzliche und untergesetzliche
Vorschriften abzusichern, insbesondere auch durch
Vorgaben für die Ausübung der ministeriellen Aufsichtsrechte.
49 Dies gilt insbesondere für Elemente der steuernden
oder auch „präventiven“ Fachaufsicht.50 Es sind
gesicherte Strukturen zu schaffen, in denen nicht nur die
ministeriellen Belange ausschlaggebend sind, sondern
auch die Ideen der beteiligten Forscher zum Tragen
kommen. Die Einbindung der Forscher in die scientific
community ist entscheidend für die Forschungsqualität
und Vermeidung einer Degeneration zur bloßen Verwaltungseinheit.
Allgemeine Verwaltungsvorschriften, Weisungen
im Einzelfall und Genehmigungsvorbehalte etwa
für Forschungsprogramme müssen sich jeweils an den
hier dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben messen
lassen.
Die Effektuierung dieser Kerngehalte der Forschungsfreiheit
bedarf der prozessualen Absicherung,
die über die partikulare Zuerkennung subjektiver Rechte
erfolgen kann, die ihrerseits ganz im Dienste der objektivrechtlichen
Verpflichtung des Staates stehen, keine
Legitimationsforschung zu betreiben, und hierdurch
auch ihre Begrenzung erfahren. Im Einzelnen tangiert
die Frage nach dem Umfang subjektiver Rechte der Ressortforscher
zwei Problemfelder, nämlich die Anwendbarkeit
der Wissenschaftsfreiheit innerhalb der behördlichen
Ressortforschung und die Problematik der Reichweite
der Grundrechtsgeltung innerhalb der heute so genannten
Sonderstatusverhältnisse.51 Weisungen, die auf
die Art und Ausführung der Dienstaufgaben zielen, betreffen
den Bediensteten zunächst nur als Teil der Staatsverwaltung.
52 Eine Grundrechtsgeltung im öffentlichrechtlichen
Dienstverhältnis setzt eine persönliche Betroffenheit
voraus. Doch ist diese hier fraglich, da es sich
beim Ansinnen eines Beschäftigten einer Ressortforschungsbehörde,
ein anderes Thema zu verfolgen oder
andere Methoden zu wählen, nicht in erster Linie um ein
Weilert · Ressortforschung 1 5 7
53 von Münch/Mager, Staatsrecht I, 9. Aufl. 2021, Rn. 512.; Mager,
Einrichtungsgarantien, 2003, S. 358, 362.
54 Die Komplexität der rechtlichen Situation im Hinblick auf den
einzelnen Ressortforscher kann hier nicht abgebildet werden,
insofern wird auf Weilert Fn. 1, S. 258 ff. verwiesen.
55 Für weitere Einzelheiten siehe Weilert Fn. 1, S. 266 ff.
56 EuGH, Rs. 35/72 (Kley/Kommission), Urt. v. 27. Juni 1973, Slg. 1973,
679.
57 GA Trabucchini, Schlussantr. Rs. 35/72, Slg. 1973, 679 (702).
58 Ausführlich Weilert Fn. 1, S. 566 ff., insbes. 568 ff.; siehe auch
Thiele, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hdb. der Europäischen
Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 30 Rn. 29.
59 Vgl. zu den unterschiedlichen Rechts traditionen subjektiv einklagbarer
Rechte und objektivrechtlicher Konzepte: Kadelbach,
European Adminis trative Law and the Law of a Europeanized
Adminis tration, in: Joerges/Dehousse (Hrsg.), Good Governance
in Europe´s Integrated Market, 2007, S. 167 (186 f.).
freiheitsrechtliches Begehren, sondern ein leistungsrechtliches
handelt. Es geht zunächst nur um einen bestimmten
Dienstauftrag, der außerhalb des Forschungskontextes
auch weitgehend unproblematisch wäre. Heikel
ist hier nicht der Dienstauftrag selbst, sondern die
Causa der unzulässigen Legitimationsforschung. Um das
Verbot dieser Legitimationsforschung zu effektuieren
sollte vergleichbar der „im Interesse der Funktionsfähigkeit
des Berufsbeamtentums“53 im Einzelfall möglichen
subjektivrechtlichen Durchsetzung „hergebrachter
Grundsätze des Berufsbeamtentums“, auch hier ein prozessualer
Weg nicht gänzlich versperrt bleiben. Es
scheint dabei ausreichend und angemessen, diese Effektuierungsfunktion
auf die leitenden Forscher der Einrichtungsleitung
zu begrenzen.54
Ob den Ressortforschungseinrichtungen selbst ein
subjektives Recht zukommt, ist in Abhängigkeit von ihrer
Organisationsform zu bestimmen. Den – so der Normalfall
– als nichtrechtsfähigen Anstalten des öffentlichen
Rechts organisierten Ressortforschungseinrichtungen
in Form von Bundesoberbehörden kommt kein
Recht auf Einforderung der Forschungsfreiheit zu. Auch
die wenigen (teil-)rechtsfähigen Anstalten des öffentlichen
Rechts können sich nicht auf ein Individualrecht
berufen, da sie sich nicht in einer hierfür erforderlichen
grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden.55
Darüber hinaus bleibt es allen Ressortforschungseinrichtungen
unbenommen, auf politischem Wege die
über das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den objektivrechtlichen
Gehalten der Wissenschaftsfreiheit geltenden
Anforderungen an die Ausgestaltung der Ressortforschung
einzufordern.
Schließlich ist anzumerken, dass aufgrund der zentralen
Bedeutung der freien Forschung für eine Gesellschaft
aus dem objektivrechtlichen Gehalt der Wissenschaftsfreiheit
auch eine Subsidiarität der Staatsforschung
abzuleiten ist. Institutionalisierte Ressortforschung
ist damit nur legitim, wenn sie zur ministeriellen
Aufgabenerfüllung im weiteren Sinne notwendig und
erforderlich ist, mithin keine anderen gleich effektiven
Möglichkeiten für die Ministerialverwaltung zur Verfügung
stehen. - Verbot der Legitimationsforschung auf der Ebene der
Europäischen Union
Die Eruierung der Wissenschaftsfreiheit unionaler Ressortforschung
wirft ähnliche Fragen auf wie die bereits
im grundrechtlichen Kontext erörterten, hat aber zu
beachten, dass eine unreflektierte Gleichstellung von
Grundrechtsdogmatik und Unionsgrundrechtssystematik
die Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung negieren
würde. Die Europäische Union ist bei Ausübung
ihrer Kompetenzen an die Wissenschaftsfreiheit nach
Art. 13 GRCh gebunden, die Teil des Primärrechts ist.
Die einzig relevante Judikatur im Fall Kley umgeht die
Klärung der Forschungsfreiheit innerhalb der hier als
Ressortforschungseinrichtung eingeordneten Gemeinsamen
Forschungsstelle.56 In der Sache ging es um die
Veränderung der Organisationsstruktur und dadurch
bedingte Neuausrichtung der Arbeit des Klägers weg
von einer forschungsausgerichteten Tätigkeit in der
experimentellen Physik hin zu einer mit vielen Verwaltungsaufgaben
verbundenen Verantwortung für den
Reaktor Ispra I. Der EuGH umging jegliche Ausführungen
zur Wissenschaftsfreiheit. Der Generalanwalt führte
aus: „Die Freiheit der Wissenschaft schließt nicht aus,
daß dem Wissenschaftler auch auf organisatorischem
Gebiet Aufgaben gestellt sind. Euratom ist auch eine
rechtliche Organisation mit ihren praktischen und funktionellen
Erfordernissen, aus denen sich zwangsläufig
Einschränkungen für die Freiheit der wissenschaftlichen
Beamten in der Wahl ihrer jeweiligen Tätigkeit und für
das Interesse ihrer persönlichen Forschungen ergeben
müssen. Ihre Arbeitsstätten sind keine Akademien und
haben auch nicht die reine Forschung zum Gegenstand,
wie es vielleicht in einem Universitätslaboratorium
denkbar ist.“57 Die Ausführungen des Generalanwaltes
sind selbst keine dogmatischen Klärungen, sondern deuten
nur auf dogmatisch noch zu durchdringende Problemlagen
hin.
Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass
Ressortforschung unter den Forschungsbegriff des
Art. 13 GRCh fällt.58 Da die Rechte der Grundrechte-
Charta nicht mittels eines Individualbeschwerdeverfahrens
subjektivrechtlich einklagbar sind,59 liegt es nahe,
1 5 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
60 Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen
Union, 5. Aufl. 2019, Art. 13 Rn. 5; Sayers, in: Peers et
al. (Hrsg.), The Charter of Fundamental Rights, A Commentary,
2014, Art. 13 Rn. 13.40; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, - Aufl. 2018, Art. 13 GRCh Rn. 3. Zieht man die Verfassungsbes
timmungen der einzelnen Mitglieds taaten als Auslegungshilfe
heran, so ergibt sich ebenfalls kein einheitliches Bild: In manchen
Mitglieds taaten is t die Wissenschaftsfreiheit verfassungsrechtlich
als subjektives Abwehrrecht verbürgt, in anderen nur einfachgesetzlich,
in wieder anderen wird kein solches subjektives Recht
gewährt (siehe Pelzer, Die Kompetenzen der EG im Bereich Forschung,
2004, S. 155 f., sowie zuvor bereits Groß, Die Autonomie
der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S. 36 ff.).
61 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022,
Art. 13 EU-GRCh Rn. 7, unter Bezugnahme auf BVerfGE 35, 79
(113) ‒ Hochschulurteil.
62 Ruffert Fn. 61, Art. 13 EU-GRCh Rn. 7.
63 Näher Weilert Fn. 1, S. 572 ff.
64 So hat der EuGH die Grundsätze des Vertrauensschutzes, des
Rückwirkungsverbots, der Rechtssicherheit, des Bes timmtheitsgrundsatzes,
der Verhältnismäßigkeit und einer Rechtsschutzgarantie
entwickelt; siehe Calliess Fn. 32, Art. 2 EUV Rn. 26
sowie Pechs tein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018,
Art. 2 EUV Rn. 6, jeweils mit Nachweisen aus der R s pr.; Analyse
der Rs pr. bei Classen, Rechtss taatlichkeit als Primärrechtsgebot
in der Europäischen Union ‒ Vertragsrechtliche Grundlagen und
Rechts prechung der Gemeinschaftsgerichte, EuR 2008, Beiheft 3,
S. (18 ff.).
65 Vgl. auch A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010,
S. 145.
66 Mitteilung der Kommission, Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung
des Rechtss taats prinzips, COM/2014/158 final, S. 4 sowie ähnlich
im Anhang I (Das Rechtss taats prinzip als tragendes Prinzip der
Union), S. 4; siehe auch von Danwitz, The Rule of Law in the Recent
Juris prudence of the ECJ, Fordham International Law Journal
2014, S. 1310 (1346); Schmahl, Rechtss taatlichkeit, in: Schulze/
Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht. Hdb. für die deutsche
Rechts praxis, 4. Aufl. 2020, § 6 Rn. 4 u. Rn. 20 ff.
ihre Wirkungskraft zu verstärken, indem die Idee objektivrechtlicher
Gehalte im Sinne von „Rechtsprinzipien“
bzw. „Rechtsgrundsätzen“ auch auf Unionsebene verfolgt
wird; dies gilt umso mehr als der EuGH ursprünglich
die Grundrechtsgeltung über die allgemeinen
Grundsätze in das Unionsrecht eingebracht hat (vgl. die
Weitergeltung in Art. 6 Abs. 3 EUV) und überdies umstritten
ist, ob Art. 13 GRCh ein subjektives Recht verbürgt.
60 Noch ist das Unionsrecht im Hinblick auf die
Dogmatik der Charta-Grundrechte und die Frage einer
objektivrechtlichen Grundrechtsgeltung nicht ausgereift.
Ruffert betont unter Bezug auf das Hochschulurteil des
BVerfG von 1973, dass die „Schlüsselfunktion freier Wissenschaft
für die gesellschaftliche Entwicklung“ auch für
die Europäische Union gelte.61 Er unterstreicht, dass Forschung
für das Gemeinwesen notwendig sei, aber nur
freie Forschung diesen Zweck erfüllen kann.62 Es lassen
sich mithin gute Gründe ausmachen, auch den Unionsgrundrechten
durch Zuerkennung eines objektivrechtlichen
Gehalts zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen. Jedenfalls
bedarf auch die unionale Ressortforschung eines
Mindestmaßes an Freiheit, um ihrer Funktion gerecht
zu werden.
Neben einer im Kern aus dem Gebot der Wissenschaftsfreiheit
geltenden Freiheitlichkeit der Ressortforschung
kann auch aus dem unionalen Rechtsstaatsprinzip
das Verbot einer Legitimationsforschung abgeleitet
werden.63 Auch hier dürfen die Gehalte des deutschen
Rechtsstaatsprinzips jedoch nicht unbesehen auf das
unionale übertragen werden, zumal die Europäische
Union als supranationale Organisation auch anderen
Konstitutionsbedingungen und Anforderungen unterliegt
als der deutsche Bundesstaat. Welche Elemente das
Rechtsstaatsprinzip im Einzelnen umfasst, ist durch den
EuGH erst teilweise entwickelt worden und vom Gerichtshof
nicht immer in klare Zuordnung zum Rechtsstaatsprinzip
gestellt worden.64 Schon bei einem rein formalen
Verständnis des Rechtsstaatsprinzip, aus dem sich
die Verfassungs- und Gesetzesbindung ableiten lässt,
würde die Befolgung der Grundrechtecharta und der in
ihr verbürgten Wissenschaftsfreiheit verstärkt.65 Das
unionale Rechtsstaatsprinzip umfasst aber darüber hinaus
als Gegenkonzept zur Willkür auch Rationalitätsanforderungen
an das Recht. In diese Richtung weist auch
das Recht auf eine neutrale, unparteiische und gerechte
Verwaltung (Art. 41 Abs. 1 GRCh), das nur zu verwirklichen
ist, wenn Entscheidungen rückgebunden an das zur
Verfügung stehende Wissen getroffen werden und Experten
nicht von Fremdinteressen geleitet werden. Anerkannt
als Teil des unionsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips
ist weiterhin das Rechtmäßigkeitsprinzip, das einen
„transparenten, rechenschaftspflichtigen, demokratischen
und pluralistischen Gesetzgebungsprozess impliziert“.
66 Teil eines transparenten Verfahrens ist es, dass
ersichtlich wird, auf welcher Grundlage welches Expertenwissen
eingebracht wird. Mit dem vorstehend skizzierten
Gehalt kann also auch aus dem unionalen Rechtsstaatsprinzip
ein Verbot der Legitimationsforschung abgeleitet
werden.
V. Beurteilungsspielraum (ressort-)forschungsgestützter
Entscheidungen
Eine spezifische Frage im Rahmen der Spannung von
Kooperation und Trennung zwischen Wissenschaft und
Entscheidung betrifft den Beurteilungsspielraum (resWeilert
· Ressortforschung 1 5 9
67 Vgl. zu dieser Problematik auch Gärditz/Linzbach, Gesundheitswissen
aus Behördenhand, 2022, S. 155 ff.
68 Ausführliche Nachweise bei Weilert Fn. 1, S. 368 ff.
69 Bachof entwickelte 1955 die Lehre vom „Beurteilungss pielraum“
(Bachof, Beurteilungss pielraum, Ermessen und unbes timmter
Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, JZ 1955, S. 97 ff.). Ihm folgten
viele Stimmen in der Literatur, teils mit eigenen Akzenten (vgl.
„Vertretbarkeitslehre“ nach Ule, Rechtss taat und Verwaltung,
VerwArch 76 [1985], S. 1 [9 ff.]); ausführliche Nachweise: Weilert
Fn. 1, S. 367 (dort Anmerkung 396); eingehend für den Bereich des
Arzneimittelrechts: Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtss
taat, 1994, S. 265 ff.
70 Vgl. Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 79; Hoffmann-Riem, Innovation
und Recht – Recht und Innovation, 2016, S. 357.
71 In diese Richtung tendierend Jaeckel, Gefahrenabwehrrecht und
Risikodogmatik, 2010, S. 217 ff.
72 BVerfGE 149, 407 (415, Rn. 23) – Rotmilan.
73 BVerfGE ebd.
74 BVerfGE ebd.
75 Eichberger, Gerichtliche Kontrolldichte, naturschutzfachliche Einschätzungs
prärogative und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis,
NVwZ 2019, 1560 (1563 f.).
76 Ausführlich mit weiteren Nachweisen Weilert Fn. 1, S. 374 ff.
77 VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 29. Apr. 2021 – 1 S 1204/21
–, Rn. 79 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 12. Aug.
2021 – 1 S 2315/21 –, Rn. 41 ff. (Gericht prüft hier nur kursorisch,
auf welche Grundlagen sich das Robert Koch-Ins titut ges tützt hat
und betont abermals die besondere Berufung des Ins tituts nach
§ 4 Abs. 1 S. 1 IfSG).
sort-)forschungsgestützter Entscheidungen. Beurteilungsspielräume
sind dabei – klassisch – unmittelbar
aber auch mittelbar (entscheidungsvorbereitend) denkbar.
67
Die Rechtsprechung hat einen Beurteilungsspielraum
der Verwaltung bei der Bewertung von komplexen
und dynamischen Bereichen (Prognoseentscheidungen
und Risikobewertungen) zur Ausfüllung unbestimmter
Rechtsbegriffe unter Verweis auf die engere Sachnähe
der Verwaltung und die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung
anerkannt.68 Dabei folgt das Gericht der normativen
Ermächtigungslehre, wonach der Beurteilungsspielraum
„normativ angelegt“ sein müsse. Im Hintergrund
stehen zwei verschiedene Argumentationslinien,
nämlich einerseits die Funktionsgrenze der Rechtsprechung
und andererseits die höhere Sachnähe der Exekutive.
Das Schrifttum hat die Lehre vom Beurteilungsspielraum
weiter ausdifferenziert und sich teilweise
großzügiger in der Annahme verwaltungsrechtlicher
Beurteilungsspielräume gezeigt.69 Argumentativ wird
teils ein ausbalanciertes Verständnis der Gewaltenteilung
bemüht70 oder eher pragmatisch auf eine sachnähere
und damit „bessere“ Entscheidung durch die Behörde
abgestellt71.
Mit dem Rotmilan-Beschluss (Oktober 2018) hat das
BVerfG neben dem Beurteilungsspielraum eine weitere
Kategorie eingeschränkt gerichtlicher Überprüfungen
gebildet, nämlich die der außerrechtlichen Erkenntnisdefizite.
72 Es handele sich bei objektiven Erkenntnisgrenzen
um eine Situation, in der es „am Maßstab zur sicheren
Unterscheidung von richtig und falsch“ fehle.73 Diese
„faktische Grenze verwaltungsgerichtlicher Kontrolle“
sei keine „gewillkürte Verschiebung der Entscheidungszuständigkeit“
74 und daher vom Beurteilungsspielraum
zu unterscheiden. Die Kontrolle des Gerichts reduziere
sich hier auf eine Vertretbarkeitskontrolle, d.h. ob die
Behörde vertretbare fachliche Maßstäbe und Methoden
herangezogen habe. Während es hier also um den Fall
wissenschaftlich nicht aufklärbarer Tatsachenfeststellungen
geht, könne sich ein Beurteilungsspielraum nur auf
normative Bewertungen beziehen, etwa darauf, ob eine
Risikoerhöhung „signifikant“ ist.75
Bislang fehlt in der Rechtsprechung eine klare Auseinandersetzung
über die Maßstäbe eines Beurteilungsspielraums
bei fachlich besonders ausgewiesenen (Ressortforschungs-)
Behörden.76 Nur punktuell lassen sich
Hinweise auf die besondere Sachkompetenz im Vergleich
zur sonstigen Exekutive ausmachen. Im Rahmen
der Corona-Rechtsprechung finden sich immerhin Hinweise
auf die Anerkennung der entscheidungsvorbereitenden
besonderen Sachkunde von Ressortforschungseinrichtungen.
Hier geht es um die gerichtliche Überprüfung
von Maßnahmen der Exekutive bzw. des Erlasses
von Rechtsverordnungen nach dem
Infektionsschutzgesetz, bei denen die Exekutive ihrer
Handlung die Einschätzung etwa des Robert Koch-Instituts
zugrunde gelegt hatte. So befand der VGH Baden-
Württemberg, dass der Beurteilungsspielraum des Verordnungsgebers
nicht überschritten sei, wenn er sich auf
die Einschätzung des Robert Koch-Instituts, welches
„gemäß § 4 IfSG unter anderem zur frühzeitigen Erkennung
und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen
und dahingehender Analysen und Forschungen“
berufen sei, gestützt hat und keine wissenschaftlichen
Erkenntnisse vorliegen, die es „rechtfertigen würden“,
von dieser Einschätzung abzuweichen.77 Im
Ergebnis wurde der Exekutive ein Beurteilungsspielraum
eingeräumt, den diese legitim durch die Übernahme
der Einschätzung einer Ressortforschungsbehörde
ausfüllen durfte. Der hier grundgelegte Gedanke der besonderen
Sachkompetenz von Ressortforschungsbehörden
ist als Element der Lehre vom Beurteilungsspielraum
weiter auszubauen. Die Zuerkennung eines Beurteilungsspielraums
kann sich nicht allein an pauschalierten
Annahmen über eine sachnähere Verwaltung
festmachen, sondern hat die Besonderheiten der entscheidenden
Behörde zu würdigen. Zeichnet sich die Behörde
aufgrund ihres (gesetzlichen) Auftrags und ihrer
1 6 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
78 Vgl. hier auch Gärditz/Linzbach Fn. 67, S. 97 ff.
Struktur, wie dies für die Ressortforschungsbehörden
gilt, durch eine besondere Kompetenz zur Risikobewertung
und Prognoseeinschätzung aus, hat sich dies in der
Bewertung der Dichte der gerichtlichen Überprüfung
abzubilden. Damit hängt der Beurteilungsspielraum
nicht nur von der tatbestandlichen Fassung der Norm
(Ermächtigungsgrundlage bzw. Befugnisnorm) ab, sondern
auch von der jeweiligen Behördenkompetenz, die
(soweit es hierüber keine gesetzlichen Festlegungen in
Form von Beurteilungsspielräumen gibt) durch das Gericht
festzustellen ist. Eine gerichtliche Kontrolle von Beurteilungsfehlern
bleibt bei alledem unangetastet.
Fruchtbar gemacht werden kann hier auch die „Plausibilitätsprüfung“
bei außerrechtlichen Erkenntnisdefiziten
(Rotmilan-Beschluss), die bei objektiven Erkenntnisgrenzen
die behördliche Einschätzung nur auf ihre Vertretbarkeit
hin prüfen lässt und sie nicht einfach durch
eine andere (gerichtliche) Entscheidung ersetzt, die ihrerseits
auf einer beigezogenen (und nicht über alle
Zweifel erhabenen) Expertise beruht. Als Hybridform
zwischen Wissenschaft und Verwaltung ist die wissenschaftliche
Einschätzung der Ressortforschungsbehörde
im Gegensatz zu einem reinen Sachverständigengutachten
demokratisch legitimiert, was insbesondere dann ins
Gewicht fällt, wenn es um Fragen geht, die wissenschaftlich
nicht eindeutig zu beantworten sind. Eine Entscheidung
nur durch eine andere zu ersetzen, ohne dass es
hinreichende Gründe dafür gibt, dass die ersetzende
Entscheidung „richtiger“ oder demokratisch legitimierter
bzw. rechtsstaatlich gebotener ist als die ersetzte, wäre
kein Gebot rechtsstaatlicher Kontrolle, sondern
willkürlich.
Mit einer solchen Rechtsentwicklung nähert sich das
deutsche Recht dem Unionsrecht an, innerhalb dessen
ein Beurteilungsspielraum bezüglich von Normen, die
zu einer komplexen, wissenschaftlich-technischen Einschätzung
Anlass geben, weitreichend anerkannt ist. Die
gerichtliche Prüfung erstreckt sich hier lediglich auf formale
Kriterien und Schlüssigkeit. Auch hier ließe sich allerdings
die Dogmatik weiterentwickeln, indem der Beurteilungsspielraum
auch davon abhängig gemacht wird,
wie die Expertise zustande gekommen ist. Wurden im
Rahmen der Verbundressortforschung wissenschaftliche
Behörden der Mitgliedstaaten eingebunden, so begründet
sich in dem wissenschaftlichen Konsens der Mitgliedstaaten
nicht nur eine erhöhte fachliche Expertise,
sondern auch eine gewisse demokratische Legitimation.
VI. Ausblick
An dieser Stelle konnten nur einige grobe Pflöcke zur
Darstellung und rechtlichen Analyse der Ressortforschung
als institutionalisierter Rationalität im politischgubernativen
Gefüge der Bundesrepublik Deutschland
und der Europäischen Union eingeschlagen werden. Die
Heterogenität der einzelnen deutschen Ressortforschungseinrichtungen
und die verschiedenen Ressortkulturen,
in denen sie verortet sind, ihre jeweilige historische
Gründungsgeschichte und die Spannung zwischen
einer Eingebundenheit in eine Ministerialverwaltung
bei gleichzeitigem Anerkenntnis eines Forschungsfreiraums,
führen zu einer Reihe an juristisch-dogmatischen
Problemen, die auch in Zukunft noch weiter – und
zunehmend auf europäischer Ebene – zu ventilieren
sind. Es zeigt sich, dass ein reines Trennungsmodell zwischen
Wissenschaft und politischer Entscheidung nicht
der deutschen Ressortforschungspraxis entspricht und
auch auf europäischer Ebene nicht in Reinform vorfindlich
ist.78 So sind die Fragen zum Zusammenspiel und
der Trennung zwischen Risikobewertung und Risikomanagement,
die national und unionsrechtlich durchaus
unterschiedlich bewertet werden, in Zukunft immer
wieder neu zu justieren. Auch wird man die direkten
und indirekten Entscheidungsspielräume wissenschaftlicher
Behörden dogmatisch noch weiter anhand der
künftigen Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu klären
haben und hierfür auch in nähere Vernetzung zur unionsrechtlichen
Entwicklung treten müssen. Die Corona-
Pandemie hat die diesbezügliche Rechtsentwicklung
herausgefordert und beschleunigt und es wird sich zeigen,
welche weiteren (rechts-)politischen Konsequenzen
hieraus für die Ressortforschung auf deutscher und
europäischer Ebene gezogen werden.
Priv.-Doz. Dr. A. Katarina Weilert ist wissenschaftliche
Referentin an der Forschungsstätte der Ev. Studiengemeinschaft
e.V. — Institut für interdisziplinäre Forschung.
Sie lehrt als Privatdozentin an der Ruprecht-
Karls-Universität Heidelberg mit einer Venia Legendi
für die Fächer Öffentliches Recht, Gesundheitsrecht,
Völker- und Europarecht.
I. Einleitung
Seit dem Beschluss des BAG vom 13.9.20221, mit dem das Gericht den Standpunkt eingenommen hat, Arbeitgeber seien verpflichtet, ein System einzuführen, das Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer erfasst, ist über die weiteren Konsequenzen dieser Entscheidung viel diskutiert worden.2 Klarheit besteht darüber, dass sich die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nicht nur auf den privatwirtschaftlichen Bereich beschränkt, auch öffentlich-rechtliche Arbeitgeber sind davon betroffen, da auch dort neben Beamten Arbeitnehmer beschäftigt werden.
Caspers hat sich in der Vorausausgabe mit der Frage befasst, welche Auswirkungen der Beschluss des BAG für die Arbeitszeiterfassung an Hochschulen hat.3 Überzeugend wurde hier dargelegt, dass sich die Zeiterfassungspflicht auf die (nichtprofessoralen) wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erstreckt, die Arbeitszeiterfassung demgegenüber aber nicht für die an den Hochschulen tätigen Professorinnen und Professoren gilt. Soweit diese in einem Beamtenverhältnis stehen, gelten ohnehin weder die Bestimmungen des Arbeitsschutz- noch des Arbeitszeitgesetzes4. Beamtete Professoren sind nach den einschlägigen Bestimmungen der Hochschulgesetze der Länder5 von den Arbeitszeitbestimmungen der Landesbeamtengesetze ausgenommen, z.T. finden sich derartige Regelungen auch in den Beamtengesetzen der Länder.6 Soweit Professorinnen und Professoren in privatrechtlichen Anstellungsverhältnissen tätig sind, sind sie ebenfalls von den Arbeitszeitbestimmungen ausgenommen. Wenn etwa § 45 Abs. 2 S. 2 LHG BW bestimmt, dass die Vorschriften über die Arbeitszeit auf „Hochschullehrer“ nicht anzuwenden sind, meint er damit auch die nicht beamteten Hochschullehrer und nutzt für diese die Ermächtigung in § 19 ArbZG.7
Der Beitrag von Caspers konzentriert sich auf Professorinnen und Professoren, die an den staatlichen, demnach öffentlich-rechtlich verfassten, Hochschulen tätig sind. Ob die hierzu vertretene Auffassung auch für die an privaten Hochschulen tätigen Hochschullehrer gilt, wird nicht explizit untersucht. Dieser Frage nachzugehen, ist Aufgabe dieses Beitrags. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der letzten OdW-Ausgabe, die den Beitrag von Caspers enthält, lag auch der Referentenentwurf (RefE) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 27.3.2023 noch nicht vor. Welche Auswirkungen dieser für die Erfassungspflicht der Arbeitszeiten von an Privathochschulen tätigen Professorinnen und Professoren hat, wird im Folgenden in den Blick genommen.
II. Arbeitszeiterfassungspflicht gem. § 16 Abs. 2 – 8 ArbZG RefE - Allgemeines
Das BAG hat die Zeiterfassungspflicht – durchaus überraschend – aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG abgeleitet. Der Referentenentwurf vom 27.3.2023 regelt die Thematik im Arbeitszeitgesetz, wo sie auch hingehört. Während die Entscheidung des BAG vom 13.9.2022 noch offen ließ, wie die Zeiterfassung, demnach deren Modalitäten, zu erfolgen habe, legt die Neufassung von § 16 Abs. 2 S. 1 gem. des Referentenentwurfs fest, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzuzeichnen. Die neu hinzugefügten Absätze 3 – 8 enthalten sodann Spezifikationen, wobei Abs. 7 Nr. 3 Ausnahmen der Aufzeichnungspflicht für bestimmte Arbeitnehmer zulässt, wenn dies in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung zugelassen wird.
Frank Wertheimer
Arbeitszeiterfassungspflicht an privaten
Hochschulen – auch für Professorinnen und
Professoren?
1 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616
2 Siehe z.B. Schulze/Wetzel, AiB 2022, Nr. 11, S. 47; Spitz, jurisPR-ITR 2/2023 Anm. 4; Düwell, jurisPR-ArbR 17/2023 Anm. 1; Thüsing/Bleckmann, BB 2023, 52–54; Fuhlrott/Fischer, ArbR 2023, 1–5.
3 Cas pers, Arbzeitserfassung an Hochschulen – Anmerkung zum Beschluss des BAG vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21 — , OdW 2023, 99.
4 AR/Krauss, 10. Aufl. 2021, § 2 ArbZG Rn. 15.
5 Vgl. etwa § 45 Abs. 2 S. 2 LHG BW; § 60 Abs. 1 S. 1 BayHIG oder § 77 Abs. 1 Sächsisches HG.
6 Z.B. § 123 Abs. 1 S. 1 LBG NRW.
7 Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer, Hochschulrecht, 4. Aufl. 2022, Kapitel 11, Rn. 72.
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 6 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 6 1 — 1 6 4
8 Z.B. BAG v. 5.6.2014, 2 AZR 615/13, NZA 2015, 40; Löwisch/Kaiser/
Kaiser, BetrVG (Bd. 1), 7. Aufl. 2017, § 5 Rn. 23 mit zahlreichen
Nachweisen.
9 Löwisch/Kaiser/Kaiser, a.a.O., § 5 Rn. 24 mwN.
10 Vgl. BAG v. 16.4.2002, 1 ABR 23/01, BB 2002, 2387; Löwisch/Kaiser/
Kaiser, a.a.O., § 5 Rn. 29 mwN.
11 Löwisch/Kaiser/Kaiser, a.a.O., § 5 Rn. 29 und 30.
12 Wertheimer/Meißner, a.a.O., Rn. 78.
13 S. 14. - Erfasster Personenkreis
Wenn § 16 Abs. 2 ArbZG RefE allgemein von der „täglichen
Arbeitszeit der Arbeitnehmer“ spricht, gilt der
Arbeitnehmerbegriff in § 2 Abs. 2 ArbZG, d.h. erfasst
werden alle Arbeiter und Angestellten sowie die zu ihrer
Berufsausbildung Beschäftigten. Auszugehen ist damit
vom allgemeinen Arbeitnehmerbegriff in
§ 611a Abs. 1 BGB, wonach Arbeitnehmer alle Personen
sind, die im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener,
fremdbestimmter Arbeit in persönlicher
Abhängigkeit verpflichtet sind.
a) Professorinnen und Professoren
Professoren an privaten Hochschulen stehen regelmäßig
in einem privatrechtlichen Anstellungsverhältnis, weshalb
das in den Landeshochschul- oder Landesbeamtengesetzen
geregelte Privileg für Beamte, nicht unter das
Arbeitszeitrecht zu fallen, für sie nicht gilt. Auch
§ 19 ArbZG hilft hier nicht weiter, weil es an einer hoheitlichen
Tätigkeit im öffentlichen Dienst fehlt. Dass sich
die Tätigkeit von Hochschullehrern an privaten Hochschulen
inhaltlich nicht von der Tätigkeit eines Hochschullehrers
an einer staatlichen Hochschule unterscheidet,
ändert daran nichts.
Keine Verpflichtung zur Erfassung ihrer Arbeitszeit
bestünde, wenn Professorinnen und Professoren an privaten
Hochschulen leitende Angestellte wären, es würde
dann die Bereichsausnahme des § 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG
greifen. Maßgeblich sind für den Begriff des leitenden
Angestellten die Definitionen in § 5 Abs. 3 BetrVG. Ob
sie erfüllt sind, lässt sich nicht pauschal beantworten, es
bedarf dazu jeweils einer Einzelfallbetrachtung. Voraussetzung
ist zunächst, dass ein Angestellter sowohl nach
seinem Arbeitsvertrag als auch nach seiner Stellung im
Unternehmen oder Betrieb leitender Angestellter ist,
d.h. er muss einerseits zu den leitenden Funktionen nach
Abs. 3 S. 2 Nr. 1–3 rechtlich befugt sein, andererseits muss
er sie auch tatsächlich ausüben.8 Schließlich muss die
Ausübung dieser Befugnisse einen wesentlichen Teil seiner
Tätigkeit ausmachen und seine Stellung im Unternehmen
oder Betrieb damit prägen.9
Von den Kategorien des § 5 Abs. 3 BetrVG kommt für
das professorale Lehrpersonal nur die Nr. 1 in Betracht,
d.h. Professoren müssten zur selbständigen Einstellung
und Entlassung von im Betrieb oder in der Betriebsabteilung
beschäftigten Arbeitnehmern berechtigt sein. An
privaten Hochschulen fehlt es – wie auch an den staatlichen
Hochschulen – zumeist schon an der arbeitsvertraglichen
Berechtigung, Entscheidungen über Einstellung
und Entlassung eigenverantwortlich treffen zu dürfen.
Diese rechtliche Befugnis wird regelmäßig bei der
Leitung der Personalabteilung liegen. Professoren wählen
zwar die in ihren Bereichen tätigen wissenschaftlichen
Mitarbeiter und idR auch die nichtwissenschaftlichen
Mitarbeiter selbst aus und geben zudem den maßgeblichen
Anstoß für eine Kündigung. Die Entscheidung
selbst sowie der Vollzug von Einstellung und Entlassung
liegt aber im Regelfall nicht in ihren Händen. Selbst
dann, wenn der mit ihnen geschlossene Arbeitsvertrag
diese Befugnis einräumen würde oder sie dort als leitende
Angestellte bezeichnet wären, würde das noch nicht
ausreichen. Die formale Befugnis des
§ 5 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BetrVG begründet den Status als leitender
Angestellter nur, wenn sie von erheblicher unternehmerischer
Bedeutung ist.10 Angenommen wird dies,
wenn sich die Einstellungs- und Entlassungsberechtigung
auf eine bedeutende Anzahl von Arbeitnehmern
erstreckt oder einen qualitativ bedeutsamen Personenkreis
erfasst.11 Diese Voraussetzungen sind im Normalfall
nicht erfüllt, der Status als leitender Angestellter wird im
Professorenbereich eher bei Leiterinnen oder Leitern
von größeren Forschungseinrichtungen anzunehmen
sein.12
Der Referentenentwurf des Ministeriums für Arbeit
und Soziales sieht für die Pflicht zur Aufzeichnung von
Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit in
§ 16 Abs. 7 Nr. 3 ArbZG eine Ausnahme für Arbeitnehmer
vor, bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen
Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen
oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von
den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann. In der
Begründung13 wird ausgeführt, dass die Voraussetzungen
für die Anwendung dieser Ausnahmeregelung bei
Führungskräften, herausgehobenen Experten oder Wissenschaftlern
gegeben sein können, die nicht verpflichtet
sind, zu festgesetzten Zeiten am Arbeitsplatz anwesend
zu sein, sondern über den Umfang und die Einteilung
ihrer Arbeitszeit selbst entscheiden können. Dieser Gedanke
trifft auf Professorinnen und Professoren an privaten
Hochschulen zu. Ebenso wie bei HochschullehWertheimer
· Arbeitszeiterfassungspflicht 1 6 3
14 Detmer, in: Hartmer/Detmer, Hochschulrecht, 4. Aufl. 2022, Kapitel
4, Rn. 209; Cas pers, OdW 2023, 102.
15 Siehe hierzu Cas pers, a.a.O., S. 102.
16 Löwisch, BB 47.2018, Die erste Seite; ders., Diskriminierung nicht
tarifgebundener Arbeitgeber im neuen AÜG, DB Rechtsboard,
15.05.2017.
17 Löwisch, a.a.O.
18 Grzeszick, in: Geis, Hochschulrecht in Bayern, 2. Aufl. 2017, Kapitel
3, Rn. 235; Cas pers, OdW 2023, 102.
19 OdW 2023, 102.
20 BAG v. 5.5.2010, 7 ABR 97/08, AP Nr. 74 zu § 5 BetrVG 1972; LAG
Nürnberg v. 24.8.2016, 2 Sa 201/16, juris; Wertheimer/Meißner,
a.a.O., Kapitel 11, Rn. 80.
rern an staatlichen Hochschulen trägt er dem Umstand
Rechnung, dass Zeitsouveränität eine wesentliche Voraussetzung
für wissenschaftliches Arbeiten ist, es geht
darum, die für das wissenschaftliche Arbeiten erforderliche
Kreativität zu wahren und zu fördern.14 Gedeckt ist
diese Ausnahmeregelung von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie
2003/88/EG.15
Der Referentenentwurf verlangt allerdings, dass die
Herausnahme der in § 16 Abs. 7 Nr. 3 ArbZG genannten
Arbeitnehmer von der Aufzeichnungspflicht in einem
Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrages in einer
Betriebsvereinbarung (oder Dienstvereinbarung) zugelassen
ist. Damit läuft die Norm für private Hochschulen
ins Leere, da Tarifverträge dort bislang keine Rolle spielen.
Ganz abgesehen davon würde ein Tarifvertrag für
private Hochschulen vornehmlich auch die nichtwissenschaftlichen
sowie die nachgeordneten wissenschaftlichen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Blickfeld haben,
wie dies auch im staatlichen Bereich der Fall ist.
Dort sind Professoren gem. § 1 Abs. 3 lit. a) aus dem Geltungsbereich
des TV‑L ausgenommen.
Dass die im Referentenentwurf vorgesehene Ausnahmeregelung
für die Aufzeichnungspflicht eine Regelung
in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrages
in einer Betriebsvereinbarung voraussetzt, bedeutet
eine weitere Privilegierung tarifgebundener Arbeitsverhältnisse.
Derartige Privilegierungen findet man beispielsweise
bei der Arbeitnehmerüberlassung: Tarifgebundene
Arbeitgeber können die dort vorgesehene
Höchstdauer der Überlassung ausdehnen, nicht tarifgebundenen
Arbeitgebern ist das nur bis zur Höchstdauer
von 24 Monaten gestattet und auch nur dann, wenn tariflich
entsprechende Betriebs- oder Dienstvereinbarungen
vorgesehen sind.16 In die gleiche Richtung geht
§ 9a Abs. 6 TzBfG zur sog. Brückenteilzeit, nach der
durch einen Tarifvertrag der Rahmen für den Zeitraum
der Arbeitszeitverringerung abweichend von
§ 9a Abs. 1 S. 2 TzBfG auch zuungunsten des Arbeitnehmers
geregelt werden kann. Verfassungsrechtlich sind
derartige Bestimmungen und damit auch die Regelung
des Referentenentwurfs in 16 Abs. 7 nicht haltbar. Versagt
der Gesetzgeber den nicht tarifgebundenen Arbeitgebern
eine Regelung, die er den tarifgebundenen eigens
erlaubt, liegt darin eine Diskriminierung, welche der negativen
Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG zuwiderläuft.
17 Dass das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales die Ausnahmeregelung in § 16 Abs. 7 des Referentenentwurfs
dafür einsetzen möchte, mehr Tarifbindung
zu erreichen, liegt auf der Hand.
Eine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung bei Professoren
an privaten Hochschulen begegnet im Übrigen
auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG Bedenken.18 Auch
mit Art. 3 Abs. 1 GG wäre sie nicht vereinbar, da kein
sachlicher Grund ersichtlich ist, Professorinnen und
Professoren an privaten Hochschulen arbeitszeitrechtlich
anders zu behandeln als deren Kolleginnen und Kollegen
an staatlichen Hochschulen.
Wie Caspers19 zuletzt aufgezeigt hat, ist die Herausnahme
von Professoren aus dem Arbeitszeitschutz unionsrechtlich
zulässig. Somit wäre eine Erweiterung der
Bereichsausnahmen in § 18 Abs. 1 ArbZG, die das BAG
in seinem Beschluss vom 13.9.2022 als zulässige Ausnahmeregelung
iSd Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG sieht, auf
Professorinnen und Professoren, die an privaten Hochschulen
tätig sind, möglich und auch der richtige Weg.
Die Ergänzung um diesen Personenkreis würde dort
auch systematisch hineinpassen. Außerhalb der leitenden
Angestellten nennt § 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG Chefärzte.
Auch wenn sie in den Krankenhäusern eine herausgehobene
Funktion einnehmen, sind sie in aller Regel keine
leitenden Angestellten.20 Der Regelungsgehalt von
Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG trifft auf sie aber in gleichem
Maße zu wie auf Hochschullehrer, mögen auch die
Gründe, weshalb das Arbeitszeitrecht auf Chefärzte und
Hochschullehrer nicht passt, unterschiedlich ausgeprägt
sein.
Bedenkt man, dass aktuell an 113 Privaten Hochschulen
in Deutschland über 350.000 Studierende von einer
großen Anzahl an privatrechtlich angestellten Professorinnen
und Professoren auf ihren akademischen Abschluss
vorbereitet werden, täte der Gesetzgeber gut daran,
bei der jetzt anstehenden Anpassung des Arbeitszeitgesetzes
klare Verhältnisse zu schaffen und die Professoren
aus dem Anwendungsbereich des Arbeitszeitschutzes
herauszunehmen. Bliebe es bei der Regelung im Referentenentwurf
vom 27.3.2023 und einer daraus folgenden
Aufzeichnungspflicht, wird eine Verfassungsbeschwerde
nicht lange auf sich warten lassen. Das ist vermeidbar.
1 6 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 6 1 — 1 6 4
21 z.B. EuGH v. 11.11.2010, C‑232/09, DB 2011, 2270 – Danosa.
22 Löwisch/Kaiser/Kaiser, § 5 Rn. 24 mwN.
23 BAG v. 5.3.1974, 1 ABR 19/73, BB 1974, 553.
24 Z.B. BAG v. 5.6.2014, 2 AZR 615/13, NZA 2015, 40; Löwisch/Kaiser/
Kaiser, § 5 Rn. 36.
b) Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Mitarbeiter
Ohne dies weiter vertiefen zu müssen, fallen die wissenschaftlichen
und nichtwissenschaftlichen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter privater Hochschulen unter den
Arbeitnehmerbegriff von § 2 Abs. 2 ArbZG und
§ 611a BGB. Deren Arbeitszeit ist zukünftig ebenso zu
erfassen ist wie bei den entsprechenden Mitarbeitergruppen
an staatlichen Hochschulen, unabhängig davon,
ob es sich um staatliche Universitäten, Hochschulen für
Angewandte Wissenschaften, Pädagogische Hochschulen
oder Kunst- und Musikhochschulen handelt.
c) Organmitglieder
Private Hochschulen werden in den Rechtsformen der
GmbH, gGmbH, des Vereins (e. V.), der Aktiengesellschaft
(AG) oder als Stiftungshochschule geführt. Deren
Organe, etwa die Geschäftsführer einer GmbH, Vorstandsmitglieder
einer Aktiengesellschaft oder die Vorstände
eines Vereins sind keine Arbeitnehmer gem.
§ 2 Abs. 2 ArbZG, deren Arbeitszeit ist demnach nach
§ 16 Abs. 2 ArbZG RefE nicht zu erfassen. Dass der
EuGH z.T. Richtlinien auch auf Organe einer Gesellschaft
anwendet21, hat für den Arbeitnehmerbegriff des
Arbeitszeitgesetzes keine Außenwirkungen.
d) Präsidiums- oder Rektoratsmitglieder
Ebenfalls nicht zu erfassen ist die Arbeitszeit der Präsidiums-
oder Rektoratsmitglieder einer privaten Hochschule.
Diese fallen als leitende Angestellte unter die
Bereichsausnahme des § 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG, auf die
das Arbeitszeitgesetz insgesamt nicht anwendbar ist.
Präsidiums- oder Rektoratsmitglieder einer privaten
Hochschule erfüllen zunächst die allgemeinen Voraussetzungen
des § 5 Abs. 3 S. 2, da sie einerseits zu ihrer leitenden
Funktion rechtlich befugt sind, diese andererseits
auch tatsächlich ausüben. Schließlich macht die Ausübung
dieser Befugnisse einen wesentlichen Teil ihrer
Tätigkeit aus und prägt ihre Stellung in der Hochschule.
22 Regelmäßig einschlägig sein wird bei ihnen
§ 5 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 BetrVG: Leitender Angestellter ist
danach, wer regelmäßig sonstige Aufgaben wahrnimmt,
die für den Bestand und die Entwicklung des Unternehmens
oder eines Betriebs von Bedeutung sind und deren
Erfüllung besondere Erfahrungen und Kenntnisse voraussetzt,
wenn er dabei entweder die Entscheidungen im
Wesentlichen frei von Weisungen trifft oder sie maßgeblich
beeinflusst. Voraussetzung dafür ist, dass die dem
Arbeitnehmer übertragene Aufgabe ein solches Gewicht
hat, dass sie sich von den Aufgaben abhebt, die eine normale
Angestellten-Tätigkeit ausmacht.23 Das ist der Fall,
wenn die betreffende Person maßgeblichen Einfluss auf
die wirtschaftliche, technische, kaufmännische, organisatorische
oder wissenschaftliche Leitung des Unternehmens
oder Betriebs hat, sich demnach in einer Schlüsselposition
befindet.24 In einer derartigen Verantwortung
stehen die Mitglieder der Leitung einer privaten Hochschule.
Eines Zugriffs auf den Hilfstatbestand des
§ 5 Abs. 4 BetrVG bedarf es daher nicht. Richtig dürfte es
auch sein, Dekane oder Fachbereichsleiter einer privaten
Hochschule unter den Anwendungsbereich des
§ 5 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 BetrVG zu subsumieren, auf die die
Bereichsausnahme des § 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG dann
ebenfalls anzuwenden ist. Auch deren Arbeitszeiten
müssten somit nicht erfasst werden.
Frank Wertheimer ist Partner der Kanzlei KRAUSS LAW
in Lahr/Schwarzwald. Zuvor war er 17 Jahre im Universitätsbereich,
davon über 10 Jahre in der Hochschulmedizin
tätig. Zu seinen Beratungsfeldern gehört im
Bereich des Arbeitsrechts auch das Hochschulrecht. Er
ist Gastmitglied der Forschungsstelle für Hochschulrecht
und Hochschularbeitsrecht an der Rechtswissenschaftlichen
Fakultät der Universität Freiburg
Soziale Medien oder soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram, LinkedIn, TikTok oder YouTube gehören zu den meistgenutzten Diensten im Internet.1 Seit fast nunmehr 20 Jahren haben sie eine Verbreitung gefunden, dass durchschnittlich fast die Hälfte der Weltbevölkerung eines oder mehrere dieser Medien zumindest gelegentlich nutzt.2 Ihre erhebliche Bedeutung für Information und Kommunikation ist unbestritten. Vielfach wird bereits konstatiert, dass der Rückgang der Nutzerzahlen bei „klassischen Medien“ wie Zeitungen, Rundfunk und (linearem) Fernsehen auch mit dem Aufkommen der sozialen Medien als Ort moderner Information und Kommunikation zusammenhängt.3
Auch wenn der überwiegende Anteil die private Kommunikation betreffen mag, ist die Nutzung sozialer Medien durch Einrichtungen des öffentlichen Sektors doch signifikant.4 So sind fast alle Bundesministerien und viele Landesministerien, aber genauso die Europäische Kommission5 sowie zahlreiche Kommunen auf Facebook vertreten. Sie informieren dort über ihre Tätigkeit und treten somit in Kontakt mit jenen, deren Interessen diese Behörden (aber auch viele Parlamente oder Gerichte) vertreten: die Öffentlichkeit, die Bevölkerung, Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen oder Vereinigungen aller Art. Soziale Netzwerke sind ein Ort des öffentlichen Lebens.
Das betrifft gleichermaßen auch die Hochschulen und alle relevanten Forschungseinrichtungen. „Fanpages“ auf Facebook haben neben den Technischen Universitäten6 auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft7, die Max-Planck-Gesellschaft8, die Fraunhofer-Gesellschaft9 und natürlich auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung10. Daneben sind auch zahlreiche Lehrstühle, Institute und Forschungsstellen auf Facebook, Instagram, Twitter oder LinkedIn vertreten, zum Teil mit eigenen Seiten für einzelne Vorlesungen oder Seminare.
So relevant die sozialen Medien und Netzwerke also für die Öffentlichkeitsarbeit auch im Wissenschaftsbereich sind, so sehr stellt sich aktuell (im Frühjahr 2023) die Frage: Stehen all diese Internetpräsenzen mit zusammen vielen Millionen Nutzerinnen und Nutzern vor dem Aus? Anlass für diese Frage gibt eine Verfügung des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI), mit der dieser am 17.2.2023 dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA) den Betrieb der „Facebook-Fanpage“ der Bundesregierung untersagt hat.11 Sollte dessen Rechtmäßigkeit in dem derAnne
Paschke
Social Media-Nutzung von Hochschulen vor dem Aus? Verfassungsrechtliche Analyse der
Untersagungsverfügung des BfDI gegen das BPA vom 17.02.2023
1 Vgl. We are Social, Hootsuite, DataReportal, 2023, Ranking der größten Social Networks und Messenger nach Anzahl der Nutzer im Januar 2023 (in Millionen), abrufbar unter https://de.s tatis ta.com/s tatis tik/daten/s tudie/181086/umfrage/die-weltweit-groessten-social-networks-nach-anzahl-der-user/, sowie Statis ta, 2022, Ranking der wichtigs ten sozialen Netzwerke in Deutschland nach Markenbekanntheit im Jahr 2022, https://de.s tatis ta.com/s tatis tik/daten/s tudie/1309960/umfrage/bekanntes te-soziale-netzwerke-in-deutschland/ (sämtliche Online-Quellen wurden am 29.05.2023 abgerufen).
2 Alleine Facebook zählt nach eigenen Angaben derzeit 2,9 Mrd. monatlich aktive Nutzer, Meta Platforms, 2023, Anzahl der monatlich aktiven Facebook Nutzer weltweit vom 1. Quartal 2009 bis zum 4. Quartal 2022 (in Millionen), https://de.s tatis ta.com/s tatis tik/daten/s tudie/37545/umfrage/anzahl-der-aktiven-nutzer-von-facebook/.
3 Aus dem Reuters Ins titute Digital News Report von 2020 geht hervor, dass soziale Medien zu Informationszwecken über das Tagesgeschehen zunehmende Bedeutung erlangen, https://www.digitalnewsreport.org/survey/2020/overview-key-findings-2020/.
4 So nutzen bs pw. Bundesminis terien (exemplarisch: https://www.facebook.com/bmdv, https://www.facebook.com/bmbf.de, https://www.facebook.com/BMWK), regionale Behörden (exemp-larisch: https://www.facebook.com/s tadtbraunschweig, https://www.facebook.com/s tadt.koeln50, https://www.facebook.com/Stadt.Muenchen) oder auch Polizeibehörden (exemplarisch: https://www.facebook.com/PolizeiHannover, https://www.facebook.com/PolizeiBerlin) soziale Medien, um über ihre Inhalte zu berichten.
5 https://www.facebook.com/eu.kommission.
6 Vgl. z.B. die Fanpage der TU9, https://www.facebook.com/TU9.de.
7 https://www.facebook.com/Deutsche-Forschungsgemeinschaft.
8 https://www.facebook.com/maxplanckgesellschaft.
9 https://www.facebook.com/fraunhofer.de.
10 https://www.facebook.com/bmbf.de/.
11 Der Bescheid is t abrufbar unter https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/DokumenteBfDI/Dokumente-allg/2023/Bescheid-Facebook-Fanpage.html.
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 6 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 6 5 — 1 7 2
12 Die Klage is t am 16.03.2023 beim VG Köln eingegangen und wird
dort unter dem Aktenzeichen 13 K 1419/23 geführt, https://www.
vg-koeln.nrw.de/behoerde/presse/Interssante-Verfahren/index.
php.
13 https://www.facebook.com/Bundesregierung/.
14 Vgl. Rundschreiben des BfDI an die behördlichen Datenschutzbeauftragten
der obers ten Bundesbehörden v. 20.05.2019, abrufbar
unter: https://www.bfdi.bund.de/DE/DerBfDI/Dokumente/Rundschreiben/
Allgemein/Rundschreiben_allg-node.html.
15 Vgl. Bescheid des BfDI vom 17.2.2023, S. 1, abrufbar unter https://
www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/DokumenteBfDI/
Dokumente-allg/2023/Bescheid-Facebook-Fanpage.html.
16 Vgl. Bescheid des BfDI vom 17.2.2023, S. 20.
17 Vgl. Bescheid des BfDI vom 17.2.2023, S. 20.
18 Auf dieses Datenschutzins trument soll hier nicht näher eingegangen
werden, vgl. hierzu Nguyen, in: Gola/Heckmann (Hrsg.),
DSGVO – BDSG, 3. Auflage 2022, Art. 58 DS-GVO Rn. 14.
19 Vgl. Mitteilung auf der Website des BfDI v. 09.11.2022, https://
www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Kurzanmeldungen/DE/2022/20_
BfDI-loescht-Twitter-Account.html?nn=251928.
zeit anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren12
bestätigt werden, ist davon auszugehen, dass auch der
Betreib von allen weiteren „Fanpages“ untersagt wird,
mithin auch jene im Bereich von Hochschulen und
Wissenschaft.
Der vorliegende Beitrag untersucht die Rechtmäßigkeit
dieser Untersagungsverfügung und zeigt mögliche
Konsequenzen für die digitale Information und Kommunikation
im Wissenschaftsbereich auf.
I. Vorgeschichte: Untersagungsverfügung gegen das
BPA
Das BPA ist für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung
zuständig. Während in der Vergangenheit die
Pressekonferenz das klassische Medium der Öffentlichkeitsarbeit
einer Bundesregierung war und sich Menschen
anschließend über die Texte, die Journalistinnen
und Journalisten auf dieser Grundlage geschaffen haben,
informieren konnten, nutzt die Bundesregierung über
das BPA inzwischen soziale Medien, um Bürgerinnen
und Bürger unmittelbar zu informieren.
Daher betreibt das BPA wie viele anderen Behörden
verschiedene Webseiten in sozialen Medien. Eine dieser
Webseiten ist eine Fanpage für die Bundesregierung auf
der Plattform Facebook.13 Bereits 2019 hatte der BfDI die
obersten Bundesbehörden angeschrieben und mitgeteilt,
dass eine datenschutzkonforme Nutzung von Facebook
nicht möglich sei.14 Mit Bescheid vom 17.2.2023 wurde
der Betrieb nunmehr durch den Bundesbeauftragten für
Datenschutz und Informationsfreiheit untersagt.15
Der BfDI untersagt dem BPA also den Betrieb seiner
Bundesregierungs-Fanpage auf Facebook, der über eine
Million Menschen folgen. Gleichzeitig erkennt der BfDI
jedoch an, dass eine entsprechende Fanpage für das BPA
deshalb von großem Interesse ist, weil sich viele Menschen
ihre Informationen vorrangig über das Netzwerk
Facebook beschaffen.16 Wird diese Fanpage abgeschaltet,
geht der BfDI selbst davon aus, dass Informationen der
Bundesregierung von bestimmten Nutzerkreisen nicht
mehr wahrgenommen werden.17 Diesem Risiko zum
Trotz ist die Untersagungsverfügung ergangen. Darüber
hinaus wurde das BPA in verschiedenen weiteren Punkten
im Zusammenhang mit dem Betrieb der Facebook-
Fanpage verwarnt.18
Diese Reaktion des BfDI ist insofern bemerkenswert,
als der Leiter dieser obersten Bundesbehörde und frühere
Staatssekretär im seinerzeitigen Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) in seinen
fast 35.000 Tweets gegenüber ebenso vielen Followern
auf Twitter kommuniziert und damit selbst als Abgeordneter,
Staatssekretär und eben Beauftragter für den Datenschutz
Öffentlichkeitsarbeit betrieben hat – jedenfalls
bis zu dem Zeitpunkt, als er Twitter Ende 2022 verlassen
hat. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der
jahrelang das soziale Netzwerk eines US-amerikanischen
Tech-Konzerns als Kommunikationskanal genutzt
hat19, verbietet nun dem BPA die Nutzung von Facebook
für dessen Öffentlichkeitsarbeit.
II. Rechtsfragen im Umgang mit der Untersagungsverfügung
vom 17.2.2023
Die zentralen Rechtsfragen, die sich in Bezug auf die
Untersagungsverfügung ergeben, sind:
––Liegt tatsächlich ein Datenschutzverstoß durch das
Betreiben von Facebook-Fanpages vor (II.1)?
––Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der
Öffentlichkeitsauftrag des Staates (II.2)?
––Wie wirkt sich dieser Ausgangsfall auf die Social
Media-Praxis der Hochschulen aus (III.)? - Verstößt der Betrieb einer Facebook-Fanpage gegen
die DSGVO?
Zunächst stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Datenschutzverstoß
vorliegt. Es ist wohl unstreitig, dass die
Datenverarbeitung durch die Facebook Plattform, die
inzwischen vom Meta Konzern betrieben wird, teilweise
Paschke · Social Media-Nutzung an Hochschulen vor dem Aus? 1 6 7
20 Zur datenschutzrechtlichen Diskussion um Facebook vgl. etwa
Hoffmann/Schmidt, GRUR 2021, 679; Lohse, NZKart 2020, 292;
Schweda, ZD-Aktuell 2015, 04659; Solmecke, Handbuch Multimedia-
Recht, Teil 21.1 Social Media, Rn. 43 ff. Auch gerichtlich
wurde das Verhalten von Facebook bereits datenschutz-rechtlich
beans tandet, vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 11.09.2019 – 6 C 15.18 =
NJW 2020, 414.
21 Vgl. Kurzgutachten zur datenschutzrechtlichen Konformität des
Betriebs von Facebook-Fanpages v. 18.03.2022, abrufbar unter https://
www.datenschutzkonferenz-online.de/media/weitere_dokumente/
DSK_Kurzgutachten_Facebook-Fanpages_V1_18.03.2022.
pdf.
22 EuGH, MMR 2019, 732 –„Planet49“; vgl. hierzu auch: Baumann/
Alexiou, ZD 2021, 349.
23 Unter Verweis auf Erwägungsgrund 42 der DS-GVO auch Bescheid
des BfDI vom 17.2.2023, S. 31 ff.
24 Vgl. hierzu Möller, VuR 2022, 449, 453 ff.
25 Vgl. Kurzgutachten zur datenschutzrechtlichen Konformität des
Betriebs von Facebook-Fanpages v. 18.03.2022, S. 19.
26 https://www.facebook.com/legal/terms/page_controller_addendum.
Vgl. auch https://www.facebook.com/legal/controller_addendum.
27 Vgl. Kurzgutachten zur datenschutzrechtlichen Konformität des
Betriebs von Facebook-Fanpages v. 18.03.2022, S. 19.
28 Hartung, in: Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Aufl. 2020,
Art. 26 DS-GVO Rn. 13.
29 EuGH, NJW 2018, 2537, Rn. 31 – „Wirtschaftsakademie“.
30 Vgl. EuGH, MMR 2019, 579 – „Fashion ID“ wonach das Kriterium
der gemeinsamen Verantwortlichkeit zum wirksamen Schutz von
Betroffenen weit auszulegen ist; ansonsten: EuGH NJW 2018, 2537
– „Wirtschaftsakademie“.
31 Leitlinien 07/2020 des European Data Protec tion Board zu den
Begriffen „Verantwortlicher“ und „Auftragsverarbeiter“ in der
DSGVO.
32 Vgl. Bescheid des BfDI vom 17.2.2023, S. 14 unter Verweis auf die
Rechts prechung des EuGH NJW 2018, 2537 – „Wirtschaftsakademie“.
33 EuGH, NJW 2018, 2537 – „Wirtschaftsakademie“.
datenschutzrechtswidrig erfolgt.20 Die Hauptvorwürfe
sind vorliegend das rechtswidrige Setzen von Cookies
und das Fehlen einer wirksamen Vereinbarung in Bezug
auf eine gemeinsame Verantwortlichkeit.21
Eine Datenverarbeitung auch mit Hilfe von Cookies22
ist aufgrund des datenschutzrechtlichen Verbots mit Erlaubnisvorbehalt
nur zulässig, wenn der Nutzer in diese
Datenverarbeitung eingewilligt hat oder ein gesetzlicher
Erlaubnistatbestand vorliegt, vgl. Art. 6 DSGVO. Da
Meta nicht hinreichend transparent über die verwendeten
Cookies und darüber informiert, welche personenbezogenen
Daten hierüber erfasst werden, kann darin
ein Datenschutzverstoß gesehen werden.23 Es fehlt mangels
wirksamer Einwilligung somit an einer tauglichen
Ermächtigungsgrundlage für die Datenverarbeitung.24
Auch weitere rechtliche Ermächtigungsgrundlagen
sind nicht ersichtlich: Meta nutzt nämlich Cookies, um
Nutzerprofile anzulegen und auf dieser Grundlage Werbung
auszuspielen. Die so adressierte Werbung ist Teil
des Geschäftsmodells von Facebook, welches vorliegend
das eigentliche Problem darstellt. Es besteht somit für
die Datenverarbeitung mithilfe von Cookies zumeist keine
technische, sondern lediglich eine ökonomische Notwendigkeit,
für welche teilweise keine Ermächtigungsgrundlage
ersichtlich ist.
Darüber hinaus werden die Anforderungen des
Art. 26 DSGVO an die Vereinbarung bei einer gemeinsamen
Verantwortlichkeit25 nicht eingehalten. Facebook
übernimmt zwar in seinen Seiten zu Page Insights-Ergänzungen
(das sog. Page Insights Addendum) die Verantwortung
für die Datenverarbeitung auf der Plattform26,
legt jedoch die Datenverarbeitungsschritte, die
Facebook mit den erfassten personenbezogenen Daten
seiner Nutzerinnen und Nutzer im Einzelnen vollzieht,
nicht offen. Dieser Text ist damit nicht als hinreichende
Vereinbarung i.S.d. Art. 26 DSGVO anzusehen.27
Wie sind diese Datenschutzverstöße von Meta nun aber
dem BPA zuzurechnen?
Für eine gemeinsame Verantwortlichkeit müssen die
Verantwortlichen die Zwecke und Mittel der Verarbeitung
festlegen, vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO. Dabei ist auf die
tatsächliche jeweilige Funktion bei der Verarbeitung abzustellen.
28 Eine gemeinsame Verantwortlichkeit ist bei
einem tatsächlichen Einfluss auf die Entscheidung der
Verarbeitung anzunehmen.29 Nach der Rechtsprechung
des EuGH30 und den Leitlinien des Europäischen Datenschutzausschusses31
kommt es darauf an, ob die Beiträge
der Verantwortlichen mitursächlich für die Datenverarbeitung
sind. Der BfDI wertet das Betreiben der Fanpage
durch eine Bundesbehörde als das Setzen der primären
Ursache, die es Meta erst ermöglicht, Daten über Besucherinnen
und Besucher der Fanpage zu erheben. Zudem
profitieren sowohl Meta als auch das BPA von der
Datenverarbeitung. Das BPA erhöht als Fanpage-Betreiber
die Reichweite seiner Öffentlichkeitsarbeit und Meta
profitiert insoweit, als es mithilfe der über die Fanpage
gewonnenen Daten die auf dem Netzwerk bereitgestellte
Werbung optimieren kann. Somit ist von einer gemeinsamen
Verantwortlichkeit nach Art. 4 Nr. 7, Art. 26 DSGVO
auszugehen.32
Auch der EuGH hat in seiner Entscheidung zu Fanpages
von 201833 festgestellt, dass Facebook und Betreiber
einer Fanpage auf dieser Plattform in Bezug auf die
Verarbeitung der personenbezogenen Daten der Besucherinnen
und Besucher dieser Fanpage grundsätzlich
1 6 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 6 5 — 1 7 2
34 https://www.facebook.com/legal/terms/page_controller_addendum;
https://www.facebook.com/legal/controller_addendum.
35 Zur Zus tändigkeit allgemein Eichler/Matzke, in: Wolff/Brink
(Hrsg.), BeckOK Datenschutzrecht, 43. Edition, Art. 55 DSGVO.
36 BVerwG, NJW 2020, 414.
37 BVerwG, NJW 2020, 414, 417.
38 EuGH, NJW 2018, 2537.
39 Vgl. Nguyen, in: Gola/Heckmann (Hrsg.), Datenschutz-Grundverordnung
– Bundesdatenschutzgesetz, 3. Aufl. 2022, Art. 58
DS-GVO Rn. 17; Selmayr, in: Ehmann/Selmayr (Hrsg.), Datenschutz-
Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 58 Rn. 18. Zur
Berücksichtigung weiterer Grundrechte vgl. Heckmann/Paschke,
in: Stern/Sodan/Mös tl (Hrsg.), Staatsrecht der BRD, 2. Auflage
2022, Bd. I § 103 Rn. 120.
40 Vgl. BVerfGE 7, 198.
41 BVerfG, NJW 1977, 751. Horn s pricht von der „Öffentlichkeit als
Lebensgesetz der Demokratie“ in VVDStRL 68 (2009), 413, 418.
42 Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit, S. 148. Hierzu auch Grezszick,
in: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, - EL September 2022, Art. 20 Rn. 22; Pieroth, in: Jarass/Pieroth
(Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, - Aufl. 2022, Art. 20 Rn. 15 f.
43 Heckmann/Paschke, in: Stern/Sodan/Mös tl (Hrsg.), Staatsrecht
der BRD, 2. Auflage 2022, Bd. I § 121 Rn. 10.
als gemeinsame Verantwortliche zu werten sind. Daran
ändert nach h.M. auch der Umstand nichts, dass Meta
die Verantwortung für die Datenverarbeitung auf der eigenen
Plattform übernimmt.34 Dennoch müssen wir uns
fragen: Darf eine Datenschutzaufsichtsbehörde trotz dieser
Verantwortungsübernahme durch Meta einfach gegen
das BPA vorgehen, obwohl die Datenschutzverstöße
durch Meta erfolgen? Der BfDI kann selbst nicht gegen
Facebook vorgehen, da für dieses Unternehmen die irische
Datenschutzaufsichtsbehörde zuständig ist.35
In diesem Zusammenhang hat sich das Bundesverwaltungsgericht
2019 bereits eindeutig positioniert36: Mit
der gemeinsamen Verantwortlichkeit geht eine „Gesamtschuld“
einher, so dass Aufsichtsmaßnahmen auch
gegenüber dem Fanpagebetreiber möglich sind, obwohl
dieser kaum Möglichkeiten hat, auf die technische
Gestaltung Einfluss zu nehmen.37 Zwar kann das BPA
gewisse Einstellungen treffen und sich Statistiken beim
Betreiben der Fanpage ausblenden lassen; hierdurch
werden jedoch Datenschutzverstöße durch das Unternehmen
Meta nicht verhindert.
Der BfDI als zuständige Aufsichtsbehörde zur Ahndung
von Datenschutzverstößen durch öffentliche Stellen
des Bundes kann nach § 9 Abs. 1 BDSG bzw.
§ 29 Abs. 2 TTDSG bei der Wahl des Maßnahmegegners
eine „Störerauswahl“ treffen.
Nach geltender Rechtsprechung haftet das BPA damit
auch für Datenschutzverstöße durch den Konzern Meta,
dem Betreiber des sozialen Netzwerks Facebook.38 Der
BfDI nimmt das BPA vorliegend aus prozessökonomischen
Gründen in Anspruch. Eine Inanspruchnahme
von Meta wäre schwieriger, zumal hierfür die irische Datenschutzaufsicht
zuständig ist. Faktisch adressiert der
BfDI ein (durchaus fragwürdiges) Geschäftsmodell von
Meta, beschränkt sich aber (inkonsequenterweise) auf
eine einzige Fanpage, statt den Betrieb sämtlicher Fanpages
in seinem Zuständigkeitsbereich zu untersagen. - Die Rolle des Öffentlichkeitsauftrags des Staates
Geht man von einem Verstoß gegen die DSGVO und das
Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetz
(TTDSG) aus, stellt sich als zweites die Frage, welche
Rolle der Öffentlichkeitsauftrag des Staates in diesem
Fall spielt.
Datenschutzaufsichtsmaßnahmen müssen nach
pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes getroffen werden.39 Ist
dieser verfassungs- bzw. europarechtliche Grundsatz
nicht hinreichend bei der Abwägung berücksichtigt worden,
kann die Untersagung/Abschaltung der Facebook-
Fanpage die verfassungsrechtliche Pflicht der Bundesregierung
zur Öffentlichkeitsarbeit beeinträchtigen.
Dabei müssen wir uns zunächst die Frage stellen: Ist der
Öffentlichkeitsauftrag eine Pflicht aus der Verfassung
bzw. aus dem EU-Primärrecht? Dies ist im Ergebnis zu
bejahen. Die Meinungs‑, Presse‑, Informations- und
Versammlungsfreiheit ist schlechthin konstituierend in
einer Demokratie.40 Das verfassungsrechtliche Gebot
der Öffentlichkeitsarbeit wird durch das Bundesverfassungsgericht
aus dem Demokratieprinzip, d.h. aus Art.
20 Abs. 1 GG abgeleitet und hat die Aufgabe, demokratische
Teilhabe und gleichzeitig demokratische Kontrolle
zu sichern.41 Der Staat muss nicht nur seine Bürgerinnen
und Bürger informieren, sondern es besteht eine generelle
Pflicht zur Transparenz staatlichen Handelns.42
Demokratietheoretisch ist die rein repräsentative Demokratie
nicht mehr die aktuell gelebte Erwartungshaltung
des Volkes. Es genügt dem mündigen Souverän somit
nicht mehr, sich nur alle vier Jahre zur Wahl in den
politischen Diskurs einbringen zu können.43 Vielmehr
lebt die Demokratie von der Kommunikation und Interaktion
des Staates mit seinen Bürgerinnen und Bürgern.
Über Meinungsbilder und Korrekturen bzw. die Anpassung
der Politik auf dieser Grundlage werden Erwartungen
von Bürgerinnen und Bürgern in den politischen
Paschke · Social Media-Nutzung an Hochschulen vor dem Aus? 1 6 9
44 Hierzu allgemein: Emmer, in: Schmidt/Taddicken (Hrsg.), Handbuch
Soziale Medien, 2. Auflage 2022, S. 57–80.
45 Hierzu u.a. Emmer, in: Schmidt/Taddicken (Hrsg.), Handbuch
Soziale Medien, 2. Auflage 2022, S. 63.
46 BVerfG, NJW 1977, 751, 753.
47 Vgl. auch Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit, S. 96 ff., 148.
48 Brandt, 2023, Print-Reichweite schrumpft, https://de.s tatis ta.com/
infografik/29857/umfrage-zur-nutzung-von-verlagsmedien-indeutschland/.
49 So BVerfG, NVwZ 2015, 2019, 212 unter Verweis auf BVerfG, NJW
2002, 2621.
50 Allgemein zum Kulturwandel im Prozess der digitalen Transformation
Videomitschnitt des Leopoldina-Symposiums „Die Digitalisierung
und ihre Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft“,
https://www.leopoldina.org/verans taltungen/verans taltung/
event/2464/. Zur Grundrechtsverwirklichung im Kontext der
Digitalisierung vgl. Heckmann/Paschke, in: Stern/Sodan/Mös tl
(Hrsg.), Staatsrecht der BRD, 2. Auflage 2022, Bd. I § 121 Rn. 1 ff.
51 Vgl. Informationszusammens tellung des BfDI über den Betrieb
von Facebook-Fanpages auf der eigenen Website, https://www.
bfdi.bund.de/DE/Fachthemen/Inhalte/Telemedien/FacebookFanpages.
html.
52 Hierzu etwa Roggenkamp, in: Barzsch/Briner (Hrsg.), DGRI Jahrbuch
2010, 197.
53 Heckmann/Paschke, in: Stern/Sodan/Mös tl (Hrsg.), Staatsrecht der
BRD, 2. Auflage 2022, Bd. I § 121 Rn.4.
54 Zum Begriff der Medienintermediäre vgl. Ory, ZUM 2021, 472, - Zur Plattformökonomie unter rechtlichen As pekten vgl.
Wissenschaftliche Diens te des Bundes tages, WD 6–3000-058/17, abrufbar
unter: https://www.bundes tag.de/resource/blob/532608/…/
wd‑6–058-17-pdf-data.pdf.
55 Hier angelehnt an die Überwachungsgesamtrechnung von Roßnagel,
NJW 2010, 1238 ff.; eine ähnliche Anleihe im Sinne einer
Determinierungsgesamtrechnung findet sich auch bei Paschke,
MMR 2019, 563, 567.
56 Diese Überlegung folgt der Annahme, dass weder die USA, noch
China ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleisten. Vgl.
hierzu eine Analyse der deutschen Datenschutzbehörden und des
Europäischen Datenschutzausschusses, https://www.taylorwessing.
com/de/insights-and-events/insights/2022/02/where-is-dataprocessing-
s till-possible.
Diskurs eingebracht.44 Das Fehlen von staatlicher Kommunikation
bedingt heute mehr denn je das Risiko von
Desinformationskampagnen und ist in der Folge demokratiegefährdend.
45 Wenn der Staat Desinformation oder
Akzeptanzdefizite ignoriert, werden die Grundfesten des
demokratischen Rechtsstaates brüchig. Hierzu hat das
Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass die Öffentlichkeitsarbeit
einer Regierung und gesetzgebenden
Körperschaften auch notwendig ist, um den Grundkonsens
im demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten.
46 Somit übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit eine
wichtige verfassungsrechtliche Aufgabe.47
Die Herstellung von Öffentlichkeit ist auch über eine
Präsenz in sozialen Netzwerken möglich. Öffentlichkeitsarbeit
ist nämlich nicht auf ein bestimmtes Medium
beschränkt. Insbesondere besteht keine Begrenzung auf
„klassische Medien“ wie Rundfunk und Presse. Diese
werden von vielen Personengruppen immer weniger
konsumiert.48 Im Gegenteil: Die Öffentlichkeitsarbeit
der Bundesregierung muss sich an neue Medien und
Kommunikationsräume anpassen.49 Durch die sozialen
Medien und die diesen immanente Schaffung neuer
Kommunikationsräume manifestiert sich ein Kulturwandel.
50 Diesen darf der Staat nicht ignorieren.
Es besteht verfassungsrechtlich auch keine Beschränkung
auf bestimmte alternative Kommunikationskanäle.
Soziale Netzwerke sind nicht durch Rundfunk und Presse
zu ersetzen. Der Staat darf und sollte dort sein, wo
sich seine Bürgerinnen und Bürger aufhalten. Die Kommunikation
hat sich gewandelt. Auch der BfDI erkennt
an, dass Fanpages geeignet sind, ein gewisses Zielpublikum
zu erreichen.51 Zudem sind Soziale Medien der einzige
Ort, an dem eine dialogorientierte Öffentlichkeitsarbeit
erfolgen kann, und eine unmittelbare Reaktion
des Adressaten möglich ist. Die Kommunikation mit
dem Staat über diese sogenannten neuen Medien erhöht
deren Wirkmacht gegenüber einer eindimensionalen Information
über den Staat, wie dies für klassische Medien
üblich ist.
Der Wandel der Kommunikationskultur durch digitale
Interaktion hat sich in den letzten 15 Jahren vollzogen,
seit das Internet mit dem web 2.0 sog. „user generated
content“52 über Plattformen ermöglicht.53 Die überragende
Bedeutung für den Staat ergibt sich nicht nur für
dessen Information, sondern auch wegen der Unterbindung
von Desinformation. Dem kann man nur durch
eine Moderation und einen permanenten Diskurs gegensteuern.
Plattformbetreiber sind die neuen Intermediäre
in der Kommunikation.54
Die Untersagung des Betreibens einer Fanpage hat
der BfDI nach § 29 Abs. 3 TTDSG iVm Art. 58 Abs. 2 lit. f)
der DSGVO verhängt. Dem müsste jedoch eine ermessensfehlerfreie
Entscheidung nach § 40 VwVfG zugrundeliegen.
Genau diese kann jedoch bezweifelt werden.
Hierfür hätte es einer Folgenabschätzung im Sinne einer
„Belastungsgesamtrechnung“55 bedurft. Denn nicht nur
das BPA hat den Betrieb seiner Fanpage einzustellen.
Wenn man der Rechtsauffassung des BfDI folgt, müssten
tatsächlich alle (!) Behörden Facebook fernbleiben. Zudem
gilt dies nicht nur für eine Präsenz auf Facebook,
sondern auch für Instagram, Twitter, TikTok, Youtube,
etc. Alle Behördenseiten bei den großen amerikanischen
und chinesischen Diensteanbietern müssten danach wegen
Datenschutzbedenken geschlossen werden.56
Damit würde ein Großteil der Öffentlichkeitsarbeit
in der heutigen Zeit wegbrechen bzw. auf den Stand vor
1 7 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 6 5 — 1 7 2
57 Vgl. F.A.Z.-Interview mit dem Leiter der Deutschen Journalis tenschule,
Jörg Sadrozinski, wonach nur noch rund 30 Prozent der
Journalis ten eine Festanstellung erhalten, abrufbar unter https://
www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/journalis tenberuf-
in-der-krise-nur-30-prozent-mit-fes ter‑s telle-12162566.html.
Allgemein zum Verhältnis von sozialen Medien zu Journalismus:
Neuberger, in: Schmidt/Taddicken (Hrsg.), Handbuch Soziale
Medien, 2. Auflage 2022, S. 81–102.
58 Mitteilung auf der Website des Medienverband der freien Presse
v. 07.03.2018, https://www.mvfp.de/nachricht/artikel/offener-briefeuropa-
darf-die-datenrevolution-nicht-verpassen/.
59 Vgl. hierzu Egger/Gattringer/Kupferschmitt, Media Pers pektiven
5/2021, 270, 270.
60 Unter den meis tgenutzten sozialen Netzwerken befindet sich kein
europäisches Netzwerk, We are Social, Hootsuite, DataReportal,
2023, Ranking der größten Social Networks und Messenger
nach Anzahl der Nutzer im Januar 2023 (in Millionen), https://
de.s tatis ta.com/s tatis tik/daten/s tudie/181086/umfrage/die-weltweit-
groess ten-social-networks-nach-anzahl-der-user/. Die in
Deutschland betriebene Plattform Xing wird primär im deutschs
prachigen Raum aber vorranging als Berufsvernetzungs plattform
verwendet, vgl. hierzu SimilarWeb, 2023, Anteil des Desktop-
Traffics von xing.com nach Herkunftsland im März 2023, https://
de.s tatis ta.com/s tatis tik/daten/s tudie/501513/umfrage/laender-mitdem-
hoechs ten-anteil-am-traffic-von-xing/.
61 Hierzu etwa VG Karlsruhe, BeckRS 2005, 24209, VG Bremen,
BeckRS 2014, 55577. Allgemein zur er-messensfehlerfreien Störerauswahl
Würtenberger/Heckmann/Tanneberger, Polizeirecht in
Baden-Würtenberg, 7. Auflage 2017, Rn. 358 ff.
62 Pressemitteilung 6/2023 des BfDI, https://www.bfdi.bund.de/
SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/06-Untersagung-Betrieb-
Fanpage-BReg.html.
2005, also zur alten Pressekonferenz, zurückgeworfen.
Dies ist insoweit als kritisch anzusehen, da die Presse
aufgrund des wirtschaftlichen Drucks durch das digitale
Konsumverhalten der Bürgerinnen und Bürger immer
weniger feste Journalistinnen und Journalisten beschäftigt.
57 Zudem könnten Bürgerinnen und Bürger staatliche
Informationen nicht mehr kostenfrei erhalten, sondern
müssten entweder Presseerzeugnisse erwerben
oder auf den Webseiten der Presseverlage in die Verarbeitung
und Weitergabe von personenbezogenen Daten
auch an Drittunternehmen einwilligen. Die Presseverlage
und Medienhäuser haben sich im Zuge der Verhandlungen
zur ePrivacy-Verordnung in einem offenen Brief
für die aktuell geltende seitenindividuelle Cookiepraxis
und gegen eine datenschutzfreundlichere browserbasierte
Regelung zu trackingbasierter Werbung ausgesprochen.
58 Auch für die sogenannten klassischen Medien
sind die auf Basis von Trackingdiensten erzielten Werbeeinnahmen
ein wichtiges neues Geschäftsmodell
geworden.
Insofern erscheint es widersprüchlich, wenn der
BfDI beklagt, dass Behörden mittelbar Profilbildung für
Werbezwecke auf Facebook durch ihre Fanpages unterstützen,
obwohl dies nicht vom Öffentlichkeitsauftrag
gedeckt sei – um dann wiederum auf andere Kommunikationskanäle,
etwa die Presseberichterstattung, zu verweisen,
auf deren Online-Präsenzen nichts Anderes
stattfindet.
Gerade für Hochschulen, aber auch viele weitere Behörden
würde mit dieser Entscheidung eine wichtige
Quelle für Recruiting-Kampagnen wegfallen. Über soziale
Medien werden nämlich junge Menschen adressiert,
die sich potentiell für ein Studium oder eine Ausbildung
begeistern können. Über Fernsehspots und Pressekonferenzen
werden ganze Generationen kaum mehr erreicht.
59 Und ein breit genutztes europäisches soziales
Netzwerk zur privaten Kommunikation gibt es seit der
Abschaltung von StudiVZ nicht mehr.60
Legt man dementsprechend die Rechtsauffassung des
BfDI zugrunde, dürfte eigentlich keine (Bundes-)Behörde
irgendein Angebot in den sozialen Medien nutzen.
Insofern erscheint es willkürlich, wenn der BfDI eine
einzige Seite einer einzigen Behörde in einem einzigen
Netzwerk untersagt – alles andere aber bestehen lässt.
Das erinnert auch an die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte
zur Störerauswahl im Gefahrenabwehrrecht61:
Wenn bei einem Festival hunderte Autos illegal
geparkt wurden, wäre es willkürlich, ein hervorstechendes
Auto herauszugreifen und nur dieses abzuschleppen,
wenn dadurch die bestehende Gefahrenlage nicht effektiv
beseitigt wird. Dem Einwand, es könnten ja nicht alle
Fahrzeuge gleichzeitig abgeschleppt werden, ist zu entgegnen,
dass die Effektivität der Gefahrenabwehr ein belastbares
Konzept fordert. So könnten die Fahrzeuge
zum Beispiel von vorne nach hinten konsequent abgeschleppt
werden, um so den rechtswidrigen Zustand effektiv
zu beseitigen. Ein solches transparentes Konzept,
welche Webseite und welche Social Media-Nutzung als
nächstes untersagt werden, fehlt vorliegend.
In seiner Abwägung unterschlägt der BfDI, dass er eigentlich
gegenüber allen Bundesbehörden vorgehen
müsste und alle Fanpages auf allen sozialen Netzwerken
faktisch mit seinen Überlegungen abschalten möchte.
Diese Annahme unterstützt auch die Ausführung des
BfDI, wonach „alle Behörden in der Verantwortung stehen,
sich vorbildlich an Recht und Gesetz zu halten“.62
Paschke · Social Media-Nutzung an Hochschulen vor dem Aus? 1 7 1
63 Vgl. Reply auf dem Mas todon-Account des BfDI (@bfdi@social.
bund.de) vom 27.2.2023 „Wir s tecken unsere Energie jetzt gerade
ers tmal in dieses Verfahren. In ein paar Wochen wissen wir, ob
das Bundes presseamt gegen unseren Bescheid klagt oder nicht.
Dann sehen wir weiter. Aber selbs tvers tändlich hoffen wir auf eine
gewisse Signalwirkung dieses „Mus ter“-Verfahrens.“ https://social.
bund.de/@bfdi/with_replies.
64 Bescheid des BfDI vom 17.2.2023, S. 43.
65 https://mas todon.help/de.
66 YouGov, 2022, Bekanntheit der Twitter-Alternative Mas todon in
Deutschland insgesamt und nach Altersgruppen im Jahr 2022,
https://de.s tatis ta.com/statistik/daten/s tudie/1346383/umfrage/
bekanntheit-von-mas todon-in-deutschland/.
67 Hierzu bereits Uppendahl, ZParl. 1981, 123 ff.; vgl. auch Rommelfanger,
Das konsultative Referendum, 1988, S. 103 ff.; Zittel, Mehr
Res ponsivität durch digitale Medien?, 2010; sowie Würtenberger,
Politik und Kultur, 1985, S. 51 ff., 59 ff.
68 Allgemein zur Bedeutung von Akzeptanz Würtenberger, Die
Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996; vgl. auch Drefs,
Die Öffentlichkeitsarbeit des Staates und die Akzeptanz seiner
Entscheidungen, 2019.
Die Hoffnung auf eine entsprechende Signalwirkung des
vorliegenden Verfahrens hat der BfDI bereits öffentlich
anklingen lassen.63
Zudem verweist der BfDI nur für die Facebook-Fanpage-
Problematik auf Alternativen.64 Es ist aber davon
auszugehen, dass bei einer Verlagerung der Öffentlichkeitsarbeit
auf TikTok oder Instagram auch diese Kanäle
sehr schnell datenschutzrechtlich in Frage gestellt werden.
Das angegebene Tool Mastodon ist eben keine adäquate
Alternative, da sich dort Menschen nicht in einem
Netzwerk aufhalten.65 Zudem nutzen dieses Tool
nur sehr wenige Bürgerinnen und Bürger.66
Es wurde damit die Dimension, die diese Rechtsauffassung
auch für den demokratischen Rechtsstaat hat, in
der getroffenen Abwägung nicht erkannt. Insbesondere
fehlen empirische Daten zur Anzahl der Behörden auf
Facebook, wieviel Kommunikation dort stattfindet, und
eine Wirksamkeitsmessung, welche Informationen über
welchen Kanal wie rezipiert werden.
Vor diesem Hintergrund hätte sich der BfDI vorab
ausführlich mit der Frage auseinandersetzen müssen,
welche Rolle der Öffentlichkeitsauftrag des Staates in
diesem Zusammenhang spielt. Will er den Vorwurf der
Willkür vermeiden, müsste er sämtliche datenschutzwidrigen
Aktivitäten auf sozialen Netzwerken untersagen,
nicht nur jene des BPA auf Facebook. Dann aber
wird eine (entscheidungs-)erhebliche Beeinträchtigung
staatlicher Öffentlichkeitsarbeit herbeigeführt. Diese ist
(einschließlich empirischer Daten) in den Abwägungsprozess
der Datenschutzaufsicht einzubringen; aktuell
ist daher davon auszugehen, dass ein Abwägungsdefizit
vorliegt.
III. Auswirkungen der Entscheidung des BfDI auf die
Hochschulen
Natürlich kann man derzeit noch nicht absehen, wie das
Verwaltungsgericht Köln und mögliche weitere Instanzgerichte
im Fall BfDI vs. BPA entscheiden werden. Folgt
man der hier vertretenen Rechtsauffassung, müsste die
Untersagungsverfügung des BfDI wegen des Abwägungsdefizits
wohl aufgehoben werden. Je nachdem, wie
die Entscheidung im Detail begründet wird und welcher
Stellenwert den Datenschutzrisiken einerseits und dem
Öffentlichkeitsauftrag des Staates andererseits zugemessen
wird, könnte ein Verbleib staatlicher Behörden in
sozialen Netzwerken kurz- oder langfristig möglich sein.
Was nach derzeitigem Kenntnis- und Verfahrensstand
aber sicher ist: Die Entscheidung hat erhebliche
Auswirkungen auf die Hochschulen und wissenschaftlichen
Einrichtungen. Wie eingangs geschildert, sind diese
vielfach mit Facebook-Fanpages, Instagram- und
Twitter-Accounts oder gar auf TikTok vertreten. Auch
sie betreiben Öffentlichkeitsarbeit in diesen sozialen
Medien, um insbesondere Schülerinnen und Schüler
oder Studierende dort zu erreichen, wo diese sich vielfach
aufhalten. Zwar sind die Möglichkeiten zur Öffentlichkeitsarbeit
der Hochschulen keineswegs auf soziale
Medien beschränkt. Diese spielen aber eine durchaus
wesentliche Rolle, wenn man sich nur exemplarisch die
Facebook-Fanpages von Hochschulen anschaut. So informiert
etwa die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
im Breisgau ihre mehr als 18.000 Follower mehrfach in
der Woche über aktuelle Ereignisse, Forschungserkenntnisse
oder studentische Belange. Das gilt in ähnlicher
Weise für die Technische Universität München mit
104.000 Followern auf Facebook. Es sind aber nicht nur
solche empirischen Zahlen, die die Relevanz von sozialen
Medien in der öffentlichen Kommunikation von
Hochschulen belegen. Öffentlichkeitsarbeit zumindest
bei den staatlichen Hochschulen hat einen vergleichbaren
verfassungsrechtlichen Hintergrund wie jene der
Bundesregierung oder Bundesverwaltung. Sie lässt sich
gleichermaßen verfassungsrechtlich auf das Demokratieprinzip
zurückführen. Man könnte auch so weit gehen
und eine Verbindung zum Prinzip der responsiven Demokratie67
herstellen. Will der Staat mit seinen Einrichtungen
(wie eben auch den Hochschulen) im 21. Jahrhundert
sein „Ohr am Puls der Zeit“ halten, muss er die
Befindlichkeiten, Erwartungen und Aktivitäten seiner
Bürgerinnen und Bürger dort erkunden, wo diese sich
befinden: in den sozialen Medien. Dies stärkt auch Akzeptanz
und Vertrauen des Staates, nicht zuletzt durch
die partizipativen Elemente.68
1 7 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 6 5 — 1 7 2
69 Eine Analyse der deutschen Datenschutzbehörden und des Europäischen
Datenschutzausschusses hat ergeben, dass das Datenschutzniveau
in den USA, Indien, China und Russland als nicht
angemessen zu beurteilen sei, hierzu: https://www.taylorwessing.
com/de/insights-and-events/insights/2022/02/where-is-dataprocessing-
s till-possible.
70 Vgl. etwa Hinweise und Orientierungshilfen der Datenschutz-
Aufsichtsbehörden zu datenschutzkonformen Videokonferenzsystemen,
exemplarisch: https://www.bfdi.bund.de/DE/Fachthemen/
Inhalte/Telefon-Internet/Datenschutzpraxis/Videokonferenzsys teme.
html.
Auch das Hochschulrecht erkennt die Bedeutung öffentlicher
Kommunikation der Hochschulen an. So unterrichten
die Hochschulen gem. § 2 Abs. 9 LHG (Landeshochschulgesetz
Baden-Württemberg) „die Öffentlichkeit
regelmäßig über die Erfüllung ihrer Aufgaben
und die dabei erzielten Ergebnisse.“ Auch nach
§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 10 NGH (Niedersächsisches Hochschulgesetz)
ist die Öffentlichkeit durch die Hochschulen
über die Erfüllung ihrer Aufgaben sowie über ihre
Veranstaltungen zu unterrichten. Ergänzend wird die
Kontaktpflege mit ehemaligen Mitgliedern der Hochschule
als Aufgabe definiert (§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 NGH).
Eine solche Kontaktpflege erfolgt insbesondere auch in
sozialen Medien. Bemerkenswert ist auch § 2 Abs. 2 Bay-
HIG (Bayerisches Hochschulinnovationsgesetz): Danach
wirken die Hochschulen als offene und dynamische
Bildungseinrichtungen in die Gesellschaft hinein. Sie betreiben
und fördern den Wissens- und Technologietransfer
für die soziale, ökologische und ökonomische Entwicklung.
Durch eine kontinuierliche Wissenschaftskommunikation
und künstlerischen Austausch setzen sich
die Hochschulen für ein besseres Verständnis von Wissenschaft
und Kunst ein, befähigen im öffentlichen Diskurs
zur Einbringung wissenschaftlich geprüfter Fakten und
zur Aufdeckung manipulativer Fehlinformationen. Sie
nutzen und unterstützen den Fortschritt durch Digitalisierung
in allen Bereichen. Um all diese Aufgaben zu erfüllen,
bedarf es eines umfassenden Systems der öffentlichen
Kommunikation, Plattformen für die öffentliche
Debatte und einer Feedbackstruktur, die den einzelnen
erreicht, um ihn zu informieren, vor Desinformation zu
bewahren und gleichzeitig aufnimmt, wie diese Personen
sich äußern, wie sie agieren und wie sie sich zu diesen
Informationen verhalten. Konventionelle Pressekonferenzen,
das lineare Fernsehen oder Printmedien erreichen
diese Form der unmittelbaren Kommunikation
nicht.
So gesehen müssten die zuständigen Datenschutzaufsichtsbehörden
ähnliche wie die hier angestellten Abwägungen
vornehmen, bevor sie die Nutzung sozialer
Medien durch die Hochschulen untersagen. Es ist allemal
empfohlen, dass die Hochschulen und ihre Interessenverbände
den Rechtsstreit vor dem VG Köln beobachten
und zu gegebener Zeit auf diese Entwicklung
reagieren bzw. sich für vergleichbare Verfahren wappnen.
IV. Fazit: Von Köln nach Europa und wieder zurück
Die datenschutzrechtliche Situation in Europa ist paradox.
Derzeit betreibt selbst die EU-Kommission als
Hüterin der Verträge und der Einhaltung des Europarechts
eine Präsenz auf Facebook und die irische Datenschutzaufsichtsbehörde,
die für die Aufsicht gegenüber
Meta und anderen großen internationalen Digitalkonzernen
zuständig ist, da diese in Irland ihren europäischen
Sitz haben, sieht sie selbst keinen Bedarf, in diesem
Zusammenhang gegen die Datenverarbeitung bzw.
die teilweise unvollständige Bereitstellung von Informationen
zur Verarbeitung personenbezogener Daten auf
der Plattform Facebook vorzugehen. Diese Entscheidung
ist ebenfalls kritisch zu hinterfragen. Es zeigt
zumindest, dass wir von dem Ziel der DSGVO der europäischen
Harmonisierung der Datenschutzstandards in
der Praxis noch weit entfernt sind.
Der derzeit vor dem VG Köln geführte Rechtsstreit
zwischen zwei deutschen Bundesbehörden ist geeignet,
auch Auswirkung auf das europäische Verständnis der
DSGVO zu haben. Es bleibt dennoch zu hoffen, dass die
Entscheidung den Instanzenzug beschreitet und die Justiz
über den Einzelfall hinausgehend die dahinterliegende
komplexe demokratische und kommunikative Herausforderung
in ihre Überlegungen einbezieht.
Wir erleben aktuell einen Kulturwandel durch die
Digitalisierung der Kommunikation. Dieser kann nicht
durch die Abschaltung einer einzelnen Fanpage auf einer
Plattform durch eine Behörde gelöst werden. Gleichsam
stellt ein kollektives Verbot für Behörden, soziale Medien
zu nutzen und damit diesen Kommunikationsraum
zu verlassen, keine adäquate Lösung dar. Übertragen
stellen sich diese Herausforderungen nämlich in vielen
weiteren Zusammenhängen, insbesondere auch bei allen
Softwareangeboten von amerikanischen und chinesischen
Anbietern, die über eine Cloud betrieben werden69,
allen anderen sozialen Netzwerken und natürlich
bei Videokonferenzsystemen, was in der Datenschutzpraxis
bereits die verschiedensten Blüten getrieben hat. 70
Die nationale und europäische Justiz kann zwar dabei
helfen, eine einheitliche Datenschutzpraxis in Europa
zu formen, es wäre jedoch wünschenswert, wenn die
Datenschutzaufsichtsbehörden statt nationaler Alleingänge
die praktischen und rechtlichen Möglichkeiten
ausschöpfen, um auf eine einheitliche europäische DaWie
lange ist man eigentlich Nachwuchs?1 Diese Frage wirft die Debatte rund um die Neugestaltung der Arbeitsbedingungen des wissenschaftlichen Mittelbaus regelmäßig auf. Hochschulen und Forschungseinrichtungen beschäftigen Forschende und Lehrende regelmäßig als „akademischen Nachwuchs“ bis Mitte 402 befristet. 2021 mussten sich das VG Freiburg3 und der VGH Mannheim4 mit dieser Problematik aus rechtlicher Sicht befassen. Der Antragssteller begehrte, der Antragsgegnerin, einer Universität, zu untersagen, eine Tenure-Track-Professur ‚Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Literaturwissenschaft‘ zu besetzen. Die Auswahlkommission der Universität hielt den promovierten, zunächst noch nicht habilitierten Antragssteller nicht mehr für einen „Nachwuchswissenschaftler in einer frühen Karrierephase“.5
Der vorliegende Beitrag will der Frage nachgehen, wie lange man auf Juniorprofessuren mit und ohne Tenure-Track berufen werden kann. Hierzu lohnt sich ein Blick zurück: Wie hat sich die Juniorprofessur entwickelt (I)? Die Tenure-Track-Professur sollte wesentliche Defizite der Juniorprofessur ausgleichen. Hier muss die gesetzgeberische Intention näher betrachtet werden (II). Dabei werden ein Konflikt der Juniorprofessur mit und ohne Tenure-Track mit wesentlichen Wertungen des WissZeitVG und eine Disparität der landesrechtlichen Konzeptionen sichtbar. Mit den Folgen hatten auch die beiden Verwaltungsgerichte zu kämpfen (III). Die Reform des WissZeitVG könnte womöglich dazu beitragen, diese Wertungswidersprüche aufzulösen (IV).
I. Entwicklung der Juniorprofessur
Will man das akademische Höchstalter zur Berufung auf eine Juniorprofessur bestimmen, muss man ihre Wurzeln verstehen. Die Juniorprofessur ist Teil einer intendierten umfassenden Umgestaltung der Hochschullandschaft.6 Es wird sich zeigen: Diese umfassende Umgestaltung hat nicht stattgefunden. - Die Vorstellungen des Bundesgesetzgebers
Die Juniorprofessur ist eine Erfindung des Bundes. Mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes und anderer Vorschriften (5. HRGÄndG) vom 16.02.2002 sollte ein „neuer Weg zur Professur an Universitäten und gleichgestellten Hochschulen“ geschaffen werden.7 Der daraus resultierenden neuen Personalkategorie sollte ein Recht zu selbständiger ForSimon
Pschorr
Akademisches Höchstalter für die Juniorprofessur
Zur Einordnung der Juniorprofessur mit und ohne Tenure-Track in das System wissenschaftlicher
Qualifizierung
1 Die Formulierung „wissenschaftlicher Nachwuchs“ beschreibt Forschende und Lehrende, die nicht auf eine Professur berufen wurden. Er wird noch immer weithin verwendet, vgl. etwa § 72 SHSG; § 33 BbgHG; https://www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/wissenschaftlicher-nachwuchs/wissenschaftlicher-nachwuchs.html, zuletzt abgerufen am 06.04.2023; BeckOK Hochschulrecht Niedersachsen/Pautsch § 4 NHG Rn. 15; Epping/Epping § § 24 NHG Rn. 45; Barns tedt, Die Verantwortung der Hochschulen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, OdW 2018, 223, 224 ff.; Sieweke, Die Rechte des wissenschaftlichen Nachwuchses im Rahmen der Promotion, JuS 2009, 283. Der Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs selbs t kritisiert dabei die Begrifflichkeit, vgl. BuWin 2021, abrufbar unter https://www.buwin.de/dateien/buwin-2021.pdf, zuletzt abgerufen am 06.04.2023, S. 62; siehe auch BuWin 2017, abrufbar unter https://www.buwin.de/dateien/buwin-2017.pdf, S. 65; zuletzt abgerufen am 06.04.2023; Döring, Wollen wir wirklich BeStI(e)n sein? Ein Plädoyer an und gegen „den wissenschaftlichen Nachwuchs“, abrufbar unter https://mittelalter.hypotheses.org/9774, zuletzt abgerufen am 06.04.2023; Wilms, Wer wächs t wohin? Zum Begriff des wissenschaftlichen Nachwuchses, abrufbar unter https://www.praefaktisch.de/wissenschaftlicher-nachwuchs/wer-waechs t‑wohin-zum-begriff-des-wissenschaftlichen-nachwuchses/, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. Im Folgenden wird für die Statusgruppe der Beschäftigten unterhalb der Professur deshalb der neutralere Terminus „wissenschaftlicher Mittelbau“ verwendet.
2 Vgl. BuWin 2021, abrufbar unter https://www.buwin.de/dateien/buwin-2021.pdf, zuletzt abgerufen am 06.04.2023, S. 196; https://www.s tatis tik-bw.de/Presse/Pressemitteilungen/2023069
3 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS 2021, 10384.
4 VGH Mannheim, Beschluss vom 07.07.2021 – 4 S 1541/21 = BeckRS 2021, 19932.
5 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS 2021, 10384 Rn. 63.
6 Zur Konzeption Hoins, Die Juniorprofessur als Zentralfigur der Personals trukturreform an den Hochschulen, NVwZ 2003, 1343.
7 BT-Drs. 14/6853, S. 1.
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 7 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 7 3 — 1 8 0
8 BT-Drs. 14/6853, S. 1; zu den praktischen Folgen im Lehrdeputat
vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 29.06.2004 — 2 NB 859/04 =
NJOZ 2004, 3095, 3096.
9 BT-Drs. 14/6853, S. 14.
10 BT-Drs. 14/6853, S. 14.
11 BT-Drs. 14/6853, S. 15, 18 f.
12 BT-Drs. 14/6853, S. 16.
13 BT-Drs. 14/6853, S. 16.
14 BT-Drs. 14/6853, S. 17.
15 Dem Verfasser is t bewuss t, dass die Berufungs praxis den Begriff
geringfügig anders verwendet. Das akademische Alter wird
in Berufungsverfahren als Kenngröße der wissenschaftlichen
Leis tungen relativ zur Lebenszeit bzw. aktiven Publikationszeit
genutzt. Siehe hierzu etwa OVG Müns ter, Beschluss vom
17.01.2022 – 6 B 1512/21 = BeckRS 2022, 294 Rn. 20 ff.; VG Minden,
Beschluss vom 31.08.2021 – 4 L 265/21 = BeckRS 2021, 46261 Rn.
23; BeckOK Hochschulrecht Bayern/Jaburek Art. 18 BayHSchPG
Rn. 56; https://gb.uni-koeln.de/e2106/e2113/e37146/Handreichung_
akad_Alter_UzK_ger.pdf; https://www.ufz.de/export/
data/2/272592_262666_Infoblatt_Akademisches%20Alter.pdf;
https://www.tu.berlin/s tabbk/berufungen/berufungsverfahren/
akademisches-alter; https://www.uni-frankfurt.de/83947891/
FAQ_de_2020.pdf; https://www.uni-kons tanz.de/forschen/
akademische-karriereentwicklung/kons tanzer-kodex/; https://tudresden.
de/tu-dresden/universitaetskultur/diversitaet-inklusion/
ressourcen/dateien/gleichs tellung/berufungen/chancengleichheitin-
berufungsverfahren?lang=de, S. 2, jeweils zuletzt abgerufen am
06.04.2023.
16 Mit der Terminologie des Bundesgesetzgebers wird im Folgenden
die originäre Professur auf Lebenszeit als Lebenszeitprofessur
bezeichnet.
17 BT-Drs. 14/6853, S. 17.
18 Dazu nächer BT-Drs. 14/6853, S. 20 ff.
19 Geis/Krause WissZeitVG Einf. Rn. 4, 7; ErfKomm/Müller-Glöge
§ 1 WissZeitVG Rn. 4; Ascheid/Preis/Schmidt/Schmidt
§ 1 WissZeitVG Rn. 3; Boecken/Düwell/Diller/Hanau/Boemke
§ 1 WissZeitVG Rn. 1; anders aber NomosKomm-BR/Joussen
§ 1 Rn. 3; Löwisch, Die Ablösung der Befris tungsbes timmungen
des Hochschulrahmengesetzes durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz,
NZA 2007, 479; zu den Modifikationen des Anwendungsbereichs
auch Meißner, Ents tehung und Entwicklung des
Hochschulbefristungsrechts, OdW 2016, 181, 184.
20 Zu den Folgen für das Befris tungsrecht der §§ 57a ff. HRG siehe
Löwisch, Befris tungen im Hochschulbereich — Rechtslage nach
dem Urteil des BVerfG zur Juniorprofessur, NZA 2004, 1065 und
Dieterich/Preis, Das Hochschularbeitsrecht in der Verfassungsfalle?
- Erwiderung auf Löwisch, NZA 2004, 1065 ff., NZA 2004, 1241.
21 BVerfG, Urteil vom 27.07.2004 — 2 BvF 2/02 = NJW 2004, 2803.
22 BVerfG, Urteil vom 27.07.2004 — 2 BvF 2/02 = NJW 2004, 2803,
2804.
23 BVerfG, Urteil vom 27.07.2004 — 2 BvF 2/02 = NJW 2004, 2803,
2804 f.
24 BVerfG, Urteil vom 27.07.2004 — 2 BvF 2/02 = NJW 2004, 2803,
2807.
25 Janz, Aus für die Juniorprofessur?, JuS 2004, 852, 855.
26 Zur Terminologie vgl. Löwisch, Die gesetzliche Reparatur des
Hochschulbefris tungsrechts, NZA 2005, 321.
27 Bezeichnet als Beseitigung von Rechtsunsicherheiten, vgl. BT-Drs.
15/4132, S. 1; becklink 129957.
schung und Lehre8 zukommen, um „die im internationalen
Vergleich unzureichende Selbständigkeit der Postdoktorandinnen
und Postdoktoranden zu beseitigen“.9
Darüber hinaus sollte sie ein Instrument gegen die „lange
Qualifikationsdauer des wissenschaftlichen Nachwuchses“
und „das hohe Erstberufungsalter von Professorinnen
und Professoren“ sein.10 In Abkehr vom klassischen
Habilitationsmodell11 sollte die Juniorprofessur als
neue „Bewährungsphase für eine Lebenszeitprofessur“
etabliert werden.12 Die Juniorprofessur sollte nach Vorstellung
des Bundesgesetzgebers in möglichst zeitnahem
Anschluss an die Promotion angetreten werden, wobei
die Länge der Promotions- und Beschäftigungsphase vor
der Juniorprofessur insgesamt nicht mehr als sechs Jahre
betragen sollte.13 Jedoch war keine gesetzliche Altersgrenze
vorgesehen.14 Diese (Vor-)Beschäftigungszeit in
der Wissenschaft soll im Folgenden als akademisches
Alter bezeichnet werden.15 Nach einer Zwischenevaluation
im Rahmen der Juniorprofessur nach drei Jahren und
nach Ablauf von vier bis höchstens sechs Jahren sollte
eine Bewerbung auf eine Lebenszeitprofessur16 erfolgen.
17 Im gleichen Gesetz wurde der Grundstein für das
Befristungsrecht des akademischen Mittelbaus gelegt:
§§ 57a – 57b HRG aF,18 die im Regelungskern weitgehend
unmodifiziert in das WissZeitVG übernommen wurden.
19
Doch die Konzeption des Bundesgesetzgebers hielt
vor dem Bundesverfassungsgericht nicht stand. Es erklärte
die Juniorprofessur20 für mit dem Grundgesetz
unvereinbar.21 Zwar stand dem Bund zu diesem Zeitpunkt
(noch) die Rahmengesetzgebungskompetenz zur
Normierung der allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens
gem. Art. 75 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a GG aF zu.
Doch überschritt der Bund diesen Kompetenztitel, weil
er nicht nur eine Rahmenvorgabe setzte, sondern den
Ländern die Möglichkeit entzog, die Sachmaterie entsprechend
den besonderen Verhältnissen des Landes zu
regeln.22 Mit seiner detaillierten Regelung des neuen
Hochschulpersonalmodells überschritt er zugleich Art.
75 Abs. 2 GG aF.23 Das Dienstrecht erwies sich für den
Bundesgesetzgeber als verfassungswidriges Mittel, um
die personelle Organisation der Hochschulen und damit
das Hochschulwesen insgesamt grundlegend umzugestalten.
24 Die Literatur erkannte umgehend, dass der
Spruch des Bundesverfassungsgerichts die grundlegende
Umstrukturierung der Hochschullandschaft beendete,
jedoch die Juniorprofessur nicht beerdigte.25
Dies besiegelte spätestens das „Reparaturgesetz“26 zur
Änderung dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften
im Hochschulbereich vom 27.12.2004. Mit diesem rettete
der Bund das Konzept der Juniorprofessur,27 indem er in
den §§ 42 S. 1, 47 f. HRG nur noch die Personalkategorie
Pschorr · Akademisches Höchstalter für die Juniorprofessur 1 7 5
28 Näher BT-Drs. 15/4132, S. 13 ff.
29 BT-Drs. 15/4132, S. 14.
30 BT-Drs. 15/4132, S. 14.
31 BT-Drs. 15/4132, S. 15.
32 becklink 143916.
33 2018 waren 276 von insgesamt 1580 Juniorprofessuren Teil des
Tenure-Track-Programms, siehe BuWin 2021, abrufbar unter
https://www.buwin.de/dateien/buwin-2021.pdf, zuletzt abgerufen
am 06.04.2023, S. 93.
34 Statis tisches Bundesamt, Anzahl der Juniorprofessorinnen und
-Professoren nach Geschlecht in Deutschland in den Jahren von
2005 bis 2018, abrufbar unter https://de.s tatis ta.com/s tatis tik/
daten/s tudie/1244537/umfrage/juniorprofessorinnen-und-professoren-
nach-geschlecht/, zuletzt abgerufen am 06.04.2023.
35 Näher sowie zum hohen Frauenanteil siehe BuWin 2021, abrufbar
unter https://www.buwin.de/dateien/buwin-2021.pdf, zuletzt
abgerufen am 06.04.2023, S. 88 ff.
36 Die maßgeblichen Normen sind § 51 BWLHG; § 54 RPFHocSchG;
§ 42 SHSG; § 30 NHG; Art. 14 ff. BayHSchPersG aF bzw. Art. 63 ff.
BayHIG nF; §§ 45 f. BbgHG; § 64 S‑HHSG; §§ 101, 102a f. BerlHG;
§ 89 ThürHG; §§ 18 f. HmbHG; § 62 M‑VLHG; § 63 SächsHSFG;
§§ 40 f. LSAHSG; §§ 17 f. BremHG; §§ 36, 39 Abs. 5 f. NRWHG.
37 Diese Ausnahme soll als Überbrückungsmöglichkeit bei negativer
Evaluation dienen, vgl. BeckOK Hochschulrecht Hessen/Globuschütz
§ 70 HessHG Rn. 2. Hierfür is t sie disfunktional – is t bei
Evaluation ja bereits eine Qualifikations professur begründet.
38 Der Begriff der Juniorprofessur wurde aufgrund der Stigmatisierungswirkung
vermieden, vgl. BeckOK Hochschulrecht Hessen/
Globuschütz § 70 HessHG Rn. 2.
39 Auch hier is t die Lebenszeitprofessur gemeint. Das Gesetz soll
jedoch wörtlich wiedergegeben werden.
40 So auch § 51 Abs. 1 S. 1 BWLHG; § 42 Abs. 1 SHSG;
§ 30 Abs. 1 S. 1 NHG; Art. 63 Abs. 6 S. 1 BayPersHG;
§ 64 Abs. 1 SHSG; § 89 Abs. 1 S. 1 ThürHG.
41 So auch § 49 Abs. 2 S. 1 RPFHochSchG; § 41 Abs. 2 S. 1 BbgHG;
§ 100 Abs. 2 S. 1 BerlHG; § 15 Abs. 2 HmbHG.
42 Näher Hartmer/Detmer/Hartmer Kap. 5 Rn. 115.
43 Zu den anrechnungsfähigen Zeiten vgl. OVG Hamburg, Beschlus
vom 06.07.2005 — 1 Bs 190/05 = NVwZ-RR 2006, 186, 187.
44 So auch § 42 Abs. 4 SHSG; § 102a S. 4 BerlHG;
§ 89 Abs. 3 S. 1 ThürHG; § 18 Abs. 4 S. 1 HmbHG;
§ 63 Abs. 3 S. 1 SächsHSFG.
als solche und wenige Berufungsvoraussetzungen normierte.
28 Dennoch schien er das umfassende Reformvorhaben
nicht aufgegeben zu haben. Das zeigt sich, wenn
man die Ausführungen in den Gesetzesmaterialien zum
Regelungszweck näher betrachtet: Erneut wird die späte
Berufung auf die Lebenszeitprofessur betont.29 Neuerlich
wird ein erheblicher Verlust kluger Köpfe an den ausländischen
Wissenschaftsarbeitsmarkt beklagt.30 Anders als
2002 wurde nunmehr sogar das akademische Höchstalter
von sechs Jahren als Soll-Regelung in § 47 S. 2 HRG
aufgenommen. Dies sei durch das „Ziel der früheren
Selbständigkeit des wissenschaftlichen Nachwuchses in
Forschung und Lehre gerechtfertigt“.31 Als Ausnahme
wurde auf neue Regelungen zur familien- und behindertenpolitischen
Komponente verwiesen (heute
§ 2 Abs. 5 WissZeitVG).
Die zuständige Bundesbildungsministerin Buhlmann
erklärte die Juniorprofessur zum Erfolgsmodell.32 Doch
wurden bis 2018 nur 1304 Juniorprofessuren ohne Tenure-
Track33 bundesweit etabliert – die Zahl ist rückläufig.34
In den unterschiedlichen Fachrichtungen wird unterschiedlich
oft auf die Juniorprofessur zurückgegriffen.35
- Die Konzeption der Länder
Die Bundesländer haben die Juniorprofessur in ihre
Landeshochschulgesetze aufgenommen.36 Mit der Föderalismusreform
II verlor der Bundesgesetzgeber seine
Regelungskompetenz des Hochschulrechts völlig, sodass
die Landesnormen gem. Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG fortgeltendes
Bundesrecht ablösten. Das neue Hessische Hochschulgesetz
bildet insoweit die Ausnahme. Hier ist in
§ 70 Abs. 3 ff. HessHG eine sog. Qualifikationsprofessur
vorgesehen, die nur ausnahmsweise37
(§ 70 Abs. 5 S. 1 HessHG) ohne eine sog. Entwicklungszusage
gem. § 70 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 HessGH begründet
werden darf. Obschon andere Begrifflichkeiten verwendet
werden,38 handelt es sich inhaltlich um Juniorprofessuren
mit und ohne Tenure-Track.
Aufgabe der Juniorprofessur ist es, sich durch die
selbstständige Wahrnehmung der ihrer Universität obliegenden
Aufgaben in Forschung, Kunst, Lehre und
Weiterbildung für die Berufung auf eine Professur39 an
einer Universität zu qualifizieren. So formuliert es
§ 35 Abs. 4 S. 2 NRWHG ausdrücklich.40 In anderen Bundesländern,
beispielsweise Sachsen-Anhalt, ergibt sich
dies implizit aus den Berufungsvoraussetzungen auf eine
Lebenszeitprofessur (§ 35 Abs. 3 S. 1 LSAHSG).41 In allen
Bundesländern kann man sich auf eine Lebenszeitprofessur
bewerben, auch wenn man zuvor keine Juniorprofessur
bekleidete. Dem Grunde nach haben somit alle
Bundesländer das Regelungskonzept des Bundes, auf
dem die Juniorprofessur basiert, übernommen.
Spannend wird es allerdings, wenn man die landesrechtlichen
Regelungen zum akademischen Höchstalter
betrachtet. Trotz identischer Grundkonzeption normieren
die Länder unterschiedliche Höchstvorbeschäftigungszeiten
in der Wissenschaft. In Baden-Württemberg
etwa soll42 eine Berufung auf eine Juniorprofessur
nur erfolgen, wenn aufsummierte Beschäftigungszeiten43
an deutschen Hochschulen oder wissenschaftlichen Einrichtungen
(vgl. den Verweis in § 51 Abs. 3 S. 3 BWLHG
auf § 2 Abs. 3 S. 1 WissZeitVG) vor und nach der Promotion
sechs Jahre nicht überschreiten.44 Diese zeitliche Begrenzung
leitet Frenzel aus der Funktion als Qualifikati1
7 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 7 3 — 1 8 0
45 BeckOK Hochschulrecht Baden-Württemberg/Frenzel § 51 Rn. 14.
46 § 64 Abs. 3 S. 1 S‑HHSG.
47 § 62 Abs. 1 S. 4 M‑VLHG.
48 So auch § 45 Abs. 2 S. 1 BbgHG.
49 BayLT-Drs. 18/22504, S. 119.
50 In der Medizin neun Jahre.
51 So auch § 40 S. 2 LSAHSG.
52 § 70 Abs. 3 S. 3 Hs. 2, Abs. 4 S. 2 HessHG; § 45 Abs. 2 S. 3 BbgHG;
Art. 63 Abs. 1 S. 7 BayHIG; § 102a S. 4 Hs. 2 BerlHG;
§ 51 Abs. 3 S. 2 BWLHG, § 89 Abs. 3 S. 2 ThürHG,
§ 18 Abs. 4 S. 2 HmbHG, § 62 Abs. 1 S. 5 M‑VLHG,
§ 63 Abs. 3 S. 2 SächsHSFG und § 64 Abs. 3 S. 2 S‑HHSG jeweils
i.V.m. § 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 1, 3 WissZeitVG.
53 § 42 Abs. 4 S. 2 SHSG und § 63 Abs. 3 S. 2 SächsHSFG i.V.m.
§ 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 6 WissZeitVG
54 § 51 Abs. 3 S. 2 BWLHG, § 64 Abs. 3 S. 2 SH-HSG,
§ 89 Abs. 3 S. 2 ThürHG, § 18 Abs. 4 S. 2 HmbHG,
§ 62 Abs. 1 S. 5 M‑VLHG, § 63 Abs. 3 S. 2 SächsHSFG und
§ 42 Abs. 4 S. 2 SHSG jeweils i.V.m. § 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 4, 5 WissZeitVG.
55 Geis/Krause WissZeitVG Einf. Rn. 4.
56 Mecklenburg-Vorpommern hat dieses Sys tem im Wesentlichen
übernommen, da auch bei Ausschöpfung der Höchs tbefris tungsdauer
in der Promotions phase nach § 2 Abs. 1 S. 1 WissZeitVG
noch drei Jahre Pos tdoc-Phase verbleiben, bevor die Bewerbung
auf die Juniorprofessur regelweise ges perrt is t.
57 Siehe explizit BeckOK Hochschulrecht Hessen/Globuschütz
§ 70 Rn. 2.
58 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zu Karrierezielen und ‑wegen
an Universitäten, Drs. 400 9 ‑14, abrufbar unter https://
www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4009–14.pdf?__
blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 06.04.2023, S. 18.
onsstelle ab.45 In Schleswig-Holstein (sieben Jahre)46 und
in Mecklenburg-Vorpommern (neun Jahre)47 wurden
höhere Grenzen gewählt.
Bayern hat kürzlich eine vergleichbare Vorschrift
(Art. 14 S. 3 BayHSchPersG) abgeschafft und durch
Art. 63 Abs. 1 S. 5 BayHIG ersetzt. Hiernach soll auf eine
Juniorprofessur berufen werden, wessen Promotion zum
Ende der Ausschreibungspflicht nicht mehr als vier Jahre
zurückliegt.48 Auch dies wird mit der Eigenschaft der
Juniorprofessur als Qualifikationsstelle begründet.49
Hier wird also nicht auf das gesamte akademische Alter,
sondern nur auf die Länge der Postdoc-Phase zurückgegriffen.
In Rheinland-Pfalz können gem.
§ 54 Abs. 1 S. 4 RPFHochSchG sogar sechs Jahre50 seit der
Promotion vergangen sein.51
Schließlich hat Hessen ein Zwittermodell normiert.
Dort soll gem. § 70 Abs. 3 S. 3, Abs. 5 S. 2 HessHG eine
Berufung nur bis zu einem akademischen Gesamthöchstalter
von 9 Jahren und einer Postdoc-Phase von
bis zu vier Jahren erfolgen. Nur Bremen
(§ 18 Abs. 4 BremHG), Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen
haben keine ausdrückliche Regelung.
Alle Bundesländer mit akademischer Höchstaltersbegrenzung
berücksichtigen Kindererziehungszeiten explizit.
52 Einschränkungen durch Behinderung bzw. lange
Krankheit werden in einigen Landesgesetzen durch Bezugnahme
auf das WissZeitVG explizit Rechnung getragen53
und können ansonsten als Ausnahmekonstellation
in der „Soll-Regelung“ verortet werden. Schließlich bringen
einige Bundesländer auch Wehrdienst- und Gremienzeiten
in Abzug.54 Dadurch entsteht ein sog. bereinigtes
akademisches Alter. - Vergleich der landesgesetzlichen Konzeption mit dem
WissZeitVG
Unter der Lupe der Regelungsziele des Bundesgesetzgebers
2002 und 2004 wirkt das Regelungsmodell des akademischen
Höchstalters von sechs Jahren kohärent: Wie
oben skizziert sollte der Weg zur Professur umgestaltet
werden und die Juniorprofessur an die Stelle der Habilitation
treten. Die Habilitationsschrift wurde regelmäßig
während einer Beschäftigung als Postdoc auf einer Stelle
als wissenschaftlicher Mitarbeiter angefertigt. Für diese
Tätigkeit sollte ein zeitlicher Höchstrahmen von sechs
Jahren gesetzt werden (sog. Qualifikationsphase).55 Die
sechsjährige Juniorprofessur sollte der bevorzugte Qualifikationsweg
für zukünftige Lebenszeitprofessuren
sein. Damit wird ein dreistufiger Karriereaufbau vorgezeichnet:
Promotionsphase (R1), Qualifikationsphase als
wissenschaftlicher Mitarbeiter oder Juniorprofessor
(R2), Lebenszeitphase (R3).
Diejenigen Länder,56 welche sich vom akademischen
Gesamthöchstalter gelöst haben und nur noch oder auch
die Postdoc-Phase betrachten, folgen einem anderen Regelungsmodell:
Sie orientieren sich57 an einem vierstufigen
Karriereaufbau, den der Wissenschaftsrat 2014 bewarb.
58 Auf die Promotionsphase (R1) sollte eine Postdoc-
Phase (R2) folgen, die die Evaluationsphase (R3)
vorbereitet, die schließlich in der Lebenszeitphase (R4)
enden soll. Die Juniorprofessur wird so zum Baustein
der Evaluationsphase (R3). Statt also nach der Vorstellung
des Bundesgesetzgebers von 2002 bzw. 2004 die
Laufzeit bis zur Lebenszeitprofessur zu verkürzen, verlängert
dieses System den wissenschaftlichen Karriereweg
um vier bis sechs Jahre.
Pschorr · Akademisches Höchstalter für die Juniorprofessur 1 7 7
59 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zu Karrierezielen und ‑wegen
an Universitäten, Drs. 400 9 ‑14, abrufbar unter https://
www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4009–14.pdf?_ blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 06.04.2023, S. 11. 60 Näheres siehe https://www.tenuretrack.de/de/tenure-trackprogramm/ das-bund-laender-programm, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 61 https://www.tenuretrack.de/de/tenure-track-programm/das-bundlaender- programm, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 62 https://www.tenuretrack.de/de/tenure-track-programm/die-tenure- track-professur, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 63 Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern gemäß Artikel 91b Absatz 1 des Grundgesetzes über ein Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vom 19.10.2016, abrufbar unter https://www.tenuretrack.de/de/dateien/ tenure-track/verwaltungsvereinbarung-wissenschaftlicher-nachwuchs- 2016.pdf, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 64 Zum internationalen Vorbild Kauhaus, Pos tdoc Forever: Is t das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu großzügig?, https://www.almameta. de/pos tdoc-forever-is t‑das-wissenschaftszeitvertragsgesetzzu- grosszuegig/, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 65 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zu Karrierezielen und ‑wegen an Universitäten, Drs. 4009 ‑14, abrufbar unter https:// www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4009–14.pdf?_
blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 06.04.2023, S. 11.
66 https://www.dfg.de/foerderung/programme/einzelfoerderung/
emmy_noether/index.html, zuletzt abgerufen am 06.04.2023.
67 In Baden-Württemberg liegt das Ers tberufungsalter auf eine
Lebenszeitprofessur aktuell bei durchschnittlich 42 Jahren,
siehe unter https://www.s tatis tik-bw.de/Presse/Pressemitteilungen/
2023069, zuletzt abgerufen am 06.04.2023.
68 Siehe auch VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 =
BeckRS 2021, 10384 Rn. 6.
69 § 51b BWLHG; § 43 Abs. 2 S. 8 SHSG; § 55 Abs. 1 RPFHoch-
SchG; § 30 Abs. 4 S. 4 NHG; Art. 63 Abs. 4 S. 1 BayHIG;
§ 62a Abs. 1 S. 1 S‑HHSG; § 45 Abs. 2 S. 1 BbgHG; § 102c BerlHG;
§ 85 Abs. 1 S 4 Nr. 4 ThürHG; § 14 Abs. 6 Nr. 3 HmbHG;
§ 62a Abs. 1 S 1 M‑VLHG; § 59 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SächsHSFG;
§ 36 Abs. 2 S. 4 Nr. 2 LSAHSG; § 18a BremHG;
§ 38a Abs. 1 NRWHG.
II. Der Tenure-Track als „Juniorprofessur Plus“
Dieser vierstufige Karriereaufbau des Wissenschaftsrats
von 2014 sieht jedoch in der Evaluationsphase (R3) eine
weitere Modifikation vor: Den Tenure-Track. Dieser solle
eine konzeptionelle Weiterentwicklung der Juniorprofessur
sein.59 Die rechtliche Regelungsstruktur dieser
Beschäftigungsform wird im Folgenden betrachtet. - Konzeption des Tenure-Track-Programms
Auch das Instrument des Tenure-Tracks wurde durch
den Bund initiiert, allerdings mangels Kompetenz nicht
als Gesetzgeber, sondern mit dem Tenure-Track-Programm
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
2016.60 Hiermit fördert der Bund die Einrichtung
von insgesamt 1000 sog. Tenure-Track-Professuren für
insgesamt 15 Jahre. Auch dieses Programm zielt auf einen
„Kulturwandel an den deutschen Universitäten“ ab und
soll „ein[en] zusätzliche[n] Karriereweg zur Professur“
etablieren.61 Daneben spielt nunmehr aber auch die mangelnde
Sicherheit der Karriereentwicklung eine Rolle.62
Bund und Länder haben hinsichtlich der Details des
Programms eine Verwaltungsvereinbarung gem.
Art. 91b Abs. 1 GG getroffen.63 Sog. „jungen“ Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern solle nach der Präambel
dieser Vereinbarung früher als bisher eine Entscheidung
über den dauerhaften Verbleib im Wissenschaftssystem
ermöglicht werden. Die
Tenure-Track-Professur solle als eigenständiger Karriereweg
neben dem herkömmlichen Berufungsverfahren
auf eine Professur an deutschen Universitäten stärker
etabliert werden.
Die Idee lautete also scheinbar: Die Tenure-Track-
Professur solle neben die bereits eingeführten Instrumente
Postdoc-Phase im gem. § 2 Abs. 1 S. 2 WissZeitVG
befristeten Arbeitsverhältnis und Juniorprofessur ohne
Tenure-Track treten. Dies deutete darauf hin, die Tenure-
Track-Professur sei der Qualifikationsphase (R2) in
einem dreistufigen Karriereaufbau zuzuordnen. In eine
andere Richtung weist jedoch bereits § 4 Abs. 1 der Verwaltungsvereinbarung,
die ein Hausberufungsverbot als
Soll-Vorschrift regelt. Demnach sollen Beschäftigte die
Universität wechseln oder zwei Jahre außerhalb der Promotionshochschule
tätig gewesen sein, bevor sie sich auf
eine hiesige Tenure-Track-Professur bewerben. Ansonsten
ist im fünften Spiegelstrich von § 4 Abs. 1 der Verwaltungsvereinbarung
nur von einer „frühen Karrierephase“
die Rede. Des Weiteren sollten gem. § 4 Abs. 2 S. 1 der
Verwaltungsvereinbarung Beschäftigte berücksichtigt
werden, die bereits auf einem anderen Qualifizierungspfad
unterwegs seien. Blickt man in den vorbildgebenden
Bericht des Wissenschaftsrats, wird die Tenure-
Track-Professur der Evaluationsphase (R3) zugeordnet
und soll auf eine bis zu vierjährige64 Postdoc-Phase (R2)
folgen.65 An dieser Karrierestruktur orientiert sich auch
das Emmy-Noether-Programm der DFG.66 Das heißt im
Ergebnis: bis zu 6+4+6 = 16 Jahre bis zur Berufung auf
die Lebenszeitprofessur;67 deutlich länger als der Bundesgesetzgeber
2002 und 2004 zu normieren
beabsichtigte. - Landesrechtliche Umsetzung
Bundesgesetzlich oder in einer Verwaltungsvereinbarung
verankert ist diese Karrierestruktur nicht.68 Ein
Blick in die Landesgesetze zeigt: Die Konzeption bildet
sich im Recht nur teilweise ab. Zwar ist die Tenure-
Track-Professur in allen Landeshochschulgesetzen geregelt69
– in Hessen unter dem Namen Qualifikationspro1
7 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 7 3 — 1 8 0
70 Ausnahmsweise W2-Professuren, zB gem.
§ 55 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 RPFHochSchG in Rheinland-Pfalz und gem.
§ 62a Abs. 1 S. 1 S‑HHSG in Schleswig-Hols tein.
71 So auch § 18a Abs. 3 BremHG.
72 Zur Übertragung der Voraussetzungen der Juniorprofessur auf die
Tenure-Track-Professur auch BeckOK Hochschulrecht Nordrhein-
Wes tfalen/Pernice-Warnke § 36 Rn. 24; offen lassend Hartmer/
Dettmer/Hartmer Kap. 5 Rn. 113.
73 Zu den fehlenden Regelungen in Bremen, Niedersachsen und
Nordrhein-Wes tfalen s.o.
74 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384.
75 Wobei das akademische Alter des Bewerbers während des langwierigen
Besetzungsverfahrens deutlich angewachsen war VG
Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS 2021,
10384 Rn. 57.
76 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384 Rn. 49.
77 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384 Rn. 51.
78 Siehe BWLT-Drs. 16/3248, S. 41.
79 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384 Rn. 30.
80 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384 Rn. 6 f.
fessur gem. § 70 Abs. 3 HessHG. Allerdings hat das akademische
Höchstalter für die Tenure-Track-Professur
nur in Brandenburg eine Sonderregelung gefunden. Hier
kann man sich gem. § 45 Abs. 2 S. 2 BbgHG bis zu sechs
Beschäftigungsjahre, also zwei Jahre länger als nach der
Konzeption des Wissenschaftsrats, nach der Promotion
auf eine solche Stelle bewerben.
In den anderen Bundesländern sind Tenure-Track-
Professuren im Regelfall70 Juniorprofessuren mit Zusage
einer späteren Übernahme auf eine Lebenszeitprofessur,
sofern eine Evaluation positiv ausfällt. In Baden-Württemberg
wird in § 51b Abs. 1 S. 1 BWLHG dezidiert auf
§ 51 LHG verwiesen. In Rheinland-Pfalz wird ausdrücklich
das akademische Höchstalter für Juniorprofessuren
gem. § 54 Abs. 1 S. 4 RPFHochSchG in Bezug genommen.
71 Das bedeutet: Das akademische Höchstalter der
Juniorprofessur begrenzt unmittelbar auch den Bewerberkreis
der Tenure-Track-Professur.72 In Bayern, Brandenburg,
Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und
Rheinland-Pfalz korrespondiert dieses mit dem vierstufigen
Karrieremodell.73 In den anderen Bundesländern
nicht. Mithin hat sich dort das Konzept des Wissenschaftsrats
nicht normativ niedergeschlagen. Vielmehr
wird ein dem Grundsatz dreistufiger Karriereaufbau und
zugleich das Tenure-Track-Modell verfolgt, wobei letzteres
der Logik des vierstufigen Karriereaufbaus folgt.
III. Akademisches Höchstalter zur Berufung auf die
Tenure-Track-Professur nach der verwaltungsrechtlichen
Judikatur
Das VG Freiburg74 musste in Anwendung dieses widersprüchlichen
Landesrechts über den Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung eines erfolglosen Bewerbers
um eine Tenure-Track-Professur an der Universität
Freiburg entscheiden. Der Antrag hatte erstinstanzlich
Erfolg.
Der Bewerber blickte zum Entscheidungszeitpunkt75
auf eine Vorbeschäftigungszeit von 11 Jahren zurück, wobei
das Gericht offen lassen konnte, ob dieses akademische
Alter nach § 51 Abs. 3 S. 2, 3 BWLHG i.V.m.
§ 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 1, 3–5 WissZeitVG zu korrigieren war.76
Jedenfalls überschritt der Bewerber das akademische
Höchstalter von sechs Jahren deutlich. Dennoch hielt
das Gericht den Bewerber nicht grundsätzlich für ungeeignet.
Das Gericht nahm an, das Tenure-Track-Verfahren
sei als systemische Ausnahme von der Soll-Regelung
des akademischen Höchstalters anzusehen.77
Dem ist nicht zu folgen. Wie gezeigt, hat Baden-
Württemberg zwar das Tenure-Track-Programm, jedoch
nicht die Wertungen des Wissenschaftsrats in das Gesetz
implementiert. Stattdessen verweist die Sonderregelung
des § 51b Abs. 1 S. 1 BWLHG dezidiert auf § 51 LHG. Hätte
der Landesgesetzgeber für das Tenure-Track-Verfahren
ein von § 51 BWLHG abweichendes akademisches
Höchstalter regeln wollen, so hätte er dies in
§ 51b BWLHG verankert oder jedenfalls den Verweis
eingegrenzt. Dies ist nicht der Fall. Durch die Verankerung
der Tenure-Track-Professur im Gesetz kann auch
nicht von einer Ausnahmekonstellation gesprochen werden
– vielmehr handelt es sich um einen Standardfall der
Besetzung einer Juniorprofessur. Schließlich bestehen
auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Landesgesetzgeber
die Regelungsproblematik übersehen hat, es sich
mithin um eine planwidrige überschießende Regelung
handelte.78
Sodann fragte sich das Verwaltungsgericht, ob der
Bewerber habe ausscheiden müssen, weil er kein „Nachwuchswissenschaftler
in einer frühen Karrierephase“
sei.79 Aus diesem Grunde hatte die Berufungskommission
den zunächst auf Platz eins eingeordneten Bewerber
formal ausgeschieden.80 Dabei war dieses Kriterium
nicht Teil des Ausschreibungstextes gewesen – dort war
nur von „hochqualifizierten NachwuchswissenschaftlePschorr
· Akademisches Höchstalter für die Juniorprofessur 1 7 9
81 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384 Rn. 4.
82 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384 Rn. 33.
83 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384 Rn. 42.
84 VG Freiburg, Beschluss vom 12.04.2021 – 1 K 348/21 = BeckRS
2021, 10384 Rn. 45.
85 VGH Mannheim, Beschluss vom 07.07.2021 – 4 S 1541/21 = BeckRS
2021, 19932 Rn. 9.
86 VGH Mannheim, Beschluss vom 07.07.2021 – 4 S 1541/21 = BeckRS
2021, 19932 Rn. 9 f.
87 VGH Mannheim, Beschluss vom 07.07.2021 – 4 S 1541/21 = BeckRS
2021, 19932 Rn. 11.
88 aA Herrmann, Kein Tenure Track wegen „Überqualifikation“,
Forschung & Lehre 2020, 218, 219 f., verkennend, dass der Wissenschaftsrat
nur aktuell qualifizierenden, nicht aber qualifizierten
Wissenschaftlern einen zusätzlichen Weg zur Professur eröffnen
wollte – ungeachtet der Nicht-Berücksichtigungsfähigkeit dieser
Wertungen mangels Umsetzungswille des Gesetzgebers. So wohl
auch BeckOK Hochschulrecht Nordrhein-Wes tfalen/Pernice-
Warnke § 36 Rn. 18; widers prüchlich Hartmer/Dettmer/Hartmer
Kap. 5 Rn. 113.
89 VGH Mannheim, Beschluss vom 01.07.2022 – 4 S 483/22 = BeckRS
2022, 17418 Rn. 5, bezugnehmend auf BVerfG, Beschluss vom
05.02.2020 – 1 BvR 1586/14 = NVwZ 2020, 1829, 1831 Rn. 23.
90 In diese Richtung auch Hartmer/Dettmer/Hartmer Kap. 5 Rn. 113.
91 Nicht aufgelös t bei Hartmer/Dettmer/Hartmer Kap. 5 Rn. 113.
rinnen und ‑wissenschaftlern“ die Rede.81 Auch auf die
Verwaltungsvereinbarung zum Bund-Länder-Programm
war nicht verwiesen worden.82 Das Verwaltungsgericht
hielt dieses Kriterium schließlich nicht für geeignet,
weil die daraus resultierenden Anforderungen an
die Bewerbung nicht konkretisierbar seien.83
Insofern ist dem Gericht zuzustimmen. Wie lange die
„frühe Karrierephase“ dauert, ist mangels gesetzlicher
Konzipierung einer Karrierephase vor der Tenure-Track-
Professur (R2) in Baden-Württemberg nicht aufgrund
eines konturierten Gesetzgeberwillens bestimmbar. Die
Überlegungen des Wissenschaftsrats können mangels
demokratischer Legitimation nicht herangezogen werden,
zumal es an einem gesetzlichen Anker fehlt, zu dessen
Auslegung sie herangezogen werden könnten.
Schließlich konstatierte das Verwaltungsgericht,
auch der Begriff des „Nachwuchswissenschaftlers“ könne
nicht bestimmt werden, sodass auch dieser nicht als
formales Ausschlusskriterium geeignet sei.84 Dem allerdings
widersprach der Verwaltungsgerichtshof. Dieser
stellte fest, dass der Bewerber wegen seiner zwischenzeitlichen
Habilitation nicht mehr im Rahmen des Tenure-
Track-Programms förderfähig und nicht mehr „auf
dem Karriereweg zur Professur“ i.S.d. § 4 Abs. 2 der Verwaltungsvereinbarung
zum Bund-Länder-Programm
war, sondern diesen vielmehr abgeschlossen habe.85 Mit
der Berufungsfähigkeit sei der Bewerber kein Adressat
des Tenure-Track-Programms mehr.86 Dies werde dadurch
bestätigt, dass die Tenure-Track-Professur landesrechtlich
eine Juniorprofessur sei, zu deren Aufgaben es
gehöre, sich zu qualifizieren.87 Deshalb musste sich der
Verwaltungsgerichtshof zur Anwendung des
§ 51 Abs. 3 S. 1 LHG nicht äußern.
Während das erstere Argument des Verwaltungsgerichtshofs
mangels klarer Verankerung der Anforderungen
des Tenure-Track-Programms in der Ausschreibung
nicht verfängt, greift der zweite Begründungsansatz. Die
Juniorprofessur ist nach der Konzeption des Gesetzgebers
Baustein der Qualifikationsphase (R2). Die Juniorprofessur
auch für die Lebenszeitphase im dreistufigen
Karriereaufbau (R3) zu öffnen, widerspricht diesem Gesetzgeberwillen.
Durch das Qualifizierungsziel findet
dieser Gesetzgeberwille auch einen Anker im Gesetzestext.
Mithin scheiden habilitierte Personen aus dem Bewerberkreis
um die Juniorprofessur mit und ohne Tenure-
Track aus.88 Gleiches gilt für Personen, die habilitationsäquivalente
Leistungen erbracht haben. Dies ist allerdings
dahingehend unglücklich, als bei der Bewertung,
ob solche vorliegen, einer Berufungskommission ein erheblicher
Einschätzungsspielraum zukommt.89 Um
Art. 33 Abs. 2 GG Rechnung zu tragen, können deswegen
nur evident berufungsfähige Personen ausscheiden.90
Habilitierende sind noch auf dem Karriereweg zur Professur
und deshalb geeignete Bewerber.91
IV. Vereinheitlichungsimpuls durch die Reform des
WissZeitVG
Wie gezeigt korrespondiert die landesrechtliche Ausgestaltung
der Juniorprofessur mit Tenure-Track in vielen
Bundesländern nicht mit dem zugrundeliegenden vierstufigen
Karriereaufbau. Dies verursacht Auslegungskonflikte
und Rechtsunsicherheit in Berufungsverfahren.
In den Bundesländern, die diese Problematik adressierten,
passt die Juniorprofessur ohne Tenure-Track
jedoch nicht mehr zum dreistufigen Karriereaufbau, der
den befristungsrechtlichen Regelungen des WissZeitVG
zugrundeliegt. Die Juniorprofessur schafft mithin in
allen Bundesländern Friktionen im Karriereaufbau.
Angesichts dessen zeichnet sich eine Tendenz an den
Hochschulen ab, die Regelungen zum akademischen
Gesamthöchstalter oder zur Beschäftigungsdauer nach
der Promotion schlicht zu ignorieren und die Juniorprofessur
als Karriereoption nach Ausschöpfung der
Höchstbefristungsdauer nach § 2 Abs. 1 S. 2 WissZeitVG
zu sehen. Das führt entgegen des Gesetzgeberwillens
1 8 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 7 3 — 1 8 0
92 Vgl. zu den Eckpunkten der bisher geplanten Reform https://
www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2023/230317-wisszeitvg.
pdf?__blob=publicationFile&v=1, zuletzt abgerufen am
06.04.2023.
93 Siehe hierzu Pschorr, Ein Kompromiss, der seinen Namen verdient,
abrufbar unter https://www.jmwiarda.de/2023/03/28/einkompromiss-
der-seinen-namen-verdient/, zuletzt abgerufen am
06.04.2023.
94 Zwar wird nicht übersehen, dass die Juniorprofessur als Alternative
zur Habilitation konzipiert war. In der Berufungs praxis
wird das erfolgreich evaluierte Durchlaufen der Juniorprofessur
jedoch noch nicht allgemein als habilitationsäquivalente Leis tung
anerkannt, weshalb noch immer „zur Sicherheit“ in dieser Phase
habilitiert wird.
95 Darüber hinaus könnte angedacht werden, auch ein akademisches
Höchs talter für die Bewerbung auf die Entwicklungs phase zu
normieren, um Bewerbungen aus dem Ausland bzw. von Pos tdocs,
die nach einer die Orientierungs phase überschreitenden Auslandsphase
mit Wettbewerbsvorteilen zurückkehren. Dies kann allerdings
Auswirkungen auf die Durchlässigkeit der Karrierepfade
untereinander haben. Insoweit is t Beschäftigtenflexibilität gegen
Egalität bei der Stellenbesetzung abzuwägen.
nicht zu einer schnelleren und transparenteren Wissenschaftskarriere,
sondern zur Zuordnung von Wissenschaftlern
zum Mittelbau bis in das fünften Lebensjahrzehnt.
Möglicherweise könnte die Reform des WissZeitVG92
einen Impuls zur Vereinheitlichung der Karrierewege in
allen Bundesländern setzen. Hier ist das sog. Anschlusszusagemodell
in Diskussion.93 Dieses sieht in seiner Variante
als „Drei-Phasen-Modell“ eine maximal zweijährige
Orientierungsphase vor. Hierauf soll eine Entwicklungsphase
folgen, die (wie die Tenure-Track-Professur)
bei positiver Evaluation anhand einer Ziel- und Leistungsvereinbarung
auf eine unbefristete Beschäftigung
führen soll. Unterschied: Hier wird eine Beschäftigung
im akademischen Mittelbau angestrebt, während die
Tenure-Track-Professur auf eine Lebenszeitprofessur
führt. Mit diesem Modell wird ein verlässlicher Karrierepfad
nach der Promotion angestrebt, um die nachhaltige
Prekarisierung Promovierter durch Kettenbefristungen
zu bekämpfen. Dasselbe Ziel verfolgt die
Tenure-Track-Professur.
Anschlusszusagemodell, sowie Juniorprofessur ohne
und mit Tenure-Track können in einem kohärenten Karrieremodell
vereinbart werden: Versteht man die Orientierungsphase
i.S.d. Anschlusszusagemodells als Postdoc-
Phase (R2), könnte die Tenure-Track-Professur der
„schnelle“ Weg zur Lebenszeitprofessur (Evaluationsphase
R3) für risikobereite Bewerber darstellen, während
das Durchlaufen der Entwicklungsphase (i.S.d. Evaluationsphase
R3) von denjenigen favorisiert werden könnte,
die nicht unbedingt eine Professur anstreben oder den
Weg der klassischen Habilitation beschreiten wollen. Die
Juniorprofessur ohne Tenure-Track könnte schließlich
für diejenigen verbleiben, die erwarten, eine Habilitation94
oder habilitationsäquivalente Leistungen in sechs
Jahren erbringen zu können bzw. keine dauerhafte Beschäftigung
in der Wissenschaft anstreben. Es ergäbe
sich mithin ein „Drei-Pfade-Karrieremodell“ nach der
Promotion.
Schlüssig wird dieses „Drei-Pfade-Karrieremodell“,
wenn die Landesgesetzgeber das akademische Höchstalter
zur Bewerbung auf eine Juniorprofessur parallel zu
den Phasen des Anschlusszusagemodells normierten.95
Das bedeutete: Auf eine Juniorprofessur solle sich bewerben
können, wer ein bereinigtes akademisches
Höchstalter von maximal acht Jahren aufweist. Nach der
Orientierungsphase stehen sodann drei Wege offen: Von
der Juniorprofessur (1) mit und (2) ohne Tenure-Track
unmittelbar auf die Lebenszeitprofessur („up or out“)
und (3) über die Entwicklungsphase auf eine entfristete
Stelle im akademischen Mittelbau, von der aus man sich
auf eine Führungsposition in Wissenschaft und Forschung
– einschließlich der Lebenszeitprofessur – bewerben
kann. Dieses neue Karrieremodell würde eine
Selbstverständlichkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts
auch im Wissenschaftssystem etablieren: Nicht alle wollen
Führungskraft werden und trotzdem auf sicherer Beschäftigungsgrundlage
mit ihrem Fleiß und ihrem
Know-How zum Erfolg des Arbeitgebers beitragen.
Simon Pschorr ist Staatsanwalt und Abgeordneter
Praktiker an der Universität Konstanz. Er lehrt und promoviert
im Strafrecht. Darüber hinaus forscht er im
Hochschularbeitsrecht.
Prof. Dr. Volker Epping, Präsident der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität und Vorstandsmitglied des Vereins zur Förderung des deutschen und internationalen Wissenschaftsrechts, stellte einleitend die Bedeutung der Exportkontrolle für die Wissenschaft dar. Durch diese Regelungen erführen die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Var. 2 GG verankerte Wissenschaftsfreiheit ebenso wie die verfassungsrechtlich abgesicherte Außenwirtschaftsfreiheit1 ihre Schranken.
Relevant werde die Exportkontrolle in jedem Bereich der Wissenschaft, was für die Betroffenen nicht immer intuitiv erkennbar sei. Verstöße gegen das Exportkontrollrecht führten im Einzelfall zu strafrechtlichen Sanktionen, weshalb gute Kenntnisse in diesem Bereich speziell für die jeweilige Institutsleitung als Ausfuhrverantwortliche2 unentbehrlich seien. Epping erklärte als Ziel der Veranstaltung, Einblicke in die Grundzüge des Exportkontrollrechts zu vermitteln und anhand praktischer Beispiele Hilfestellungen für den Umgang mit dem Regime zu geben.
I. Grundlagen des deutschen und europäischen Exportkontrollrechts
Einführend betonte Prof. Dr. Hans-Michael Wolffgang, Direktor des Instituts für Zoll- und Außenwirtschaftsrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, die Notwendigkeit der Etablierung eines Exportkontrollmechanismus in wissenschaftlichen Einrichtungen. Stets bestünde die Möglichkeit einer Außenwirtschaftsprüfung, es drohten Straf- oder Bußgeldverfahren sowie Reputationsschäden. Zugleich gingen mit der Exportkontrolle aber auch Sicherheitsaspekte einher, indem Wissen und Technologie vor Missbrauch geschützt werden würden. Anschließend stellte Wolffgang die wesentlichen Strukturen des Exportkontrollrechts auf europäischer und deutscher Ebene dar. - Ziele und Rechtsrahmen der Exportkontrolle
Die Exportkontrolle verfolge unterschiedliche Ziele: Mit der Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und konventionellen Rüstungsgütern werde die Wahrung nationaler Sicherheitsinteressen sowie die Gewährleistung der Sicherheit der Europäischen Union einschließlich ihrer Mitgliedstaaten und Bürger bezweckt. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit anderen Universitäten müsse etwa berücksichtigt werden, dass nicht all diese in einer Weise wie die deutschen Einrichtungen abgesichert seien. Ferner solle das friedliche Zusammenleben der Völker ebenso wie der Zweck erreicht werden, Konfliktstärkung in Krisengebieten zu verhindern. Die Exportkontrolle diene ferner dem Schutz vor Terrorismus, der Einhaltung von Menschenrechten und letztlich auch der Durchsetzung politischer und ökonomischer Ziele.
Diese Ziele könnten durch Bedrohungslagen insbesondere im Bereich von Waffen und der Trägertechnologie sowie im Bereich des Terrorismus konterkariert werden. Entsprechende Bedrohungen ergäben sich speziell unter Berücksichtigung der großen Reichweite russischer Raketen sowie der zahlreichen aktuellen Kriege und Konflikte weltweit, wie dem russischen Angriff auf die Ukraine3. Bedrohungen gingen auch von Chinas deklariertem Anspruch auf Taiwan4 aus, wobei sich entsprechende Konflikte vom regionalen auf weltweite Bereiche ausweiten könnten.
Angesichts dieser Hintergründe verdeutlichte Wolffgang die Relevanz der Zusammenarbeit im ExportkontAntonia
Hagedorn
Wissenschaft und Exportkontrolle
Bericht über die Tagung des Vereins zur Förderung des deutschen und internationalen
Wissenschaftsrechts e.V. am 27. April 2023
1 Grundlegend Epping, Die Außenwirtschaftsfreiheit, Tübingen 1998.
2 Vgl. aktuell auch Ossenkopp/Wien, Der Ausfuhrverantwortliche in der Wissenschaft, Eigenschaft des Ausfuhrverantwortlichen in außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Hochschulen, AW-Prax 2023, 157 (157 ff.).
3 S. aktuell im Kontext der Sanktionen gegenüber Russland Schöffski, Sanktionen gegenüber Russland und Belarus: Is t der „Ausfuhrverantwortliche“ auch für die Einhaltung von import- und einkaufsrelevanten Sanktionen verantwortlich?, CCZ 2023, 115 (115 ff.).
4 Hierzu s. Deutscher Bundes tag, Wissenschaftliche Diens te, Kurzinformation, Zum Herrschaftsans pruch der Volksrepublik China über Taiwan, WD 2 – 3000 – 063/22 (30.8.2022), https://www.bundes tag.de/resource/blob/913192/5449ed870b974dd3543e235bda193df5/WD‑2–063-22-pdf-data.pdf (zul. aufg. am 1.5.2023).
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 8 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 8 1 — 1 8 6
5 Vgl. Kloke, Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Weltgesetzgeber
– eine kritische Betrachtung aus völkerrechtlicher Sicht,
Berlin 2016.
6 Diesbezüglich vgl. die näheren Informationen des BAFA, Informationen
zum Embargo gegen die Islamische Republik Iran, https://
www.bafa.de/DE/Aussenwirtschaft/Ausfuhrkontrolle/Embargos/
Iran/iran_node.html (zul. aufg. am 1.5.2023).
7 S. Zimmermann/Elberling, Grenzen der Legislativbefugnisse des
Sicherheitsrats, Resolution 1540 und abs trakte Bedrohung des
Weltfriedens, Vereinte Nationen 3/2004, 71 (71 ff.).
8 Krapp/et al., Das bleibt von Viessmann nach dem Verkauf an den
US-Konzern, Handelsblatt v. 28.4.2023, https://www.handelsblatt.
com/unternehmen/mittels tand/familienunternehmer/waermepumpen-
deal-das-bleibt-von-viessmann-nach-verkauf-an-den-uskonzern/
29113834.html (zul. aufg. am 1.5.2023).
9 S. zur Prüfungsankündigung Habecks Olk, Habeck kündigt Prüfung
von Viessmann-Verkauf an, Handelsblatt v. 26.4.2023, https://
www.handelsblatt.com/politik/deutschland/waermepumpen-dealhabeck-
kuendigt-pruefung-von-viessmann-verkauf-an/29115556.
html sowie zur Stellungnahme des Bundeskanzlers Scholz Welt v.
26.4.2023, https://www.welt.de/wirtschaft/article245005826/Kanzler-
Scholz-sieht-Verkauf-von-Viessmann-Heizungss parte-grundsaetzlich-
positiv.html (jew. zul. aufg. am 1.5.2023). Anwendung
findet hier das sog. sektorübergreifende Inves titions prüfverfahren
gem. §§ 4 Abs. 1 Nr. 4, Nr. 4a, 5 Abs. 2 AWG i.V.m. §§ 55 ff. AWV
(vgl. weiterführend Hagedorn, Die Beschränkung ausländischer
Direktinves titionen in sicherheitsrelevante zivile Unternehmen,
Berlin 2023 [im Erscheinen]; Wolffgang/Rogmann/Pietsch, AWRKommentar,
Stand: 2022).
10 Vgl. zur Verlängerung der unionalen Sanktionen jüngs t Redaktion
AW-Prax, Sanktionen gegen Russland I, EU verlängert Beschluss
zu den Res triktionen gegenüber den russisch kontrollierten Gebieten
in der Ukraine, AW-Prax 2023, 87 (87) m.w.N.
rollrecht, die sich in einer Gemengelage von Regelungen
auf drei Ebenen äußerte: Auf internationaler Ebene veröffentlichte
der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen5
Beschlüsse wie die Anordnung von Embargos etwa gegen
den Iran6. Ferner seien die UN-Resolution 1540 zum
Kampf gegen Terror7 ebenso wie Terroristenlisten zu berücksichtigen.
Hierneben seien internationale Verträge
wie etwa der Vertrag über die Nichtverbreitung von
Atomwaffen, das Chemie- und das Biowaffenübereinkommen
relevant. Außerdem finde eine internationale
Zusammenarbeit mit Soft-Law Regimen wie der Nuclear
Suppliers Group, der Australia Group, dem Missile Technology
Control Regime und dem Wassenaar Arrangement
statt. Schließlich sei im internationalen Bereich
auch die Weltzollorganisation von Bedeutung.
Auf Europäischer Unionsebene kämen Verordnungen
wie insbesondere die EU-Dual-Use-VO zur Anwendung;
im nationalen Recht finde die Exportkontrolle ihren
Ausdruck im deutschen KrwaffKontrG, dem AWG
und der AWV. All jene Vorschriften enthielten als Ausnahmen
zur Außenwirtschaftsfreiheit Verbote und Genehmigungsvorbehalte;
als mögliche Rechtsfolgen kämen
im Einzelnen eine Zulässigkeit der beabsichtigten
Aktivität (mit Genehmigung) sowie ein Verbot in
Betracht.
In Bezug auf außenwirtschaftliche Beschränkungen
auf nationaler Ebene nannte Wolffgang als aktuelles Beispiel
den beabsichtigten Verkauf des Kerngeschäfts Wärmepumpen
des Energieherstellerunternehmens Viessmann
an das US-amerikanische Unternehmen Carrier8,
der auf Grundlage der in AWG und AWV verankerten
Regelungen durch das BMWK geprüft wird.9 - Anknüpfungspunkte der Exportkontrolle
Sodann stellte Wolffgang die zahlreichen Anknüpfungspunkte
der Exportkontrolle dar. Entscheidend sei zunächst
die Frage, welche Güter betroffen sind. Hier würde
zwischen verkörperten Waren sowie einer jeweils in
Speichermedien verkörperten Technologie und Software
unterschieden. Maßgeblich für die Exportkontrolle seien
insbesondere Kriegswaffen, Rüstungs- und Dual-Use-
Güter. Während erstere beide lediglich national gelistet
seien, erführen Dual-Use-Güter auch eine Listung auf
Europäischer Unionsebene. Außerdem werde auf Unionsebene
an einzelne Länder angeknüpft, indem einerseits
gegen bestimmte Länder ein Total‑, Teil- oder ein
Waffenembargo erlassen werde. Als Waffenembargoländer
seien insbesondere
China, der Iran und Russland10
beachtlich. Andererseits würden bestimmte Länder auch
als sensitiv gem. Art. 4 Dual-Use-VO eingestuft. Seien
Dual-Use-Güter nicht bereits in einer Liste aufgeführt,
dann finde eine verwendungsbezogene Kontrolle in
Bezug auf militärische Zwecke statt, sofern die Güter in
bestimmte Länder gem. Art. 4 EU-Dual-Use-VO i.V.m.
Länderlisten oder gem. § 9 AWV ausgeführt werden sollen.
In diesem Fall werde eine Kenntnis des Ausführers
von der spezifischen Verwendungsabsicht verlangt (sog.
Verwendungsbezug).
Weiterer Anknüpfungspunkt der Exportkontrolle
seien Technologien, also spezifisches technisches Wissen,
welches für die Entwicklung, Herstellung und Verwendung
von Gütern notwendig sei. Entwicklung meine
hierbei alle Stufen der Serienfertigung und Herstellung
all jene der Fabrikation, wohingegen Verwendung die
Bereiche Betrieb, Wartung, Reparatur, Überholung und
Wiederaufbereitung bedeute. Der untersuchte Technologietransfer
erfasse technische Unterlagen, die in
Schriftform oder auf einem sonstigen Medium verkörpert
sind. Die Ausfuhr dieser Unterlagen unterliege der
Güterkontrolle. Bedeutsam sei daneben aber auch der
Transfer technischer Unterstützung, worunter geistige
oder manuelle Dienstleistungen gem. Art. 2 Nr. 9
EU‑Dual‑Use‑VO, § 2 Abs. 16 AWG gefasst werden.
Hiervon würde die Ausbildung, Beratung und WeitergaHagedorn
· Wissenschaft und Exportkontrolle 1 8 3
11 Vgl. auch das Handbuch der BAFA, Exportkontrolle und Academia, - Auflage, Berlin 2022. S. weiterführend dass., Exportkontrolle
in Forschung und und Wissenschaft, https://www.bafa.de/
SharedDocs/Downloads/DE/Aussenwirtschaft/afk_aca_broschuere_
awareness.pdf?__blob=publicationFile&v=5 (zul. aufg. am
1.5.2023).
be von Informationen unabhängig von der Frage betroffen,
ob sie mündlich, fernmündlich oder elektronisch erfolge.
Wolffgang betonte, dass somit unter Umständen
auch der alltägliche E‑Mail-Verkehr betroffen sein kann.
Die Weitergabe technologischer Informationen sei
grundsätzlich immer dann genehmigungspflichtig,
wenn auch ein vergleichbarer Güterexport genehmigungspflichtig
wäre. Dies veranschaulichte Wolffgang am
Beispiel eines Panzerexports: Sei seine Ausfuhr nicht erlaubt,
so dürfe man auch keine Informationen bezügliche
dessen Entwicklung und Herstellung weitergeben.
Als Ausnahme seien allerdings allgemein zugängliche
Informationen sowie Fragen der wissenschaftlichen
Grundlagenforschung vom Verbot ausgenommen.
Letztlich unterstrich Wolffgang nochmals, dass der Ort
der technischen Unterstützung unerheblich ist. Die Beschränkungen
der Exportkontrolle fänden demnach für
Deutsche weltweit Anwendung, wenn sie Gebietsfremde
außerhalb Deutschlands oder der Europäischen Union
unterstützten.
Zuletzt knüpfe die Exportkontrolle an bestimmte
Personen und Organisationen an. Es erfolge eine Listung
durch die Vereinten Nationen, die mit unionsrechtlichen
Verordnungen umgesetzt werden, oder allein eine Listung
der Europäischen Union. Gelistet würden insbesondere
Kriegsverbrecher, Terroristen und politisch Verantwortliche.
In der Rechtsfolge würden Gelder und
wirtschaftliche Ressourcen dieser Personen oder Organisationen
eingefroren, ihnen dürften also weder direkt
noch indirekt Gelder zur Verfügung gestellt werden. In
diesem Bereich entfalteten die Kontrollvorschriften eine
unionsweite Geltung, sodass in der Wissenschaft etwa
keine Aufträge von diesen Personen angenommen werden
dürften.
II. Praxisbeispiele zum Themenfeld „Exportkontrolle
und Wissenschaft (Academia)“
Volker Anders, Unterabteilungsleiter im Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), und Dr. Marius
Siebers, Technisches Referat im BAFA, stellten in
ihrem nachfolgenden Impulsvortrag aus der behördlichen
Sicht die Bedeutung der Exportkontrolle für die
Wirtschaft dar.11 Zu berücksichtigen sei für die Wissenschaft
insbesondere, dass auch die zivile Ausrichtung der
Forschungs- und Tätigkeitsbereiche nicht die Exportkontrolle
ausschließt; allein das objektive Missbrauchspotenzial
sei entscheidend. Der Kontrollmechanismus
greife demnach auch, wenn mit der Forschung
ein „hehres“ Ziel, beispielsweise die Entwicklung eines
Impfstoffs, verfolgt werde.
Im Rahmen einzelner Forschungsbereiche sei beachtlich,
dass jedem ein eigenes Missbrauchspotenzial
immanent ist. So führte Anders für den Bereich der Biotechnologie
etwa die Vogelgrippe und für den Bereich
der Luft- und Raumfahrttechnik die Zusammenarbeit
mit ausländischen Forschern, die selbst im Rüstungsbereich
tätig sind, auf. - Anwendungsbereich der Exportkontrolle und Listung
Anders nahm die Ausfuhr eines in Anhang I der
EU‑Dual-Use-VO gelisteten Prototyps zum Anlass für
ein praktisches Beispiel der Exportkontrolle gem.
Art. 3 Abs. 1 EU-Dual-Use-VO. Relevant sei, dass der
Prototyp aus technischer Sicht von einer Position des
Anhang I der E‑U-Dual-Use-VO erfasst ist und dass dieser
in ein Land außerhalb der EU mitgenommen wird.
Damit liege eine genehmigungspflichtige Ausfuhr vor.
Auf Zweck und Dauer der Ausfuhr komme es nicht an.
Als weiteres Beispiel nannte Anders die Übersendung
einer E‑Mail an einen Wissenschaftler in einem Land außerhalb
der EU, in der ausführlich die Forschung zu einer
in Anhang I der EU-Dual-Use-VO genannten Technologie
erläutert wird. Hier liege ebenfalls eine genehmigungspflichtige
Ausfuhr vor, weil wie in Beispiel 1 ein gelistetes
Gut in ein Drittland ausgeführt würde. Irrelevant
sei, in welcher Art und Weise die Technologie übermittelt
wird. Die Übertragung von Technologien mittels
elektronischer Medien bzw. das Einräumen von Zugriffmöglichkeiten
auf Server sei der Ausfuhr in körperlicher
Form gleichgestellt.
Sodann erläuterte Siebers die Listung bestimmter
Güter und ihre Struktur im Rahmen des Anhangs I der
EU-Dual-Use-VO am Exempel der Fließdrückmaschine
(Listung: 2B009). Diese Listung setze sich aus der Kategorie
(2: Werkstoffbearbeitung), der Gattung (B: Prüf‑,
Test- und Herstellungsausrüstung) und der Kennung
(0xx: Wassenaar Arrangement [WA]) zusammen. - Anwendungsbereich konkret im Rahmen der Technologiekontrolle
Siebers fuhr in seinem Impulsvortrag mit einer näheren
Erläuterung der Technologiekontrolle fort. In diesem
Bereich sei das weite Spektrum von offensichtlich nicht
1 8 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 8 1 — 1 8 6
12 Vgl. auch BAFA, Merkblatt Firmeninterne Exportkontrolle (ICP), - Aufl. 2022, https://www.bafa.de/SharedDocs/Downloads/DE/
Aussenwirtschaft/afk_merkblatt_icp.html (zul. aufg. am 1.5.2023).
13 S. weiterführend Urso, Step-by‑s tep: Ers tellung und innerbetriebliche
Implementierung eines Internal Compliance Programme
(ICP) im Bereich Zoll- und Exportkontrolle, CB 2016, 344 (344 ff.);
Wolffgang/Witte, Compliance in der Exportkontrolle, Herausforderungen
für Unternehmen und Verantwortliche im grenzüberschreitenden
Wirtschaftsverkehr, CB 2015, 138 (138 ff.).
kontrollierter und offensichtlich kontrollierter Technologie
maßgeblich. Erstere liege etwa vor bei einem Bachelorstudiengang
in nicht technischen oder mathematischen
Fachrichtungen. Eine offensichtlich kontrollierte
Technologie sei gegeben, wenn an einem Forschungsvorhaben
gearbeitet werde, in dem gelistete Güter weiterentwickelt
werden.
Zwischen den beiden eindeutig bestimmbaren Bereichen
befände sich eine Grauzone. Diesbezüglich habe im
Einzelfall eine genauere Abgrenzung zu erfolgen, bei der
zunächst eine Vorprüfung dahingehend erforderlich sei,
ob eine offensichtlich nicht kontrollierte Technologie
vorliegt. Wäre dies abzulehnen, dann erfolge eine Abgrenzung
zu offensichtlich kontrollierten Technologien
anhand folgender Kriterien: Maßgeblich sei insoweit der
Bezug der Technologie zur Güterliste, die Detailtiefe des
zum Transfer beabsichtigten Wissens und das Vorliegen
einer Grundlagenforschung. Sofern ein Bezug zu den
Güterlisten bestünde, keine wissenschaftliche Grundlagenforschung
vorliege und die Arbeiten nicht umfassend
veröffentlicht seien, sollte ein Dialog mit dem BAFA angestrebt
werden, um die Exportkontrollrelevanz zu
klären.
In diesem Kontext nannte Siebers als erstes Praxisbeispiel
den vorübergehenden Export einer Multicopter-
Drohne nach Südafrika, um dort Agrar-Projekte vor Ort
bei ihren Luftaufnahmen zu unterstützen. Als technische
Daten hat die Drohne ein Gewicht von 907 g, maximale
Flugzeit von 31 Minuten, maximalen Windwiderstand
von 29–38 km/h, sie kann autonom fliegen und ist im
Einzelhandel erhältlich. Hier handele es sich um keine
offensichtlich nicht kontrollierte Technologie. Die Drohne
weise keinen Bezug zur Güterliste, insbesondere nicht
zu 9A012 Anhang I EU-Dual-Use-VO auf, da ihr Windwiderstand
zu gering ist. Ebenso seien die Merkmale von
9A112 Anhang I EU-Dual-Use-VO nicht erfüllt. Demnach
handele es sich um keine offensichtlich nicht kontrollierte
Technologie.
Als zweites Praxisbeispiel erläuterte Siebers die Weiterentwicklung
einer Virus-Kultivierungsmethode. Ein
Forscher aus Deutschland arbeitet mit einem Forscher
aus Indien zusammen an der Entwicklung einer neuen
Kultivierungsmethode für das Nipah-Virus. In diesem
Kontext übersendet er seine Forschungsergebnisse
an
den indischen Forscher per E‑Mail. Eine offensichtlich
nicht kontrollierte Technologie liege nicht vor. Das Nipah-
Virus werde speziell in 1C351 a) Nr. 35 Anhang I
EU‑Dual-Use-VO und die Technologie in 1E001 Anhang
I EU-Dual-Use-VO gelistet. Da die Forschungsergebnisse
nicht allgemein zugänglich oder Teil der
Grundlagenforschung seien, werde gem. Art. 3 Abs. 1
EU-Dual-Use-VO eine Genehmigung benötigt. Folglich
sei das BAFA zu kontaktieren. - Internal Compliance Programme12
Abschließend wurde darauf hingewiesen, dass ein Internal
Compliance Programme (ICP) im Bereich der
Exportkontrolle einzurichten ist. Dieses könne in das
Compliance-Management-System (CMS) der wissenschaftlichen
Einrichtung eingebettet werden. In diesem
Programm müsse die Sonderverantwortung des Ausfuhrverantwortlichen
berücksichtigt werden, der für die
Einhaltung der Exportkontrollvorschriften und die Etablierung
eines ICP persönlich verantwortlich sei.13
III. Best-Practice-Beispiele
Auf Grundlage der vorstehenden theoretischen Grundlagen
der Exportkontrolle konnte diese im zweiten Teil
der Veranstaltung aus praktischer Sichtweise ihrer
Handhabung an zwei wissenschaftlichen Einrichtungen
näher erläutert werden. Neben der personellen Organisation
des jeweiligen Exportkontrollmechanismus wurde
auch ihre fachliche Strukturierung intensiv behandelt. - Exportkontrolle an der Rheinisch-Westfälischen
Technischen Hochschule Aachen
Nicolas Lunz, Sachgebietsleiter Außenwirtschaftsrecht
und Exportkontrollbeauftragter der Rheinisch-Westfälischen
Technischen Hochschule (RWTH) Aachen, hat
das ICP an seiner Hochschule entwickelt, mit aufgebaut
und hat hier bislang zwei Außenwirtschaftsprüfungen
miterlebt. Lunz stellte die Beobachtung auf, dass die
Exportkontrolle neben den bereits genannten Gefahren
für die wissenschaftliche Einrichtung auch positive
Aspekte mit sich bringen kann, denn ein gutes internes
Konzept sei geeignet, Marketingeffekte für Drittmittelgeber
zu implizieren.
Lunz erläuterte sodann die nähere Ausgestaltung des
ICP der RWTH Aachen. Personell sei die Exportkontrolle
dergestalt aufgebaut, dass ein AusfuhrverantwortliHagedorn
· Wissenschaft und Exportkontrolle 1 8 5
cher an der Spitze und darunter ein Exportkontrollbeauftragter
in der Zentralen Hochschulverwaltung steht.
Aufgaben des Exportkontrollbeauftragten seien im Einzelnen
Information, Schulung, Beratung, Service, Organisation
und auch die Exportkontrolle als rechtliche
Prüfung konkreter Sachverhalte wie etwa von Verträgen
mit Vertragspartnern aus Drittstaaten.
Beachtung finde hier vordergründig die besondere
Sensibilisierung der einzelnen Mitarbeiter. Es sei unmöglich,
jeden einzelnen als exportkontrollrechtlich
eventuell relevanten Vorgang zu untersuchen. Vielmehr
würden Hinweise in Bezug auf relevante Vorgänge, insbesondere
betreffend die Versendung von Gütern und
speziell Rüstungsgütern in Drittländer, die Mitnahme
von Gütern im Reisegepäck sowie die digitale Übertragung
gelisteter Software bzw. Technologie in Drittländer,
erteilt. Die Sensibilisierung erfolge auf unterschiedliche
Art und Weise anhand von Erklärvideos, Merkblättern,
internen Schulungen oder Onboarding-Gesprächen mit
neuen Dozenten. Für Lehrstühle mit einer besonders hohen
Exportkontrollrelevanz,
etwa demjenigen für Luftund
Raumfahrt, werden individuelle Institutsschulungen
angeboten.
Eine vorherige Kontrolle werde hingegen
vornehmlich bei besonders kritischen Aktivitäten wie
der Versendung von Gütern in Drittstaaten Prüfung vorgenommen.
Hierfür werde ein bestimmtes Formular bereitgestellt,
das im Einzelfall auszufüllen sei.
Schließlich betonte Lunz das Zusammenspiel von Exportkontrolle
und Due-Diligence-Prüfung. In der
RWTH sei es üblich, dass nach einer Untersuchung der
rechtlichen Zulässigkeit in Bezug auf das Exportkontrollrecht
auch die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den
politischen und ethisch-moralischen Vorstellungen der
Hochschule geprüft werde. - Exportkontrolle am Forschungszentrum Jülich
Jochen Kuck, Rechtsanwalt und Beschäftigter im Forschungszentrum
Jülich, beschrieb einleitend die langjährige
große Bedeutung des Außenwirtschaftsrechts für
seine Einrichtung. Diese sei eine ehemalige Kernforschungsanlage
mit den Forschungsschwerpunkten Information,
Energie und Bioökonomie. Er nahm noch
einmal näher auf die Eingliederung der Exportkontrolle
in die Struktur des Risikomanagements Bezug, der
neben den Bereichen der Informationssicherheit, der
geschäftspolitisch-strategischen Ebene sowie der Ethik
eine erhebliche Relevanz zukomme.
Im Forschungszentrum Jülich sei dessen administrativer
Geschäftsführer Ausfuhrverantwortlicher i.S.d. Exportkontrolle.
Darunter untergliedere sich die personelle
Zuständigkeit in zwei Säulen: Dem Ausfuhrverantwortlichen
sei der Geschäftsbereich Rechte und Patente
unterstellt, der den Fachbereich Recht impliziert. Hier
werden Fragen des Personals, der Kooperation, Publikation
und speziell des US-Rechts bearbeitet. Als zweite
Säule unterliege der Geschäftsbereich Materialwirtschaft
und Einkauf seiner Aufsicht. Letzterer Geschäftsbereich
betreffe insbesondere die Warenausfuhr. Die Säulenaufteilung
sei von einem gegenseitigen Austausch geprägt.
Diese wiederum hätten gegenüber den wissenschaftlichen
Instituten und der Verwaltung ein Stopp- und Weisungsrecht.
Prioritär innerhalb dieser Bereiche sind
nach Kucks Einschätzung die Warenausfuhr, das Personal
und die Kooperation.
Die Exportkontrolle beginne im Forschungszentrum
regelmäßig mit einem Prozessauslöser wie etwa der Einstellung
eines ausländischen Wissenschaftlers. In die exportkontrollrechtliche
Prüfung werde auch hier ein geschäftspolitischer
Prozess integriert, der konkret einen
china-spezifischen Prüfprozess sowie eine Chancen-Risiken
Abwägung beinhaltet. Sodann werde weiteres Input
des Instituts angefordert, auf dessen Grundlage die
exportkontrollrechtliche Prüfung erfolgen könne.
IV. Resümee und Ausblick
Schlussfolgernd gewinnt die Exportkontrolle allgemein
und speziell im Bereich der Wissenschaft zunehmend an
Bedeutung. Jede wissenschaftliche Institution sollte ihre
Expertise im komplexen Bereich der Exportkontrolle
auf- bzw. ausbauen. Dieser Komplexität kann mit formalisierten
Prozessen begegnet werden, um dem steigen1
8 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 8 1 — 1 8 6
den Aufwand der exportkontrollrechtlichen Fragestellungen
gewachsen zu sein. Hierbei stellt insbesondere
die Sensibilisierung einzelner Wissenschaftler eine geeignete
Hilfestellung dar. Daneben ist ein Austausch mit
anderen Einrichtungen anzustreben.
Mit dem Widerstreit des für die Wissenschaft elementaren
Austauschs einerseits und der notwendigen
Kontrolle von Exporten andererseits geht eine Herausforderung
einher. Es gilt jedoch auch zu berücksichtigen,
dass von der Exportkontrolle Chancen ausgehen, indem
eine wissenschaftliche Einrichtung mit einem sicher etablierten
Exportkontrollkonzept beispielsweise werben
kann, um Drittmittel zu erhalten.
Dr. Antonia Hagedorn ist Rechtsreferendarin am Oberlandesgericht
München. Sie hat im Außenwirtschaftsrecht
promoviert.
Sie besteht nicht nur in der Deutlichkeit, sondern auch in der Lebendigkeit des Vortrags. Einige haben eine glückliche Empfängnis, aber eine schwere Geburt; ohne Klarheit können die Kinder des Geistes, die Gedanken und Beschlüsse, nicht wohl zur Welt gebracht werden. Manche gleichen in ihrer Fassungskraft jenen Gefäßen, die zwar viel fassen, aber wenig von sich geben. Andere wieder sagen sogar mehr, als sie gedacht haben. Was für den Willen die Entschlossenheit, ist für den Verstand die Gabe des Vortrages: zwei hohe Vorzüge.
Balthasar Gracian
Die Kunst des Ausdrucks besitzen:1
1 Balthasar Gracians Handorakel: Die Kuns t der Weltklugheit, deutsch von Arthur Schopenhauer, neu herausgegeben von Hans Tabarelli, Wien und Berlin o. J., Nr. 216, S. 153.
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
RDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2023), 187–188