I. Eine Bestandsaufnahme: 12 Jahre in Recht und Wirklichkeit
1. Drohender Wirkungsverlust des Rechts: Die normative Kraft des Faktischen
2. Gesetzgebung – Verlorener Wettlauf mit der Realität? 3. Rechtsprechung – In 12 Jahren zum Recht?
4. Rechtsumsetzung
5. Juristenausbildung – Nach 12 Jahren qualifiziert?
6. Zwischenergebnis
II. Verstärkende Faktoren
1. Zunehmende Komplexität
a) Komplexität auf der Sachverhaltsebene b) Komplexität auf der Rechtsebene
c) Folgen der Komplexität
2. Keine Abhilfe durch Technologieeinsatz
3. Unattraktivität der klassischen juristischen Berufe
4. Kultur und Selbstverständnis von Jurist*innen
5. Negative Synergien
6. Zwischenergebnis: Der Rechtsstaat in einer Abwärtsspirale
III. Dem Steuerungsverlust des Rechts begegnen 1. Das Ziel: Der Rechtsstaat als Standortfaktor 2. Modernisierung der juristischen Ausbildung 3. Netzwerke schaffen und fördern
4. Durchlässigkeit und Interdisziplinarität stärken 5. Fehler- und Lernkultur etablieren
6. Digitalisierung des Rechts
7. Wandel der Rechtskultur
IV. Fazit: Das Recht zwischen Kontinuität und Adaption
Stellt man sich das Leben im Jahr 2035 vor, werden Tech- nologien im Einsatz sein, die den Alltag weitgehend digi- talisieren, automatisieren und vernetzen. Nahezu alles und jeder wird Daten erheben und gleichzeitig Gegen- stand von Datenerhebung sein. Vernetzung erschließt Potentiale, durch die heute noch unbekannte Erkennt- nisse erlangt werden, die die Kraft haben, Gesellschaft, Staat und Wirtschaft grundlegend zu verändern.1 Neue Geschäftsmodelle werden entstehen, möglicherweise setzt sich der Trend zu mehr Individualisierung fort,
* Die Autorin dankt Kathrin Walther für die Erstellung der Grafik sowie Zoe Nogai für die Anregung aus einer rechtswissenschaftli- chen Perspektive auf das Jahr 2035 zu blicken.
vielleicht nimmt aber auch die Gemeinschaft einen grö- ßeren Stellenwert gegenüber dem Individuum ein, erle- ben wir eine ungeahnte Partizipation – wir wissen es noch nicht.
Was wir jedoch wissen: Das Leben wird schneller und komplexer, nicht nur der technologische Fortschritt, auch Klimakrise und Kriege werden unsere Gesellschaft weiter herausfordern. Der Erfassung und Verarbeitung von Daten wird dabei eine noch größere Bedeutung zu- kommen und die Weichen, die unsere Zukunft bestim- men, werden bereits jetzt gestellt. Denn längst hat der Wettlauf um die (digitale) Souveränität der Staaten, die Verteilung von Ressourcen, den Aufbau benötigter Inf- rastruktur und das Schaffen von innovationsfreundli- chen, aber sicheren bzw. „gerechten“ Datenräumen begonnen.
Einen der wichtigsten Hebel bietet dabei das Recht. Wie wir unseren Rechtsstaat gestalten, somit neues Recht schaffen, bestehendes anpassen und in Rechtspre- chung und Rechtsanwendung auf die wechselnden He- rausforderungen reagieren, wird entscheidend dafür sein, ob es uns gelingt, mit dem Wandel in Technologie und Gesellschaft mitzuhalten. Bei alledem darf indes nicht vergessen werden: Egal wie „gut“ das Recht objek- tiv an die Wirklichkeit in der Zukunft angepasst sein wird, es wird ohne uns Menschen nicht funktionieren. Einerseits ist der Faktor Mensch entscheidend, wenn es um die Akzeptanz und Legitimität des Rechtsstaates geht. Andererseits müssen auch die Jurist*innen in den Wandel einbezogen werden. Denn sie wenden das Recht tagtäglich an und sind entscheidend an dessen Weiter- entwicklung beteiligt. Ohne sie wird der notwendige In- teressenausgleich kaum gelingen.
Bis zum Jahr 2035 sind es von heute an zwölf Jahre. Was zwölf Jahre in der Technologieentwicklung bedeu- ten, kann man erahnen, wenn man zurückblickt, was „Stand der Technik“ in den Jahren 2011 und 1999 war. Schaut man sich demgegenüber die Rechtsentwicklung an, ist ein Jahrzehnt schneller vergangen, als man von ei-
Sodan/Möstl, Staatsrecht, München, 2022, § 121 Rn. 2 sprechen von den „größten Umwälzungen der Menschheitsgeschichte“, die sie mit den „Disruptionsfaktoren Eindringlichkeit, Sprengkraft, Geschwindigkeit und Unmerklichkeit“ bemessen.
1 Heckmann/Paschke, Digitalisierung und Grundrechte, in: Stern/
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
Sarah Rachut
Recht ohne Wirklichkeit?
Ein rechtswissenschaftlicher Ausblick ins Jahr 2035*
192 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208
nem Fortschritt gesetzlicher Anpassung an die Lebens- wirklichkeit sprechen kann. Während elektronische Kommunikation im privaten und beruflichen Umfeld seit Jahren Standard ist und sowohl Waren als auch Dienstleistungen bequem online bestellt bzw. gebucht werden können, ist dies bei staatlichen Verwaltungsan- geboten weiterhin die Ausnahme. So wurde zum Bei- spiel 2003 erstmals durch eine Ergänzung des Verwal- tungsverfahrensgesetzes geregelt, dass elektronische Kommunikation zwischen Bürger*innen und Verwal- tung überhaupt zulässig ist – zunächst nur auf freiwilli- ger Basis aller Beteiligten.2 Zehn Jahre später sah das E‑Government-Gesetz des Bundes dann eine Pflicht des Staates zu elektronischer Kommunikation vor3 und durch das Online-Zugangs-Gesetz (OZG)4 sollte er- reicht werden, dass bis Ende des Jahres 2022 eine nen- nenswerte Anzahl an staatlichen Leistungen auch elekt- ronisch zur Verfügung steht. Nachdem letzteres nicht gelungen ist, gibt es nun 2023 einen neuen Anlauf zur ge- setzlichen Umsetzung der Verwaltungsdigitalisierung („OZG 2.0“).5
Um zu verstehen, warum Recht und (technologische) Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen, muss man nä- her betrachten, wie Recht (im Sinne von Rechtsanwen- dung, Rechtsetzung, Rechtsprechung, aber auch juristi- scher Ausbildung) funktioniert und warum dieses mit der Technologieentwicklung nicht mithalten kann – vielleicht auch gar nicht muss. Am Ende lässt sich mög- licherweise eine Prognose wagen, wohin uns dieser Spa- gat von Recht und Technik im Jahr 2035 führen kann.
I. Eine Bestandsaufnahme: 12 Jahre in Recht und Wirklichkeit
Unabhängig davon, wie rasant die Technologieentwick- lung in den nächsten zwölf Jahren sein mag: das Recht dürfte der Wirklichkeit immer hinterherhinken. Anschaulich wird dies insbesondere beim Blick auf die Verfahrensdauer gerichtlicher Entscheidungen. Bis ein Streit rechtskräftig entschieden ist, gehen oftmals meh- rere Jahre vorbei.6 Bis dahin ist der persönliche Groll vielleicht schon verflogen, das Leben weiter gegangen und der eigentliche Streitpunkt nicht mehr als eine
- 2 Heckmann, E‑Government im Verwaltungsalltag, in: Kommu- nikation & Recht, 2003, S. 425 ff.; Roßnagel, Das elektronische Verwaltungsverfahren. Das Dritte Verwaltungsverfahrensände- rungsgesetz, in: NJW 2003, 469 ff.
- 3 Habammer/Denkhaus, Das E‑Government-Gesetz des Bundes. Inhalt und erste Bewertung – Gelungener Rechtsrahmen für elekt- ronische Verwaltung?, in: Multimedia und Recht, 2013, S. 358 ff.
- 4 Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleis- tungen v. 14.8.17 (BGBl. 2017 I, S. 3122), zul. geändert am 28.6.21
unschöne Erinnerung. Und ging es bei dem Rechtsstreit um eine Technologie, ist diese während des Gangs durch die Instanzen oft gealtert. Ebenso scheinen Rechtset- zung, Rechtsanwendung und Rechtsausbildung einem anderen Takt zu folgen, als man dies aus anderen Berei- chen des Lebens gewohnt ist. Fraglich ist, wie sich dies mit den vor allem durch die digitale Transformation her- vorgerufenen Herausforderungen verträgt.
Das Recht erfüllt dabei innerhalb von Staat und Ge- sellschaft verschiedene Funktionen, sichert in erste Linie das friedliche Zusammenleben und schützt die Freiheit jedes Einzelnen. Durch die rechtsstaatlichen Vorgaben wird im Interesse aller sichergestellt, dass ein fairer Inte- ressenausgleich stattfindet, Minderheiten geschützt und Machtungleichgewichte ausgeglichen werden. Ein sol- cher Rechtsstaat ist transparent und vorhersehbar. Wel- che abstrakten Rechte und Positionen dabei als grundle- gend erachtet werden und wie der Staat aufgebaut ist, er- gibt sich im deutschen Recht aus dem Grundgesetz. Die- sen abstrakten Regelungen liegt das gesamtgesellschaftliche Werteverständnis zugrunde, welches sich durchaus im Laufe der Zeit wandeln kann. Was heute als gerecht empfunden wird, muss es in zwölf Jahren nicht mehr sein. Kontinuierliche Veränderungen tatsächlicher Umstände (z.B. die Entwicklung und Ein- führung neuer Technologien oder das Entstehen von Be- drohungslagen)wirkensichzumindestmittelbaraufdie Gesellschaft und die Vorstellung des Miteinanders aus und sind damit u.a. Gegenstand der soziologischen For- schung.7 Das Recht muss entsprechend auf solche tat- sächlichen und gesellschaftlichen Änderungen regieren. Einerseits kann allein der Wandel der Wertvorstellungen dazu führen, dass bisher als gerecht empfundene Rege- lungen nun als ungerecht erachtet werden (z.B. bei der rechtlichen Unterscheidung zwischen gleichgeschlecht- lichen und nicht-gleichgeschlechtlichen Partnerschaf- ten), andererseits können sich aufgrund tatsächlicher Änderungen neue Gefahren oder Risiken ergeben, für die bisher keine (gerechten) Regelungen existieren. Ge- rade durch die digitale Transformation und die aktuellen globalen bzw. bevorstehenden Herausforderungen be- steht die Möglichkeit von Interessen- und damit Macht- verschiebungen. Diese wiederum bergen das Risiko, dass
(BGBl. 2021 I, S. 2250).
5 Schuster, MMR-Aktuell 2023, 455784.
6 Fobbe hat hierzu eine umfassende Auswertung der Verfahrensdau-
er an deutschen Gerichten, u.a. dem BVerfG vorgenommen. Die
Datensätze sind hier abrufbar: https://zenodo.org/record/7133364. 7 Friedmann, Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaf-
ten, 1981; vgl. auch exemplarisch Tamm, Rechtsevolution — darge- stellt am Beispiel des Verbraucherrechts, KJ 2013, 52 ff.
sich künftig vermehrt Individualinteressen gegenüber dem allgemeinen Wertverständnis durchsetzen. Aufgabe des Rechts ist es daher auch, diese Entwicklungen zu überblicken und diesen entgegenzusteuern. Hierbei gilt es beispielsweise, die soziotechnischen Folgen zu er- gründen und auf diese zu reagieren, um so auch zukünf- tig (Rechts-)Frieden und die Wirksamkeit der Grund- rechte – mithin unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von einem gerechten Zusammenleben – zu gewährleisten.
1. Drohender Wirkungsverlust des Rechts: Die normati- ve Kraft des Faktischen
Geschieht dies nicht – verliert das Recht somit seine Wirk- und Steuerungskraft – kommt die Macht, Regeln zu setzen und somit normativ zu wirken, anderen zu. Hierbei wird die normative Kraft des Faktischen8 rele- vant: Diese beruht nicht auf einem gesamtgesellschaftli- chen Werteverständnis, sondern ist vielmehr Ergebnis bestehender rechtlicher Lücken oder „Grauzonen“, wel- che das Schaffen von Tatsachen, „dem Faktischen“, ermöglichen. Wie sich die normative Kraft des Fakti- schen auch in einem vermeintlich durchnormierten Rechtsstaat ausbreiten kann, zeigt z.B. das Handeln des Unternehmens Uber Technologies Inc.9 Der von Uber angebotene Fahrdienst umfasst verschiedenen Beförde- rungsmodelle, die stetig ergänzt oder verändert werden. Die Personenbeförderung, die durch Kund*innen direkt über die Uber-App gebucht wird, erfolgt hierbei durch Privatpersonen mit ihren eigenen Fahrzeugen. Durch Uber wird lediglich die Plattform bereitgestellt, die ihrer- seits Netzwerkeffekte nutzt. Das Interesse des Unterneh- mens Uber besteht darin, eine möglichst große Zahl von Personen an sich zu binden. Dabei hat es die Macht, ein- seitig die Regeln der Beförderung zu bestimmen und diese jederzeit anzupassen und somit auch unmittelbar oder mittelbar bestimmte Personen(-gruppen) von sei- nem Mobilitätsangebot auszuschließen.
Rechtlich unterliegt Uber mit seinem Fahrdienst den Regelungen des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG), das das Einhalten bestimmter Mindeststandards hin-
- 8 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin, 1929, S. 341 ff.
- 9 Rachut, Polizeibeamte als Personenbeförderer – Genehmigungsfä-higkeit einer Nebentätigkeit als Uber-Fahrer, in: ZBR 2021, 29 ff.
- 10 Rachut, ZBR 2021, S. 29 f. m. w. N.
- 11 OLG Frankfurt, Urt. v. 20.5.21 – 6 U 18/20 = GRUR 2022, 98; Bay-VerfGH, Beschl. v. 26.4.21 – 11 ZB 20.2076 = BeckRS 2021, 10964; LG Frankfurt, Urt. v. 17.2.21 – 3–08 O 67/20 = GRUR-RS 2021, 6221;
sichtlich Sicherheit und Zuverlässigkeit der Personenbe- förderung sicherstellen soll. Personenbeförderungsauf- träge unterwegs anzunehmen, ist dabei Taxiunterneh- men vorbehalten, an die erhöhte Anforderungen gestellt werden. Uber unterläuft mit seinem Modell diese Vorga- ben und stellt sich auf den Standpunkt, dass die Vorga- ben für Taxiunternehmen für das eigene Geschäftsmo- dell schlicht nicht anwendbar seien. Seit 2015 kam es da- her zwischen Uber und den nationalen Gerichten zu ei- nem ständigen Hin-und-Her.10 Während verschiedene Gerichte nach Klagen von Taxiunternehmen das Modell von Uber aufgrund der Missachtung der rechtlichen Vorgaben (u.a. § 49 Abs. 4 S. 2 und 3 PBefG) als rechts- widrig einstuften und dieses untersagten,11 stellt sich Uber auf den Standpunkt, sein Angebot (die App) ange- passt zu haben.12 Weil sich das jeweilige Urteil daher auf ein früheres Modell der Uber-App erstrecke und nicht auf das aktuelle Geschäftsmodell, fühlt sich Uber nicht an das Urteil gebunden und setzt seine Tätigkeit daher fort. Konkurrierende Unternehmen, die diese Urteile er- stritten hatten, schreckten auf Grundlage dieser Argu- mentation davor zurück, die Urteile – welche zumindest vorläufig vollstreckbar waren – durchzusetzen. Sie fürch- teten etwaige Schadensersatzansprüche, sollte sich her- ausstellen, dass die jeweiligen Urteile tatsächlich nicht auf das „neue Uber-Geschäftsmodell“ angewandt wer- den könnten. Faktisch konnte sich Uber daher auf Dau- er dem geltenden Recht entziehen. Der Gesetzgeber hat inzwischen reagiert und den sog. „Bedarfsverkehr“ so- wie Vermittlerdienste von Mobilitätsplattformen im PBefG geregelt13, um der normativen Kraft von Uber und ähnlich agierender Akteure entgegenzuwirken.
Vergleichbare Entwicklungen könnten sich künftig insbesondere bei der Erstellung bestimmter (techni- scher) Standards oder dem Etablieren von Technologien zeigen. Immer dann, wenn die staatliche Handhabe na- hezu unmöglich gemacht wird, wie z.B. aktuell bei dem Versuch, einen Bußgeldbescheid an den Messenger- dienst Telegram zuzustellen,14 kommt die Steuerungs- macht anderen zu.
LG München I, Urt. v. 10.2.20 – 4 HK O 14935/16 = MMR 2021, 91;
LG Köln, Beschl. v. 25.10.19 — 81 O 74/19 = BeckRS 2019, 38797. 12 Rachut, ZBR 2021, S. 29 f.
13 Gesetz zur Modernisierung des Personenbeförderungsrechts v.
16.4.21, BGBl. 2021 I, S. 822, vgl. auch BT-Drs. 19/26175, S. 23.
14 Vgl. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/hass-hetze-telegram-
anwendbarkeit-netzdg-soziales-netzwerk-messenger/.
Rachut · Recht ohne Wirklichkeit? 1 9 3
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2. Gesetzgebung – Verlorener Wettlauf mit der Realität?
Die Gesetzgebung befindet sich daher in einem perma- nenten Wettlauf mit der Wirklichkeit. Dies führt dazu, dass das in Normen kodifizierte Wertesystem mitunter punktuell oder in ganzen Bereichen nicht mehr mit der Realität übereinstimmt. Bereits der diese Entwicklung kennzeichnende Begriff „Digitale Transformation“ zeigt, dass es dabei um mehr als die bloße „Technologisierung“ einzelner Lebensbereiche geht, sondern vielmehr um eine grundlegende Transformation.15 Diese kann sich zunächst im mehrheitlichen Verhältnis zu bestimmten (körperlichen oder nicht-körperlichen) Dingen nieder- schlagen. So hat sich der private Umgang mit Daten in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert. Dass die personenbezogenen Daten einer jeden Person Gegenstand automatisierter Verarbeitung sind, ist inzwi- schen Normalität. Die aus dieser Entwicklung nicht weg- zudenkenden sozialen Medien sind darauf ausgerichtet, dass höchstpersönliche Informationen mit einer unüber- schaubaren Anzahl von Personen überall auf der Welt geteilt werden. So entsteht ein leicht zugängliches Perso- nenarchiv. Einer Person, die online nicht auffindbar ist, begegnet man vielleicht sogar mit Misstrauen. Weitere Veränderungen ergeben sich dadurch, dass (digitale) Technologien inzwischen in Bereiche Einzug gefunden haben, die vorher „analog“ geprägt waren. Vor allem während der weltweiten Corona-Pandemie wurden Technologien eingesetzt, um die aufgrund von Kontakt- beschränkungen entstandene Distanz zwischen Perso- nen zu überbrücken. Neben Schul-16 und Hochschulun-
15 Hoffmann-Riem, Recht im Sog der digitalen Transformation, Tübingen, 2021, S. 2 m. w. N.
16 Vgl. Helm/Huber/Loisinger, Was wissen wir über schulische Lehr- Lern-Prozesse im Distanzunterricht während der Corona-Pande- mie? – Evidenz aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 2021, S. 237 ff.
17 Vgl. Neuber/Göbel, Zuhause statt Hörsaal. Erfahrungen und Ein- schätzungen von Hochschulangehörigen zur Umstellung der Lehre im ersten pandemie-bedingten Lockdown der Universitäten, in: MedienPädagogik, 2021, S. 56 ff.
18 Vgl. Reimann/Sievert, Interaktion unerwünscht? Online-Gottes- dienste während der Corona-Pandemie, in: Cursor_Zeitschrift für explorative Theologie, 2021, S. 1 ff.
19 Vgl. Waschkau/Steinhäuser, Wandel des Bedarfs an Videosprech- stunden in Zeiten einer Pandemie. Eine qualitative Betrachtung, in: Zeitschrift für Allgemeinmedizin, 2020, S. 317 ff.
20 War es zuvor unmöglich, dass beaufsichtigte Hochschulprüfun- gen außerhalb der Hochschulen geschrieben werden, wurden während der Pandemie in fast allen Bundesländern entsprechende Rechtsgrundlagen geschaffen. Damit hatten alle Studierenden
die Möglichkeit, in dieser Zeit an den Prüfungen teilzunehmen,
terricht17 wichen auch Kirchen18 oder Ärzte und Ärztin- nen19 auf Videokonferenzen aus.
Die digitale Transformation ist aber auch gerade des- halb so disruptiv, da sie mit Machtverschiebungen ein- hergeht. Digitalisierung, Vernetzung und Automatisie- rung schaffen neue Berufe und Sparten, können bisheri- ge Ideen und Modelle obsolet machen, Abhängigkeiten auflösen und neue entstehen lassen. Daneben ergeben sich mitunter Lösungen für Herausforderungen, die zu- vor unlösbar erschienen.20 Während der Gesetzgeber so- mit gefragt ist, das Potential und die Chancen der digita- len Transformation zu fördern und entsprechende Neu- erungen rechtlich zu ermöglichen, muss er ebenso den damit einhergehenden Risiken und Gefahren begegnen.
Aktuell erfolgt dies in einem zweistufigen Prozess: Der Entwicklung neuer Technologien oder Konzepte (Innovation) schließt sich der Versuch an, diese zu regle- mentieren. Mitunter manifestiert sich hier das Faktische zum Normativen. Nur selten werden Experimentierräu- me geschaffen21, in denen regional und zeitlich begrenzt untersucht wird, welche tatsächlichen Folgen eine be- stimmte Innovation hätte, um diese anschließend zu re- gulieren und darauf aufbauend Weiterentwicklungen zu ermöglichen.22 Dies hat zur Folge, dass Regulierung nicht nur eine lange Zeit in Anspruch nimmt, sondern daneben oftmals auch nicht auf einer ausreichenden Da- tengrundlage basiert. Teilweise kommt es sogar vor, dass mittels einer politisch bedingten regulatorischen Wende (z.B. nach einem Regierungswechsel) die zuvor erlasse- nen Normen ins Gegenteil verkehrt werden oder sich Regelungen zu widersprechen scheinen.23 Eine solch un-
was wiederum den Studierenden half, die sich dem erhöhten Infektionsrisiko auf dem Weg zu und in den Hochschulen nicht aussetzen durften oder wollten. Darüber hinaus wurde die Chance genutzt, diese Art des Prüfens zu erproben, um Hochschulprü- fungen künftig inklusiver gestalten zu können. Ausführlich hierzu Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, Berlin, 2023, S. 59 ff., 68 ff.; Rachut, ODW 2023, 89 ff.
21 Eine Experimentierklausel enthält zum Beispiel Art. 56 BayDiG. 22 Die Bayerische Fernprüfungserprobungsverordnung (BayFEV)
sieht z. B. die Möglichkeit vor, in Übungsklausuren automatisierte Verfahren zur Beaufsichtigung von Hochschulprüfungen zu erpro- ben, vgl. § 10 BayFEV.
23 Kritisiert wird dies z. B. beim Nachweisgesetz (NachwG). Wäh- rend aktuell auf allen Ebenen versucht wird, von der Papierform zur elektronischen Form zu gelangen (bspw. mittels elektronischer Aktenführung in den Behörden, den Gerichten oder der elektro- nischen Patientenakte) nimmt der Gesetzgeber die elektronische Form bei der Nachweispflicht der wesentlichen Bestimmungen eines Arbeitsverhältnisses ausdrücklich aus, vgl. § 2 Abs. 1 S. 2 NachwG.
stete und unvorhersehbare Regulierung kann letztlich Skepsis und Zurückhaltung bei der Entwicklung neuer Ideen hervorrufen.
Die Aufgabe der Gesetzgebung obliegt dabei haupt- sächlich den Parlamenten. Hierbei kommt der demokra- tischen Debatte sowie der anschließenden parlamentari- schen Entscheidung eine wichtige und bedeutende Funktion innerhalb des demokratischen Rechtsstaats zu. Bei der zunehmenden Komplexität der zu regulierenden Materie und der steigenden Zahl an verabschiedeten Ge- setzen muss indes auch die Frage nach deren Qualität ge- stellt werden.24 In der Corona-Pandemie hat sich ge- zeigt, dass die Regulierung einzelner, durchaus komple- xer Sachverhalte bei einer entsprechenden Priorisierung deutlich schneller erfolgen kann. Zu Beginn der Pande- mie kam dem Gesetzgeber aufgrund der bestehenden Ungewissheit dabei ein deutlich größerer Einschät- zungsspielraum zu, auch umfassende und tiefgreifende Grundrechtseingriffe waren rechtmäßig und hielten ei- ner Verhältnismäßigkeitsprüfung stand.25 Zunehmend lagen indes mehr und mehr Daten über das Virus, die Übertragung und den hervorgerufenen Krankheitsver- lauf vor, was die Anforderungen an den Gesetzgeber er- höhte. Mit diesen Daten war das Mittel zur Hand, die Regulierung und damit auch die in die Grundrechte ein- greifenden Maßnahmen an die neuen Erkenntnisse an- zupassen.26 Einschränkungen aufgrund der Pandemie mussten somit kontinuierlich überprüft und an die neu- en Erkenntnisse angepasst werden.27 Nachdem bei- spielsweise Informationen über die häufigsten Übertra- gungswege vorlagen,28 mussten die infektionsschutz- rechtlichen Maßnahmen angepasst und infolgedessen u.a. die Maskenpflicht für bestimmte Bereiche (im Frei- en und unter Abstand) aufgehoben werden. Dass beson- ders weitgehende Ausgangsbeschränkungen in Bayern
24 2020 verabschiedete der Deutsche Bundestag 156 Gesetze in 64 Sitzungstagen, 2021 waren es trotz Regierungswechsels 203 Geset- ze in 46 Sitzungstagen, s. Deutscher Bundestag, Parlamentsdoku- mentation, Statistische Daten zur Arbeit des Deutschen Bundes- tages im Zeitraum vom 1.1. bis zum 31.12.2020; ders. Statistik der Gesetzgebung – 19. Wahlperiode; vgl. auch: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw06- jahresstatistik-2021–879640#:~:text=203%20Gesetze%20hat%20 der%20Deutsche,Deutschen%20Bundestages%20endete.
25 Vgl. z. B. Hofmann, Verhältnismäßigkeit mit der Holzhammerme- thode, Verfassungsblog v. 13.4.20, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/verhaeltnismaessigkeit-mit-der- holzhammermethode/.
26 Vgl. u. a. VGH München, Beschl. v. 30.3.20 – 20 NE 20.632 = NJW 2020, 1236, 1240.
27 BVerfG, Beschl. v. 8.8.78 – 2 BvL 8/77 = BVerfGE 49, 89; BVerfG,
zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 unverhältnis- mäßig waren, stellte das Bundesverwaltungsgericht mehr als zweieinhalb Jahre später fest.29
Obwohl von Seiten der Wissenschaft weltweit über das Sars-CoV-2-Virus geforscht, die gewonnenen Er- kenntnisse ausgetauscht wurden und eine solch umfas- sendewissenschaftlicheBeratungderPolitik,wiesiege- rade in der Anfangszeit der Pandemie erfolgte, in den vergangenen Jahrzehnten wohl einzigartig war, liegen bis heute weiterhin nicht ausreichend Informationen vor, um das Wirken der entsprechenden „Corona-Maßnah- men“ abschließend bewerten und überprüfen zu können.30
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass selbst in einer weltweiten Ausnahmesituation, in der Wissen- schaft, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenwirkten, um dieser Herausforderung gemeinsam mit der Politik zu begegnen, es auch nach drei Jahren nicht gelungen ist, mittels entsprechender Daten die Wirksamkeit umfas- sender grundrechtseingreifender Maßnahmen zu beur- teilen und so über den mehrjährigen Zeitraum der Pan- demie eine adäquate, d.h. verhältnismäßige Rechtset- zung zu gewährleisten. Auf Seiten des Gesetzgebers er- scheint es damit aktuell unmöglich, schnell, effektiv und vor allem wissend, d.h. datenbasiert, auf Veränderungen zu reagieren.
Der Gesetzgeber ist jedoch nicht nur auf nationaler, sondern ebenso auf internationaler Ebene gefragt. Auch hier gilt es die eigenen Werte und Vorstellungen in Re- gulierungsvorhaben einfließen zu lassen und sich bei- spielsweise mittels Stellungnahmen am Normgebungs- verfahren auf EU-Ebene zu beteiligen. Dies setzt jedoch nicht nur voraus, dass Deutschland über die entspre- chenden Kompetenzen und Ressourcen verfügt und auf politischer Ebene eine Einigung erzielt werden kann,31
Beschl. v. 29.4.20 – 1 BvQ 47/20 = BeckRS 2020, 7210; Gold- hammer/Neuhöfer, Grundrechte in der Pandemie – Allgemeine Lehren, in: Juristische Schulung, 2021, S. 212, 214 m. w. N.
28 Robert Koch Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV‑2 und COVID-19, 2. Übertragungswege, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_ Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=C3091F506673DDD7F3711 AEA354526FE.internet101?nn=13490888#doc13776792bodyText2.
29 BVerwG, Beschl. v. 10.11.222 – 3 CN 2.21 = BeckRS 2022, 31961.
30 Vgl. z. B. Sachverständigenausschuss nach § 5 Abs. 9 IfSG, Evaluati-
on der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik,
2022, S. 8.
31 Dass dies nicht immer gelingt, zeigt z. B. Stierle, AI Act: Verzö-
gerungen und offene Fragen, Tagesspiegel Background v. 14.9.22, abrufbar unter: https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/ ai-act-verzoegerungen-und-offene-fragen.
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sondern ebenso, dass die notwendigen Informationen vorliegen, um überhaupt verschiedene Optionen erfas- sen und bewerten zu können.
3. Rechtsprechung – In 12 Jahren zum Recht?
Während ein Gesetzgebungsprozess die Beteiligung einer Vielzahl von Personen und Institutionen zur Her- beiführung einer Mehrheitsentscheidung verlangt, könnte im Bereich der Rechtsprechung die Möglichkeit bestehen, agiler auf Veränderungen und die damit ein- hergehenden Rechtsunsicherheiten zu reagieren, um so Defizite in anderen Bereichen ausgleichen zu können.
„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtspre- chung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ In diesem Wortlaut findet sich das Rechtstaatsprinzip im Grundge- setz (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Rechtsprechung hat dabei die Aufgabe, das staatliche Handeln zu überprüfen und den allgemeinen Rechtsfrieden zu wahren. Auch die Entscheidungen der Gerichte sind wiederum überprüf- bar – daraus ergibt sich ein ausgeklügeltes Instanzensys- tem, das eine unabhängige und gerechte Judikative ge- währleistet. Für dieses System gibt es gute und gewichti- ge Gründe, die sich nicht zuletzt in der deutschen Histo- rie finden lassen. Es gibt Raum für richterliche Unabhängigkeit und Kontrollinstanzen, um etwaige Fehlentscheidungen zu korrigieren. Gleichwohl bedeu- tet ein solches Instanzensystem aber auch, dass bis zu ei- ner rechtskräftigen Entscheidung diese Instanzen von den Parteien durchlaufen werden können. Entscheidun- gen, die noch nicht rechtskräftig sind, können mögli- cherweise vorläufig vollstreckbar sein, beenden den Rechtsstreit jedoch nicht und gehen selbst mit einem ge- wissen Risiko einher.32 Die Verfahrensdauer eines Rechtsstreits hängt daher maßgeblich von der Dauer je Instanz und der Anzahl der durchlaufenen Instanzen ab.33 Diese Zeit wird von Beteiligten jedoch häufig als zu lang empfunden.34 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sich bereits mehrfach mit der teils sehr langen Verfahrensdauer an deutschen
- 32 Z.B. mit einer Schadensersatzpflicht nach § 717 Abs. 2 ZPO.
- 33 Fobbe hat hierzu eine umfassende Auswertung der Verfahrensdau-er an deutschen Gerichten, u.a. dem BVerfG vorgenommen. DieDatensätze sind hier abrufbar: https://zenodo.org/record/7133364.
34 So gaben bei einer Befragung von 1.069 Personen 81% an, dass sie
die Verfahrensdauer im deutschen Rechtssystem als viel zu lange empfinden, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie /167571/umfrage/meinungen-zum-deutschen-rechtssystem/.
35 Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000–190/07, S. 3.
Gerichten beschäftigt. Allein zwischen 1978 und 2008 verurteilte der EGMR die Bundesrepublik Deutschland in 24 Verfahren wegen überlanger Gerichtsverfahren und stellte hierbei Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) sowie teils zudem gegen Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) fest.35 Denn gerade in bestimmten Verfahren (z.B. in Strafsa- chen, familien- oder sozialgerichtlichen Verfahren) stellt ein nicht abgeschlossenes Verfahren eine erhebliche Be- lastung für die Beteiligten dar. Die Entscheidungen ge- gen Deutschland bezogen sich dabei nicht lediglich auf einzelne Rechtsbereiche, sondern vielmehr auf unter- schiedliche Gerichtsbarkeiten36 und zeigen damit die vielfach sehr langen Entscheidungswege im gesamten bestehenden Rechtssystem auf.
Als Konsequenz dieser EGMR-Entscheidung wurde 2011 das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsver- fahren37 erlassen. Darüber hinaus einigten sich Bund und Länder 2019 auf einen „Pakt für den Rechtsstaat“.38 Diese bereits im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vorgesehene Übereinkunft sollte vor allem durch die Aufstockung des Personals zu einer besseren und schnelleren Rechtsdurchsetzung beitragen.39 Im Sep- tember 2022 folgte die Ankündigung von Bundesjustiz- minister Marco Buschmann (FDP) zu einem „Pakt für den digitalen Rechtsstaat“, durch welchen die Gerichte bei der Modernisierung und Digitalisierung unterstützt werden sollen.40
Trotz dieser Bemühungen zeigt sich seit Jahren ein strukturelles Defizit in Form einer Überlastung der Jus- tiz. Auch wenn nicht sämtliche relevanten Kennzahlen erfasst werden, z.B. die Dauer zwischen Klageeingang beiGerichtundTerminierung,41oderdiesenurlücken- haft oder zeitverzögert vorliegen, lässt sich die Überlas- tung durch vorhandene Daten untermauern. So wurde beispielsweise von Seiten des Deutschen Richterbundes eine stetig wachsende Verfahrensdauer in Strafsachen bemängelt: „Gerechnet ab Eingang bei der Staatsanwalt- schaft laufen die erstinstanzlichen Verfahren beim Land-
36 Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000–190/07, S. 4.
37 Vgl. BGBl. 2011 I, S. 2302.
38 Pressekonferenz der Bundesregierung v. 31.01.2019.
39 CDU/CSU/SPD, Koalitionsvertrag, Ein neuer Aufbruch für Europa
– Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt
für unser Land, 2018, S. 16 f.
40 Vgl. https://www.bmj.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2022/0927_
Pakt_Rechtsstaat.html.
41 So u. a. in Bayern, s. LT-Drs. 18/2325.
gericht im Schnitt sogar mehr als 20 Monate, so lange wie noch nie.“42 Vergleicht man die Verfahrensdauer der erstinstanzlichen Verfahren, zeigen sich zwischen den einzelnen Bundesländern und den verschiedenen Ver- fahrensarten große Unterschiede. So lag die durch- schnittliche Verfahrensdauer an den Verwaltungsgerich- ten 2016 zwischen 3,9 Monaten (Rheinland-Pfalz) und 22,6 Monaten (Brandenburg).43 Der langen Verfahrens- dauer steht die hohe Arbeitsbelastung der Richter*innen und Staatsanwält*innen gegenüber. Bayerische Richter*innen an den Amtsgerichten bearbeiteten bspw. 2018 durchschnittlich 506,5 Zivilverfahren und 331,9 Strafverfahren.44 Staatsanwält*innen bearbeiteten 2016 jeweils über 1.300 Verfahren.45
Dass ein Verfahren, welches mehrere Instanzen bis zur Rechtskraft durchläuft, somit mehrere Jahre dauern kann, ist somit nicht unüblich. Dennoch gibt es be- stimmte Rechtsstreitigkeiten, die hier herausstechen und demonstrieren, zu welchem Ausmaß sich die Verfah- renszeiten summieren können. Neben den über mehrere Jahre dauernden und medial intensiv begleiteten straf- rechtlichen Verfahren im NSU-Prozess46 und zur Auf- klärung des Loveparade-Unglücks 2010,47 dürfte das be- kannteste zivilrechtliche Verfahren mit außerordentli- cher Verfahrenslänge jenes der Gruppe Kraftwerk („Me- tall-auf-Metall“) sein. 1997 wurde das von Moses Pelham produzierte Lied „Nur mir“ veröffentlicht und löste da- mit einen Rechtsstreit aus, der bis heute (26 Jahre später) noch immer die Gerichte beschäftigt. Das allein mag be- reits für Aufsehen sorgen, kurioser wird es, wenn man bedenkt, dass Gegenstand der Streitigkeit nicht das ge- samte Lied, sondern ein lediglich zwei Sekunden langer „Tonfetzen“ ist. Pelham hatte diese kurze Sequenz dem Lied „Metall auf Metall“ der Band Kraftwerk entnom- men und seinem Song unverändert zugrunde gelegt (sog. Sampling). Ob dies eine Verletzung der Tonträger- rechte von Kraftwerk darstellt, ist weiterhin umstritten. Kompliziert macht diesen Fall einerseits, dass neben der nationalen Rechtslage auch EU-Recht zu beachten ist.
- 42 Rebehn, Strafjustiz am Limit, abrufbar unter: https://www.drb. de/newsroom/presse-mediencenter/nachrichten-auf-einen-blick/ nachricht/news/strafjustiz-am-limit‑1.
- 43 Vgl. hierzu: https://www.lto.de/recht/justiz/j/justiz-ranking- 2016-zahlen-deutsche-gerichte-erledigungsquote-verfahrensdauer- bestaende/IchfragedieStaatsregierungAuslastungderZivilgerichte: 1.1.WieentwickelnsichdieFallzahlenderandenbayerischenZivilge- richtenanh%E4ngigen.
44 LT-Drs. 18/2325, S. 4, 9.
45 Vgl. hierzu: https://www.lto.de/recht/justiz/j/justiz-ranking-
Dieses verfügt gegenüber den nationalen Normen über einen Anwendungsvorrang und ist auf die Nutzungs- handlungen ab 2002 anwendbar. Der Zeitraum davor be- urteilt sich ausschließlich nach den (damaligen) natio- nalen Vorschriften. Andererseits sieht das Recht keine klaren Regelungen für das Sampling, eine durchaus gän- gige Methode im Bereich der elektronischen Musik, vor, sodass die Gerichte im Wege der Rechtsauslegung eine Entscheidung treffen müssen. Im konkreten Fall sind sich die Gerichte jedoch uneins. Immer neue Detailfra- gen müssen geklärt werden, sodass der Rechtsstreit aktu- ell zum fünften Mal beim BGH (nach der Verhandlung am 1. Juni 2023 wird nun überlegt, den Fall nochmals dem EuGH vorzulegen) anhängig ist. Dabei geht es in- zwischen weniger um die eigentliche Urheberrechtsver- letzung, sondern um das generelle Verhältnis von Kunst- freiheit und Urheberrecht.
Abbildung: Verfahrensgang des Rechtsstreits „Metall- auf-Metall“, Stand: August 2023
Die Beantwortung dieser Frage liegt dabei nicht nur im Interesse der Beteiligten, sondern zeigt anschaulich die grundlegende Bedeutung der Rechtsprechung inner- halb des Rechtsstaats. Hier wird sichtbar, wie sehr Recht und Realität auseinanderfallen können und wie sich der Rechtsstaat letztlich um eine gerechte Lösung bemüht. Jede*r kann inzwischen mithilfe des Smartphones und
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2016-zahlen-deutsche-gerichte-erledigungsquote-verfahrensdauer- bestaende/IchfragedieStaatsregierungAuslastungderZivilgerichte: 1.1.WieentwickelnsichdieFallzahlenderandenbayerischenZivilge- richtenanh%E4ngigen.
Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/nsu-prozess- warum-dauerte-der-prozess-fuenf-jahre-lang- a‑00000000–0003-0001–0000-000002602349.
Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-prozess- urteil‑1.4896181.
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entsprechender Softwareunterstützung in Sekunden- schnelle Werke erstellen und sich und seine Meinung ausdrücken. Die Form zu kommunizieren, sich auszu- tauschen und auszudrücken, wird zunehmend multime- dialer; Memes, Pastiches oder Reels gehören zum Alltag, wie es früher für Briefe oder Nachrichtensendungen galt. Bei dieser neuen Art zu kommunizieren, geht es ge- rade darum, auf bestehende Werke zurückzugreifen und sie in einen anderen Kontext zu stellen; dabei wird häu- fig auf eine ganz bestimmte Situation oder ein Gefühl Bezug genommen, welches als Grundlage für die eigene Botschaft dient. Derselbe Effekt würde sich mit einer ei- genen Darstellung gar nicht erreichen lassen. Dem (Kunst-) Urheberrecht war diese Art der (Massen-) Kommunikation indes lange fremd. Aktuell sind weitere Entwicklungen zu sehen, die von einem neuen Verständ- nis von und dem Umgang mit Kunst sprechen. Zu nen- nen sind hier z.B. die Aktion des Künstlers Banksy, der während einer Auktion bei Sotheby’s sein Bild sich teil- weise selbst zerstören ließ,48 NFT-Kunst49 oder die Pro- testaktionen der „Letzten Generation“. Letztere ließen bereits die Forderungen nach neuen Straftatbeständen und härteren Strafen entstehen, wobei fraglich ist, ob der Weg über das Strafrecht tatsächlich zielführend ist.50
Der Fall „Metall-auf-Metall“ zeigt, welche Herausfor- derungen aus dem Auseinanderfallen von normiertem Recht und Wirklichkeit für die Rechtsprechung folgen und wie sich dies zeitlich auswirken kann. Solche beson- ders langen Verfahren belasten die Gerichte zusätzlich und führen dazu, dass auch hier faktische Grenzen er- reicht werden. Es bleibt zu fragen, wie die Rechtspre- chung auf ähnliche Entwicklungen reagieren und vor al- lem in welcher Geschwindigkeit dies geschehen wird. Gewiss ist jedoch: In der Masse werden wir uns über 20 Jahre laufende Verfahren nicht mehr leisten können.51
4. Rechtsumsetzung
Neben der Rechtsetzung und der Rechtsprechung kommt der Rechtsumsetzung eine zentrale Rolle zu. Hier zeigt sich, wie die normativen Vorgaben konkret angewandt werden und ihre gestalterische Wirkung ent-
48 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/ banksys-zerstoertes-bild-steigert-seinen-wert-15825859.html.
49 Kleiber, NFT – eine Einordnung zwischen Recht, Kunst und Blockchain, in: MMR-Aktuell, 2022, Meldung 445475; Heine/Stang, Weiterverkauf digitaler Werke mittels Non-Fungible-Token aus urheberrechtlicher Sicht. Funktionsweise von NFT und Betrach- tung der urheberrechtlichen Nutzungshandlungen, in: MMR 2021, 755.
50 Vgl. Rostalski, Das Strafrecht ist keine Therapie, libra-rechtsbrie- fing v. 15.11.22.
51 S. hierzu auch Fobbe, Sind zwanzig Jahre zuviel?,
falten, ob die beabsichtigte Wirkrichtung des Rechts tat- sächlich eintritt oder bisher unbekannte bzw. nicht bedachte Hürden entstehen. Wenn bereits der normative Schaffensprozess langwierig ist, könnte man meinen, dass die anschließende Rechtsumsetzung entsprechend effizient und unaufgeregt möglich ist. Dennoch kommt es auch an dieser Stelle immer wieder zu Problemen, die dabei nicht immer auf normative Schwächen zurückzu- führen sind, jedoch ein Indiz für solche sein können.
Ein Beispiel für die besonders langwierige Umset- zung ist die Einführung der elektronischen Patientenak- te.52 Bereits 2003 wurde mit dem Gesetz zur Modernisie- rung der gesetzlichen Krankenversicherungen53 ange- stoßen, dass die wichtigen Gesundheitsdaten der Patient*innen nicht mehr ausschließlich dezentral bei den Behandelnden vorliegen sollten. Der erste Ansatz hierzu war die Einführung der elektronischen Gesund- heitskarte (eGK), die zunächst 2006 erfolgen sollte, dann jedoch mehrfach verschoben wurde. Die genaue Funkti- onsweise der eGK war darüber hinaus zunächst umstrit- ten und wurde erst 2020 mit der Neuregelung des SGB V durch das Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG)54 end- gültig geklärt. So verfügten die Versicherten mit der eGK im Gegensatz zur vorherigen Krankenversichertenkarte z.B. bereits über die technische Möglichkeit, elektroni- sche Rezepte zu verwenden oder weitere Daten neben den Patientenstammdaten zu speichern. Wie genau die- se neuen elektronischen Funktionen jedoch ausgestaltet werden sollten, war nicht geregelt,55 sodass von diesen Optionen kein Gebrauch gemacht wurde. Einerseits hät- te die (technische) Möglichkeit bestanden, auf der eGK möglichst viele Patientendaten zu speichern, sodass die eGK somit als mobile elektronische Patientenakte hätte fungieren können („eGK als Speicher“), andererseits hätte sie ausschließlich eine bloße Authentifizierungs- und Autorisierungsfunktion haben können („eGK als Schlüssel“). Durch die ausführliche Normierung der elektronischen Patientenakte (ePA) in den §§ 341 ff. SGB V und der Neuregelung der eGK wurde durch den Gesetzgeber 2020 schließlich klargestellt, dass die eGK selbst nicht als elektronische Akte fungieren
Rechtsempirie v. 1 13.12.2022 DOI 10.25527/re.2022.03.
52 Ausführlich hierzu Heckmann/Rachut, Elektronische Patienten-
akte und elektronische Gesundheitskarte, in: Rehmann/Till- manns, E‑Health / Digital Health, München, 2022, Kap. 3 E.; bis 2025 sollen lt. Bundesregierung mind. 80 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten die ePA nutzen, vgl. https://www.aerzteblatt. de/nachrichten/137322/Elektronische-Patientenakte-Bund-will- 80-Prozent-Abdeckung-bis-2025.
53 BGBl. 2003 I, S. 2190.
54 BGBl. 2020 I, S. 2115.
55 Vgl. Thüsing/Rombey, NZS 2019, 201, 202.
soll. Stattdessen wurde der stufenweise Aufbau der ePA ab 2021 beschlossen.56 Hierbei wurden die Krankenver- sicherungen verpflichtet, diese ihren Versicherten ab dem 1.1.2021 zur Verfügung zu stellen und sie stufenwei- se auszubauen.57 Doch auch die konkreten Vorgaben hierzu stellten die Krankenversicherungen vor enorme praktische Herausforderungen. Nicht nur musste die ePA technisch umgesetzt werden, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) hielt die Regelungen der ePA zudem für rechtswidrig und rief die Krankenversicherungen unter Androhung etwaiger aufsichtsrechtlicher Maßnahmen dazu auf, von der Bereitstellung einer seiner Ansicht nach rechtswidri- gen ePA abzusehen.58 Diese Debatte mag zudem dazu beigetragen haben, dass die (mittlerweile eingeführte) ePA kaum genutzt wird. Es scheint an Wissen, Akzep- tanz, Transparenz und Funktion der ePA59 zu fehlen. Die gesetzgeberische Absicht, die Gesundheitsversorgung durch eine elektronische Aktenführung in vielen Punk- ten zu verbessern, stößt inhaltlich auf Zustimmung, ent- faltet in der Realität jedoch auch nach mehreren Jahren kaum Wirkung. Die aktuelle Regierung hat sich daher dazu entschlossen, das Modell der ePA weiter zu refor- mieren und die Nutzung im Wege eines Opt-Out-Ver- fahrens zu gestalten.60
Die Normierung eines Bereichs, um eine bestimmte Materie nach dem Willen des Gesetzgebers zu gestalten, reicht nicht immer aus, um die entsprechenden Verän- derungen auch tatsächlich herbeizuführen. Mitunter wird erst bei dem Versuch der Rechtsanwendung deut- lich, dass eine weitere Regulierung notwendig ist, um Unklarheiten oder Hürden in der Anwendung zu besei- tigen. Dies wiederum kostet weitere wertvolle Zeit und hängt möglicherweise mit der Art und Weise der bishe- rigen Regulierung zusammen.
56 Heckmann/Rachut, Elektronische Patientenakte und elektronische Gesundheitskarte, in: Rehmann/Tillmanns, E‑Health / Digital Health, München, 2022, Kap. 3 E, Rn. 459 ff.
57 Heckmann/Rachut, Elektronische Patientenakte und elektronische Gesundheitskarte, in: Rehmann/Tillmanns, E‑Health / Digital Health, München, 2022, Kap. 3 E, Rn. 468 ff.
58 https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2020/20_BfDI-zu-PDSG.html. Hierzu unter verfassungs- rechtlichen Aspekten auch Heckmann/Paschke, Datenschutz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, München, 2022, § 103 Rn. 122 ff.
59 So wurde bspw. die Einführung des elektronischen Rezepts erneut verschoben, vgl. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/ news/artikel/2021/12/20/bmg-e-rezept-start-auf-unbestimmte- zeit-verschoben.
60 SPD/Grüne/FDP, Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag, 2012, S. 65, abrufbar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/
5. Juristenausbildung – Nach 12 Jahren qualifiziert?
Nachdem der Faktor Mensch bei Veränderungsprozes- sen eine zentrale Rolle spielt, könnte auch die Ausbil- dung der Jurist*innen als Hebel für die Beschleunigung des Rechts fungieren. Wie die anderen Bereiche des Rechts, zeichnet sich auch die juristische Ausbildung durch seit vielen Jahren etablierte Strukturen aus. Das zweistufige Ausbildungsformat kann bereits auf eine lan- ge Historie zurückblicken: 1750 wurde in Preußen eine mehrstufige Ausbildung eingeführt, an deren Ende der Assessorentitel stand.61 Die Ausbildung mit Referen- darsexamen (nach der universitären Ausbildung) und dem Assessorexamen (nach der weiteren praktischen Ausbildung) gibt es seit 1869.62 Die Grundgedanken stammen somit aus einer Zeit, in denen Herausforde- rungen, wie sie die digitale Transformation und die aktu- ellen globalen Entwicklungen mit sich bringen, noch gar nicht bedacht waren und das Rechtswesen nur bestimm- ten Personen(-gruppen) vorbehalten war. So wurde vor gerade einmal 100 Jahren (am 7.12.1922) erstmals eine Frau als Rechtsanwältin zugelassen. Noch heute geht man davon aus, dass die Referendar*innen während der circa zweijährigen Vorbereitungszeit auf das zweite juris- tische Staatsexamen von familiärer Seite finanziell unter- stützt werden. Aus diesem Grund gewährt der Staat ihnen lediglich eine Unterhaltsbeihilfe, die „eine Hilfe zum Bestreiten des Lebensunterhalts während der Aus- bildung darstellt“63 und lässt Nebentätigkeiten während des Referendariats nur in engen Grenzen bzw. „in Aus- nahmen“ zu.64 U.a. Referendar*innen aus einkommens- schwächeren Familien wird der Erwerb des zweiten Staatsexamens und damit der Zugang zum Richteramt oder zur Anwaltschaft dadurch weiterhin erschwert.
Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.
61 Vgl. Köbler, Zur Geschichte der juristischen Ausbildung in
Deutschland. in: JZ 1971, 768 ff.
62 Vgl. Wegner/Suchrow/Bussmann-Welsch, Was bisher nicht geschah
(und warum), FAZ Einspruch v. 25.2.20, abrufbar unter: https:// www.faz.net/einspruch/reform-des-jurastudiums-was-bisher- nicht-geschah-und-warum-16650988.html?GEPC=s3&premium= 0x261782a4edba5f46303d071148ee73e5&fbclid=IwAR19h0UiiVarFd 4ho7OORQPTrP1wE_iY2xeV-B_lt-t30WoFMqRFHjRplTE.
63 VG Schleswig, Beschl. v. 29.5.17 – 11 B 15/17 m. w. N. = BeckRS 2017, 121343; VG Saarlouis, Urt. v. 14.9.2010 – 2 K 1112/09 = BeckRS 2010, 54740.
64 In Bayern z.B. Mindestpunktzahl in der ersten juristischen Staatsprüfung, maximale Wochenarbeitszeit der Nebentätigkeit von 9 bzw. 14 Stunden sowie Anrechnung der Vergütung auf die Unterhaltsbeihilfe, vgl. Art. 3 Abs. 2, 3 SiGjurVD.
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200 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208
Auch wenn sich die juristische Ausbildung, beste- hend aus dem Studium der Rechtswissenschaft und dem zweijährigen Rechtsreferendariat, theoretisch innerhalb von sieben bis acht Jahren durchlaufen ließe,65 sieht die Realität für viele anders aus. Durch das regelmäßige Überschreiten der Regelstudienzeit,66 die Notwendigkeit von Wiederholungsversuchen, um die für den Wunsch- beruf weiterhin ausschlaggebende Examenspunktzahl zu erreichen,67 Wartezeiten bis zum Beginn des Referen- dariats68 und zur Verkündung der Prüfungsergebnisse69 dauert es deutlich länger. Diese Zeit kann sich durch Auslandsaufenthalte, Auszeiten, Carearbeit oder eine Promotion weiter erhöhen. An den Abschluss des zwei- ten Examens schließt sodann die weitere Ausbildung („on the job“) in dem konkret zu ergreifenden Beruf so- wie der Erwerb von Zusatzqualifikationen, z.B. eine Me- diations- oder Fachanwaltsausbildung, an.
Dies bedeutet, dass es bei der Frage, wie das Recht im Jahr 2035 aussehen soll, nicht um eine ferne Zukunft geht. Vielmehr sind die Personen, die dann Recht spre- chen, Recht anwenden und gestalten sollen, diejenigen, die jetzt mit ihrer juristischen Ausbildung beginnen. Wenn aktuell darüber diskutiert wird, ob und wie die ju- ristische Ausbildung modernisiert werden soll,70 z.B. durch das Ablegen von Prüfungen am Computer (E‑Klausuren)71 statt den bisherigen handschriftlichen Ausarbeitungen, die in fünf Stunden angefertigt werden müssen, dann ist dies eigentlich zu spät. Die Reformen müssten aufgrund des zeitlichen Ausmaßes der juristi- schen Ausbildung vielmehr die Arbeitswelt und deren Anforderungen an Jurist*innen in einer ferneren Zu- kunft in den Blick nehmen.
65 An das mindestens fünf bis sechs Jahre umfassende Studium schließt sich der juristische Vorbereitungsdienst (Referendariat) an, an dessen Ende das zweit juristische Staatsexamen steht. Dieses ist Voraussetzung für das Ergreifen der meisten (traditionellen) juristischen Berufe, siehe auch: Kilian, Die Zukunft der Juristen. Weniger, anders, weiblicher, spezialisierter, alternativer – und entbehrlicher?, in: Neue Juristische Wochenschrift, 2017, S. 3043 ff.
66 Die Regelstudienzeit betrug zunächst neun, seit November 2019 zehn Semester, § 5d Abs. 2 S. 1 DRiG (Deutsches Richtergesetz). Die tatsächliche Studienzeit der Studierenden betrug 2016 bereits 11,3 Semester (BT-Drs. 19/8581, S. 6.) und dürfte sich gerade durch die Corona-Pandemie in den letzten Jahren weiter verlängert haben.
67 Bei Nichtbestehen oder zur Notenverbesserung haben die Studie- renden in den meisten Bundesländern zudem die Möglichkeit, innerhalb der nächsten beiden Prüfungstermine erneut an der Staatsprüfung teilzunehmen. Nachdem die erreichte Examens- note in beiden Staatsexamen nach wie vor entscheidend für die späteren Berufsmöglichkeiten sind, wird diese Option von vielen Studierenden genutzt, siehe auch: https://www.lto.de/karriere/ jura-referendariat/stories/detail/zweites-staatsexamen- wiederholen-verbesserungsversuch-noten-kanzleien.
6. Zwischenergebnis
Zwölf Jahre im Recht können sich unterschiedlich gestal- ten. Im schlimmsten, aber durchaus realistischen Fall, gelingt es in diesem Zeitraum nicht, eine bestimmte Materie zu regeln oder ein Vorhaben in der Rechtspraxis umzusetzen; auch eine rechtskräftige Entscheidung muss nach zwölf Jahren noch nicht vorliegen. Ziemlich sicher wird es in dieser Zeit jedoch einer Generation an Jurist*innen gelingen, die juristische Ausbildung zu durchlaufen. Dabei zeigt sich bereits jetzt: Der Rechts- staat steht vor großen Herausforderungen, die sich zukünftig weiter ausbreiten werden. Bisher hat man jedoch keinen Ansatz gefunden, den unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Recht und Wirklichkeit beizu- kommen. Während sich die Welt in allen Lebensberei- chen immer schneller dreht, kommt der Rechtsstaat schlicht nicht mit. Insbesondere durch die digitale Trans- formation werden hierbei Tatsachen geschaffen, die sich nachträglich normativ mitunter nicht mehr ausgleichen lassen. Dies birgt die Gefahr, dass es vermehrt zu einer normativen Kraft des Faktischen kommt und das Recht seine Funktion nach und nach verliert, bis es schließlich wirkungslos ist.
II. Verstärkende Faktoren
Blickt man in die Zukunft, lassen sich verschiedene Fak- toren ausmachen, welche die beschriebene Dynamik verstärken werden.
68 Je nach Note und Bundesland müssen die Interessierten hier mit mehreren Monaten Wartezeit rechnen. In Berlin betrug die Warte- zeit 2022 für die Top-Absolvent*innen des ersten Examens (mehr als 10 Punkte) vier bis 19 Monate. Für Personen, die nicht zu den besten Examenskandidaten gehörten (weniger als 10 Punkte) sogar 19 bis 22 Monate (https://www.berlin.de/gerichte/ kammergericht/karriere/rechtsreferendariat/bewerbungsver fahren/wartezeit/). Während die Referendar*innen in den nächs- ten zwei Jahren verschiedene Ausbildungsstationen (z. B. an den Gerichten, bei der Staatsanwaltschaft oder bei Anwält*innen) durchlaufen, bereiten sie sich parallel auf das zweite juristische Staatsexamen vor. Auch hier muss, vergleichbar zum ersten Exa- men, mit entsprechender Zeit für Korrektur, mündliche Prüfung und einen etwaigen Wiederholungsversuch gerechnet werden.
69 Nach Ablegen der schriftlichen Prüfungen des Examens muss mit mehreren Monaten bis zur Korrektur und mündlichen Prüfung gerechnet werden.
70 Hier machte insbesondre die Initiative iur.reform auf sich auf- merksam, die eine große Studie zum Bedarf der Ausbildungsmo- dernisierung durchführte, https://iurreform.de/.
71 Heckmann/Rachut‚ E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, Berlin, 2023, S. 24 ff.
1. Zunehmende Komplexität
Die Komplexität der Sachverhalte, denen sich das Recht annehmen muss, wird kontinuierlich steigen. Nachdem der Rechtsstaat bereits jetzt an seine Grenzen stößt, erscheint es fraglich, wie mit diesen Herausforderungen auf tatsächlicher und rechtlicher Seite umgegangen wer- den soll.72
a) Komplexität auf der Sachverhaltsebene
Die Verfahren zum NSU-Prozess73 oder im Zuge des Loveparade-Unglücks74 zeigen, dass eine gründliche Aufarbeitung großer Sachverhalte Zeit benötigt. Verfah- ren, die aktuell als besonders komplex beschrieben wer- den, zeichnen sich vor allem durch eine große Zeitspan- ne oder Personenzahl aus. Hier braucht es die entspre- chenden prozessualen Mittel, um Verfahren zu bündeln, sowie Ressourcen, um diese Vielzahl an Informationen aufzuarbeiten. Umfangreiche Akten bedürfen schlicht einer längeren Zeit zum Lesen und Bearbeiten.
Sachverhalte können auch derart komplex sein, dass ein bloßes Mehr an bestehenden Ressourcen (insbeson- dere Zeit und Personal) nicht genügt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn für deren Erfassung und Bewertung Spezialkenntnisse notwendig sind, etwa wenn es um eine bestimmte Technologie geht, die eine besondere Ex- pertise erfordert. Insbesondere hinsichtlich des Einsat- zes von KI-gestützten Systemen, Quantentechnologie oder IoT-Diensten wird es in den kommenden Jahren zu rechtlichen Fragestellungen kommen, die auch durch die Gerichte beantwortet werden müssen.
Gerichte bzw. Spruchkörper, die auf bestimmte The- men spezialisiert sind, bilden die Ausnahme, sodass sol- che Situationen der Unwissenheit Jurist*innen grund- sätzlich nicht fremd sind. Niemand – auch nicht Richter*innen – muss alles wissen und verstehen. In sol- chen Fällen behilft man sich durch das Hinzuziehen ex- terner Sachverständiger, die einen bestimmten (z.B. vom Gericht vorgegebenen) Fragenkatalog aufgrund ihres speziellen Sachverstandes beantworten. Dies geschieht beispielsweise regelmäßig bei Streitigkeiten im Zusam- menhang mit Unfällen im Straßenverkehr. Wie schnell das Auto eines Beteiligten war oder ob ein technischer Defekt vorlag, wird dann durch Sachverständige ermit- telt. Grundsätzlich lässt sich dieses Prinzip auch auf neue oder komplexere Systeme übertragen, hat jedoch sehr
- 72 Zur Komplexität als Rechtsproblem s. Zollner, Komplexität und Recht, Berlin, 2014, S. 47 ff.
- 73 Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/nsu-prozess- warum-dauerte-der-prozess-fuenf-jahre-lang- a‑00000000–0003-0001–0000-000002602349.
wohl seine Grenzen. Zum einen gibt es (technische) Sachverhalte, welche sich nicht aufklären lassen bzw. ei- nem stetigen Wandel unterliegen, sodass beispielsweise der Sachverhalt in der Zeit, in der ein Mensch ihn nach- vollzogen hätte, sich bereits geändert hat und für die rechtliche Beurteilung nicht mehr relevant ist. Dies ist z.B. bei selbstlernenden algorithmischen Systemen der Fall. Hier geht es in der Anwendung nicht darum, zu ver- stehen, wie genau das System funktioniert, sondern nur darum, dass es (zu einem bestimmten Grad) funktio- niert. Dieser Ungewissheit in der Praxis steht jedoch das Bedürfnis des Rechts nach Gewissheit gegenüber.
Zum anderen stellt sich die Frage, ob ab einem gewis- sen Punkt eine Entscheidung gänzlich ohne entspre- chendes Fachwissen überhaupt noch möglich sein wird. Immer neue Gutachter*innen müssten zu immer mehr Fragen angehört werden, was den Prozess nicht nur im- mer weiter verlangsamen würde, sondern auch die Frage aufwirft, ob das Gericht überhaupt noch über die not- wendige Kompetenz verfügt, seine Rolle auszufüllen.
b) Komplexität auf der Rechtsebene
Hinzu kommt, dass die Komplexität auch auf der recht- lichen Ebene weiter steigt. Solange keine speziellen Rege- lungen für Technologien wie KI, Blockchain oder NFTs existieren, stellt sich in der Rechtsanwendung die Frage, unter welche der bestehenden Normen diese Technolo- gie zu subsumieren ist, ob und wenn ja, welche Ausnah- men oder telelogischen Reduktionen vorzunehmen sind. Ähnlich dem rechtlichen Umgang mit Musiksampling, herrscht gerade in Hinblick auf den Einsatz bestimmter Technologien oder der Zu- bzw. Einordnung bestimmter Konzepte (etwas des Metaverse oder Web 3.0) eine allge- meine Rechtsunsicherheit. Neben den Entwicklungen auf der nationalen Ebene muss zudem vermehrt auch das internationale Geschehen in den Blick genommen werden. Insbesondere die EU bemüht sich gerade um ein umfassendes Regulierungspaket und hat sich mit ihrer Datenstrategie zum Ziel gesetzt, in den nächsten Jahren an die Spitze der datengesteuerten Gesellschaften zu gelangen sowie einen einheitlichen Binnenmarkt für Daten zu errichten, sodass eine EU-weite und branchen- übergreifende Datenweitergabe zum Nutzen von Unter- nehmen, Forschenden und öffentlichen Verwaltungen möglich sein soll.75 Darauf basierend befinden sich aktu- ell verschiedene regulatorische Vorhaben auf dem Weg
74 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-prozess- urteil‑1.4896181.
75 Europäische Kommission, Eine europäische Datenstrategie, COM(2020) 66 final.
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202 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208
(u.a. AI Act, Data Governacne Act, Data Act, Digital Markets Act, Digital Services Act), deren konkretes Zusammenwirken noch nicht genau absehbar ist. Ande- re Rechtsfragen, wie beispielsweise hinsichtlich der Möglichkeit, personenbezogene Daten in Drittstaaten – vor allem die USA – zu übertragen, sind nach dem letz- ten Urteil des EuGH,76 trotz Angemessenheitsbeschluss erneut in der Schwebe.77
c) Folgen der Komplexität
Eine Komplexitätsreduktion ist zum Erhalt einer funkti- onierenden Rechtsordnung notwendig, Wege dorthin aber bisher nicht absehbar. Was am Beispiel der Gerich- te erläutertet wurde, gilt ebenso für die anderen Bereiche des Rechtsstaats. Die drohenden Folgen dessen können von Qualitätsverlust bis hin zum (zumindest partiellen) Stillstand im Hinblick auf Rechtsetzung, Rechtsanwen- dung und Rechtsprechung reichen.
2. Keine Abhilfe durch Technologieeinsatz
Insoweit könnte man nun darauf hoffen, dass auch der Rechtsstaat sich bestimmter Technologien zur Unter- stützung bedient. Allerdings hat sich gerade in der Coro- na-Pandemie gezeigt, wie schlecht u.a. die Gerichte tech- nisch ausgestattet sind. Zwar besteht z.B. im Zivilrecht mit § 128a ZPO bereits seit 2013 die Möglichkeit, eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung durchzuführen, sodass nicht mehr alle Parteien vor Ort sein müssen.78 Doch auch knapp zehn Jahre später ist eine solche Verhandlung weiterhin die Ausnahme. Haut- li und Schlicht haben über 3000 Anträge von Anwält*innen auf Durchführung einer Videoverhand- lung ausgewertet und kommen zu einem ernüchternden Ergebnis79: Knapp die Hälfte der Anträge (48,4 Prozent) wurde negativ beschieden, wobei als Gründe dafür sei- tens der Gerichte auf eine fehlende technische Ausstat- tung, Fehlen des hinreichend technisch versierten
76 EuGH, Urt. v. 16.7.20 – C‑311/18 = NJW 2020, 2613.
77 Für eine technologische, statt rechtliche Lösung s. Heckmann,
libra-rechtsbriefing v. 10.5.22.
78 Vgl. zur Entwicklung der Digitalisierung in der Justiz Anne
Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit, Berlin, 2018, S. 235 ff.
79 Hautli/Schlicht, Ablehnungen von Videoverhandlungen: Eine Ana-
lyse von 3.000 „Dieselverfahren“, zpo-blog v. 27.5.2021, abrufbar unter: https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/zpoblog/hautli- schlicht-ablehnung-videoverhandlungen-128a-zpo-diesel verfahren.
80 S. z. B. Müller, BSG: Signatur bei Übermittlung elektronischer Dokumente über das beA, in: NJW 2022, 1336; Oelschlägel, Zu- mutbarkeit der Nutzung des beA, in: IT-Rechtsberater 2021, S. 79; Günther, Haftungsfallen rund ums beA, in: NJW 2020, 1785; NZA 2019, S. 825; Siegmund, Das beA von A bis Z, in: NJW, 2017, S. 3134; BGH, Urt. v. 22.3.21 – AnwZ (Brfg) 2/20 = NJW 2021, 2206; BGH,
Gerichtspersonals oder die Nichtnotwendigkeit auf- grund eines ausreichend großen Gerichtssaals während der Pandemie verwiesen wurde.
Auch in anderen Bereichen, etwa der elektronischen Kommunikation, zeigt sich, wie schwer sich die über Jahrzehnte bis Jahrhunderte gewachsenen Strukturen des deutschen Rechtsstaats mit der Digitalisierung tun. Das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) bei- spielsweise dient zur sicheren elektronischen Kommuni- kation der Anwält*innen mit den Gerichten. Bereits 2013 wurde hier der Grundstein zur aktiven Nutzungspflicht (Pflicht zur Übersendung von bestimmten Dokumenten an die Gerichte ausschließlich in elektronischer Form) gelegt. In den Jahren des Aufbaus des beA sowie im ers- ten Jahr der aktiven Nutzungspflicht ereigneten sich dennoch zahlreiche Pannen.80
Vom Einsatz unterstützender, z.B. automatisierter Systeme oder eines KI-Einsatzes in der Breite ist die Jus- tiz noch weit entfernt. Auch wenn es hier bereits erste Überlegungen gibt, benötigen all diese Technologien ne- ben der Infrastruktur zunächst eine entsprechende Da- tengrundlage. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Informationen überhaupt elektronisch bestehen und so- mit verarbeitet werden können, sondern auch, wo, in welcher Qualität und wie diese ausgetauscht werden. Aktuell besteht nicht einmal ein vollständiges Bild über die in Deutschland getroffenen gerichtlichen Entschei- dungen. Denn nur ein verschwindend kleiner Teil davon (ca. 1 Prozent) wird überhaupt veröffentlicht und elekt- ronisch zugänglich bereitgestellt.81
3. Unattraktivität der klassischen juristischen Berufe
Nimmt man den demografischen Wandel hinzu82, müs- sen komplexere Verfahren perspektivisch von immer weniger Personen bearbeitet werden, was zu einer weite- ren Erhöhung der Bearbeitungszeit und damit Verlänge- rung der Verfahren an den Gerichten führt.
Beschl. v. 29.9.21 – VII ZB 12/21 = NJOZ 2022, 93; BGH, Beschl. v.
11.5.21 – VIII ZB 9/20 = NJW 2021, 2201;
81 https://www.lto.de/recht/justiz/j/studie-veroeffentlichung-gerichts
entscheidungen-deutschland-transparenz-justiz/; zur Veröffent- lichungspflicht von Gerichtsentscheidungen s. z.B. kürzlich OVG Münster, Beschl. v. 11.1.2023 – 15 E 599/22 = NJW 2023, 1232.
82 Bundesweit geht man von einem Ausscheiden von gut 40 Prozent aller Jurist*innen bis 2030 aus. So Deutscher Richterbund, Die personelle Zukunftsfähigkeit der Justiz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 7, abrufbar unter: http://rba-nw.de/uploads/DRB- Positionspapier%20Nachwuchsgewinnung_kl.pdf; jüngst warnten zudem mehrere Gewerkschaften in diesem Zusammenhang vor der Handlungsunfähigkeit des Staates, s. https://www.welt.de/ wirtschaft/article246878548/Fachkraeftemangel-Gewerkschaften- warnen-vor-staatlicher-Handlungsunfaehigkeit.html.
83 Gleichzeitig könnte man von den Werten und Sichtweisen der
Zwar könnte man den bestehenden und aufkommen- den Personalmangel möglicherweise durch die Einstel- lung von jungen, motivierten und idealerweise digitalaf- finen Jurist*innen beseitigen.83 Dies wirft jedoch ein weiteres Problem auf: Die für die Aufrechterhaltung von Justiz und Verwaltung wichtigen Berufe (also sämtliche Organe der Rechtspflege oder Verwaltungsjurist*innen) werden zunehmend als unattraktiv wahrgenommen. Sie erfordern einerseits ein zweites juristisches Staatsexa- men – immer mehr Absolvent*innen entscheiden sich nach dem ersten Examen jedoch gegen das Referendari- at und damit gegen den Eintritt in die klassischen juristi- schen Berufe.84 Andererseits entstehen auch im juristi- schen Bereich neue Berufsfelder, die eine flexiblere, indi- viduellere aber gleichzeitig sinnstiftende Tätigkeit er- möglichen. Legal Tech ermöglicht bspw. die Verknüpfung neuester Technologien mit Rechtsfragen. Mittels Legal Design erhält darüber hinaus der Design Thinking-An- satz Einzug in das Bearbeiten von Rechtsfragen und zahlreiche Jurist*innen haben ihren Weg in Unterneh- men gefunden, wo sie als eine Art Übersetzer*innen tä- tig sind, um rechtliche Gesichtspunkte z.B. frühzeitig in Entwicklungsprozesse einzubringen. Selbst wenn man das zweite Examen mit den vom Staat geforderten guten Noten ablegt, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der Weg in Justiz und Verwaltung vorgegeben ist, um dort im Bereich von Rechtsprechung und Rechtsanwendung oder der Vorbereitung von Regulierungsverfahren mit- zuwirken. Der öffentliche Dienst ist hier gegenüber vie- len möglichen Alternativen schlicht im Nachteil. Dies bezieht sich in erster Linie nicht auf die niedrigere Ver- gütung, sondern vor allem auf die geringeren Möglich- keiten von individueller Förderung, Aufstiegschancen und Selbstbestimmtheit der Arbeit.
4. Kultur und Selbstverständnis von Jurist*innen
Des Weiteren zeigen sich Jurist*innen vermehrt auch in anderen Rollen, die nicht unbedingt eine neue Berufs- sparte bedeuten. Gerade bei der Frage des Datenschutzes bzw. der Beurteilung der dahinterstehenden Rechte (auf EU-Ebene: Achtung des Privat- und Familienlebens sowie Schutz bezogener Daten, Art. 7, 8 GrCh; auf natio- naler Ebene: Recht auf informationelle Selbstbestim- mung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG) hat sich in den letzten Jahren eine intensive und kontrovers geführte Diskussion gezeigt. Hierbei kommt es vor, dass
Jüngeren profitieren.
84 Deutscher Richterbund ebda., S. 10 ff.
85 Zur Grundrechtsgewährleistung durch Datennutzung siehe Heck-
mann/Paschke, Datenschutz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht,
München, 2022, § 103 Rn. 97 ff.
86 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Jurist*innen, die eigentlich dazu angehalten wären, den Umgang mit Daten in einen rechtlich zulässigen Rah- men zu lenken und dabei die verschiedenen rechtlich geschützten Positionen in einen angemessenen Aus- gleich zu bringen, sich eher als Lobbyist*innen hervor- getan haben. Keine Frage, Jurist*innen dürfen parteiisch sein, wenn ihre Position dies erfordert. Werden sie aber (im staatlichen und damit allgemeinen Interesse) für bestimmte Aufgaben, z.B. als Datenschutzbeauftragte, bestellt, so gilt es, alle relevanten Positionen einzubezie- hen. Neben dem Schutz personenbezogener Daten bein- haltet das auch das Recht auf Nutzung (personenbezoge- ner) Daten.85 Des Öfteren scheint in der (öffentlichen) Debatte vergessen zu werden, dass bspw. die DSGVO nicht nur „Vorschriften zum Schutz natürlicher Perso- nen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten“, sondern auch „zum freien Verkehr solcher Daten“ ent- hält, vgl. Art. 1 Abs. 1 DSGVO. Das Recht auf Daten- schutz ist kein „Übergrundrecht“ und übertrumpft daher auch nicht pauschal andere Interessen. Wie bei anderen Kollisionen ebenfalls, gilt es, die betroffenen Rechtsposi- tionen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Kollidieren verschiedene Grundrechte miteinander, muss ihnen im Wege der praktischen Konkordanz zu Geltung verholfen werden. Demnach gilt es, eine Lösung zu finden, bei der beide Grundrechte bestmöglich zum Tragen kommen, durch das eine das andere jedoch nicht an Wirkkraft verliert.86
Das Datenschutzrecht ist hierbei nur ein Beispiel da- für, dass sich Jurist*innen durchaus als „Verhinderer“ und weniger als „Ermöglicher“ positionieren. Statt in den aufgeworfenen Rechtsfragen die Möglichkeit zu se- hen, Chancen zu ergreifen und Wege aufzuzeigen, wird oftmals betont, was nicht geht. Damit wird mitunter der Weg zu einer möglichen funktionierenden und rechts- konformen Lösung verbaut.
Eng mit dem Selbstverständnis der Jurist*innen ver- bunden ist die bestehende Kultur. Die Ausbildung för- dert weiterhin Einzelkämpfer*innen und belohnt Indivi- duen, die sich von der Gruppe abheben. Der Fokus der Ausbildung und Bewertung liegt dabei auf dem Repro- duzieren bestimmter Streitstände und Rechtsprechung. Mittelbar wird dadurch die Abgrenzung unter den Stu- dierenden gefördert, Auswendiglernen geht Verständnis vor und zusätzliche Aktivitäten und das Erlernen weite- rer Kompetenzen87, die nicht examensrelevant sind,
Deutschland, Heidelberg, 1999, S. 71.
87 Zur Teamfähigkeit und ihrer Einbeziehung in Ausbildung und
Prüfung siehe auch Heckmann/Seidl/Pfeifer/Koch c.t. <compliant teamwork>. Teamorientiertes Lernen in den Rechtswissenschaf- ten, Berlin, 2015.
88 Vgl. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechts-
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werden nur selten honoriert. Es wundert daher nicht, dass man auch den „fertigen Jurist*innen“ nachsagt Einzelkämpfer*innen zu sein und sich schwer tun, als Gruppe oder Team etwas zu erreichen. Möglicherweise bedingt dies ebenfalls, dass Fehler eher versteckt werden, als diese öffentlich zu machen, um einen gemeinsamen Lernprozess anzustoßen.
5. Negative Synergien
Hinzu kommt, dass sich die vorgenannten Faktoren gegenseitig verstärken. Das immer weitere Entfernen von Recht und Wirklichkeit sorgt für eine stetige Aus- weitung von Rechtsunsicherheit und damit zu negativen Folgen für das Individuum und die Gesellschaft. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, Innovationen durch einen entsprechenden Rechtsrahmen zu ermöglichen und zu fördern, verliert seine Attraktivität als Wirtschaftsstand- ort. Fehlende Ressourcen bei steigendem Bedarf sowie die im Verhältnis unattraktiver werdenden beruflichen Aussichten, verstärken den bestehenden Personalmangel und verringern die Handlungsmöglichkeiten des Staates weiter. Eine Lösung erscheint hier nicht mehr allein über das Aufbringen enormer finanzieller Mittel möglich, sondern es droht zumindest ein zeitweises Abfallen der Qualität. Schließlich können die individuellen negativen Erfahrungen mit dem Recht in all seinen Facetten zum Schwinden der Akzeptanz in der Gesellschaft beitragen und die Steuerungsmöglichkeit des Rechts weiter ein- schränken, bis der Rechtsstaat schließlich ganz zum Erliegen kommt.
6. Zwischenergebnis: Der Rechtsstaat in einer Abwärts- spirale
Ein Auseinanderfallen von Recht und Wirklichkeit ist unserem Rechtsstaat zu einem gewissen Grad nicht fremd.88 Die zögerliche bzw. überlegte Adaption des Rechts mag zum Teil sogar als Vorteil im Sinne eines Ge-
normen, 1997, S. 173 ff.; Bringewat, Geltungsverlust von Normen und Verfügungen des öffentlichen Baurechts im Spannungsver- hältnis von Recht und Wirklichkeit, Baden-Baden, 2012, S. 19; vgl. auch, jedoch mit stärkerem Fokus auf Österreich Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Berlin, 1970, S. 30.
89 Zum Entwickeln von Visionen aus Science-Fiction s. Hermann, Von Science-Fiction lernen: Welche Digital- und Datenpolitik wollen wir?, Tagesspiegel Background v. 2.12.22, abrufbar unter: https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/von-science- fiction-lernen-welche-digital-und-datenpolitik-wollen-wir.
90 So beeinflussten die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Werte und Konzepte die Verfassungen einer Vielzahl von Demokratien, u.a. erkennbar z. B. auch bei der Verankerung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen in die post-franquistische Verfassung Spaniens von 1978, vgl. Oehling de
genpols an Beständigkeit zu den sich ansonsten so schnell verändernden Umständen angesehen werden.
Gewiss bedeutet Kontinuität im Recht auch Verläss- lichkeit, Absicherung und Vorhersehbarkeit; Attribute, die man mit einem funktionierenden Rechtsstaat verbin- den sollte. Nichtsdestotrotz kann die Diskrepanz zwi- schen Recht und Wirklichkeit irgendwann so groß wer- den, dass die beiden Ebenen nur noch losgelöst vonein- ander existieren, das Recht mithin seine Steuerungskraft im Wesentlichen verliert.
In einer solchen Situation helfen auch abstrakte Wer- te oder Ordnungsprinzipien nicht, wenn sie nicht (mehr) mit Vorstellung und Moral der gegenwärtigen Gesell- schaft als Subjekte der Rechtsordnung übereinstimmen. Die Folge einer solchen Abwärtsspirale ist der schlichte Akzeptanzverlust des Rechts und mit ihm die fehlende Möglichkeit, zu wirken.
Dieser Abwärtsspirale entgegenzuwirken wird daher zentrale Aufgabe der kommenden Jahre sein, um auch unter Zeitdruck den verschiedenen Krisen trotzen zu können.
III. Dem Steuerungsverlust des Rechts begegnen
Aus dieser beschriebenen Abwärtsspirale ergibt sich nichts weniger als ein drohender Steuerungsverlust des Rechts, dem es ganzheitlich zu begegnen gilt.
1. Das Ziel: Der Rechtsstaat als Standortfaktor
Ziel der Maßnahmen kann dabei nicht nur sein, die Steuerungskraft in irgendeiner Art zu erhalten, sondern vielmehr einer klaren Vision zu folgen.89 Das deutsche Rechtssystem ist im EU-weiten und internationalen Ver- gleich hoch angesehen, verfügt über viele Stärken und sowohl Rechtsprechung als auch Gesetze gelten als Vor- bilder und Orientierungsmarken für verschiedene Län- der weltweit.90 Ein funktionierender, im Sinne von Kon-
91
los Reyes, El concepto constitucional de dignidad de la persona: Forma de comprensión y modelos predominantes de recepción en la Europa continental, in: Revista Española de Derecho Constitu- cional, 2011, S. 164 ff. Auch im zivil- und strafrechtlichen Bereich konnten zahlreiche deutsche jur. Konzepte und Standards ihren Fingerabdruck in diversen internationalen Rechtsordnungen hinterlassen (v.a. in Estland, Asien und Südamerika), vgl. Kull, Reform of Contract Law in Estonia: Influences of Harmonisation of European Private Law, in: Juridica International, 2008, S. 122 ff.; Zaffaroni/ Croxatto, El pensamiento alemán en el derecho penal argentino, in: Journal of the Max Planck Institute for European Legal History, 2014, S. 192 ff.; Luney Jr., Traditions and foreign influences: Systems of Law in China and Japan, in: Law and Con- temporary Problems, 1989, S. 129 ff.
Vgl. z.B. LL.B Legal Tech (Passau), https://www.uni-passau.de/
tinuität und Zuverlässigkeit getragener, Rechtsstaat stellt hierbei auch einen wichtigen Standortfaktor dar, auf den es sich zu besinnen und diesen es auch künftig zu för- dern gilt. Fraglich ist daher, mit welchen Impulsen es gelingen kann, den Rechtsstaat auch im Jahre 2035 (noch) als wertvollen Standortfaktor zu etablieren bzw. zu fördern. Denn die oben dargestellten negativen Syn- ergien auf Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft könn- ten mit einem starken Rechtsstaat ebenso ins Gegenteil verkehrt werden. Der Rechtsstaat wäre somit Garant für eine Gesellschaft nach unseren freiheitlich demokrati- schen Vorstellungen und Werten – mithin im Sinne aller.
2. Modernisierung der juristischen Ausbildung
Das Recht ist ohne die Menschen nichts. Wie bei ande- ren Transformationsprozessen, hängt dessen Erfolg maßgeblich von den Personen ab, die sie bewirken und die von ihnen betroffen sind. Der effektivste Prozess und die besten Technologien sind wertlos, wenn sie nicht genutzt werden. Aus diesem Grund gilt es, die juristische Ausbildung an die Arbeitswelt und Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft anzupassen. Neben der materiell-rechtlichen Auseinandersetzung mit Digitali- sierungsthemen (wie z.B. durch die Möglichkeit sich bereits während der Ausbildung darauf zu spezialisieren (sog. Schwerpunktbereich oder Berufsfeld) oder im Rahmen spezieller und interdisziplinärer Studiengän- ge91), bedarf es ebenso der Vermittlung der praktischen Fähigkeiten. Jurist*innen arbeiten bereits jetzt zu wesent- lichen Teilen am Computer, nutzen verschiedene Daten- banken und Software zur Erstellung der Schriftsätze oder Berechnung von Ansprüchen. Eine Reform der juristischen Ausbildung hätte nicht nur den Vorteil, dass diese inklusiver und chancengerechter gestaltet wäre und die Absolvent*innen die tatsächlich benötigten Fähigkeiten vermittelt bekämen,92 sondern auch, dass die tendenziell bestehende Hemmung gegenüber Inno- vationen im Rechtsbereich abgebaut werden könnte. Dies ebnet den Weg dafür, das technisch Mögliche gekonnt einzusetzen und so zur dringend benötigten Entlastung des knappen Personals beizutragen. Jurist*innen sind nicht ersetzbar, es gibt jedoch Aspekte der juristischen Arbeit, die sich automatisieren oder zumindest vereinfachen ließen, wenn man es denn zulie- ße.
legaltech, sowie LL.M. Legal Tech (Regensburg), https://www. legaltech-ur.de/.
92 Vgl. Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprü-
Initiativen wie iur.reform93 setzen sich bereits jetzt für eine Modernisierung der juristischen Ausbildung ein. Dazu wurde die seit über 20 Jahren bestehende Re- formdiskussion ausgewertet und in 44 zentrale Thesen gefasst, welche schließlich in die bundesweit größte Um- frage unter Jurist*innen geflossen sind. Solche Bestre- bungen gilt es zu fördern und deren Ergebnisse als ersten Impuls zu nutzen.
3. Netzwerke schaffen und fördern
Netzwerke sind auch für Jurist*innen wichtig. Sie sollten weniger mit drohenden Befangenheitsanträgen assozi- iert und stattdessen bewusst geschaffen und genutzt wer- den. Solche Netzwerke entstehen aktuell vor allem auf natürliche Weise in den verschiedenen Institutionen und über die üblichen beruflichen Kontakte. In einigen Bereichen finden sich auf Initiative Einzelner bereits orts- bzw. institutionsübergreifend Menschen zum Aus- tausch zusammen. Foren wie die digitale Richterschaft oder Vereine wie der Next e.V. ermöglichen es Interes- sierten einerseits, sich mit ihren Erfahrungen und Fra- gen an ein größeres Publikum zu wenden und persönli- che Kontakte zu knüpfen. Dies schafft Vertrauen unterei- nander und fördert einen ehrlichen Umgang mit Problemen und Herausforderungen. Andererseits infor- mieren solche Initiativen und lenken Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen, sorgen somit für eine gewisse Sichtbarkeit und motivieren möglicherweise zum eige- nen Engagement. Dadurch wiederum können vermeint- liche Einzelkämpfer*innen ermutigt und zusammenge- bracht werden. Diese Netzwerke sind zudem notwendig, um der steigenden Komplexität auf technischer und rechtlicher Ebene zu begegnen. Es gilt daher, sie aktiv einzurichten und zu fördern.
4. Durchlässigkeit und Interdisziplinarität stärken
Die Vielseitigkeit der juristischen Berufe und die unter- schiedlichen Erfahrungen, die dadurch gesammelt wer- den können, bieten eine weitere große Chance vonein- ander zu lernen. Dennoch sind Perspektivwechsel eher eineSeltenheit.NurwenigeJurist*innenwechselnaus der Anwaltschaft ins Richteramt und umgekehrt, oft- mals wird der nach dem Examen eingeschlagene Karrie- reweg über viele Jahre weiterverfolgt. Gerade das Dienst- und Beamtenrecht bietet hier nur wenig Durchlässigkeit
fung, Berlin, 2023, S. 22. 93 Vgl. https://iurreform.de/.
94 Zum bisherigen Stand und Verständnis s. Wrase/Scheiwe, Rechts-
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und Anreize, die in anderen Bereichen erworbenen Fähigkeiten (zeitweise) in den Dienst des Staates zu stel- len.
Anpassungen in diesem Bereich müssen zudem nicht auf Jurist*innen beschränkt sein. Bereits jetzt stellt diese Berufsgruppe z.B. einen großen Teil der ministeriellen Beamt*innen und schließt dadurch wertvolle Perspekti- ven und Methoden anderer Fachrichtungen aus. Fellow- ship-Programme wie Work4Germany haben den Mehr- wert dieses Ansatzes bereits unter Beweis gestellt und ge- zeigt, dass interdisziplinäres Arbeiten auch im öffentli- chen Sektor gelingen kann.
Neben der Durchlässigkeit zwischen den verschiede- nen Berufen, gilt es daher, die Rechtswissenschaft mit weiteren Disziplinen zu verknüpfen. Recht und Rechts- staat sind jetzt auf die Erkenntnisse anderer Wissen- schaften und Disziplinen angewiesen. So wird es auf- grund der digitalen Transformation immer wichtiger, neben der technischen Funktionsweise auch die Auswir- kungen auf Gesellschaft oder Wirtschaft zu begreifen.
Damit dies gelingt, mithin eine „gute“ Rechtsetzung ermöglicht wird, die den Regelungsbedarf erkennt und im Rahmen der (verfassungs-)rechtlichen Vorgaben und anhand des politischen Willens umsetzt, bedarf es mehr als die aktuell im Gesetzgebungsprozess etablierten An- hörungen. Es ist vielmehr ein frühzeitiger und echter in- terdisziplinärer Austausch notwendig. Dies umfasst ins- besondere eine Kommunikation auf Augenhöhe, die Fä- higkeit, sich in andere Positionen hineinzuversetzen und das Hinterfragen der eigenen Annahmen. Interdiszipli- näres Arbeiten ist mehr als das Beteiligen verschiedener Disziplinen. Es erfordert weniger die höchsten Fertigkei- ten im eigenen Fachbereich, sondern vielmehr bestimm- te, oft unter der Kategorie soft skills zusammengefasste Fähigkeiten, die somit als „Zukunftsskills“ in den Mittel- punkt rücken.
5. Fehler- und Lernkultur etablieren
Auch wenn ein Rechtsstaat danach strebt, Fehler zu ver- meiden, so kommen sie zwangsläufig vor und werden sich möglicherweise häufen, wenn man innovative Ansätze verfolgt. Eine Kultur, in der Fehler unweigerlich negative Konsequenzen für den Einzelnen haben, regt dazu an, diese zu verschweigen. Dass Fehler nicht ver- schwiegen, sondern offen behandelt werden sollten, ist per se nicht Neues. Wichtig ist jedoch sich bewusst zu machen, dass der transparente Umgang mit Fehlern nicht nur aus Sicht des Einzelnen wünschenswert ist,
wirkungsforschung revisited, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie,
2018, S. 5 ff.
95 S. Lessig, Code: And Other Laws Of Cyberspace, New York, 1999,
sondern vor allem die Möglichkeit bietet, durch Aufklä- rung und Adaption des Systems weitere Fehler zu ver- meiden. Daher müssen solche Strukturen geschaffen werden, die sicherstellen, dass etwaige Fehler nicht nur kommuniziert, sondern aus ihnen auch die notwendigen Schlüsse gezogen werden, somit neben einer Fehler- auch eine Lernkultur sicherstellen.
6. Digitalisierung des Rechts
Entscheidend wird zudem sein, ob es gelingt, die Poten- tiale der Digitalisierung auch im und für das Recht zu nutzen. Eine flächendeckende elektronische Aktenfüh- rung kann hierbei nur ein erster Schritt sein, um eine umfassende elektronische Grundlage für die weitere Arbeit zu schaffen. Es bedarf darüber hinaus einer umfassenden Datengrundlage und der qualitativen Auf- bereitung dieser, um den künftigen Herausforderungen zu begegnen. Nicht nur würde z.B. eine Veröffentlichung und Aufbereitung sämtlicher Gerichtsentscheidungen in anonymisierter Form dazu beitragen, dass Richter*innen bei ihren Entscheidungen im gesamten Bundesgebiet auf umfassende Materialien zur Bewertung und Einschät- zung zurückgreifen könnten, sondern ebnete dies auch den Weg zu einer umfassenden Rechtswirkungsfor- schung. Auf der einen Seite würden dadurch die Entscheidungsträger*innen in Exekutive, Legislative und Judikative entlastet, da sie ihre wertvollen Kapazitä- ten nicht mehr zur mühsamen Erfassung und Aufberei- tung des Sachverhalts, der Beauftragung von weiteren Gutachten oder Studien sowie der Tatsache, dass bestimmte Informationen schlicht nicht eingeholt wer- den können, verwenden müssten. Zudem schafft ein solch datenbasiertes Recht Transparenz und dadurch nicht nur Vertrauen in den Rechtsstaat, sondern ermög- licht es ebenso, dass das Recht gerechter wird. Verhält- nismäßig leicht könnten z.B. regionale Unterschiede in der rechtlichen Bewertung dargestellt und hinterfragt werden. Zudem könnte dadurch überprüft werden, ob die Regelungsintention des Gesetzgebers mit einer kon- kreten Norm tatsächlich erreicht wird sowie, ob und wo sich Probleme in der Rechtsanwendung stellen, um ent- sprechend schnell darauf reagieren zu können (Rechts- wirkungsforschung94). Weiter könnten Regulierungs- wirkungen von Umständen oder Dritten aufgedeckt werden, die bei der bisherigen Fokussierung auf formel- les und materielles Recht unberücksichtigt bleiben. Neben der normativen Kraft des Faktischen gilt es eben- so, die normativen Wirkungen von Code95, (Industrie-)
S. 3 ff.
96 Insbes. auch nicht gesetzlich normierte Regularien, sog. (Indust-
Standards96 oder die Macht nichtstaatlicher und/oder globaler Akteure zu untersuchen.97
In diesem Zusammenhang ist zudem zu hinterfra- gen, inwieweit durch technische oder systemimmanente Vorgaben Rechtsbrüche bereits vermieden werden kön- nen. So mag es auf der einen Seite vorteilhaft erscheinen, dass bestimmte rechtswidrige Handlungen schlicht un- möglich gemacht würden, auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass Gegenstand einer solchen Regulierung durch Technik der Mensch ist, dessen indi- viduelle (Entscheidungs-)Freiheit es durch das Recht zu schützen gilt. Eine solche Lösung löst daher nur das oberflächliche Problem der Überlastung, schützt in Wahrheit aber nicht die individuelle Freiheit und ist da- her im Ergebnis abzulehnen. So mag es vielleicht kein „Recht auf Rechtsbruch“ geben, jedoch schützen grund- rechtliche Freiheiten vor einer vollständigen Determi- nierung menschlicher Entscheidungen und Handlungs- weisen durch umfassende technologisch ermöglichte Automatisierung des Normvollzugs98.
Mehr Daten führten darüber hinaus keinesfalls dazu, dass Jurist*innen obsolet würden. Die komplexen Ein- schätzungsspielräume und Abwägungen erfordern gera- de eine menschliche Entscheidung, die nicht automati- siert werden kann. Daten und der Einsatz entsprechen- der datenbasierter Technologien (z.B. durch Legal Tech) können jedoch die notwendige Entlastung im Bereich des Rechts schaffen. Dies kann indes nur gelingen, wenn neben der technischen Infrastruktur, dem Aufbau der Daten und der Kompetenzvermittlung auch ein allge- meines Bekenntnis zur Datennutzung erfolgt. Dies be- deutet, dass eine etwaige bestehende einseitige Fokussie- rung auf Datenschutz in einen verhältnismäßigen Aus- gleich mit den Interessen an der Datennutzung gebracht werden muss.
Darüber hinaus müssen die Fragen der praktischen Umsetzung, u.a. das Aufbringen der notwendigen finan- ziellen Mittel, diskutiert werden. Im Bundesrat wurde hierzu beispielsweise schon ein Vorschlag für eine dies- bezügliche Grundgesetzänderung eingebracht.99
rie-)Standards (z. B. DIN-Normen), nehmen mittlerweile einen hohen Stellenwert im internationalen Handel ein, vgl. Sandl, Technische Normen und Standards – unterschätzte Größen im geopolitischen Machtwettbewerb, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 2021, S. 265 ff.
97 Bspw. Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler, vgl. Urban, Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler. Kontexte und Prob- leme gewerkschaftlicher Strategiebildung, in: Forschungsjournal NSB, 2005, S. 44 ff.
7. Wandel der Rechtskultur
Kein Zweifel: Wir werden innerhalb der nächsten 12 Jah- re einen Wandel des Rechts – von der Art, wie es ent- steht, über die Mechanismen seiner Verwirklichung bis zu der Rolle der (menschlichen) Akteure in der Rechts- ordnung – erleben, wie es dies über all die Jahre, Jahr- zehnte, Jahrhunderte nicht gab, in denen Rechtsstaat- lichkeit zum prägenden Element moderner Gesellschaf- ten avancierte. Die rasante technologische Entwicklung schafft neue Zugänge zum Recht durch Digitalisierung, Konfliktvermeidung durch Automatisierung, produktive Mensch-Maschine-Interaktionen und Verfahrenseffizi- enz durch smarte Prozesse auf besserer Datenbasis. So forscht man bereits an algorithmenbasierter Gesetzge- bung, die künftig Grundlage des automatisierten Geset- zesvollzugs, aber auch der digitalen Vermittlung von Norminhalten an die (rechtsunkundigen) Normadressa- ten sein wird.
Es leuchtet ein, dass dies alles schon aufgrund seiner Komplexität und Dynamik nicht in die Denkweise über- kommener Rechtspraxis und Juristenausbildung passt. Um so mehr (und schneller) muss man umdenken und die Rechtsordnung – behutsam anpassend – umgestal- ten, solange dies noch in beherrschbaren Schritten erfol- gen kann. Das alles gelingt unterdessen nur, wenn man das überkommene Recht nicht gegen innovative Rechts- ideen ausspielt, ganz nach dem Motto: Die hier darge- stellten juristischen Innovationen seien letztlich rechts- widrig und schon deshalb zu unterbinden. Um genau dies zu verhindern, fordert Dirk Heckmann einen Rechts- kulturwandel100 hin zu einer konstruktiv-abwägenden Haltung gegenüber dem Neuen, dem Unbekannten: „Konstruktiv in dem Sinne, dass man auch als Jurist nicht einfach Bedenken in den Raum stellt, sondern so- fort Lösungen anbietet oder zumindest anstrebt – und dabei zugleich den Wert der digitalen Innovation aner- kennt. Sowie abwägend in dem Sinne, dass man bei dem (im Übrigen notwendigen) Rechtsgüterschutz nicht nur das eine Rechtsgut benennt und verteidigt, um das man
98 So zutreffend in Anlehnung an das Böckenförde-Diktum Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit und Determinierungsgesamtrech- nung, in: MMR 2019, 563: „Nur ein totalitärer Staat verhindert flächendeckend den Rechtsbruch, erzwingt die Einhaltung dessen, was er als Recht setzt, durch Totalüberwachung oder allgegenwär- tigen technischen Zwang.“
99 BR-Drs. 165/1/18, S. 10 f.
100 Siehe den IFO-Schnelldienst 08/2023 vom 16. August 2023, S. 22 ff. 101 Hierzu der Werkstattbericht von Rachut, ODW 2023, 89 ff.
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sich sorgt, sondern zugleich kollidierende Rechtsgüter in den Blick nimmt, deren Wert und Wichtigkeit ebenso auf die Waagschale gehören.“
Das alles lässt sich aber nur bewältigen, wenn man stärker als je zuvor wissenschaftliche Expertise in all die- se Prozesse einbezieht, und zwar von der Konzeptions- phase über Sachverständigengutachten in der Projekt- entwicklung bis zur fachlichen Unterstützung vor, wäh- rend und nach einer Evaluation. Eine solche Rolle nimmt etwa das TUM Center for Digital Public Services (www. tum-cdps.de) seit seiner Entstehung im Juni 2020 mit Erfolg ein.101
Die Neugestaltung einer (digitalisierten) Rechtsord- nung kann nicht „von innen heraus“ gelingen – vielmehr sollte hier die (Rechts-)Wissenschaft solche Transforma- tionsprozesse begleiten: sie hat die notwendige Experti- se, Glaubhaftigkeit und Gestaltungskraft. Rechtswissen- schaft, zumal in ihrer interdisziplinären Verflechtung, kann mehr als nur das Recht erklären und Debatten lei- ten. Sie kann und sollte auch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung darin unterstützen, sich unter den Bedingungen fortwährender Digitalisierung, Automati- sierung und Vernetzung zu erneuern.
IV. Fazit: Das Recht zwischen Kontinuität und Adap- tion
Die vorstehenden Maßnahmen zeigen erste Ansatz- punkte auf, um den Rechtsstaat zukunftsfähig zu machen. Unbenommen wird das Recht stets auf Verän- derungen reagieren müssen. Denn Aufgabe des Rechts ist es nicht, zu regulieren, was in ferner Zukunft sein könnte, sondern allgemein gültige abstrakt-generelle Regelungen für das Heute aufzustellen und über deren Anwendung zu wachen. Diese Normen anzupassen kann aus verschiedenen Gründen notwendig sein. Inno- vationen können ein Treiber dieser Entwicklung sein, nicht jeder Fortschritt erfordert jedoch eine Anpassung des Rechts. Die bekannten Herausforderungen in die-
sem Anpassungsprozess erhalten durch die aktuell beste- henden, zu erwartenden und noch nicht absehbaren Entwicklungen eine neue Dimension. Die digitale Trans- formation und der stetige technologische Fortschritt sind nur ein Beispiel für Herausforderungen in einer Größe, dass, sollten sie ignoriert werden, sie zu einem Steuerungsverlust des Rechts führen könnten.
Die Fragen, mit denen sich der Rechtsstaat konfron- tiert sieht, haben sich durch das Digitale bereits verviel- facht und werden dies künftig in immer schnellerer Ab- folge tun. Damit der Rechtsstaat weiterhin handlungsfä- hig bleiben kann und nicht externen Zwängen unter- worfen wird, sind bereits heute weitsichtige Anpassungen erforderlich. Bei dem Ruf nach Adaption und Innovati- on, darf gleichzeitig nicht vergessen werden, dass die Kontinuität des Rechts ein zentraler Erfolgsfaktor unse- res Rechtsstaats ist. Eine gewisse Zerrissenheit des Rechts zwischen Kontinuität und Adaption ist daher un- ausweichlich. Statt zu versuchen diesen Konflikt aufzu- lösen oder zu umgehen, kann er stattdessen genutzt wer- den, um das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Po- len herzustellen und zu bewahren. Dies mag sich als be- sonders herausfordernd und in der Praxis durchaus aufreibend gestalten, kann letztlich jedoch die Zukunfts- fähigkeit des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates gewährleisten. Allemal lohnt es sich, über die Rolle des Rechts in der digitalen Transformation innovativ, kreativ und auch disruptiv nachzudenken – und dies jetzt, nicht erst in 12 Jahren.
Sarah Rachut ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Recht und Sicherheit der Digitalisierung (Prof. Dr. Dirk Heckmann) an der Technischen Universi- tät München und Geschäftsführerin der Forschungs- stelle TUM Center for Digital Public Services. Sie forscht und lehrt zu verfassungsrechtlichen Fragen der Digitalisierung, schwerpunktmäßig in den Bereichen E‑Government, E‑Health und E‑Education.