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Wis­sen­schafts­go­ver­nan­ce ist ein hoch­ak­tu­el­les The­ma: Der Koali­ti­ons­ver­trag der Bun­des­re­gie­rung kün­digt die För­de­rung moder­ner Führungs‑, Per­so­nal- und Orga­ni- sati­ons­struk­tu­ren und Stan­dards für Füh­rungs- und Com­pli­ance-Pro­zes­se im Wis­sen­schafts­sys­tem an.2 Zugleich fin­det ein inten­si­ver öffent­li­cher Dis­kurs über Macht­miss­brauch, Arbeits­be­din­gun­gen, Füh­rung und Zusam­men­ar­beit in der Wis­sen­schaft statt, in dem der Umgang mit Kon­flik­ten zwi­schen Orga­ni­sa­ti­ons­mit­g­lie- dern the­ma­ti­siert wird. Vor die­sem Hin­ter­grund tra­fen sich am 13. und 14. März 2023 Gover­nan­ce-Fach­leu­te aus Poli­tik, Ver­wal­tung und Wis­sen­schaft, Ver­ant­wort­li­che in Füh­rungs­po­si­tio­nen in der Wis­sen­schaft und For- schen­de auf allen Kar­rie­re­stu­fen zu Vor­trä­gen, Debat­ten und Aus­tausch. Ein­ge­la­den hat­ten die Ber­gi­sche Uni­ver- sität Wup­per­tal (BUW) gemein­sam mit dem Baye­ri- schen Staats­in­sti­tut für Hoch­schul­for­schung und Hoch- schul­pla­nung (IHF), der Uni­ver­si­tät Pas­sau, der Hoch- schul­rek­to­ren­kon­fe­renz (HRK) und dem Deut­schen Hoch­schul­ver­band (DHV).

Zunächst begrüß­te Pro­fes­sor Dr. Bir­git­ta Wolff als Rek­to­rin der BUW die ca. 120 Teil­neh­men­den. Sie be- ton­te, dass die Wis­sen­schaft vor gro­ßen Her­aus­for­der- ungen in Bezug auf Gover­nan­ce und Kon­flikt­be­ar­bei- tung stün­de, dass aber die For­schung bereits in der Lage sei, empi­risch fun­dier­te, pra­xis­taug­li­che Lösungs­an­sät­ze anzu­bie­ten und wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Die aktu­el­le Kon­fe- renz ver­ste­he sich als Ein­la­dung, die Her­aus­for­de­run­gen früh­zei­tig und aktiv gemein­sam anzu­ge­hen. DHV-Prä­si- dent Pro­fes­sor Dr. Bern­hard Kem­pen und Pro­fes­sor Dr. Oli­ver Gün­ther, HRK-Vize­prä­si­dent für Gover­nan­ce, Leh­re und Stu­di­um, stell­ten in ihrer Begrü­ßung her­aus, dass Kon­flik­te über­all dort, wo Men­schen zusam­men­ar- bei­te­ten, unver­meid­bar sei­en. Auch und gera­de im Wis- sen­schafts­sys­tem habe es Macht­miss­brauch und Fehl-

1 Auf der Basis der Tagungs­vor­trä­ge und ‑dis­kus­sio­nen wur­de von den Ver­an­stal­ten­den die „Wup­per­ta­ler Erklä­rung zur ver­trau- ens­wür­di­gen Wis­sen­schafts­go­ver­nan­ce“ ver­ab­schie­det, in der
elf Grund­sät­ze für einen kon­struk­ti­ven und im Ein­klang mit rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en befind­li­chen Umgang mit Kon­flik- ten auf­ge­stellt wer­den (https://www.ihf.bayern.de/fileadmin/ user_upload/IHF/Veranstaltungen/Tagung_Governance_2023/

ver­hal­ten schon immer gege­ben; neu sei aller­dings, dass der dadurch ent­ste­hen­de Scha­den sowohl für Indi­vi­du­en als auch für das diver­ser gewor­de­ne Wis­sen­schafts­sys- tem als Pro­blem erkannt und the­ma­ti­siert wer­de. Das Ziel von Ver­än­de­run­gen müss­te sein, die Häu­fig­keit von Kon­flik­ten und Fehl­ver­hal­ten zu redu­zie­ren und den Umgang mit ihnen bewuss­ter zu gestalten.

I. Die Her­aus­for­de­run­gen verstehen

In ihrem Ein­füh­rungs­vor­trag knüpf­te die ehe­ma­li­ge Prä- siden­tin der Uni­ver­si­tät Pas­sau und Pro­fes­so­rin für Betriebs­wirt­schafts­leh­re mit Schwer­punkt Gover­nan­ce, Pro­fes­sor Dr. Clau­dia Jung­wirth, zunächst an die Ein­sich- ten aus der Vor­läu­fer­ta­gung „Absen­der unbe­kannt. Ver- fah­ren der Wis­sen­schaft zum Umgang mit anony­men Anschuldigungen“3 im Jahr 2020 an. Hier sei aus­ge­hend von der Her­aus­for­de­rung des Umgangs mit anony­men Mel­dun­gen von Fehl­ver­hal­ten — ins­be­son­de­re von Füh- rungs­fehl­ver­hal­ten — klar gewor­den, dass in der Wis­sen- schaft spe­zi­el­le Bedin­gun­gen für pro­fes­sio­nel­le Füh­rung und den Umgang mit Kon­flik­ten herrsch­ten, und dass Wis­sen­schafts­ein­rich­tun­gen anfäl­lig für beson­ders pro- ble­ma­ti­sche Kon­flikt­kon­stel­la­tio­nen und ‑ent­wick­lun- gen sei­en. Ins­be­son­de­re sei­en hier­für die unkla­ren Regel­sys­te­me ver­ant­wort­lich, eine man­geln­de Qua­li­täts- siche­rung in der Nach­wuchs­för­de­rung sowie die unzu- rei­chen­de Aus­bil­dung von Lei­tungs­per­so­nen in Füh- rungs- und Manage­ment­fä­hig­keit. Neben dem poten­ti- ellen Scha­den für die Per­so­nen sei auch der Scha­den für die Wis­sen­schaft als Insti­tu­ti­on zu beden­ken, für deren Leis­tungs­fä­hig­keit und Legi­ti­ma­ti­on das Ver­trau­en der Akteu­re in allen Berei­chen der Gesell­schaft unver­zicht- bar sei. Als Arbeits­grund­la­ge für die Tagung sei­en unter dem Begriff „Gover­nan­ce“ die Pro­zes­se, Regeln und Ver-

Wuppertaler_Erkl%C3%A4rung_29032023.pdf [zuletzt abgerufen

15.08.2023]).
2 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/koalitionsver-

trag-2021–1990800 [zuletzt abge­ru­fen 14.08.2023].
3 https://www.digital.uni-passau.de/beitraege/2020/tagung-absen-

der-unbe­kannt [zuletzt abge­ru­fen 14.05.2023].

Mai­ke Reimer

Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen — Kon­struk­ti­ver Umgang mit Kon­flik­ten und Vor­wür-fen. Bericht über die Tagung am 16. und 17.3.2023 an der Ber­gi­schen Uni­ver­si­tät Wup­per­tal1

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

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fah­ren zu ver­ste­hen, die eine Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on lei­ten und sicher­stel­len, dass das Orga­ni­sa­ti­ons­ziel effek- tiv und trans­pa­rent erreicht wird.

Pro­fes­sor Dr. Isa­bell Wel­pe, Lei­te­rin des IHF, setz­te den Ein­füh­rungs­vor­trag mit einer Ana­ly­se der Her­aus- for­de­run­gen von Gover­nan­ce in der Wis­sen­schaft im Hin­blick auf Kon­troll- und Qua­li­täts­si­che­rungs­an­sät­ze in For­schungs­or­ga­ni­sa­tio­nen fort. Sie stell­te her­aus, dass Ergeb­nis­se und Erfol­ge wis­sen­schaft­li­chen Arbei­tens nur schwer direkt und zwei­fels­frei zu mes­sen, zu bewer- ten und zuzu­rech­nen sei­en. Daher erhiel­ten die Mecha- nis­men der Pro­zess- und Input­kon­trol­le eine zen­tra­le Bedeu­tung, die die Aus­ge­stal­tung von Pro­zes­sen, Regeln und Ver­fah­ren der Per­so­nal­füh­rung sowie der Aus­wahl und Sozia­li­sa­ti­on von Per­so­nal betref­fen. Hier gebe es in der Wis­sen­schaft deut­li­chen Opti­mie­rungs­be­darf. Zwar gäl­ten all­ge­mei­ne Rechts‑, Ver­wal­tungs- und Per­so­nal- füh­rungs­stan­dards sowie in zuneh­men­dem Maße auch wis­sen­schafts­spe­zi­fi­sche Richt­li­ni­en (z.B. von Fach­ge- sell­schaf­ten, der DFG oder in den Sta­tu­ten ein­zel­ner Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen). Aller­dings sei­en sowohl inter­ne­al­sauch­ex­ter­ne­Lei­tungs-und­Auf­sichts­ebe­nen in Hoch­schu­len und For­schungs­or­ga­ni­sa­tio­nen häu­fig unzu­rei­chend getrennt, so dass unkla­re Zustän­dig­kei­ten sowie Inter­es­sen- und Rol­len­kon­flik­te die Umset­zung pro­fes­sio­nel­ler und leit­li­ni­en­ge­rech­ter Ver­fah­ren der Per­so­nal­re­kru­tie­rung und ‑füh­rung beein­träch­ti­gen. Ins­be­son­de­re sei pro­ble­ma­tisch, dass dies sys­te­ma­tisch die­je­ni­gen Mit­ar­bei­ten­den benach­tei­li­ge, die nicht in al- len Merk­ma­len der Norm der jewei­li­gen Ein­rich­tung ent­sprä­chen. Pro­fes­sor Dr. Wel­pe wies dar­auf hin, dass Fehl­ver­hal­ten und Macht­miss­brauch sich sowohl gegen jün­ge­re als auch gegen eta­blier­te Per­so­nen rich­ten kön­ne und emp­fahl, den Fokus von den indi­vi­du­el­len Per­so­nen zu neh­men und auf das Sys­tem der Akteu­re zu rich­ten, um sinn­vol­le und wis­sen­schafts­ad­äqua­te Ansät­ze für die Lösung der skiz­zier­ten Pro­ble­me zu entwickeln.

Im anschlie­ßen­den Bei­trag „Gover­nan­ce, gen­der and con­flict in rese­arch orga­ni­sa­ti­ons: A case stu­dy“ von Pro- fes­sor Dr. Nico­le Boi­vin beschrieb die ehe­ma­li­ge Direk­to- rin am MPI für Mensch­heits­ge­schich­te detail­liert den mehr­jäh­ri­gen Aus­ein­an­der­set­zungs­pro­zess mit ihrem Arbeit­ge­ber, der MPG, der zu ihrer Ent­las­sung als Direk- torin auf­grund von Vor­wür­fen des wis­sen­schaft­li­chen und nicht­wis­sen­schaft­li­chen Fehl­ver­hal­tens geführt hat- te. Dabei habe es zahl­rei­che Män­gel in den Ver­fah­ren ge- geben, die aller­dings auf­grund der hoch­pro­ble­ma­ti­schen Gover­nan­ce­struk­tu­ren der MPG und der feh­len­den ex-

4 https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/ gwp/ [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

ter­nen Auf­sicht kei­ne Kon­se­quen­zen gehabt hät­ten. Sie the­ma­ti­sier­te auch die Tat­sa­che, dass ähn­li­che Ent­las- sun­gen bzw. Rück­stu­fun­gen in der MPG vor allem Frau- en betrof­fen haben und dies auf einen im Sys­tem inhä- ren­ten Bias hinweise.

In der Dis­kus­si­on wur­de die Eta­blie­rung einer offe- nen Feh­ler­kul­tur, in der Kon­flikt­the­ma­ti­sie­rung und ‑bear­bei­tung als Stär­ke einer Orga­ni­sa­ti­on wahr­ge­nom- men wür­de, als wich­ti­ge Auf­ga­be der Füh­rung ange­spro- chen. Auch fal­le es in die Ver­ant­wor­tung der orga­ni­sa­ti- ona­len Füh­rungs­per­so­nen und ‑gre­mi­en, Fair­ness und Trans­pa­renz in inter­nen Ver­fah­ren zu wah­ren und ihre Mit­ar­bei­ten­den vor Mob­bing und Beläs­ti­gung zu schüt- zen. Ansprech­part­ner wie Ombuds­stel­len oder Gleich- stel­lungs­be­auf­trag­te sei­en in der Regel mit gerin­gen Res- sourcen aus­ge­stat­tet und ohne rea­le Durch­set­zungs- macht. Wei­ter­hin wur­de der Umstand, dass bis­her vor allem Frau­en aus Lei­tungs­po­si­tio­nen der MPG ent­fernt wor­den sei­en, in Zusam­men­hang mit den auf intrans­pa- ren­ten Netz­wer­ken basie­ren­den Macht­struk­tu­ren der Wis­sen­schaft gebracht, die män­ner­do­mi­niert sei­en und daher den Sta­tus Quo gegen Ver­än­de­run­gen verteidigten.

II. Per­spek­ti­ven auf die Herausforderungen

Im ers­ten von drei Impuls­vor­trä­ge leg­te Dr. Hei­de Ahrens, Gene­ral­se­kre­tä­rin der Deut­schen For­schungs­ge- mein­schaft (DFG), „Die Rol­le der DFG bei Hin­wei­sen auf Fehl­ver­hal­ten aus der Wis­sen­schaft“ dar. Hier sei­en zum einen die „Leit­li­ni­en zur Siche­rung guter wis­sen- schaft­li­cher Praxis“4 der DFG zu nen­nen, deren Umset- zung durch For­schungs­or­ga­ni­sa­tio­nen ab August 2023 Vor­aus­set­zung für eine Antrag­stel­lung bei er DFG sei, zum ande­ren die Eta­blie­rung des Gre­mi­ums „Ombuds- man für die Wissenschaft“5, das allen Wis­sen­schaft­le­rin- nen und Wis­sen­schaft­lern auch ohne Bezug zur DFG zur Bera­tung und Unter­stüt­zung in Fra­gen guter wis­sen- schaft­li­cher Pra­xis zur Ver­fü­gung ste­he. Sie beton­te auch, dass sich Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft- lern stär­ker als Füh­rungs­kräf­te in ihren For­schungs­teams und ver­ant­wort­li­che Vor­ge­setz­te ihrer Mit­ar­bei­ten­den begrei­fen müss­ten, und dass der Aspekt der Füh­rungs- kom­pe­tenz auch bei der Aus­wahl von Per­so­nal ein höhe- res Gewicht bekom­men soll­ten. Danach sprach Pro­fes­sor Dr. Tho­mas Krieg als Vize­prä­si­dent der Deut­schen Aka- demie der Natur­for­scher Leo­pol­di­na zu „Gover­nan­ce- Regeln für Aka­de­mien – Ori­en­tie­rungs­punk­te aus der

5 https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/ gwp/ombudsman/index.html [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

Rei­mer · Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen 2 4 5

Pra­xis der Leo­pol­di­na“. Die­se sei als Gelehr­ten­ge­sell- schaft in mehr­fa­cher Hin­sicht auf­ge­for­dert, die Fra­ge von Kon­flikt­be­ar­bei­tung und Fehl­ver­hal­ten zu adres­sie- ren: zum einen bei Fehl­ver­hal­ten der Aka­de­mie­mit­g­lie- der selbst oder in ihren For­schungs­teams, zum ande­ren in der Poli­tik­be­ra­tung. Hier­zu sei­en Struk­tu­ren und Ver- fah­rens­re­ge­lun­gen geschaf­fen worden6.

Der grund­le­gen­den Fra­ge, ob aus dem Com­pli­ance- Anspruch her­aus die Not­wen­dig­keit einer exter­nen Auf- sicht über Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen fol­ge, oder ob dies der aka­de­mi­schen Selbst­ver­wal­tung wider­sprä­che, wid­me­te sich Pro­fes­sor Dr. Sascha Herms, Fach­an­walt für Arbeits­recht und Pro­fes­sor an der Hoch­schu­le für Tech- nik und Wirt­schaft Ber­lin (HTW), unter dem Titel „An- mer­kun­gen und Beob­ach­tun­gen zur Gover­nan­ce aus recht­li­cher Sicht“ aus­ge­hend von der Wis­sen­schafts­frei- heit nach Arti­kel 5 des Grundgesetzes7. Die­se bedeu­te sowohl eine indi­vi­du­el­le Gewähr­leis­tung und den Schutz des wis­sen­schaft­li­chen Per­so­nals, als auch einen insti­tu- tio­nel­len Schutz­rah­men für For­schungs­ein­rich­tun­gen. Er gelang­te zu der Schluss­fol­ge­rung, dass Com­pli­ance im Wis­sen­schafts­sys­tem ohne exter­ne Auf­sicht nicht zu ver­wirk­li­chen sei und dass die staat­li­chen Finanz­ge­ber (d.h. das BMBF bzw. die zustän­di­gen Lan­des­mi- nis­te­ri­en) zur Wah­rung der Wis­sen­schafts­frei­heit ver- pflich­tet sei­en, die Auf­sicht selbst zu füh­ren oder an geeig­ne­te Drit­te zu über­tra­gen. Dies gel­te sowohl für Uni­ver­si­tä­ten als auch für aus­ser­uni­ver­si­tä­re Forschungsorganisationen.

Dar­an an schloss sich eine Panel­dis­kus­si­on mit Inge Bell, Jour­na­lis­tin und Grün­de­rin von Bell Con­sul­ting; Eli­za­ve­ta Bob­ko­va, der Spre­che­rin von N2 — Netz­werk von Pro­mo­vie­ren­den­netz­wer­ken und Dok­to­ran­din am MPI für ter­res­tri­sche Mikro­bio­lo­gie; Pro­fes­sor Dr. Dr. h. c. Ursu­la Kel­ler vom Insti­tut für Quan­ten­elek­tro- nik an der Eid­ge­nös­si­schen Tech­ni­schen Hoch­schu­le (ETH) Zürich sowie Pro­fes­sor Dr. Eric Stein­hau­er, dem Spre­cher von „Ombuds­man für die Wis­sen­schaft“ und Hono­rar­pro­fes­sor für Urhe­ber­recht und Biblio­theks- recht an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Ber­lin. Zunächst be- nann­ten die Panelis­ten die aus ihren jewei­li­gen Per­spek- tiven beson­ders star­ken Span­nungs­ver­hält­nis­se und He- raus­for­de­run­gen. Hier wur­den die gerin­ge Hand­lungs- macht von Ombuds­stel­len genannt, der hohe Erwar­tungs- und Publi­ka­ti­ons­druck auf Nach­wuchs­wis- sen­schaft­le­rin­nen und ‑wis­sen­schaft­ler, die viel­fach un- ein­ge­schränk­te Auto­no­mie von hoch­ran­gi­gen Wis­sen- schaft­lern und Wis­sen­schaft­le­rin­nen, denen kei­ne unab-

6 z.B. https://www.leopoldina.org/ueber-uns/ueber-die-leopoldina/ prae­si­di­um-und-gre­mi­en/­re­geln-fuer-den-umgang-mit-inte­res-

hän­gi­ge und pro­fes­sio­nel­le wis­sen­schafts­ad­äqua­te Ad- minis­tra­ti­on gegen­über ste­he, sowie der Wider­spruch zwi­schen der stark hier­ar­chi­schen, teil­wei­se an feu­da­le Sys­te­me erin­nern­den Macht­struk­tu­ren, die insti­tu­tio- nel­les Mob­bing begüns­ti­gen, und den Erwar­tun­gen ins- beson­de­re von jün­ge­ren Aka­de­mi­ke­rin­nen und Aka­de- mikern an Gleich­be­rech­ti­gung und Wertschätzung.

In der Dis­kus­si­on mög­li­cher Lösungs­an­sät­ze wur­den zunächst die Risi­ken und Chan­cen anony­mer Hin­wei­se auf Kon­flik­te oder Fehl­ver­hal­ten dis­ku­tiert. Die Mög- lich­keit, Kon­flik­te oder Fehl­ver­hal­ten anonym anzu­sp­re- chen, wur­de teil­wei­se für sinn­voll befun­den, wenn dies in objek­tiv nach­weis­ba­ren Fäl­len — etwa bei ein­deu­ti­gem wis­sen­schaft­li­chem Fehl­ver­hal­ten — einer Kon­flikt­bear- bei­tung nicht im Wege stün­de. Auch im Rah­men einer nied­rig­schwel­li­gen Bera­tung kön­ne Ver­trau­lich­keit zu- gesi­chert wer­den, eben­so im Rah­men reprä­sen­ta­ti­ver Sur­veys, die im Sin­ne eines Stim­mungs­bil­des Anhalts- punk­te für all­ge­mei­ne Pro­ble­me geben kön­nen. Wei­ter- hin sei es zwar mög­lich, dass Anony­mi­tät gezielt aus­ge- nutzt wür­de, um ande­ren zu scha­den, in der Rea­li­tät kom­me dies aber aus­ge­spro­chen sel­ten vor. Den­noch sei­en vie­le Kon­flik­te aus dem Schutz der Anony­mi­tät he- raus nicht ange­mes­sen zu bear­bei­ten, so dass eine offe­ne und trans­pa­ren­te Kon­flikt­be­ar­bei­tung selbst­ver­ständ­lich mög­lich sein müs­se, ohne dass die Betei­lig­ten Nach­tei­le für ihre Kar­rie­re befürch­ten müss­ten. Hier­von kön­ne im Rah­men der hier­ar­chi­schen, intrans­pa­ren­ten und auf in- for­mel­len Netz­wer­ken beru­hen­den Wis­sen­schaft der­zeit nicht aus­ge­gan­gen werden.

Als ein wich­ti­ger Ansatz­punkt für Ver­bes­se­run­gen wur­de eine Opti­mie­rung der Gover­nance­ver­fah­ren ge- nannt, die klar die Regeln und Erwar­tun­gen für die Zu- sam­men­ar­beit in der Wis­sen­schaft benen­nen und deren Ein­hal­tung über­wa­chen bzw. die Nicht­ein­hal­tung sank- tio­nie­ren müs­se. Die­se Regeln müss­ten von allen lei­ten- den Per­so­nen ver­in­ner­licht und aktiv gelebt wer­den, um der Viel­falt von mög­li­chen Pro­blem­kon­stel­la­tio­nen ge- recht wer­den zu kön­nen. Beson­ders her­vor­ge­ho­ben wur­de, dass häu­fig eine Auf­klä­rung nicht pri­mär am Feh­len von Mel­de­struk­tu­ren und ‑ver­fah­ren schei­te­re, son­dern viel­mehr dar­an, dass gel­ten­de selbst auf­er­leg­te Rege­lun­gen nicht durch­ge­setzt wer­den könn­ten. Auch beleg­tes Fehl­ver­hal­ten habe so kei­ne Kon­se­quen­zen, und es gebe kaum adäqua­te Gre­mi­en oder Ver­fah­ren, die­ses Durch­set­zungs­de­fi­zit zu bean­stan­den. Um durch eine Ver­än­de­rung der Gover­nan­ce „von oben“ einen grund­le- gen­den Kul­tur­wan­del anzu­sto­ßen, sei es aller­dings not-

senkonflikten/[zuletzt abge­ru­fen am 17.08.2023]. 7 Art. 5 Abs. 3 GG.

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wen­dig, dass durch die finan­zie­ren­den Minis­te­ri­en hand­fes­te mate­ri­el­le Anrei­ze gesetzt wür­den, indem Zie- le zur Gover­nan­ce und Com­pli­ance, Diver­si­ty und Gleich­stel­lung fest­ge­legt und die Ver­ga­be von Mit­teln an deren nach­weis­ba­rer Umset­zung geknüpft wür­den. Hin­ge­wie­sen wur­de auch auf die ungüns­ti­gen Aus­wir- kun­gen einer nicht zeit­ge­mäs­sen Vor­stel­lung, exzel­len­te Wis­sen­schaft beru­he vor allem auf fach­lich her­aus­ra­gen- den, „genia­len“ Ein­zel­per­so­nen, denen daher in jeder Hin­sicht mög­lichst freie Hand bei der Orga­ni­sa­ti­on ihrer For­schung gelas­sen wer­den müs­se. Die­se sowohl unter lei­ten­den For­schen­den als auch in der Admi­nis­tra­ti­on ver­brei­te­te Ansicht füh­re dazu, dass letz­te­re ihre Funk­ti- on nicht im Sin­ne eines Gegen­ge­wichts mit „Checks and Balan­ces“ zur wis­sen­schaft­li­chen Selbst­ver­wal­tung aus- übe, son­dern in ihren Dienst gestellt wür­de. In die­sem Zusam­men­hang wur­de auch die Abhän­gig­keit jun­ger Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler von ihren Betreu­en­den als Pro­blem genannt, sowie der Umstand dass die­se sich durch den hohen Zeit- und Leis­tungs- druck der wis­sen­schaft­li­chen Lauf­bahn kei­ner­lei Ver­zö- gerung leis­ten könn­ten und daher im Kon­flikt­fall eher klein bei­gä­ben oder aus dem Wis­sen­schafts­sys­tem aus- schie­den. Es gebe erfolg­rei­che Model­le für geteil­te Pro- movie­ren­den­be­treu­ung oder Rota­ti­ons­sys­te­me im In- und Aus­land, die sich auch in Deutsch­land stär­ker ver- brei­ten sollen.

III. Empi­ri­sche Daten

Zunächst stel­le Hang Liu, Spre­cher von PhD­net, der Dok­to­ran­den­or­ga­ni­sa­ti­on der MPG, sowie Dok­to­rand am MPI für Herz- und Lun­gen­for­schung, unter dem Titel „Con­flicts in Sci­ence: What we can know from doc- toral rese­ar­chers?” Ergeb­nis­se aus der aktu­el­len Bef­ra- gung unter MPG-Pro­mo­vie­ren­den vor, an der sich mit ca. 2.500 Ant­wor­ten­den etwa 50 Pro­zent der Ein­ge­la­de- nen auch betei­ligt hatten8. Die­ser seit 2009 eta­blier­te jähr­li­che Sur­vey, der seit 2019 ver­gleich­bar auch in den Nach­wuchs­or­ga­ni­sa­tio­nen der Helmholtz‑9 und Leib- niz-Gemein­schaf­t10 sowie an ein­zel­nen Uni­ver­si­tä­ten durch­ge­führt wird, betrifft unter ande­rem Arbeits­be­din- gun­gen, Zufrie­den­heit, Unter­stüt­zung und Betreu­ung, Kar­rie­re­ent­wick­lung, psy­chi­sche Gesund­heit, Wahr­neh- mung von Macht­miss­brauch sowie Gleich­be­rech­ti­gung. Herr Liu hob her­vor, dass um die 13 Pro­zent der Teilneh-

8 https://www.phdnet.mpg.de/survey [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

9 https://www.helmholtz.de/fileadmin/user_upload/06_jobs_talen- te/Helmholtz-Juniors/Survey_Report2019.pdf [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

men­den einen schwe­ren Kon­flikt mit einem Vor­ge­setz- ten erlebt hat­ten, die­sen aber nicht ein­mal in der Hälf­te der Fäl­le mel­de­ten — meist (auch) aus der Furcht vor beruf­li­chen Nach­tei­len, die sich dar­auf erge­ben könn­ten. Bemer­kens­wer­ter­wei­se sei­en die­se Mel­dun­gen deut­lich häu­fi­ger erfolgt, wenn es sich um Kon­flik­te mit einer weib­li­chen und/oder einer jün­ge­ren, erst seit kur­zem eta­blier­ten Füh­rungs­per­son gehan­delt habe.

Unter dem Titel „Impres­si­ons from the 2022 MPG Post- doc­Net Sur­vey“ gab Dr. Nicho­las Rus­sell, Gene­ral­sek­re- tär des Post­doc­Net der MPG und Post­doc am MPI für Pflan­zen­züch­tungs­for­schung, Ein­bli­cke in die Ergeb­nis- se einer ähn­li­chen Befra­gung, die 2022 unter allen post- gra­dua­len Mit­ar­bei­ten­den der MPG durch­ge­führt wur- de11. Her­vo­zu­he­ben sei, dass die Post­Docs der MPG in noch höhe­rem Aus­maß als die Pro­mo­vie­ren­den — näm- lich zu 75 Pro­zent — nicht aus Deutsch­land stamm­ten, und noch häu­fi­ger als die­se im Rah­men sehr kur­zer Ver- trag­s­lauf­zei­ten und unter hoher Unsi­cher­heit über die nach­fol­gen­den Kar­rie­re­op­tio­nen und teil­wei­se Auf­ent- halts­ge­neh­mi­gun­gen sowie unter hohem Leis­tungs- und Pro­duk­ti­vi­täts­druck arbei­te­ten. Inso­fern über­ra­sche es nicht, dass auch hier die von um die 30 Pro­zent erleb­ten unso­zia­len Ver­hal­tens­wei­sen vor allem aus Sor­ge über mög­li­che Nach­tei­le für die Kar­rie­re und eine Unkennt- nis der Mög­lich­kei­ten und Optio­nen sel­ten ange­spro- chen würden.

Zuletzt behan­del­ten Pro­fes­sor Dr. Isa­bell Wel­pe und Dr. Mai­ke Rei­mer, Lei­te­rin und wis­sen­schaft­li­che Refe- ren­tin des IHf, „The seni­or per­spec­ti­ve on con­flict, re- port­ing and gover­nan­ce“. Sie the­ma­ti­sier­ten zunächst metho­di­sche und empi­ri­sche Her­aus­for­de­run­gen in Be- zug auf Defi­ni­ti­on und Erhe­bungs­me­tho­den von zen­tra- len Kon­zep­ten wie „Kon­flikt“, „Fehl­ver­hal­ten“ oder „Mob­bing“. Der Fokus lag wei­ter­hin auf den Ergeb­nis­sen eines For­schungs­pro­jek­tes, in dem die Sicht lei­ten­der Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­lern aus der Phy­sik auf die Erfah­run­gen mit Kon­flik­te und Füh­rung in ihren im Rah­men von Inter­views unter­sucht wur­den. Als Kon­flikt­the­men sei­en zum einen wis­sen­schaft­li­che Aspek­te (z.B. Autor­schafts­kon­flik­te oder Pla­gia­te) ge- nannt wor­den, zum ande­ren Aspek­te des Arbeits­verhal- tens von Pro­mo­vie­ren­den oder Post­docs, etwa Arbeits- qua­li­tät, Unab­hän­gig­keit in der wis­sen­schaft­li­chen Ar- beit sowie Arbeits­hal­tung und ‑ein­stel­lung. Unter- stüt­zung inner­halb der Uni­ver­si­tät oder Forschungsein-

10 https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/69403 [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

11 https://www.postdocnet.mpg.de/134932/survey-2022; [zuletzt abge­ru­fen am 14.08.2023].

Rei­mer · Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen 2 4 7

rich­tun­gen sei in den sel­tens­ten Fäl­len gesucht wor­den, zum Teil, weil vor­han­de­ne Anlauf­stel­len sich als nicht zustän­dig betrach­te­ten, zum Teil aus dem Ein­druck her- aus, dass es kei­ne Unter­stüt­zungs­mög­lich­kei­ten für Pro- fes­so­rin­nen und Pro­fes­so­ren gebe. Die Inter­view­ten hät- ten häu­fig auch den eige­nen Füh­rungs­stil reflek­tiert und auf den Umstand ver­wie­sen, dass die Füh­rung eines Teams nicht Bestand­teil ihrer eige­nen Aus­bil­dung gewe- sen sei.

IV. Per­spek­ti­ven der Poli­tik, des Jour­na­lis­mus‘ und der Wirtschaft

In sei­nem Impuls­vor­trag „War­um das deut­sche Wis­sen- schafts­sys­tem eine so mise­ra­ble Gover­nan­ce betreibt – und was zu tun ist!“ emp­fahl Dr. h. c. Tho­mas Sat­tel­ber- ger, par­la­men­ta­ri­scher Staats­se­kre­tär a.D., aus der Pers- pek­ti­ve der Wis­sen­schafts­po­li­tik dem deut­schen Wis­sen­schafts­sys­tem einen unab­hän­gi­gen Sys­tem Review, um die Per­so­nal- und Orga­ni­sa­ti­ons­füh­rung wis­sen­schafts­ad­äquat zu moder­ni­sie­ren. Dabei sei von allen Akteu­ren anzu­er­ken­nen, dass her­vor­ra­gen­de Wis- sen­schaft­le­rin­nen bzw. Wis­sen­schaft­ler in der Regel nicht auch pro­fes­sio­nell und kom­pe­tent in der Füh­rung von Orga­ni­sa­tio­nen und Mit­ar­bei­ten­den sei­en, und hier­zu auch kei­ner­lei Aus­bil­dung erfüh­ren. Wich­tig sei dabei, die Spiel­räu­me für oppor­tu­nis­ti­sches Ver­hal­ten ein­zu­schrän­ken und die Wis­sen­schafts­ad­mi­nis­tra­ti­on per­so­nell und pro­fes­sio­nell aufzuwerten.

Kris­tin Haug, Jour­na­lis­tin beim SPIEGEL, erläu­ter­te in ihrem Bei­trag „Bericht­erstat­tung über Macht­miss- brauch an Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich­tun­gen“, dass von Macht­miss­brauch betrof­fe­ne Nach­wuchs­wis- sen­schaft­le­rin­nen und ‑wis­sen­schaft­ler häu­fig von sich aus Kon­takt mit Jour­na­lis­tin­nen oder Jour­na­lis­ten auf- näh­men, da sie in einer aus ihrer Sicht aus­weg­lo­sen Situ- ati­on kei­ne ande­re Unter­stüt­zung fin­den könn­ten. Dies gesche­he auch häu­fig in Reak­ti­on auf eine bereits erfolg- te Bericht­erstat­tung zum The­ma. Wäh­rend der Recher- che wür­den die­se meist psy­chisch stark belas­te­ten Per­so- nen grund­sätz­lich ernst genom­men, ihre Aus­sa­gen aber auch hin­ter­fragt und vor einer Ver­öf­fent­li­chung durch wei­te­re Recher­chen gestützt. Hier sei aller­dings anzu- mer­ken, dass sich mög­li­che Zeu­gen, betrof­fe­ne Orga­ni- satio­nen und Pro­fes­so­rin­nen bzw. Pro­fes­so­ren der Pres- se gegen­über häu­fig nicht äußern möch­ten, so dass er- gän­zen­de oder kon­tras­tie­ren­de Per­spek­ti­ven denen der

Hin­weis­ge­ben­den nicht immer im wün­schens­wer­ten Maß gegen­über­ge­stellt wer­den könnten.

Hau­ke Paasch, Mit­glied im Vor­stand der Fir­ma Vor- werk, beschrieb aus der Per­spek­ti­ve der Wirt­schaft unter dem Titel „Gover­nan­ce @ Vor­werk — Gover­nan­ce in ei- nem Fami­li­en­un­ter­neh­men“, wie sich ähn­li­che Her­aus- for­de­run­gen in sei­nem Unter­neh­men dar­stell­ten und wel­che Ansät­ze hier zur Lösung ein­ge­setzt wür­den. Bei der Ver­fah­rens­ge­stal­tung und ‑opti­mie­rung müs­se stets zunächst die Leit­fra­ge „Wo lie­gen (aktu­ell) die größ­ten Com­pli­ance-Risi­ken für mei­ne Orga­ni­sa­ti­on?“ geklärt und dann geeig­ne­te Maß­nah­men umge­setzt wer­den. Im Bereich der Unter­neh­mens­kul­tur und des Umgangs mit- ein­an­der sei stets der bzw. die jewei­li­ge Vor­ge­setz­te für das Arbeits­kli­ma in sei­nem Team ver­ant­wort­lich, und bezüg­lich Fehl­ver­hal­tens gel­te eine kla­re Linie der „Null- Tole­ranz“. Idea­ler­wei­se sei Anony­mi­tät in der Kon­flikt- bear­bei­tung nicht nötig; das Unter­neh­men koope­rie­re aber mit einer exter­nen unab­hän­gi­gen Mel­de­stel­le, an die sich Mit­ar­bei­ten­de auch anonym mit Hin­wei­sen auf pro­ble­ma­ti­sche Vor­gän­ge wen­den könnten.

In der anschlie­ßen­den Dis­kus­si­on wur­de die Fra­ge nach dem Zusam­men­hang von Gover­nan­ce und wis­sen- schaft­li­cher Qua­li­tät bzw. Exzel­lenz auf­ge­wor­fen. Zu Unrecht wer­de häu­fig argu­men­tiert, dass Maß­nah­men zur För­de­rung eines bes­se­ren Umgangs mit Mit­ar­bei­ten- den, zur Gleich­stel­lung von Frau­en und Män­nern oder zu einer stär­ke­ren Kon­trol­le von For­schungs­or­ga­ni­sa­tio- nen die wis­sen­schaft­li­che Exzel­lenz gefähr­de­ten. Im Ge- gen­teil sei­en es viel­mehr die intrans­pa­ren­ten und dis­kri- minie­ren­den Füh­rungs­sys­te­me, die her­aus­ra­gen­de jun­ge Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler aus aller Welt abschreck­ten und so selbst Inno­va­ti­ons­kraft und Er- kennt­nis­ge­winn der deut­schen Wis­sen­schaft beein­träch- tigen. Erfor­der­lich sei auch ein höhe­res Maß an Selbst­re- flek­ti­on lei­ten­der Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen- schaft­ler, damit sich die­se der Dis­kre­panz zwi­schen ihrer Eigen­wahr­neh­mung als „Leben für die For­schung“ und der Fremd­wahr­neh­mung „Aus­beu­tung und schlech­te Arbeits­be­din­gun­gen“ bewusst wür­den. Als wich­tig für den Erfolg aller Lösungs­an­sät­ze wur­de auch her­vor­ge- hoben, dass jeweils klar zu defi­nie­ren sei, wel­che Her­aus- for­de­run­gen Prio­ri­tät hät­ten und wel­cher Ansatz bzw. wel­ches Instru­ment für ein kon­kre­tes Pro­blem sinn­voll sei. Etwa kämen man­geln­de Diver­si­tät einer­seits und Macht­miss­brauch ande­rer­seits auf unter­schied­li­chen Wegen zustan­de und müss­ten durch unterschiedliche,

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wenn auch abge­stimm­te, Maß­nah­men adres­siert werden.

V. Lösungs­an­sät­ze

Kers­tin Düb­ner-Gee, Lei­te­rin der Abtei­lung Per­so­nalent- wick­lung & Chan­cen der MPG, stell­te in ihrem Vor­trag „Ver­ant­wort­li­che Füh­rung in Hoch­leis­tungs­or­ga­ni­sa­tio- nen“ die seit 2019 neu ent­wi­ckel­ten Pro­gram­me und Maß­nah­men für Füh­rungs­kräf­te in der MPG vor. Zum einen sei­en dies struk­tu­rel­le Maß­nah­men, die auf eine nach­hal­ti­ge Ver­bes­se­rung der Arbeits­kul­tur durch ein regel­mä­ßi­ges Feed­back und Moni­to­ring abzie­len, so dass die ein­zel­nen Insti­tu­te ihre jewei­lig wich­tigs­ten Hand- lungs­fel­der iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Wei­te­re Maß­nah­men beträ­fen die bes­se­re Sicht­bar­keit und Ver­net­zung kon- flikt­prä­ven­ti­ver und ‑bear­bei­ten­der Stel­len sowie die Ein­füh­rung spe­zi­ell geschul­ter Kon­flikt­lot­sen, die nied- rig­schwel­lig und bereits im Vor­feld einer Eska­la­ti­on eine kol­le­gia­le Lösung von Kon­flik­ten unter­stütz­ten. Par­al­lel dazu wer­de die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der Füh­rungs­kräf­te (Direk­to­rin­nen und Direk­to­ren sowie For­schungs­grup- pen­lei­tun­gen) durch einen Code of Con­duct und des­sen ver­bind­li­che Imple­men­tie­rung im Arbeits­all­tag ange- strebt, inklu­si­ve der obli­ga­to­ri­schen Schu­lung und Men- toring neu ein­tre­ten­der Füh­rungs­kräf­te, damit die­se ihre wis­sen­schaft­li­chen Exzel­lenz­an­sprü­che mit ver­ant­wor- tungs­vol­lem und pro­fes­sio­nel­lem Füh­rungs­ver­hal­ten in Ein­klang brin­gen kön­nen. Zuletzt sei eine Ver­bes­se­rung der Arbeits­be­din­gun­gen und eine insti­tu­tio­na­li­sier­te Kar­rie­re­för­de­rung von Pro­mo­vie­ren­den und Post­Docs in Anpas­sung an inter­na­tio­na­le Stan­dards ein­ge­führt worden.

Kom­ple­men­tär dazu stell­te Katha­ri­na Klein­lein, eine frü­he­re Mit­ar­bei­te­rin an einem Max-Planck-Insti­tut, in ihrem Vor­trag „Case stu­dy on sci­en­ti­fic gover­nan­ce: What (not) to do“ Erfah­run­gen aus ihrer eini­ge Jah­re zu- rück­lie­gen­den Pro­mo­ti­ons­zeit vor. Sie und meh­re­re an- dere von Kon­flik­ten und Fehl­ver­hal­ten Betrof­fe­ne hät­ten unter 30 mög­li­chen Anlauf­stel­len des For­schungs­in­s­ti- tuts, der For­schungs­ge­sell­schaft, der Uni­ver­si­tät oder dem Clus­ter aus­wäh­len kön­nen; dar­un­ter Kon­flikt­be­ra- ter, Gleich­stel­lungs­be­auf­tra­ge, Ombuds­per­so­nen, An- walts­kanz­lei­en und Diver­si­täts­be­auf­trag­te, teil­wei­se auch auf Lei­tungs­ebe­ne. Eini­ge Stel­len sei­en sehr ver- ständ­nis­voll gewe­sen, hät­ten aber kei­ne wir­kungs­vol­len Unter­stüt­zung anbie­ten kön­nen; hin­ge­gen habe das Ge- spräch mit Lei­tungs­per­so­nen dazu geführt, dass zuge- sag­te Ver­trau­lich­kei­ten nicht ein­ge­hal­ten wor­den sei­en und der Rat erfolgt sei, die Zustän­de zu akzep­tie­ren und

nichts wei­ter zu unter­neh­men, um die eige­ne Kar­rie­re nicht zu gefähr­den. Als Lösungs­an­sät­ze for­der­te sie, ne- ben der Reduk­ti­on von Abhän­gig­kei­ten des wis­sen- schaft­li­chen Nach­wuch­ses von ihren unmit­tel­ba­ren Vor- gesetz­ten, auch ver­bes­ser­te exter­ne Regu­la­ti­ons­me­cha- nis­men sowie eine bes­se­re Aus­bil­dung von Wis­sen- schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­lern in Bezug auf ihre Füh­rungs- und Vorgesetztenrollen.

Inge Bell, Jour­na­lis­tin und Grün­de­rin von Bell Con- sul­ting, adres­sier­te in ihrem Vor­tag „Alles Zicken oder was?! War­um es Fair­ness für Frau­en und muti­ge Män­ner braucht“ ins­be­son­de­re den Aspekt der kon­struk­ti­ven Zusam­men­ar­beit der Geschlech­ter in der Wis­sen­schaft. Die­se sei eine tra­di­ti­ons­rei­che „Bran­che“ mit jahrhun- der­te­lan­ger Geschich­te, die stark von Hier­ar­chie, Auto­ri- tät und Macht gekenn­zeich­net und über die meis­te Zeit aus­schließ­lich von Män­nern ähn­li­chen Hin­ter­grun­des gestal­tet wor­den sei. Dies ver­trü­ge sich schlecht mit den Anfor­de­run­gen einer moder­nen Wis­sen­schaft, die von der kon­struk­ti­ven Zusam­men­ar­beit unter­schied­lichs­ter Per­so­nen lebe. Oft­mals ver­lie­ßen daher Men­schen mit hohem Poten­ti­al das Sys­tem, da erwar­te­te Gleich­heit bei erleb­ter Ungleich­heit für Ent­täu­schung sor­ge. Um das Ver­trau­en der Mit­glie­der in die Orga­ni­sa­ti­on zu erhal- ten, sei das Empower­ment sowohl von Män­nern als auch von Frau­en auf allen Ebe­nen und eine „Lea­der­ship“ er- for­der­lich, die eine bedin­gungs­lo­se kla­re Hal­tung in Be- zug auf jeg­li­che Art von Fehl­ver­hal­ten ver­tre­te. Wei­ter- hin sei auf allen Ebe­nen eine geleb­te Zivil­cou­ra­ge von „Ver­bün­de­ten“ erfor­der­lich, die als nicht betrof­fe­ne Zeu- gen von Fehl­ver­hal­ten die Betrof­fe­nen unter­stütz­ten und ihre Beob­ach­tun­gen öffent­lich machten.

Auch Dr. Nor­bert Sack, pro­mo­vier­ter Phy­si­ker und auf Hoch­schu­len und For­schungs­ein­rich­tun­gen spe­zia­li- sier­ter Per­so­nal­be­ra­ter, fokus­sier­te aus sei­ner lang­jähri- gen Bera­tungs­pra­xis auf „Gen­der-Aspek­te in Hoch­schul- Lea­der­ship & Gover­nan­ce“ und stell­te die Fra­ge, wel­che Aspek­te in der deut­schen Hoch­schul-Gover­nan­ce es weib­li­chen Füh­rungs­per­so­nen erschwer­ten, erfolg­reich zu wer­den und zu blei­ben. Sei­ner Beob­ach­tung nach sei die Füh­rung in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen deut­lich anspruchs­vol­ler als in ver­gleich­bar gro­ßen Unter­neh- men, da es sich um „hoch­neu­ro­ti­sche Gebil­de mit einer teil­dys­funk­tio­na­len Schön­wet­ter-Gover­nan­ce“ han­de­le, die durch eine hohe insti­tu­tio­nel­le Kom­ple­xi­tät, das Prin­zip der Frei­heit der Wis­sen­schaft, die öffent­lich- recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen sowie ein feh­len­des bzw. schwa­ches mitt­le­res Manage­ment cha­rak­te­ri­siert sei­en. In den Struk­tu­ren der aka­de­mi­schen Selbst­ver- wal­tung sei­en bestimm­te sinn­vol­le, weib­lich konnotierte

Rei­mer · Gover­nan­ce in Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen 2 4 9

Füh­rungs­ver­hal­tens­wei­sen (etwa eine stär­ke­re Inhalts- und Gemein­wohl­ori­en­tie­rung und eine sach­li­che­re, we- niger über Bezie­hungs­netz­wer­ke lau­fen­de Füh­rung) häu­fig weni­ger erfolg­reich. Dies sei dar­auf zurück­zu­füh- ren, dass die Auf­sicht sich weni­ger an kla­ren Zie­len und Ziel­vor­ga­ben ori­en­tie­re und in den basis­de­mo­kra­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen star­ke Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen wirk­sam sei­en. Ent­schei­dun­gen wür­den oft weni­ger durch sach­li­che Argu­men­te bestimmt, son­dern durch stra­te­gi­sche Alli­an­zen und Ver­spre­chun­gen an Schlüs- sel­per­so­nen. Lösungs­an­sät­ze sei­en hier vor allem eine wei­te­re Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der Auf­sicht, eine Stär­kung der Manage­ment­struk­tu­ren sowie eine stär­ke­re Aus­rich- tung von Ent­schei­dun­gen an der Zukunfts­fä­hig­keit der Organisation.

In ihrem Schluss­wort stell­te Pro­fes­sor Dr. Bir­git­ta Wolff fest, dass auf der Kon­fe­renz zum einen gezeigt wor- den sei, dass die Wis­sen­schaft als Sys­tem und Orga­ni­sa- tion eine gro­ße Her­aus­for­de­rung für fai­re, trans­pa­ren­te und jus­ti­zia­ble Gover­nan­ce­struk­tu­ren und ‑ver­fah­ren dar­stel­le, und es auf­grund der Selbst­er­hal­tungs­ten­den- zen des Sys­tems nicht zu erwar­ten sei, dass sich Struk­tu- ren und Ver­fah­ren von selbst ändern und ver­bes­sern wür­den. Zum ande­ren sei­en zahl­rei­che viel­ver­spre­chen- de Über­le­gun­gen und Ansät­ze für eine Optimierung

und zukunfts­fä­hi­ge Gestal­tung aus­ge­spro­chen enga­giert und kon­struk­tiv dis­ku­tiert wor­den. Hier sei eine her­vor- ragen­de Basis für wei­te­re Ent­wick­lun­gen und Opti­mie- run­gen des Sys­tems zu erken­nen, die hof­fent­lich wei­te­re Früch­te tra­gen wer­de. Beson­ders wich­tig sei in der Zu- kunft, kla­re Pro­blem­ana­ly­sen anzu­stel­len und dar­auf ab- gestimm­te, evi­denz­ba­sier­te Lösungs­stra­te­gien zu ent­wi- ckeln. Dabei sei es erfor­der­lich, bei ein­zel­nen, für Ände- run­gen moti­vier­ten Akteu­ren zu begin­nen und ande­re über nach­ge­wie­se­ne erziel­te Erfol­ge zu moti­vie­ren. Sie wün­sche sich einen „Werk­zeug­kas­ten“ von Gover­nan­ce- und Füh­rungs­in­stru­men­ten, deren Wirk­sam­keit für wis- sen­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen empi­risch geprüft sei. Hier­zu kön­ne die Gover­nance­for­schung bereits viel bei- tra­gen, es sei­en aber noch zahl­rei­che For­schungs­fra­gen offen. Beson­ders viel­ver­spre­chend sei der Ansatz, pro­be- wei­se in Real­la­bo­ren ein­ge­führ­te Maß­nah­men rigo­ros zu eva­lu­ie­ren und ggf. auch wie­der zu been­den, wenn die­se die ange­streb­ten Zie­le nicht erreichten.

Mai­ke Rei­mer ist als wis­sen­schaft­li­che Refe­ren­tin am Baye­ri­schen Staats­in­sti­tut für Hoch­schul­for­schung und Hoch­schul­pla­nung in Mün­chen. Sie nahm an der Kon­fe­renz als Vor­tra­gen­de und Mit-Orga­ni­sa­to­rin teil.

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