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I. Eine Bestands­auf­nah­me: 12 Jah­re in Recht und Wirklichkeit

1. Dro­hen­der Wir­kungs­ver­lust des Rechts: Die nor­ma­ti­ve Kraft des Faktischen

2. Gesetz­ge­bung – Ver­lo­re­ner Wett­lauf mit der Rea­li­tät? 3. Recht­spre­chung – In 12 Jah­ren zum Recht?
4. Rechts­um­set­zung
5. Juris­ten­aus­bil­dung – Nach 12 Jah­ren qualifiziert?

6. Zwi­schen­er­geb­nis

II. Ver­stär­ken­de Fak­to­ren
1. Zuneh­men­de Komplexität

a) Kom­ple­xi­tät auf der Sach­ver­halts­ebe­ne b) Kom­ple­xi­tät auf der Rechts­ebe­ne
c) Fol­gen der Komplexität

2. Kei­ne Abhil­fe durch Tech­no­lo­gie­ein­satz
3. Unat­trak­ti­vi­tät der klas­si­schen juris­ti­schen Beru­fe
4. Kul­tur und Selbst­ver­ständ­nis von Jurist*innen
5. Nega­ti­ve Syn­er­gien
6. Zwi­schen­er­geb­nis: Der Rechts­staat in einer Abwärtsspirale

III. Dem Steue­rungs­ver­lust des Rechts begeg­nen 1. Das Ziel: Der Rechts­staat als Stand­ort­fak­tor 2. Moder­ni­sie­rung der juris­ti­schen Aus­bil­dung 3. Netz­wer­ke schaf­fen und fördern

4. Durch­läs­sig­keit und Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät stär­ken 5. Feh­ler- und Lern­kul­tur eta­blie­ren
6. Digi­ta­li­sie­rung des Rechts
7. Wan­del der Rechtskultur

IV. Fazit: Das Recht zwi­schen Kon­ti­nui­tät und Adaption

Stellt man sich das Leben im Jahr 2035 vor, wer­den Tech- nolo­gien im Ein­satz sein, die den All­tag weit­ge­hend digi- tali­sie­ren, auto­ma­ti­sie­ren und ver­net­zen. Nahe­zu alles und jeder wird Daten erhe­ben und gleich­zei­tig Gegen- stand von Daten­er­he­bung sein. Ver­net­zung erschließt Poten­tia­le, durch die heu­te noch unbe­kann­te Erkennt- nis­se erlangt wer­den, die die Kraft haben, Gesell­schaft, Staat und Wirt­schaft grund­le­gend zu verändern.1 Neue Geschäfts­mo­del­le wer­den ent­ste­hen, mög­li­cher­wei­se setzt sich der Trend zu mehr Indi­vi­dua­li­sie­rung fort,

* Die Autorin dankt Kath­rin Walt­her für die Erstel­lung der Gra­fik sowie Zoe Nogai für die Anre­gung aus einer rechts­wis­sen­schaft­li- chen Per­spek­ti­ve auf das Jahr 2035 zu blicken.

viel­leicht nimmt aber auch die Gemein­schaft einen grö- ßeren Stel­len­wert gegen­über dem Indi­vi­du­um ein, erle- ben wir eine unge­ahn­te Par­ti­zi­pa­ti­on – wir wis­sen es noch nicht.

Was wir jedoch wis­sen: Das Leben wird schnel­ler und kom­ple­xer, nicht nur der tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt, auch Kli­ma­kri­se und Krie­ge wer­den unse­re Gesell­schaft wei­ter her­aus­for­dern. Der Erfas­sung und Ver­ar­bei­tung von Daten wird dabei eine noch grö­ße­re Bedeu­tung zu- kom­men und die Wei­chen, die unse­re Zukunft bestim- men, wer­den bereits jetzt gestellt. Denn längst hat der Wett­lauf um die (digi­ta­le) Sou­ve­rä­ni­tät der Staa­ten, die Ver­tei­lung von Res­sour­cen, den Auf­bau benö­tig­ter Inf- rastruk­tur und das Schaf­fen von inno­va­ti­ons­freund­li- chen, aber siche­ren bzw. „gerech­ten“ Daten­räu­men begonnen.

Einen der wich­tigs­ten Hebel bie­tet dabei das Recht. Wie wir unse­ren Rechts­staat gestal­ten, somit neu­es Recht schaf­fen, bestehen­des anpas­sen und in Rechtsp­re- chung und Rechts­an­wen­dung auf die wech­seln­den He- raus­for­de­run­gen reagie­ren, wird ent­schei­dend dafür sein, ob es uns gelingt, mit dem Wan­del in Tech­no­lo­gie und Gesell­schaft mit­zu­hal­ten. Bei alle­dem darf indes nicht ver­ges­sen wer­den: Egal wie „gut“ das Recht objek- tiv an die Wirk­lich­keit in der Zukunft ange­passt sein wird, es wird ohne uns Men­schen nicht funk­tio­nie­ren. Einer­seits ist der Fak­tor Mensch ent­schei­dend, wenn es um die Akzep­tanz und Legi­ti­mi­tät des Rechts­staa­tes geht. Ande­rer­seits müs­sen auch die Jurist*innen in den Wan­del ein­be­zo­gen wer­den. Denn sie wen­den das Recht tag­täg­lich an und sind ent­schei­dend an des­sen Wei­ter- ent­wick­lung betei­ligt. Ohne sie wird der not­wen­di­ge In- ter­es­sen­aus­gleich kaum gelingen.

Bis zum Jahr 2035 sind es von heu­te an zwölf Jah­re. Was zwölf Jah­re in der Tech­no­lo­gie­ent­wick­lung bedeu- ten, kann man erah­nen, wenn man zurück­blickt, was „Stand der Tech­nik“ in den Jah­ren 2011 und 1999 war. Schaut man sich dem­ge­gen­über die Rechts­ent­wick­lung an, ist ein Jahr­zehnt schnel­ler ver­gan­gen, als man von ei-

Sodan/Möstl, Staats­recht, Mün­chen, 2022, § 121 Rn. 2 spre­chen von den „größ­ten Umwäl­zun­gen der Mensch­heits­ge­schich­te“, die sie mit den „Dis­rup­ti­ons­fak­to­ren Ein­dring­lich­keit, Spreng­kraft, Geschwin­dig­keit und Unmerk­lich­keit“ bemessen.

Heck­mann/Pasch­ke, Digi­ta­li­sie­rung und Grund­rech­te, in: Stern/
Ord­nung der Wis­sen­schaft 2023, ISSN 2197–9197

Sarah Rach­ut

Recht ohne Wirk­lich­keit?
Ein rechts­wis­sen­schaft­li­cher Aus­blick ins Jahr 2035*

192 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

nem Fort­schritt gesetz­li­cher Anpas­sung an die Lebens- wirk­lich­keit spre­chen kann. Wäh­rend elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on im pri­va­ten und beruf­li­chen Umfeld seit Jah­ren Stan­dard ist und sowohl Waren als auch Dienst­leis­tun­gen bequem online bestellt bzw. gebucht wer­den kön­nen, ist dies bei staat­li­chen Ver­wal­tungs­an- gebo­ten wei­ter­hin die Aus­nah­me. So wur­de zum Bei- spiel 2003 erst­mals durch eine Ergän­zung des Ver­wal- tungs­ver­fah­rens­ge­set­zes gere­gelt, dass elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Bürger*innen und Ver­wal- tung über­haupt zuläs­sig ist – zunächst nur auf frei­wil­li- ger Basis aller Beteiligten.2 Zehn Jah­re spä­ter sah das E‑Go­vern­ment-Gesetz des Bun­des dann eine Pflicht des Staa­tes zu elek­tro­ni­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on vor3 und durch das Online-Zugangs-Gesetz (OZG)4 soll­te er- reicht wer­den, dass bis Ende des Jah­res 2022 eine nen- nens­wer­te Anzahl an staat­li­chen Leis­tun­gen auch elekt- ronisch zur Ver­fü­gung steht. Nach­dem letz­te­res nicht gelun­gen ist, gibt es nun 2023 einen neu­en Anlauf zur ge- setz­li­chen Umset­zung der Ver­wal­tungs­di­gi­ta­li­sie­rung („OZG 2.0“).5

Um zu ver­ste­hen, war­um Recht und (tech­no­lo­gi­sche) Wirk­lich­keit so weit aus­ein­an­der­klaf­fen, muss man nä- her betrach­ten, wie Recht (im Sin­ne von Rechts­an­wen- dung, Recht­set­zung, Recht­spre­chung, aber auch juris­ti- scher Aus­bil­dung) funk­tio­niert und war­um die­ses mit der Tech­no­lo­gie­ent­wick­lung nicht mit­hal­ten kann – viel­leicht auch gar nicht muss. Am Ende lässt sich mög- licher­wei­se eine Pro­gno­se wagen, wohin uns die­ser Spa- gat von Recht und Tech­nik im Jahr 2035 füh­ren kann.

I. Eine Bestands­auf­nah­me: 12 Jah­re in Recht und Wirklichkeit

Unab­hän­gig davon, wie rasant die Tech­no­lo­gie­ent­wick- lung in den nächs­ten zwölf Jah­ren sein mag: das Recht dürf­te der Wirk­lich­keit immer hin­ter­her­hin­ken. Anschau­lich wird dies ins­be­son­de­re beim Blick auf die Ver­fah­rens­dau­er gericht­li­cher Ent­schei­dun­gen. Bis ein Streit rechts­kräf­tig ent­schie­den ist, gehen oft­mals meh- rere Jah­re vorbei.6 Bis dahin ist der per­sön­li­che Groll viel­leicht schon ver­flo­gen, das Leben wei­ter gegan­gen und der eigent­li­che Streit­punkt nicht mehr als eine

  1. 2  Heck­mann, E‑Government im Ver­wal­tungs­all­tag, in: Kom­mu- nika­ti­on & Recht, 2003, S. 425 ff.; Roß­na­gel, Das elek­tro­ni­sche Ver­wal­tungs­ver­fah­ren. Das Drit­te Ver­wal­tungs­ver­fah­rens­än­de- rungs­ge­setz, in: NJW 2003, 469 ff.
  2. 3  Habam­mer/Denk­haus, Das E‑Go­vern­ment-Gesetz des Bun­des. Inhalt und ers­te Bewer­tung – Gelun­ge­ner Rechts­rah­men für elekt- roni­sche Ver­wal­tung?, in: Mul­ti­me­dia und Recht, 2013, S. 358 ff.
  3. 4  Gesetz zur Ver­bes­se­rung des Online­zu­gangs zu Ver­wal­tungs­leis- tun­gen v. 14.8.17 (BGBl. 2017 I, S. 3122), zul. geän­dert am 28.6.21

unschö­ne Erin­ne­rung. Und ging es bei dem Rechts­streit um eine Tech­no­lo­gie, ist die­se wäh­rend des Gangs durch die Instan­zen oft geal­tert. Eben­so schei­nen Recht­set- zung, Rechts­an­wen­dung und Rechts­aus­bil­dung einem ande­ren Takt zu fol­gen, als man dies aus ande­ren Berei- chen des Lebens gewohnt ist. Frag­lich ist, wie sich dies mit den vor allem durch die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on her- vor­ge­ru­fe­nen Her­aus­for­de­run­gen verträgt.

Das Recht erfüllt dabei inner­halb von Staat und Ge- sell­schaft ver­schie­de­ne Funk­tio­nen, sichert in ers­te Linie das fried­li­che Zusam­men­le­ben und schützt die Frei­heit jedes Ein­zel­nen. Durch die rechts­staat­li­chen Vor­ga­ben wird im Inter­es­se aller sicher­ge­stellt, dass ein fai­rer Inte- res­sen­aus­gleich statt­fin­det, Min­der­hei­ten geschützt und Macht­un­gleich­ge­wich­te aus­ge­gli­chen wer­den. Ein sol- cher Rechts­staat ist trans­pa­rent und vor­her­seh­bar. Wel- che abs­trak­ten Rech­te und Posi­tio­nen dabei als grund­le- gend erach­tet wer­den und wie der Staat auf­ge­baut ist, er- gibt sich im deut­schen Recht aus dem Grund­ge­setz. Die- sen abs­trak­ten Rege­lun­gen liegt das gesamt­ge­sell­schaft­li­che Wer­te­ver­ständ­nis zugrun­de, wel­ches sich durch­aus im Lau­fe der Zeit wan­deln kann. Was heu­te als gerecht emp­fun­den wird, muss es in zwölf Jah­ren nicht mehr sein. Kon­ti­nu­ier­li­che Ver­än­de­run­gen tat­säch­li­cher Umstän­de (z.B. die Ent­wick­lung und Ein- füh­rung neu­er Tech­no­lo­gien oder das Ent­ste­hen von Be- drohungslagen)wirkensichzumindestmittelbaraufdie Gesell­schaft und die Vor­stel­lung des Mit­ein­an­ders aus und sind damit u.a. Gegen­stand der sozio­lo­gi­schen For- schung.7 Das Recht muss ent­spre­chend auf sol­che tat- säch­li­chen und gesell­schaft­li­chen Ände­run­gen regie­ren. Einer­seits kann allein der Wan­del der Wert­vor­stel­lun­gen dazu füh­ren, dass bis­her als gerecht emp­fun­de­ne Rege- lun­gen nun als unge­recht erach­tet wer­den (z.B. bei der recht­li­chen Unter­schei­dung zwi­schen gleich­ge­schlecht- lichen und nicht-gleich­ge­schlecht­li­chen Part­ner­schaf- ten), ande­rer­seits kön­nen sich auf­grund tat­säch­li­cher Ände­run­gen neue Gefah­ren oder Risi­ken erge­ben, für die bis­her kei­ne (gerech­ten) Rege­lun­gen exis­tie­ren. Ge- rade durch die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on und die aktu­el­len glo­ba­len bzw. bevor­ste­hen­den Her­aus­for­de­run­gen be- steht die Mög­lich­keit von Inter­es­sen- und damit Macht- ver­schie­bun­gen. Die­se wie­der­um ber­gen das Risi­ko, dass

(BGBl. 2021 I, S. 2250).
Schus­ter, MMR-Aktu­ell 2023, 455784.
Fob­be hat hier­zu eine umfas­sen­de Aus­wer­tung der Verfahrensdau-

er an deut­schen Gerich­ten, u.a. dem BVerfG vor­ge­nom­men. Die

Daten­sät­ze sind hier abruf­bar: https://zenodo.org/record/7133364. 7 Fried­mann, Das Rechts­sys­tem im Blick­feld der Sozialwissenschaf-

ten, 1981; vgl. auch exem­pla­risch Tamm, Rechts­evo­lu­ti­on — dar­ge- stellt am Bei­spiel des Ver­brau­cher­rechts, KJ 2013, 52 ff.

sich künf­tig ver­mehrt Indi­vi­du­al­in­ter­es­sen gegen­über dem all­ge­mei­nen Wert­ver­ständ­nis durch­set­zen. Auf­ga­be des Rechts ist es daher auch, die­se Ent­wick­lun­gen zu über­bli­cken und die­sen ent­ge­gen­zu­steu­ern. Hier­bei gilt es bei­spiels­wei­se, die sozio­tech­ni­schen Fol­gen zu er- grün­den und auf die­se zu reagie­ren, um so auch zukünf- tig (Rechts-)Frieden und die Wirk­sam­keit der Grund- rech­te – mit­hin unse­re gesell­schaft­li­chen Vor­stel­lun­gen von einem gerech­ten Zusam­men­le­ben – zu gewährleisten.

1. Dro­hen­der Wir­kungs­ver­lust des Rechts: Die nor­ma­ti- ve Kraft des Faktischen

Geschieht dies nicht – ver­liert das Recht somit sei­ne Wirk- und Steue­rungs­kraft – kommt die Macht, Regeln zu set­zen und somit nor­ma­tiv zu wir­ken, ande­ren zu. Hier­bei wird die nor­ma­ti­ve Kraft des Faktischen8 rele- vant: Die­se beruht nicht auf einem gesamt­ge­sell­schaft­li- chen Wer­te­ver­ständ­nis, son­dern ist viel­mehr Ergeb­nis bestehen­der recht­li­cher Lücken oder „Grau­zo­nen“, wel- che das Schaf­fen von Tat­sa­chen, „dem Fak­ti­schen“, ermög­li­chen. Wie sich die nor­ma­ti­ve Kraft des Fak­ti- schen auch in einem ver­meint­lich durch­nor­mier­ten Rechts­staat aus­brei­ten kann, zeigt z.B. das Han­deln des Unter­neh­mens Uber Tech­no­lo­gies Inc.9 Der von Uber ange­bo­te­ne Fahr­dienst umfasst ver­schie­de­nen Beför­de- rungs­mo­del­le, die ste­tig ergänzt oder ver­än­dert wer­den. Die Per­so­nen­be­för­de­rung, die durch Kund*innen direkt über die Uber-App gebucht wird, erfolgt hier­bei durch Pri­vat­per­so­nen mit ihren eige­nen Fahr­zeu­gen. Durch Uber wird ledig­lich die Platt­form bereit­ge­stellt, die ihrer- seits Netz­werk­ef­fek­te nutzt. Das Inter­es­se des Unter­neh- mens Uber besteht dar­in, eine mög­lichst gro­ße Zahl von Per­so­nen an sich zu bin­den. Dabei hat es die Macht, ein- sei­tig die Regeln der Beför­de­rung zu bestim­men und die­se jeder­zeit anzu­pas­sen und somit auch unmit­tel­bar oder mit­tel­bar bestimm­te Personen(-gruppen) von sei- nem Mobi­li­täts­an­ge­bot auszuschließen.

Recht­lich unter­liegt Uber mit sei­nem Fahr­dienst den Rege­lun­gen des Per­so­nen­be­för­de­rungs­ge­set­zes (PBefG), das das Ein­hal­ten bestimm­ter Min­dest­stan­dards hin-

  1. 8  Jel­li­nek, All­ge­mei­ne Staats­leh­re, Ber­lin, 1929, S. 341 ff.
  2. 9  Rach­ut, Poli­zei­be­am­te als Per­so­nen­be­för­de­rer – Geneh­mi­gungs­fä-hig­keit einer Neben­tä­tig­keit als Uber-Fah­rer, in: ZBR 2021, 29 ff.
  3. 10  Rach­ut, ZBR 2021, S. 29 f. m. w. N.
  4. 11  OLG Frank­furt, Urt. v. 20.5.21 – 6 U 18/20 = GRUR 2022, 98; Bay-VerfGH, Beschl. v. 26.4.21 – 11 ZB 20.2076 = Beck­RS 2021, 10964; LG Frank­furt, Urt. v. 17.2.21 – 3–08 O 67/20 = GRUR-RS 2021, 6221;

sicht­lich Sicher­heit und Zuver­läs­sig­keit der Per­so­nen­be- för­de­rung sicher­stel­len soll. Per­so­nen­be­för­de­rungs­auf- trä­ge unter­wegs anzu­neh­men, ist dabei Taxi­un­ter­neh- men vor­be­hal­ten, an die erhöh­te Anfor­de­run­gen gestellt wer­den. Uber unter­läuft mit sei­nem Modell die­se Vor­ga- ben und stellt sich auf den Stand­punkt, dass die Vor­ga- ben für Taxi­un­ter­neh­men für das eige­ne Geschäfts­mo- dell schlicht nicht anwend­bar sei­en. Seit 2015 kam es da- her zwi­schen Uber und den natio­na­len Gerich­ten zu ei- nem stän­di­gen Hin-und-Her.10 Wäh­rend ver­schie­de­ne Gerich­te nach Kla­gen von Taxi­un­ter­neh­men das Modell von Uber auf­grund der Miss­ach­tung der recht­li­chen Vor­ga­ben (u.a. § 49 Abs. 4 S. 2 und 3 PBefG) als rechts- wid­rig ein­stuf­ten und die­ses untersagten,11 stellt sich Uber auf den Stand­punkt, sein Ange­bot (die App) ange- passt zu haben.12 Weil sich das jewei­li­ge Urteil daher auf ein frü­he­res Modell der Uber-App erstre­cke und nicht auf das aktu­el­le Geschäfts­mo­dell, fühlt sich Uber nicht an das Urteil gebun­den und setzt sei­ne Tätig­keit daher fort. Kon­kur­rie­ren­de Unter­neh­men, die die­se Urtei­le er- strit­ten hat­ten, schreck­ten auf Grund­la­ge die­ser Argu- men­ta­ti­on davor zurück, die Urtei­le – wel­che zumin­dest vor­läu­fig voll­streck­bar waren – durch­zu­set­zen. Sie fürch- teten etwa­ige Scha­dens­er­satz­an­sprü­che, soll­te sich her- aus­stel­len, dass die jewei­li­gen Urtei­le tat­säch­lich nicht auf das „neue Uber-Geschäfts­mo­dell“ ange­wandt wer- den könn­ten. Fak­tisch konn­te sich Uber daher auf Dau- er dem gel­ten­den Recht ent­zie­hen. Der Gesetz­ge­ber hat inzwi­schen reagiert und den sog. „Bedarfs­ver­kehr“ so- wie Ver­mitt­ler­diens­te von Mobi­li­täts­platt­for­men im PBefG geregelt13, um der nor­ma­ti­ven Kraft von Uber und ähn­lich agie­ren­der Akteu­re entgegenzuwirken.

Ver­gleich­ba­re Ent­wick­lun­gen könn­ten sich künf­tig ins­be­son­de­re bei der Erstel­lung bestimm­ter (tech­ni- scher) Stan­dards oder dem Eta­blie­ren von Tech­no­lo­gien zei­gen. Immer dann, wenn die staat­li­che Hand­ha­be na- hezu unmög­lich gemacht wird, wie z.B. aktu­ell bei dem Ver­such, einen Buß­geld­be­scheid an den Mes­sen­ger- dienst Tele­gram zuzustellen,14 kommt die Steue­rungs- macht ande­ren zu.

LG Mün­chen I, Urt. v. 10.2.20 – 4 HK O 14935/16 = MMR 2021, 91;

LG Köln, Beschl. v. 25.10.19 — 81 O 74/19 = Beck­RS 2019, 38797. 12 Rach­ut, ZBR 2021, S. 29 f.
13 Gesetz zur Moder­ni­sie­rung des Per­so­nen­be­för­de­rungs­rechts v.

16.4.21, BGBl. 2021 I, S. 822, vgl. auch BT-Drs. 19/26175, S. 23.
14 Vgl. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/hass-hetze-telegram-

anwend­bar­keit-netzdg-sozia­les-netz­werk-mes­sen­ger/.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 1 9 3

194 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

2. Gesetz­ge­bung – Ver­lo­re­ner Wett­lauf mit der Realität?

Die Gesetz­ge­bung befin­det sich daher in einem per­ma- nen­ten Wett­lauf mit der Wirk­lich­keit. Dies führt dazu, dass das in Nor­men kodi­fi­zier­te Wer­te­sys­tem mit­un­ter punk­tu­ell oder in gan­zen Berei­chen nicht mehr mit der Rea­li­tät über­ein­stimmt. Bereits der die­se Ent­wick­lung kenn­zeich­nen­de Begriff „Digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on“ zeigt, dass es dabei um mehr als die blo­ße „Tech­no­lo­gi­sie­rung“ ein­zel­ner Lebens­be­rei­che geht, son­dern viel­mehr um eine grund­le­gen­de Transformation.15 Die­se kann sich zunächst im mehr­heit­li­chen Ver­hält­nis zu bestimm­ten (kör­per­li­chen oder nicht-kör­per­li­chen) Din­gen nie­der- schla­gen. So hat sich der pri­va­te Umgang mit Daten in den letz­ten Jahr­zehn­ten ent­schei­dend ver­än­dert. Dass die per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten einer jeden Per­son Gegen­stand auto­ma­ti­sier­ter Ver­ar­bei­tung sind, ist inzwi- schen Nor­ma­li­tät. Die aus die­ser Ent­wick­lung nicht weg- zuden­ken­den sozia­len Medi­en sind dar­auf aus­ge­rich­tet, dass höchst­per­sön­li­che Infor­ma­tio­nen mit einer unüber- schau­ba­ren Anzahl von Per­so­nen über­all auf der Welt geteilt wer­den. So ent­steht ein leicht zugäng­li­ches Per­so- nen­ar­chiv. Einer Per­son, die online nicht auf­find­bar ist, begeg­net man viel­leicht sogar mit Miss­trau­en. Wei­te­re Ver­än­de­run­gen erge­ben sich dadurch, dass (digi­ta­le) Tech­no­lo­gien inzwi­schen in Berei­che Ein­zug gefun­den haben, die vor­her „ana­log“ geprägt waren. Vor allem wäh­rend der welt­wei­ten Coro­na-Pan­de­mie wur­den Tech­no­lo­gien ein­ge­setzt, um die auf­grund von Kon­takt- beschrän­kun­gen ent­stan­de­ne Distanz zwi­schen Per­so- nen zu über­brü­cken. Neben Schul-16 und Hochschulun-

15 Hoff­mann-Riem, Recht im Sog der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on, Tübin­gen, 2021, S. 2 m. w. N.

16 Vgl. Helm/Huber/Loisinger, Was wis­sen wir über schu­li­sche Lehr- Lern-Pro­zes­se im Distanz­un­ter­richt wäh­rend der Coro­na-Pan­de- mie? – Evi­denz aus Deutsch­land, Öster­reich und der Schweiz, in: Zeit­schrift für Erzie­hungs­wis­sen­schaft, 2021, S. 237 ff.

17 Vgl. Neuber/Göbel, Zuhau­se statt Hör­saal. Erfah­run­gen und Ein- schät­zun­gen von Hoch­schul­an­ge­hö­ri­gen zur Umstel­lung der Leh­re im ers­ten pan­de­mie-beding­ten Lock­down der Uni­ver­si­tä­ten, in: Medi­en­Päd­ago­gik, 2021, S. 56 ff.

18 Vgl. Reimann/Sievert, Inter­ak­ti­on uner­wünscht? Online-Got­tes- diens­te wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie, in: Cursor_Zeitschrift für explo­ra­ti­ve Theo­lo­gie, 2021, S. 1 ff.

19 Vgl. Waschkau/Steinhäuser, Wan­del des Bedarfs an Video­sprech- stun­den in Zei­ten einer Pan­de­mie. Eine qua­li­ta­ti­ve Betrach­tung, in: Zeit­schrift für All­ge­mein­me­di­zin, 2020, S. 317 ff.

20 War es zuvor unmög­lich, dass beauf­sich­tig­te Hoch­schul­prü­fun- gen außer­halb der Hoch­schu­len geschrie­ben wer­den, wur­den wäh­rend der Pan­de­mie in fast allen Bun­des­län­dern ent­spre­chen­de Rechts­grund­la­gen geschaf­fen. Damit hat­ten alle Studierenden

die Mög­lich­keit, in die­ser Zeit an den Prü­fun­gen teilzunehmen,

terricht17 wichen auch Kirchen18 oder Ärz­te und Ärz­tin- nen19 auf Video­kon­fe­ren­zen aus.

Die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on ist aber auch gera­de des- halb so dis­rup­tiv, da sie mit Macht­ver­schie­bun­gen ein- her­geht. Digi­ta­li­sie­rung, Ver­net­zung und Auto­ma­ti­sie- rung schaf­fen neue Beru­fe und Spar­ten, kön­nen bis­he­ri- ge Ideen und Model­le obso­let machen, Abhän­gig­kei­ten auf­lö­sen und neue ent­ste­hen las­sen. Dane­ben erge­ben sich mit­un­ter Lösun­gen für Her­aus­for­de­run­gen, die zu- vor unlös­bar erschienen.20 Wäh­rend der Gesetz­ge­ber so- mit gefragt ist, das Poten­ti­al und die Chan­cen der digi­ta- len Trans­for­ma­ti­on zu för­dern und ent­spre­chen­de Neu- erun­gen recht­lich zu ermög­li­chen, muss er eben­so den damit ein­her­ge­hen­den Risi­ken und Gefah­ren begegnen.

Aktu­ell erfolgt dies in einem zwei­stu­fi­gen Pro­zess: Der Ent­wick­lung neu­er Tech­no­lo­gien oder Kon­zep­te (Inno­va­ti­on) schließt sich der Ver­such an, die­se zu reg­le- men­tie­ren. Mit­un­ter mani­fes­tiert sich hier das Fak­ti­sche zum Nor­ma­ti­ven. Nur sel­ten wer­den Expe­ri­men­tier­räu- me geschaffen21, in denen regio­nal und zeit­lich begrenzt unter­sucht wird, wel­che tat­säch­li­chen Fol­gen eine be- stimm­te Inno­va­ti­on hät­te, um die­se anschlie­ßend zu re- gulie­ren und dar­auf auf­bau­end Wei­ter­ent­wick­lun­gen zu ermöglichen.22 Dies hat zur Fol­ge, dass Regu­lie­rung nicht nur eine lan­ge Zeit in Anspruch nimmt, son­dern dane­ben oft­mals auch nicht auf einer aus­rei­chen­den Da- ten­grund­la­ge basiert. Teil­wei­se kommt es sogar vor, dass mit­tels einer poli­tisch beding­ten regu­la­to­ri­schen Wen­de (z.B. nach einem Regie­rungs­wech­sel) die zuvor erlas­se- nen Nor­men ins Gegen­teil ver­kehrt wer­den oder sich Rege­lun­gen zu wider­spre­chen scheinen.23 Eine solch un-

was wie­der­um den Stu­die­ren­den half, die sich dem erhöh­ten Infek­ti­ons­ri­si­ko auf dem Weg zu und in den Hoch­schu­len nicht aus­set­zen durf­ten oder woll­ten. Dar­über hin­aus wur­de die Chan­ce genutzt, die­se Art des Prü­fens zu erpro­ben, um Hoch­schul­prü- fun­gen künf­tig inklu­si­ver gestal­ten zu kön­nen. Aus­führ­lich hier­zu Heck­mann/Rach­ut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, Ber­lin, 2023, S. 59 ff., 68 ff.; Rach­ut, ODW 2023, 89 ff.

21 Eine Expe­ri­men­tier­klau­sel ent­hält zum Bei­spiel Art. 56 Bay­DiG. 22 Die Baye­ri­sche Fern­prü­fungs­er­pro­bungs­ver­ord­nung (Bay­FEV)

sieht z. B. die Mög­lich­keit vor, in Übungs­klau­su­ren auto­ma­ti­sier­te Ver­fah­ren zur Beauf­sich­ti­gung von Hoch­schul­prü­fun­gen zu erpro- ben, vgl. § 10 BayFEV.

23 Kri­ti­siert wird dies z. B. beim Nach­weis­ge­setz (Nach­wG). Wäh- rend aktu­ell auf allen Ebe­nen ver­sucht wird, von der Papier­form zur elek­tro­ni­schen Form zu gelan­gen (bspw. mit­tels elek­tro­ni­scher Akten­füh­rung in den Behör­den, den Gerich­ten oder der elek­tro- nischen Pati­en­ten­ak­te) nimmt der Gesetz­ge­ber die elek­tro­ni­sche Form bei der Nach­weis­pflicht der wesent­li­chen Bestim­mun­gen eines Arbeits­ver­hält­nis­ses aus­drück­lich aus, vgl. § 2 Abs. 1 S. 2 NachwG.

ste­te und unvor­her­seh­ba­re Regu­lie­rung kann letzt­lich Skep­sis und Zurück­hal­tung bei der Ent­wick­lung neu­er Ideen hervorrufen.

Die Auf­ga­be der Gesetz­ge­bung obliegt dabei haupt- säch­lich den Par­la­men­ten. Hier­bei kommt der demo­kra- tischen Debat­te sowie der anschlie­ßen­den par­la­men­ta­ri- schen Ent­schei­dung eine wich­ti­ge und bedeu­ten­de Funk­ti­on inner­halb des demo­kra­ti­schen Rechts­staats zu. Bei der zuneh­men­den Kom­ple­xi­tät der zu regu­lie­ren­den Mate­rie und der stei­gen­den Zahl an ver­ab­schie­de­ten Ge- set­zen muss indes auch die Fra­ge nach deren Qua­li­tät ge- stellt werden.24 In der Coro­na-Pan­de­mie hat sich ge- zeigt, dass die Regu­lie­rung ein­zel­ner, durch­aus kom­p­le- xer Sach­ver­hal­te bei einer ent­spre­chen­den Prio­ri­sie­rung deut­lich schnel­ler erfol­gen kann. Zu Beginn der Pan­de- mie kam dem Gesetz­ge­ber auf­grund der bestehen­den Unge­wiss­heit dabei ein deut­lich grö­ße­rer Ein­schät- zungs­spiel­raum zu, auch umfas­sen­de und tief­grei­fen­de Grund­rechts­ein­grif­fe waren recht­mä­ßig und hiel­ten ei- ner Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­prü­fung stand.25 Zuneh­mend lagen indes mehr und mehr Daten über das Virus, die Über­tra­gung und den her­vor­ge­ru­fe­nen Krank­heits­ver- lauf vor, was die Anfor­de­run­gen an den Gesetz­ge­ber er- höh­te. Mit die­sen Daten war das Mit­tel zur Hand, die Regu­lie­rung und damit auch die in die Grund­rech­te ein- grei­fen­den Maß­nah­men an die neu­en Erkennt­nis­se an- zupassen.26 Ein­schrän­kun­gen auf­grund der Pan­de­mie muss­ten somit kon­ti­nu­ier­lich über­prüft und an die neu- en Erkennt­nis­se ange­passt werden.27 Nach­dem bei- spiels­wei­se Infor­ma­tio­nen über die häu­figs­ten Über­tra- gungs­we­ge vorlagen,28 muss­ten die infek­ti­ons­schutz- recht­li­chen Maß­nah­men ange­passt und infol­ge­des­sen u.a. die Mas­ken­pflicht für bestimm­te Berei­che (im Frei- en und unter Abstand) auf­ge­ho­ben wer­den. Dass beson- ders weit­ge­hen­de Aus­gangs­be­schrän­kun­gen in Bayern

24 2020 ver­ab­schie­de­te der Deut­sche Bun­des­tag 156 Geset­ze in 64 Sit­zungs­ta­gen, 2021 waren es trotz Regie­rungs­wech­sels 203 Geset- ze in 46 Sit­zungs­ta­gen, s. Deut­scher Bun­des­tag, Par­la­ments­do­ku- men­ta­ti­on, Sta­tis­ti­sche Daten zur Arbeit des Deut­schen Bun­des- tages im Zeit­raum vom 1.1. bis zum 31.12.2020; ders. Sta­tis­tik der Gesetz­ge­bung – 19. Wahl­pe­ri­ode; vgl. auch: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw06- jahresstatistik-2021–879640#:~:text=203%20Gesetze%20hat%20 der%20Deutsche,Deutschen%20Bundestages%20endete.

25 Vgl. z. B. Hof­mann, Ver­hält­nis­mä­ßig­keit mit der Holz­ham­mer­me- tho­de, Ver­fas­sungs­blog v. 13.4.20, abruf­bar unter: https://verfassungsblog.de/verhaeltnismaessigkeit-mit-der- holzhammermethode/.

26 Vgl. u. a. VGH Mün­chen, Beschl. v. 30.3.20 – 20 NE 20.632 = NJW 2020, 1236, 1240.

27 BVerfG, Beschl. v. 8.8.78 – 2 BvL 8/77 = BVerfGE 49, 89; BVerfG,

zu Beginn der Pan­de­mie im Früh­jahr 2020 unver­hält­nis- mäßig waren, stell­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt mehr als zwei­ein­halb Jah­re spä­ter fest.29

Obwohl von Sei­ten der Wis­sen­schaft welt­weit über das Sars-CoV-2-Virus geforscht, die gewon­ne­nen Er- kennt­nis­se aus­ge­tauscht wur­den und eine solch umfas- sendewissenschaftlicheBeratungderPolitik,wiesiege- rade in der Anfangs­zeit der Pan­de­mie erfolg­te, in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten wohl ein­zig­ar­tig war, lie­gen bis heu­te wei­ter­hin nicht aus­rei­chend Infor­ma­tio­nen vor, um das Wir­ken der ent­spre­chen­den „Coro­na-Maß­nah- men“ abschlie­ßend bewer­ten und über­prü­fen zu können.30

Zusam­men­fas­send lässt sich fest­hal­ten, dass selbst in einer welt­wei­ten Aus­nah­me­si­tua­ti­on, in der Wis­sen- schaft, Wirt­schaft und Gesell­schaft zusam­men­wirk­ten, um die­ser Her­aus­for­de­rung gemein­sam mit der Poli­tik zu begeg­nen, es auch nach drei Jah­ren nicht gelun­gen ist, mit­tels ent­spre­chen­der Daten die Wirk­sam­keit umfas- sen­der grund­rechts­ein­grei­fen­der Maß­nah­men zu beur- tei­len und so über den mehr­jäh­ri­gen Zeit­raum der Pan- demie eine adäqua­te, d.h. ver­hält­nis­mä­ßi­ge Recht­set- zung zu gewähr­leis­ten. Auf Sei­ten des Gesetz­ge­bers er- scheint es damit aktu­ell unmög­lich, schnell, effek­tiv und vor allem wis­send, d.h. daten­ba­siert, auf Ver­än­de­run­gen zu reagieren.

Der Gesetz­ge­ber ist jedoch nicht nur auf natio­na­ler, son­dern eben­so auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne gefragt. Auch hier gilt es die eige­nen Wer­te und Vor­stel­lun­gen in Re- gulie­rungs­vor­ha­ben ein­flie­ßen zu las­sen und sich bei- spiels­wei­se mit­tels Stel­lung­nah­men am Norm­ge­bungs- ver­fah­ren auf EU-Ebe­ne zu betei­li­gen. Dies setzt jedoch nicht nur vor­aus, dass Deutsch­land über die ent­sp­re- chen­den Kom­pe­ten­zen und Res­sour­cen ver­fügt und auf poli­ti­scher Ebe­ne eine Eini­gung erzielt wer­den kann,31

Beschl. v. 29.4.20 – 1 BvQ 47/20 = Beck­RS 2020, 7210; Gold- hammer/Neuhöfer, Grund­rech­te in der Pan­de­mie – All­ge­mei­ne Leh­ren, in: Juris­ti­sche Schu­lung, 2021, S. 212, 214 m. w. N.

28 Robert Koch Insti­tut, Epi­de­mio­lo­gi­scher Steck­brief zu SARS-CoV‑2 und COVID-19, 2. Über­tra­gungs­we­ge, abruf­bar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_ Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=C3091F506673DDD7F3711 AEA354526FE.internet101?nn=13490888#doc13776792bodyText2.

29 BVerwG, Beschl. v. 10.11.222 – 3 CN 2.21 = Beck­RS 2022, 31961.
30 Vgl. z. B. Sach­ver­stän­di­gen­aus­schuss nach § 5 Abs. 9 IfSG, Evaluati-

on der Rechts­grund­la­gen und Maß­nah­men der Pandemiepolitik,

2022, S. 8.
31 Dass dies nicht immer gelingt, zeigt z. B. Stier­le, AI Act: Verzö-

gerun­gen und offe­ne Fra­gen, Tages­spie­gel Back­ground v. 14.9.22, abruf­bar unter: https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/ ai-act-verzoegerungen-und-offene-fragen.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 1 9 5

196 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

son­dern eben­so, dass die not­wen­di­gen Infor­ma­tio­nen vor­lie­gen, um über­haupt ver­schie­de­ne Optio­nen erfas- sen und bewer­ten zu können.

3. Recht­spre­chung – In 12 Jah­ren zum Recht?

Wäh­rend ein Gesetz­ge­bungs­pro­zess die Betei­li­gung einer Viel­zahl von Per­so­nen und Insti­tu­tio­nen zur Her- bei­füh­rung einer Mehr­heits­ent­schei­dung ver­langt, könn­te im Bereich der Recht­spre­chung die Mög­lich­keit bestehen, agi­ler auf Ver­än­de­run­gen und die damit ein- her­ge­hen­den Rechts­un­si­cher­hei­ten zu reagie­ren, um so Defi­zi­te in ande­ren Berei­chen aus­glei­chen zu können.

„Die Gesetz­ge­bung ist an die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung, die voll­zie­hen­de Gewalt und die Rechtsp­re- chung sind an Gesetz und Recht gebun­den.“ In die­sem Wort­laut fin­det sich das Recht­staats­prin­zip im Grundge- setz (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Recht­spre­chung hat dabei die Auf­ga­be, das staat­li­che Han­deln zu über­prü­fen und den all­ge­mei­nen Rechts­frie­den zu wah­ren. Auch die Ent­schei­dun­gen der Gerich­te sind wie­der­um über­prüf- bar – dar­aus ergibt sich ein aus­ge­klü­gel­tes Instan­zen­sys- tem, das eine unab­hän­gi­ge und gerech­te Judi­ka­ti­ve ge- währ­leis­tet. Für die­ses Sys­tem gibt es gute und gewich­ti- ge Grün­de, die sich nicht zuletzt in der deut­schen His­to- rie fin­den las­sen. Es gibt Raum für rich­ter­li­che Unab­hän­gig­keit und Kon­troll­in­stan­zen, um etwa­ige Fehl­ent­schei­dun­gen zu kor­ri­gie­ren. Gleich­wohl bedeu- tet ein sol­ches Instan­zen­sys­tem aber auch, dass bis zu ei- ner rechts­kräf­ti­gen Ent­schei­dung die­se Instan­zen von den Par­tei­en durch­lau­fen wer­den kön­nen. Ent­schei­dun- gen, die noch nicht rechts­kräf­tig sind, kön­nen mög­li- cher­wei­se vor­läu­fig voll­streck­bar sein, been­den den Rechts­streit jedoch nicht und gehen selbst mit einem ge- wis­sen Risi­ko einher.32 Die Ver­fah­rens­dau­er eines Rechts­streits hängt daher maß­geb­lich von der Dau­er je Instanz und der Anzahl der durch­lau­fe­nen Instan­zen ab.33 Die­se Zeit wird von Betei­lig­ten jedoch häu­fig als zu lang empfunden.34 Auch der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) hat sich bereits mehr­fach mit der teils sehr lan­gen Ver­fah­rens­dau­er an deutschen

  1. 32  Z.B. mit einer Scha­dens­er­satz­pflicht nach § 717 Abs. 2 ZPO.
  2. 33  Fob­be hat hier­zu eine umfas­sen­de Aus­wer­tung der Ver­fah­rens­dau-er an deut­schen Gerich­ten, u.a. dem BVerfG vor­ge­nom­men. DieDa­ten­sät­ze sind hier abruf­bar: https://zenodo.org/record/7133364.

34 So gaben bei einer Befra­gung von 1.069 Per­so­nen 81% an, dass sie

die Ver­fah­rens­dau­er im deut­schen Rechts­sys­tem als viel zu lan­ge emp­fin­den, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie /167571/­um­fra­ge/­mei­nun­gen-zum-deut­schen-rechts­sys­te­m/.

35 Wis­sen­schaft­li­cher Dienst des Deut­schen Bun­des­ta­ges, WD 2 – 3000–190/07, S. 3.

Gerich­ten beschäf­tigt. Allein zwi­schen 1978 und 2008 ver­ur­teil­te der EGMR die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in 24 Ver­fah­ren wegen über­lan­ger Gerichts­ver­fah­ren und stell­te hier­bei Ver­stö­ße gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren) sowie teils zudem gegen Art. 13 EMRK (Recht auf wirk­sa­me Beschwer­de) fest.35 Denn gera­de in bestimm­ten Ver­fah­ren (z.B. in Straf­sa- chen, fami­li­en- oder sozi­al­ge­richt­li­chen Ver­fah­ren) stellt ein nicht abge­schlos­se­nes Ver­fah­ren eine erheb­li­che Be- las­tung für die Betei­lig­ten dar. Die Ent­schei­dun­gen ge- gen Deutsch­land bezo­gen sich dabei nicht ledig­lich auf ein­zel­ne Rechts­be­rei­che, son­dern viel­mehr auf unter- schied­li­che Gerichtsbarkeiten36 und zei­gen damit die viel­fach sehr lan­gen Ent­schei­dungs­we­ge im gesam­ten bestehen­den Rechts­sys­tem auf.

Als Kon­se­quenz die­ser EGMR-Ent­schei­dung wur­de 2011 das Gesetz über den Rechts­schutz bei über­lan­gen Gerichts­ver­fah­ren und straf­recht­li­chen Ermitt­lungs­ver- fahren37 erlas­sen. Dar­über hin­aus einig­ten sich Bund und Län­der 2019 auf einen „Pakt für den Rechtsstaat“.38 Die­se bereits im Koali­ti­ons­ver­trag von CDU/CSU und SPD vor­ge­se­he­ne Über­ein­kunft soll­te vor allem durch die Auf­sto­ckung des Per­so­nals zu einer bes­se­ren und schnel­le­ren Rechts­durch­set­zung beitragen.39 Im Sep- tem­ber 2022 folg­te die Ankün­di­gung von Bun­des­jus­tiz- minis­ter Mar­co Busch­mann (FDP) zu einem „Pakt für den digi­ta­len Rechts­staat“, durch wel­chen die Gerich­te bei der Moder­ni­sie­rung und Digi­ta­li­sie­rung unter­stützt wer­den sollen.40

Trotz die­ser Bemü­hun­gen zeigt sich seit Jah­ren ein struk­tu­rel­les Defi­zit in Form einer Über­las­tung der Jus- tiz. Auch wenn nicht sämt­li­che rele­van­ten Kenn­zah­len erfasst wer­den, z.B. die Dau­er zwi­schen Kla­ge­ein­gang beiGerichtundTerminierung,41oderdiesenurlücken- haft oder zeit­ver­zö­gert vor­lie­gen, lässt sich die Über­las- tung durch vor­han­de­ne Daten unter­mau­ern. So wur­de bei­spiels­wei­se von Sei­ten des Deut­schen Rich­ter­bun­des eine ste­tig wach­sen­de Ver­fah­rens­dau­er in Straf­sa­chen bemän­gelt: „Gerech­net ab Ein­gang bei der Staats­an­walt- schaft lau­fen die erst­in­stanz­li­chen Ver­fah­ren beim Land-

36 Wis­sen­schaft­li­cher Dienst des Deut­schen Bun­des­ta­ges, WD 2 – 3000–190/07, S. 4.

37 Vgl. BGBl. 2011 I, S. 2302.
38 Pres­se­kon­fe­renz der Bun­des­re­gie­rung v. 31.01.2019.
39 CDU/CSU/SPD, Koali­ti­ons­ver­trag, Ein neu­er Auf­bruch für Europa

– Eine neue Dyna­mik für Deutsch­land – Ein neu­er Zusammenhalt

für unser Land, 2018, S. 16 f.
40 Vgl. https://www.bmj.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2022/0927_

Pakt_Rechtsstaat.html.
41 So u. a. in Bay­ern, s. LT-Drs. 18/2325.

gericht im Schnitt sogar mehr als 20 Mona­te, so lan­ge wie noch nie.“42 Ver­gleicht man die Ver­fah­rens­dau­er der erst­in­stanz­li­chen Ver­fah­ren, zei­gen sich zwi­schen den ein­zel­nen Bun­des­län­dern und den ver­schie­de­nen Ver- fah­rens­ar­ten gro­ße Unter­schie­de. So lag die durch- schnitt­li­che Ver­fah­rens­dau­er an den Ver­wal­tungs­ge­rich- ten 2016 zwi­schen 3,9 Mona­ten (Rhein­land-Pfalz) und 22,6 Mona­ten (Brandenburg).43 Der lan­gen Ver­fah­rens- dau­er steht die hohe Arbeits­be­las­tung der Richter*innen und Staatsanwält*innen gegen­über. Baye­ri­sche Richter*innen an den Amts­ge­rich­ten bear­bei­te­ten bspw. 2018 durch­schnitt­lich 506,5 Zivil­ver­fah­ren und 331,9 Strafverfahren.44 Staatsanwält*innen bear­bei­te­ten 2016 jeweils über 1.300 Verfahren.45

Dass ein Ver­fah­ren, wel­ches meh­re­re Instan­zen bis zur Rechts­kraft durch­läuft, somit meh­re­re Jah­re dau­ern kann, ist somit nicht unüb­lich. Den­noch gibt es be- stimm­te Rechts­strei­tig­kei­ten, die hier her­aus­ste­chen und demons­trie­ren, zu wel­chem Aus­maß sich die Ver­fah- rens­zei­ten sum­mie­ren kön­nen. Neben den über meh­re­re Jah­re dau­ern­den und medi­al inten­siv beglei­te­ten straf- recht­li­chen Ver­fah­ren im NSU-Pro­zes­s46 und zur Auf- klä­rung des Love­pa­ra­de-Unglücks 2010,47 dürf­te das be- kann­tes­te zivil­recht­li­che Ver­fah­ren mit außer­or­dent­li- cher Ver­fah­rens­län­ge jenes der Grup­pe Kraft­werk („Me- tall-auf-Metall“) sein. 1997 wur­de das von Moses Pel­ham pro­du­zier­te Lied „Nur mir“ ver­öf­fent­licht und lös­te da- mit einen Rechts­streit aus, der bis heu­te (26 Jah­re spä­ter) noch immer die Gerich­te beschäf­tigt. Das allein mag be- reits für Auf­se­hen sor­gen, kurio­ser wird es, wenn man bedenkt, dass Gegen­stand der Strei­tig­keit nicht das ge- sam­te Lied, son­dern ein ledig­lich zwei Sekun­den lan­ger „Ton­fet­zen“ ist. Pel­ham hat­te die­se kur­ze Sequenz dem Lied „Metall auf Metall“ der Band Kraft­werk ent­nom- men und sei­nem Song unver­än­dert zugrun­de gelegt (sog. Sam­pling). Ob dies eine Ver­let­zung der Ton­trä­ger- rech­te von Kraft­werk dar­stellt, ist wei­ter­hin umstrit­ten. Kom­pli­ziert macht die­sen Fall einer­seits, dass neben der natio­na­len Rechts­la­ge auch EU-Recht zu beach­ten ist.

  1. 42  Rebehn, Straf­jus­tiz am Limit, abruf­bar unter: https://www.drb. de/­news­room/­pres­se-medi­en­cen­ter/­nach­rich­ten-auf-einen-blick/ nach­rich­t/­news­/s­traf­jus­tiz-am-limi­t‑1.
  2. 43  Vgl. hier­zu: https://www.lto.de/recht/justiz/j/justiz-ranking- 2016-zah­len-deut­sche-gerich­te-erle­di­gungs­quo­te-ver­fah­rens­dau­er- bestaende/IchfragedieStaatsregierungAuslastungderZivilgerichte: 1.1.WieentwickelnsichdieFallzahlenderandenbayerischenZivilge- richtenanh%E4ngigen.

44 LT-Drs. 18/2325, S. 4, 9.
45 Vgl. hier­zu: https://www.lto.de/recht/justiz/j/justiz-ranking-

Die­ses ver­fügt gegen­über den natio­na­len Nor­men über einen Anwen­dungs­vor­rang und ist auf die Nut­zungs- hand­lun­gen ab 2002 anwend­bar. Der Zeit­raum davor be- urteilt sich aus­schließ­lich nach den (dama­li­gen) natio- nalen Vor­schrif­ten. Ande­rer­seits sieht das Recht kei­ne kla­ren Rege­lun­gen für das Sam­pling, eine durch­aus gän- gige Metho­de im Bereich der elek­tro­ni­schen Musik, vor, sodass die Gerich­te im Wege der Rechts­aus­le­gung eine Ent­schei­dung tref­fen müs­sen. Im kon­kre­ten Fall sind sich die Gerich­te jedoch uneins. Immer neue Detail­f­ra- gen müs­sen geklärt wer­den, sodass der Rechts­streit aktu- ell zum fünf­ten Mal beim BGH (nach der Ver­hand­lung am 1. Juni 2023 wird nun über­legt, den Fall noch­mals dem EuGH vor­zu­le­gen) anhän­gig ist. Dabei geht es in- zwi­schen weni­ger um die eigent­li­che Urhe­ber­rechts­ver- let­zung, son­dern um das gene­rel­le Ver­hält­nis von Kunst- frei­heit und Urheberrecht.

Abbil­dung: Ver­fah­rens­gang des Rechts­streits „Metall- auf-Metall“, Stand: August 2023

Die Beant­wor­tung die­ser Fra­ge liegt dabei nicht nur im Inter­es­se der Betei­lig­ten, son­dern zeigt anschau­lich die grund­le­gen­de Bedeu­tung der Recht­spre­chung inner- halb des Rechts­staats. Hier wird sicht­bar, wie sehr Recht und Rea­li­tät aus­ein­an­der­fal­len kön­nen und wie sich der Rechts­staat letzt­lich um eine gerech­te Lösung bemüht. Jede*r kann inzwi­schen mit­hil­fe des Smart­phones und

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 1 9 7

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2016-zah­len-deut­sche-gerich­te-erle­di­gungs­quo­te-ver­fah­rens­dau­er- bestaende/IchfragedieStaatsregierungAuslastungderZivilgerichte: 1.1.WieentwickelnsichdieFallzahlenderandenbayerischenZivilge- richtenanh%E4ngigen.

Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/nsu-prozess- war­um-dau­er­te-der-pro­zess-fuenf-jah­re-lang- a‑00000000–0003-0001–0000-000002602349.
Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-prozess- urteil‑1.4896181.

198 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

ent­spre­chen­der Soft­ware­un­ter­stüt­zung in Sekun­den- schnel­le Wer­ke erstel­len und sich und sei­ne Mei­nung aus­drü­cken. Die Form zu kom­mu­ni­zie­ren, sich aus­zu- tau­schen und aus­zu­drü­cken, wird zuneh­mend mul­ti­me- dia­ler; Memes, Pas­ti­ches oder Reels gehö­ren zum All­tag, wie es frü­her für Brie­fe oder Nach­rich­ten­sen­dun­gen galt. Bei die­ser neu­en Art zu kom­mu­ni­zie­ren, geht es ge- rade dar­um, auf bestehen­de Wer­ke zurück­zu­grei­fen und sie in einen ande­ren Kon­text zu stel­len; dabei wird häu- fig auf eine ganz bestimm­te Situa­ti­on oder ein Gefühl Bezug genom­men, wel­ches als Grund­la­ge für die eige­ne Bot­schaft dient. Der­sel­be Effekt wür­de sich mit einer ei- genen Dar­stel­lung gar nicht errei­chen las­sen. Dem (Kunst-) Urhe­ber­recht war die­se Art der (Mas­sen-) Kom­mu­ni­ka­ti­on indes lan­ge fremd. Aktu­ell sind wei­te­re Ent­wick­lun­gen zu sehen, die von einem neu­en Ver­ständ- nis von und dem Umgang mit Kunst spre­chen. Zu nen- nen sind hier z.B. die Akti­on des Künst­lers Bank­sy, der wäh­rend einer Auk­ti­on bei Sotheby’s sein Bild sich teil- wei­se selbst zer­stö­ren ließ,48 NFT-Kunst­49 oder die Pro- test­ak­tio­nen der „Letz­ten Gene­ra­ti­on“. Letz­te­re lie­ßen bereits die For­de­run­gen nach neu­en Straf­tat­be­stän­den und här­te­ren Stra­fen ent­ste­hen, wobei frag­lich ist, ob der Weg über das Straf­recht tat­säch­lich ziel­füh­rend ist.50

Der Fall „Metall-auf-Metall“ zeigt, wel­che Her­aus­for- derun­gen aus dem Aus­ein­an­der­fal­len von nor­mier­tem Recht und Wirk­lich­keit für die Recht­spre­chung fol­gen und wie sich dies zeit­lich aus­wir­ken kann. Sol­che beson- ders lan­gen Ver­fah­ren belas­ten die Gerich­te zusätz­lich und füh­ren dazu, dass auch hier fak­ti­sche Gren­zen er- reicht wer­den. Es bleibt zu fra­gen, wie die Rechtsp­re- chung auf ähn­li­che Ent­wick­lun­gen reagie­ren und vor al- lem in wel­cher Geschwin­dig­keit dies gesche­hen wird. Gewiss ist jedoch: In der Mas­se wer­den wir uns über 20 Jah­re lau­fen­de Ver­fah­ren nicht mehr leis­ten können.51

4. Rechts­um­set­zung

Neben der Recht­set­zung und der Recht­spre­chung kommt der Rechts­um­set­zung eine zen­tra­le Rol­le zu. Hier zeigt sich, wie die nor­ma­ti­ven Vor­ga­ben kon­kret ange­wandt wer­den und ihre gestal­te­ri­sche Wir­kung ent-

48 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/ banksys-zerstoertes-bild-steigert-seinen-wert-15825859.html.

49 Klei­ber, NFT – eine Ein­ord­nung zwi­schen Recht, Kunst und Block­chain, in: MMR-Aktu­ell, 2022, Mel­dung 445475; Heine/Stang, Wei­ter­ver­kauf digi­ta­ler Wer­ke mit­tels Non-Fun­gi­ble-Token aus urhe­ber­recht­li­cher Sicht. Funk­ti­ons­wei­se von NFT und Betrach- tung der urhe­ber­recht­li­chen Nut­zungs­hand­lun­gen, in: MMR 2021, 755.

50 Vgl. Ros­tal­ski, Das Straf­recht ist kei­ne The­ra­pie, libra-rechts­brie- fing v. 15.11.22.

51 S. hier­zu auch Fob­be, Sind zwan­zig Jah­re zuviel?,

fal­ten, ob die beab­sich­tig­te Wir­k­rich­tung des Rechts tat- säch­lich ein­tritt oder bis­her unbe­kann­te bzw. nicht bedach­te Hür­den ent­ste­hen. Wenn bereits der nor­ma­ti­ve Schaf­fens­pro­zess lang­wie­rig ist, könn­te man mei­nen, dass die anschlie­ßen­de Rechts­um­set­zung ent­spre­chend effi­zi­ent und unauf­ge­regt mög­lich ist. Den­noch kommt es auch an die­ser Stel­le immer wie­der zu Pro­ble­men, die dabei nicht immer auf nor­ma­ti­ve Schwä­chen zurück­zu- füh­ren sind, jedoch ein Indiz für sol­che sein können.

Ein Bei­spiel für die beson­ders lang­wie­ri­ge Umset- zung ist die Ein­füh­rung der elek­tro­ni­schen Pati­en­tenak- te.52 Bereits 2003 wur­de mit dem Gesetz zur Moder­ni­sie- rung der gesetz­li­chen Krankenversicherungen53 ange- sto­ßen, dass die wich­ti­gen Gesund­heits­da­ten der Patient*innen nicht mehr aus­schließ­lich dezen­tral bei den Behan­deln­den vor­lie­gen soll­ten. Der ers­te Ansatz hier­zu war die Ein­füh­rung der elek­tro­ni­schen Gesund- heits­kar­te (eGK), die zunächst 2006 erfol­gen soll­te, dann jedoch mehr­fach ver­scho­ben wur­de. Die genaue Funk­ti- ons­wei­se der eGK war dar­über hin­aus zunächst umstrit- ten und wur­de erst 2020 mit der Neu­re­ge­lung des SGB V durch das Pati­en­ten­da­ten-Schutz-Gesetz (PDSG)54 end- gül­tig geklärt. So ver­füg­ten die Ver­si­cher­ten mit der eGK im Gegen­satz zur vor­he­ri­gen Kran­ken­ver­si­cher­ten­kar­te z.B. bereits über die tech­ni­sche Mög­lich­keit, elek­tro­ni- sche Rezep­te zu ver­wen­den oder wei­te­re Daten neben den Pati­en­ten­stamm­da­ten zu spei­chern. Wie genau die- se neu­en elek­tro­ni­schen Funk­tio­nen jedoch aus­ge­stal­tet wer­den soll­ten, war nicht geregelt,55 sodass von die­sen Optio­nen kein Gebrauch gemacht wur­de. Einer­seits hät- te die (tech­ni­sche) Mög­lich­keit bestan­den, auf der eGK mög­lichst vie­le Pati­en­ten­da­ten zu spei­chern, sodass die eGK somit als mobi­le elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­te hät­te fun­gie­ren kön­nen („eGK als Spei­cher“), ande­rer­seits hät­te sie aus­schließ­lich eine blo­ße Authen­ti­fi­zie­rungs- und Auto­ri­sie­rungs­funk­ti­on haben kön­nen („eGK als Schlüs­sel“). Durch die aus­führ­li­che Nor­mie­rung der elek­tro­ni­schen Pati­en­ten­ak­te (ePA) in den §§ 341 ff. SGB V und der Neu­re­ge­lung der eGK wur­de durch den Gesetz­ge­ber 2020 schließ­lich klar­ge­stellt, dass die eGK selbst nicht als elek­tro­ni­sche Akte fungieren

Rechts­em­pi­rie v. 1 13.12.2022 DOI 10.25527/re.2022.03.
52 Aus­führ­lich hier­zu Heckmann/Rachut, Elek­tro­ni­sche Patienten-

akte und elek­tro­ni­sche Gesund­heits­kar­te, in: Reh­man­n/­Till- manns, E‑Health / Digi­tal Health, Mün­chen, 2022, Kap. 3 E.; bis 2025 sol­len lt. Bun­des­re­gie­rung mind. 80 Pro­zent der gesetz­lich Kran­ken­ver­si­cher­ten die ePA nut­zen, vgl. https://www.aerzteblatt. de/­nach­rich­ten/137322/­Elek­tro­ni­sche-Pati­en­ten­ak­te-Bund-will- 80-Prozent-Abdeckung-bis-2025.

53 BGBl. 2003 I, S. 2190.
54 BGBl. 2020 I, S. 2115.
55 Vgl. Thüsing/Rombey, NZS 2019, 201, 202.

soll. Statt­des­sen wur­de der stu­fen­wei­se Auf­bau der ePA ab 2021 beschlossen.56 Hier­bei wur­den die Kran­ken­ver- siche­run­gen ver­pflich­tet, die­se ihren Ver­si­cher­ten ab dem 1.1.2021 zur Ver­fü­gung zu stel­len und sie stu­fen­wei- se auszubauen.57 Doch auch die kon­kre­ten Vor­ga­ben hier­zu stell­ten die Kran­ken­ver­si­che­run­gen vor enor­me prak­ti­sche Her­aus­for­de­run­gen. Nicht nur muss­te die ePA tech­nisch umge­setzt wer­den, der Bun­des­be­auf­trag­te für den Daten­schutz und die Infor­ma­ti­ons­frei­heit (BfDI) hielt die Rege­lun­gen der ePA zudem für rechts­wid­rig und rief die Kran­ken­ver­si­che­run­gen unter Andro­hung etwa­iger auf­sichts­recht­li­cher Maß­nah­men dazu auf, von der Bereit­stel­lung einer sei­ner Ansicht nach rechts­wid­ri- gen ePA abzusehen.58 Die­se Debat­te mag zudem dazu bei­getra­gen haben, dass die (mitt­ler­wei­le ein­ge­führ­te) ePA kaum genutzt wird. Es scheint an Wis­sen, Akzep- tanz, Trans­pa­renz und Funk­ti­on der ePA59 zu feh­len. Die gesetz­ge­be­ri­sche Absicht, die Gesund­heits­ver­sor­gung durch eine elek­tro­ni­sche Akten­füh­rung in vie­len Punk- ten zu ver­bes­sern, stößt inhalt­lich auf Zustim­mung, ent- fal­tet in der Rea­li­tät jedoch auch nach meh­re­ren Jah­ren kaum Wir­kung. Die aktu­el­le Regie­rung hat sich daher dazu ent­schlos­sen, das Modell der ePA wei­ter zu refor- mie­ren und die Nut­zung im Wege eines Opt-Out-Ver- fah­rens zu gestalten.60

Die Nor­mie­rung eines Bereichs, um eine bestimm­te Mate­rie nach dem Wil­len des Gesetz­ge­bers zu gestal­ten, reicht nicht immer aus, um die ent­spre­chen­den Verän- derun­gen auch tat­säch­lich her­bei­zu­füh­ren. Mit­un­ter wird erst bei dem Ver­such der Rechts­an­wen­dung deut- lich, dass eine wei­te­re Regu­lie­rung not­wen­dig ist, um Unklar­hei­ten oder Hür­den in der Anwen­dung zu bes­ei- tigen. Dies wie­der­um kos­tet wei­te­re wert­vol­le Zeit und hängt mög­li­cher­wei­se mit der Art und Wei­se der bis­he- rigen Regu­lie­rung zusammen.

56 Heckmann/Rachut, Elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­te und elek­tro­ni­sche Gesund­heits­kar­te, in: Rehmann/Tillmanns, E‑Health / Digi­tal Health, Mün­chen, 2022, Kap. 3 E, Rn. 459 ff.

57 Heckmann/Rachut, Elek­tro­ni­sche Pati­en­ten­ak­te und elek­tro­ni­sche Gesund­heits­kar­te, in: Rehmann/Tillmanns, E‑Health / Digi­tal Health, Mün­chen, 2022, Kap. 3 E, Rn. 468 ff.

58 https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2020/20_BfDI-zu-PDSG.html. Hier­zu unter ver­fas­sungs- recht­li­chen Aspek­ten auch Heckmann/Paschke, Daten­schutz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staats­recht, Mün­chen, 2022, § 103 Rn. 122 ff.

59 So wur­de bspw. die Ein­füh­rung des elek­tro­ni­schen Rezepts erneut ver­scho­ben, vgl. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/ news­/ar­ti­kel­/2021/12/20/bmg-e-rezept-start-auf-unbe­stimm­te- zeit-verschoben.

60 SPD/Grü­ne/FDP, Mehr Fort­schritt wagen. Koali­ti­ons­ver­trag, 2012, S. 65, abruf­bar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/

5. Juris­ten­aus­bil­dung – Nach 12 Jah­ren qualifiziert?

Nach­dem der Fak­tor Mensch bei Ver­än­de­rungs­pro­zes- sen eine zen­tra­le Rol­le spielt, könn­te auch die Aus­bil- dung der Jurist*innen als Hebel für die Beschleu­ni­gung des Rechts fun­gie­ren. Wie die ande­ren Berei­che des Rechts, zeich­net sich auch die juris­ti­sche Aus­bil­dung durch seit vie­len Jah­ren eta­blier­te Struk­tu­ren aus. Das zwei­stu­fi­ge Aus­bil­dungs­for­mat kann bereits auf eine lan- ge His­to­rie zurück­bli­cken: 1750 wur­de in Preu­ßen eine mehr­stu­fi­ge Aus­bil­dung ein­ge­führt, an deren Ende der Asses­so­ren­ti­tel stand.61 Die Aus­bil­dung mit Refe­ren- dars­examen (nach der uni­ver­si­tä­ren Aus­bil­dung) und dem Asses­sor­ex­amen (nach der wei­te­ren prak­ti­schen Aus­bil­dung) gibt es seit 1869.62 Die Grund­ge­dan­ken stam­men somit aus einer Zeit, in denen Her­aus­for­de- run­gen, wie sie die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on und die aktu- ellen glo­ba­len Ent­wick­lun­gen mit sich brin­gen, noch gar nicht bedacht waren und das Rechts­we­sen nur bestimm- ten Personen(-gruppen) vor­be­hal­ten war. So wur­de vor gera­de ein­mal 100 Jah­ren (am 7.12.1922) erst­mals eine Frau als Rechts­an­wäl­tin zuge­las­sen. Noch heu­te geht man davon aus, dass die Referendar*innen wäh­rend der cir­ca zwei­jäh­ri­gen Vor­be­rei­tungs­zeit auf das zwei­te juris- tische Staats­examen von fami­liä­rer Sei­te finan­zi­ell unter- stützt wer­den. Aus die­sem Grund gewährt der Staat ihnen ledig­lich eine Unter­halts­bei­hil­fe, die „eine Hil­fe zum Bestrei­ten des Lebens­un­ter­halts wäh­rend der Aus- bil­dung darstellt“63 und lässt Neben­tä­tig­kei­ten wäh­rend des Refe­ren­da­ri­ats nur in engen Gren­zen bzw. „in Aus- nah­men“ zu.64 U.a. Referendar*innen aus ein­kom­mens- schwä­che­ren Fami­li­en wird der Erwerb des zwei­ten Staats­examens und damit der Zugang zum Rich­ter­amt oder zur Anwalt­schaft dadurch wei­ter­hin erschwert.

Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.
61 Vgl. Köb­ler, Zur Geschich­te der juris­ti­schen Aus­bil­dung in

Deutsch­land. in: JZ 1971, 768 ff.
62 Vgl. Weg­ner/­Suchro­w/­Buss­mann-Welsch, Was bis­her nicht geschah

(und war­um), FAZ Ein­spruch v. 25.2.20, abruf­bar unter: https:// www.faz.net/einspruch/reform-des-jurastudiums-was-bisher- nicht-geschah-und-warum-16650988.html?GEPC=s3&premium= 0x261782a4edba5f46303d071148ee73e5&fbclid=IwAR19h0UiiVarFd 4ho7OORQPTrP1wE_iY2xeV-B_lt-t30WoFMqRFHjRplTE.

63 VG Schles­wig, Beschl. v. 29.5.17 – 11 B 15/17 m. w. N. = Beck­RS 2017, 121343; VG Saar­lou­is, Urt. v. 14.9.2010 – 2 K 1112/09 = Beck­RS 2010, 54740.

64 In Bay­ern z.B. Min­dest­punkt­zahl in der ers­ten juris­ti­schen Staats­prü­fung, maxi­ma­le Wochen­ar­beits­zeit der Neben­tä­tig­keit von 9 bzw. 14 Stun­den sowie Anrech­nung der Ver­gü­tung auf die Unter­halts­bei­hil­fe, vgl. Art. 3 Abs. 2, 3 SiGjurVD.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 1 9 9

200 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

Auch wenn sich die juris­ti­sche Aus­bil­dung, bes­te- hend aus dem Stu­di­um der Rechts­wis­sen­schaft und dem zwei­jäh­ri­gen Rechts­re­fe­ren­da­ri­at, theo­re­tisch inner­halb von sie­ben bis acht Jah­ren durch­lau­fen ließe,65 sieht die Rea­li­tät für vie­le anders aus. Durch das regel­mä­ßi­ge Über­schrei­ten der Regelstudienzeit,66 die Not­wen­dig­keit von Wie­der­ho­lungs­ver­su­chen, um die für den Wunsch- beruf wei­ter­hin aus­schlag­ge­ben­de Examens­punkt­zahl zu erreichen,67 War­te­zei­ten bis zum Beginn des Refe­ren- dariats68 und zur Ver­kün­dung der Prüfungsergebnisse69 dau­ert es deut­lich län­ger. Die­se Zeit kann sich durch Aus­lands­auf­ent­hal­te, Aus­zei­ten, Care­ar­beit oder eine Pro­mo­ti­on wei­ter erhö­hen. An den Abschluss des zwei- ten Examens schließt sodann die wei­te­re Aus­bil­dung („on the job“) in dem kon­kret zu ergrei­fen­den Beruf so- wie der Erwerb von Zusatz­qua­li­fi­ka­tio­nen, z.B. eine Me- dia­ti­ons- oder Fach­an­walts­aus­bil­dung, an.

Dies bedeu­tet, dass es bei der Fra­ge, wie das Recht im Jahr 2035 aus­se­hen soll, nicht um eine fer­ne Zukunft geht. Viel­mehr sind die Per­so­nen, die dann Recht spre- chen, Recht anwen­den und gestal­ten sol­len, die­je­ni­gen, die jetzt mit ihrer juris­ti­schen Aus­bil­dung begin­nen. Wenn aktu­ell dar­über dis­ku­tiert wird, ob und wie die ju- ris­ti­sche Aus­bil­dung moder­ni­siert wer­den soll,70 z.B. durch das Able­gen von Prü­fun­gen am Com­pu­ter (E‑Klausuren)71 statt den bis­he­ri­gen hand­schrift­li­chen Aus­ar­bei­tun­gen, die in fünf Stun­den ange­fer­tigt wer­den müs­sen, dann ist dies eigent­lich zu spät. Die Refor­men müss­ten auf­grund des zeit­li­chen Aus­ma­ßes der juris­ti- schen Aus­bil­dung viel­mehr die Arbeits­welt und deren Anfor­de­run­gen an Jurist*innen in einer fer­ne­ren Zu- kunft in den Blick nehmen.

65 An das min­des­tens fünf bis sechs Jah­re umfas­sen­de Stu­di­um schließt sich der juris­ti­sche Vor­be­rei­tungs­dienst (Refe­ren­da­ri­at) an, an des­sen Ende das zweit juris­ti­sche Staats­examen steht. Die­ses ist Vor­aus­set­zung für das Ergrei­fen der meis­ten (tra­di­tio­nel­len) juris­ti­schen Beru­fe, sie­he auch: Kili­an, Die Zukunft der Juris­ten. Weni­ger, anders, weib­li­cher, spe­zia­li­sier­ter, alter­na­ti­ver – und ent­behr­li­cher?, in: Neue Juris­ti­sche Wochen­schrift, 2017, S. 3043 ff.

66 Die Regel­stu­di­en­zeit betrug zunächst neun, seit Novem­ber 2019 zehn Semes­ter, § 5d Abs. 2 S. 1 DRiG (Deut­sches Rich­ter­ge­setz). Die tat­säch­li­che Stu­di­en­zeit der Stu­die­ren­den betrug 2016 bereits 11,3 Semes­ter (BT-Drs. 19/8581, S. 6.) und dürf­te sich gera­de durch die Coro­na-Pan­de­mie in den letz­ten Jah­ren wei­ter ver­län­gert haben.

67 Bei Nicht­be­stehen oder zur Noten­ver­bes­se­rung haben die Stu­die- ren­den in den meis­ten Bun­des­län­dern zudem die Mög­lich­keit, inner­halb der nächs­ten bei­den Prü­fungs­ter­mi­ne erneut an der Staats­prü­fung teil­zu­neh­men. Nach­dem die erreich­te Examens- note in bei­den Staats­examen nach wie vor ent­schei­dend für die spä­te­ren Berufs­mög­lich­kei­ten sind, wird die­se Opti­on von vie­len Stu­die­ren­den genutzt, sie­he auch: https://www.lto.de/karriere/ jura-refe­ren­da­ria­t/s­to­ries/­de­tail­/­z­wei­tes-staats­examen- wiederholen-verbesserungsversuch-noten-kanzleien.

6. Zwi­schen­er­geb­nis

Zwölf Jah­re im Recht kön­nen sich unter­schied­lich ges­tal- ten. Im schlimms­ten, aber durch­aus rea­lis­ti­schen Fall, gelingt es in die­sem Zeit­raum nicht, eine bestimm­te Mate­rie zu regeln oder ein Vor­ha­ben in der Rechts­pra­xis umzu­set­zen; auch eine rechts­kräf­ti­ge Ent­schei­dung muss nach zwölf Jah­ren noch nicht vor­lie­gen. Ziem­lich sicher wird es in die­ser Zeit jedoch einer Gene­ra­ti­on an Jurist*innen gelin­gen, die juris­ti­sche Aus­bil­dung zu durch­lau­fen. Dabei zeigt sich bereits jetzt: Der Rechts- staat steht vor gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen, die sich zukünf­tig wei­ter aus­brei­ten wer­den. Bis­her hat man jedoch kei­nen Ansatz gefun­den, den unter­schied­li­chen Geschwin­dig­kei­ten von Recht und Wirk­lich­keit bei­zu- kom­men. Wäh­rend sich die Welt in allen Lebens­be­rei- chen immer schnel­ler dreht, kommt der Rechts­staat schlicht nicht mit. Ins­be­son­de­re durch die digi­ta­le Trans- for­ma­ti­on wer­den hier­bei Tat­sa­chen geschaf­fen, die sich nach­träg­lich nor­ma­tiv mit­un­ter nicht mehr aus­glei­chen las­sen. Dies birgt die Gefahr, dass es ver­mehrt zu einer nor­ma­ti­ven Kraft des Fak­ti­schen kommt und das Recht sei­ne Funk­ti­on nach und nach ver­liert, bis es schließ­lich wir­kungs­los ist.

II. Ver­stär­ken­de Faktoren

Blickt man in die Zukunft, las­sen sich ver­schie­de­ne Fak- toren aus­ma­chen, wel­che die beschrie­be­ne Dyna­mik ver­stär­ken werden.

68 Je nach Note und Bun­des­land müs­sen die Inter­es­sier­ten hier mit meh­re­ren Mona­ten War­te­zeit rech­nen. In Ber­lin betrug die War­te- zeit 2022 für die Top-Absolvent*innen des ers­ten Examens (mehr als 10 Punk­te) vier bis 19 Mona­te. Für Per­so­nen, die nicht zu den bes­ten Examens­kan­di­da­ten gehör­ten (weni­ger als 10 Punk­te) sogar 19 bis 22 Mona­te (https://www.berlin.de/gerichte/ kammergericht/karriere/rechtsreferendariat/bewerbungsver fahren/wartezeit/). Wäh­rend die Referendar*innen in den nächs- ten zwei Jah­ren ver­schie­de­ne Aus­bil­dungs­sta­tio­nen (z. B. an den Gerich­ten, bei der Staats­an­walt­schaft oder bei Anwält*innen) durch­lau­fen, berei­ten sie sich par­al­lel auf das zwei­te juris­ti­sche Staats­examen vor. Auch hier muss, ver­gleich­bar zum ers­ten Exa- men, mit ent­spre­chen­der Zeit für Kor­rek­tur, münd­li­che Prü­fung und einen etwa­igen Wie­der­ho­lungs­ver­such gerech­net werden.

69 Nach Able­gen der schrift­li­chen Prü­fun­gen des Examens muss mit meh­re­ren Mona­ten bis zur Kor­rek­tur und münd­li­chen Prü­fung gerech­net werden.

70 Hier mach­te ins­be­sond­re die Initia­ti­ve iur.reform auf sich auf- merk­sam, die eine gro­ße Stu­die zum Bedarf der Aus­bil­dungs­mo- der­ni­sie­rung durch­führ­te, https://iurreform.de/.

71 Heckmann/Rachut‚ E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fern­prü­fung, Ber­lin, 2023, S. 24 ff.

1. Zuneh­men­de Komplexität

Die Kom­ple­xi­tät der Sach­ver­hal­te, denen sich das Recht anneh­men muss, wird kon­ti­nu­ier­lich stei­gen. Nach­dem der Rechts­staat bereits jetzt an sei­ne Gren­zen stößt, erscheint es frag­lich, wie mit die­sen Her­aus­for­de­run­gen auf tat­säch­li­cher und recht­li­cher Sei­te umge­gan­gen wer- den soll.72

a) Kom­ple­xi­tät auf der Sachverhaltsebene

Die Ver­fah­ren zum NSU-Pro­zes­s73 oder im Zuge des Love­pa­ra­de-Unglücks74 zei­gen, dass eine gründ­li­che Auf­ar­bei­tung gro­ßer Sach­ver­hal­te Zeit benö­tigt. Ver­fah- ren, die aktu­ell als beson­ders kom­plex beschrie­ben wer- den, zeich­nen sich vor allem durch eine gro­ße Zeit­span- ne oder Per­so­nen­zahl aus. Hier braucht es die ent­sp­re- chen­den pro­zes­sua­len Mit­tel, um Ver­fah­ren zu bün­deln, sowie Res­sour­cen, um die­se Viel­zahl an Infor­ma­tio­nen auf­zu­ar­bei­ten. Umfang­rei­che Akten bedür­fen schlicht einer län­ge­ren Zeit zum Lesen und Bearbeiten.

Sach­ver­hal­te kön­nen auch der­art kom­plex sein, dass ein blo­ßes Mehr an bestehen­den Res­sour­cen (ins­be­son- dere Zeit und Per­so­nal) nicht genügt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn für deren Erfas­sung und Bewer­tung Spe­zi­al­kennt­nis­se not­wen­dig sind, etwa wenn es um eine bestimm­te Tech­no­lo­gie geht, die eine beson­de­re Ex- per­ti­se erfor­dert. Ins­be­son­de­re hin­sicht­lich des Ein­sat- zes von KI-gestütz­ten Sys­te­men, Quan­ten­tech­no­lo­gie oder IoT-Diens­ten wird es in den kom­men­den Jah­ren zu recht­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen kom­men, die auch durch die Gerich­te beant­wor­tet wer­den müssen.

Gerich­te bzw. Spruch­kör­per, die auf bestimm­te The- men spe­zia­li­siert sind, bil­den die Aus­nah­me, sodass sol- che Situa­tio­nen der Unwis­sen­heit Jurist*innen grund- sätz­lich nicht fremd sind. Nie­mand – auch nicht Richter*innen – muss alles wis­sen und ver­ste­hen. In sol- chen Fäl­len behilft man sich durch das Hin­zu­zie­hen ex- ter­ner Sach­ver­stän­di­ger, die einen bestimm­ten (z.B. vom Gericht vor­ge­ge­be­nen) Fra­gen­ka­ta­log auf­grund ihres spe­zi­el­len Sach­ver­stan­des beant­wor­ten. Dies geschieht bei­spiels­wei­se regel­mä­ßig bei Strei­tig­kei­ten im Zusam- men­hang mit Unfäl­len im Stra­ßen­ver­kehr. Wie schnell das Auto eines Betei­lig­ten war oder ob ein tech­ni­scher Defekt vor­lag, wird dann durch Sach­ver­stän­di­ge ermit- telt. Grund­sätz­lich lässt sich die­ses Prin­zip auch auf neue oder kom­ple­xe­re Sys­te­me über­tra­gen, hat jedoch sehr

  1. 72  Zur Kom­ple­xi­tät als Rechts­pro­blem s. Zoll­ner, Kom­ple­xi­tät und Recht, Ber­lin, 2014, S. 47 ff.
  2. 73  Vgl. https://www.spiegel.de/panorama/nsu-prozess- war­um-dau­er­te-der-pro­zess-fuenf-jah­re-lang- a‑00000000–0003-0001–0000-000002602349.

wohl sei­ne Gren­zen. Zum einen gibt es (tech­ni­sche) Sach­ver­hal­te, wel­che sich nicht auf­klä­ren las­sen bzw. ei- nem ste­ti­gen Wan­del unter­lie­gen, sodass bei­spiels­wei­se der Sach­ver­halt in der Zeit, in der ein Mensch ihn nach- voll­zo­gen hät­te, sich bereits geän­dert hat und für die recht­li­che Beur­tei­lung nicht mehr rele­vant ist. Dies ist z.B. bei selbst­ler­nen­den algo­rith­mi­schen Sys­te­men der Fall. Hier geht es in der Anwen­dung nicht dar­um, zu ver- ste­hen, wie genau das Sys­tem funk­tio­niert, son­dern nur dar­um, dass es (zu einem bestimm­ten Grad) funk­tio- niert. Die­ser Unge­wiss­heit in der Pra­xis steht jedoch das Bedürf­nis des Rechts nach Gewiss­heit gegenüber.

Zum ande­ren stellt sich die Fra­ge, ob ab einem gewis- sen Punkt eine Ent­schei­dung gänz­lich ohne ent­sp­re- chen­des Fach­wis­sen über­haupt noch mög­lich sein wird. Immer neue Gutachter*innen müss­ten zu immer mehr Fra­gen ange­hört wer­den, was den Pro­zess nicht nur im- mer wei­ter ver­lang­sa­men wür­de, son­dern auch die Fra­ge auf­wirft, ob das Gericht über­haupt noch über die not- wen­di­ge Kom­pe­tenz ver­fügt, sei­ne Rol­le auszufüllen.

b) Kom­ple­xi­tät auf der Rechtsebene

Hin­zu kommt, dass die Kom­ple­xi­tät auch auf der recht- lichen Ebe­ne wei­ter steigt. Solan­ge kei­ne spe­zi­el­len Rege- lun­gen für Tech­no­lo­gien wie KI, Block­chain oder NFTs exis­tie­ren, stellt sich in der Rechts­an­wen­dung die Fra­ge, unter wel­che der bestehen­den Nor­men die­se Tech­no­lo- gie zu sub­su­mie­ren ist, ob und wenn ja, wel­che Aus­nah- men oder tele­lo­gi­schen Reduk­tio­nen vor­zu­neh­men sind. Ähn­lich dem recht­li­chen Umgang mit Musik­sam­pling, herrscht gera­de in Hin­blick auf den Ein­satz bestimm­ter Tech­no­lo­gien oder der Zu- bzw. Ein­ord­nung bestimm­ter Kon­zep­te (etwas des Meta­ver­se oder Web 3.0) eine all­ge- mei­ne Rechts­un­si­cher­heit. Neben den Ent­wick­lun­gen auf der natio­na­len Ebe­ne muss zudem ver­mehrt auch das inter­na­tio­na­le Gesche­hen in den Blick genom­men wer­den. Ins­be­son­de­re die EU bemüht sich gera­de um ein umfas­sen­des Regu­lie­rungs­pa­ket und hat sich mit ihrer Daten­stra­te­gie zum Ziel gesetzt, in den nächs­ten Jah­ren an die Spit­ze der daten­ge­steu­er­ten Gesell­schaf­ten zu gelan­gen sowie einen ein­heit­li­chen Bin­nen­markt für Daten zu errich­ten, sodass eine EU-wei­te und bran­chen- über­grei­fen­de Daten­wei­ter­ga­be zum Nut­zen von Unter- neh­men, For­schen­den und öffent­li­chen Ver­wal­tun­gen mög­lich sein soll.75 Dar­auf basie­rend befin­den sich aktu- ell ver­schie­de­ne regu­la­to­ri­sche Vor­ha­ben auf dem Weg

74 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-prozess- urteil‑1.4896181.

75 Euro­päi­sche Kom­mis­si­on, Eine euro­päi­sche Daten­stra­te­gie, COM(2020) 66 final.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 2 0 1

202 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

(u.a. AI Act, Data Gover­nac­ne Act, Data Act, Digi­tal Mar­kets Act, Digi­tal Ser­vices Act), deren kon­kre­tes Zusam­men­wir­ken noch nicht genau abseh­bar ist. Ande- re Rechts­fra­gen, wie bei­spiels­wei­se hin­sicht­lich der Mög­lich­keit, per­so­nen­be­zo­ge­ne Daten in Dritt­staa­ten – vor allem die USA – zu über­tra­gen, sind nach dem letz- ten Urteil des EuGH,76 trotz Ange­mes­sen­heits­be­schluss erneut in der Schwebe.77

c) Fol­gen der Komplexität

Eine Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on ist zum Erhalt einer funk­ti- onie­ren­den Rechts­ord­nung not­wen­dig, Wege dort­hin aber bis­her nicht abseh­bar. Was am Bei­spiel der Gerich- te erläu­ter­tet wur­de, gilt eben­so für die ande­ren Berei­che des Rechts­staats. Die dro­hen­den Fol­gen des­sen kön­nen von Qua­li­täts­ver­lust bis hin zum (zumin­dest par­ti­el­len) Still­stand im Hin­blick auf Recht­set­zung, Rechts­an­wen- dung und Recht­spre­chung reichen.

2. Kei­ne Abhil­fe durch Technologieeinsatz

Inso­weit könn­te man nun dar­auf hof­fen, dass auch der Rechts­staat sich bestimm­ter Tech­no­lo­gien zur Unter- stüt­zung bedient. Aller­dings hat sich gera­de in der Coro- na-Pan­de­mie gezeigt, wie schlecht u.a. die Gerich­te tech- nisch aus­ge­stat­tet sind. Zwar besteht z.B. im Zivil­recht mit § 128a ZPO bereits seit 2013 die Mög­lich­keit, eine Ver­hand­lung im Wege der Bild- und Ton­über­tra­gung durch­zu­füh­ren, sodass nicht mehr alle Par­tei­en vor Ort sein müssen.78 Doch auch knapp zehn Jah­re spä­ter ist eine sol­che Ver­hand­lung wei­ter­hin die Aus­nah­me. Haut- li und Schlicht haben über 3000 Anträ­ge von Anwält*innen auf Durch­füh­rung einer Video­ver­hand- lung aus­ge­wer­tet und kom­men zu einem ernüch­tern­den Ergebnis79: Knapp die Hälf­te der Anträ­ge (48,4 Pro­zent) wur­de nega­tiv beschie­den, wobei als Grün­de dafür sei- tens der Gerich­te auf eine feh­len­de tech­ni­sche Aus­stat- tung, Feh­len des hin­rei­chend tech­nisch versierten

76 EuGH, Urt. v. 16.7.20 – C‑311/18 = NJW 2020, 2613.
77 Für eine tech­no­lo­gi­sche, statt recht­li­che Lösung s. Heck­mann,

libra-rechts­brie­fing v. 10.5.22.
78 Vgl. zur Ent­wick­lung der Digi­ta­li­sie­rung in der Jus­tiz Anne

Pasch­ke, Digi­ta­le Gerichts­öf­fent­lich­keit, Ber­lin, 2018, S. 235 ff.
79 Hautli/Schlicht, Ableh­nun­gen von Video­ver­hand­lun­gen: Eine Ana-

lyse von 3.000 „Die­sel­ver­fah­ren“, zpo-blog v. 27.5.2021, abruf­bar unter: https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/zpoblog/hautli- schlicht-ableh­nung-video­ver­hand­lun­gen-128a-zpo-die­sel verfahren.

80 S. z. B. Mül­ler, BSG: Signa­tur bei Über­mitt­lung elek­tro­ni­scher Doku­men­te über das beA, in: NJW 2022, 1336; Oel­schlä­gel, Zu- mut­bar­keit der Nut­zung des beA, in: IT-Rechts­be­ra­ter 2021, S. 79; Gün­ther, Haf­tungs­fal­len rund ums beA, in: NJW 2020, 1785; NZA 2019, S. 825; Sieg­mund, Das beA von A bis Z, in: NJW, 2017, S. 3134; BGH, Urt. v. 22.3.21 – AnwZ (Brfg) 2/20 = NJW 2021, 2206; BGH,

Gerichts­per­so­nals oder die Nicht­not­wen­dig­keit auf- grund eines aus­rei­chend gro­ßen Gerichts­saals wäh­rend der Pan­de­mie ver­wie­sen wurde.

Auch in ande­ren Berei­chen, etwa der elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on, zeigt sich, wie schwer sich die über Jahr­zehn­te bis Jahr­hun­der­te gewach­se­nen Struk­tu­ren des deut­schen Rechts­staats mit der Digi­ta­li­sie­rung tun. Das beson­de­re elek­tro­ni­sche Anwalts­post­fach (beA) bei- spiels­wei­se dient zur siche­ren elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni- kat­ion der Anwält*innen mit den Gerich­ten. Bereits 2013 wur­de hier der Grund­stein zur akti­ven Nut­zungs­pflicht (Pflicht zur Über­sen­dung von bestimm­ten Doku­men­ten an die Gerich­te aus­schließ­lich in elek­tro­ni­scher Form) gelegt. In den Jah­ren des Auf­baus des beA sowie im ers- ten Jahr der akti­ven Nut­zungs­pflicht ereig­ne­ten sich den­noch zahl­rei­che Pannen.80

Vom Ein­satz unter­stüt­zen­der, z.B. auto­ma­ti­sier­ter Sys­te­me oder eines KI-Ein­sat­zes in der Brei­te ist die Jus- tiz noch weit ent­fernt. Auch wenn es hier bereits ers­te Über­le­gun­gen gibt, benö­ti­gen all die­se Tech­no­lo­gien ne- ben der Infra­struk­tur zunächst eine ent­spre­chen­de Da- ten­grund­la­ge. Dabei geht es nicht nur dar­um, dass die Infor­ma­tio­nen über­haupt elek­tro­nisch bestehen und so- mit ver­ar­bei­tet wer­den kön­nen, son­dern auch, wo, in wel­cher Qua­li­tät und wie die­se aus­ge­tauscht wer­den. Aktu­ell besteht nicht ein­mal ein voll­stän­di­ges Bild über die in Deutsch­land getrof­fe­nen gericht­li­chen Entsch­ei- dun­gen. Denn nur ein ver­schwin­dend klei­ner Teil davon (ca. 1 Pro­zent) wird über­haupt ver­öf­fent­licht und elekt- ronisch zugäng­lich bereitgestellt.81

3. Unat­trak­ti­vi­tät der klas­si­schen juris­ti­schen Berufe

Nimmt man den demo­gra­fi­schen Wan­del hinzu82, müs- sen kom­ple­xe­re Ver­fah­ren per­spek­ti­visch von immer weni­ger Per­so­nen bear­bei­tet wer­den, was zu einer wei­te- ren Erhö­hung der Bear­bei­tungs­zeit und damit Ver­län­ge- rung der Ver­fah­ren an den Gerich­ten führt.

Beschl. v. 29.9.21 – VII ZB 12/21 = NJOZ 2022, 93; BGH, Beschl. v.

11.5.21 – VIII ZB 9/20 = NJW 2021, 2201;
81 https://www.lto.de/recht/justiz/j/studie-veroeffentlichung-gerichts

ent­schei­dun­gen-deutsch­land-trans­pa­renz-jus­ti­z/; zur Ver­öf­fent- lichungs­pflicht von Gerichts­ent­schei­dun­gen s. z.B. kürz­lich OVG Müns­ter, Beschl. v. 11.1.2023 – 15 E 599/22 = NJW 2023, 1232.

82 Bun­des­weit geht man von einem Aus­schei­den von gut 40 Pro­zent aller Jurist*innen bis 2030 aus. So Deut­scher Rich­ter­bund, Die per­so­nel­le Zukunfts­fä­hig­keit der Jus­tiz in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, S. 7, abruf­bar unter: http://rba-nw.de/uploads/DRB- Positionspapier%20Nachwuchsgewinnung_kl.pdf; jüngst warn­ten zudem meh­re­re Gewerk­schaf­ten in die­sem Zusam­men­hang vor der Hand­lungs­un­fä­hig­keit des Staa­tes, s. https://www.welt.de/ wirt­schaf­t/ar­tic­le246878548/­Fach­kraef­te­man­gel-Gewerk­schaf­ten- warnen-vor-staatlicher-Handlungsunfaehigkeit.html.

83 Gleich­zei­tig könn­te man von den Wer­ten und Sicht­wei­sen der

Zwar könn­te man den bestehen­den und auf­kom­men- den Per­so­nal­man­gel mög­li­cher­wei­se durch die Einstel- lung von jun­gen, moti­vier­ten und idea­ler­wei­se digi­tal­af- finen Jurist*innen beseitigen.83 Dies wirft jedoch ein wei­te­res Pro­blem auf: Die für die Auf­recht­erhal­tung von Jus­tiz und Ver­wal­tung wich­ti­gen Beru­fe (also sämt­li­che Orga­ne der Rechts­pfle­ge oder Verwaltungsjurist*innen) wer­den zuneh­mend als unat­trak­tiv wahr­ge­nom­men. Sie erfor­dern einer­seits ein zwei­tes juris­ti­sches Staats­e­xa- men – immer mehr Absolvent*innen ent­schei­den sich nach dem ers­ten Examen jedoch gegen das Refe­ren­da­ri- at und damit gegen den Ein­tritt in die klas­si­schen juris­ti- schen Berufe.84 Ande­rer­seits ent­ste­hen auch im juris­ti- schen Bereich neue Berufs­fel­der, die eine fle­xi­ble­re, indi- vidu­el­le­re aber gleich­zei­tig sinn­stif­ten­de Tätig­keit er- mög­li­chen. Legal Tech ermög­licht bspw. die Ver­knüp­fung neu­es­ter Tech­no­lo­gien mit Rechts­fra­gen. Mit­tels Legal Design erhält dar­über hin­aus der Design Thin­king-An- satz Ein­zug in das Bear­bei­ten von Rechts­fra­gen und zahl­rei­che Jurist*innen haben ihren Weg in Unter­neh- men gefun­den, wo sie als eine Art Übersetzer*innen tä- tig sind, um recht­li­che Gesichts­punk­te z.B. früh­zei­tig in Ent­wick­lungs­pro­zes­se ein­zu­brin­gen. Selbst wenn man das zwei­te Examen mit den vom Staat gefor­der­ten guten Noten ablegt, bedeu­tet dies nicht zwangs­läu­fig, dass der Weg in Jus­tiz und Ver­wal­tung vor­ge­ge­ben ist, um dort im Bereich von Recht­spre­chung und Rechts­an­wen­dung oder der Vor­be­rei­tung von Regu­lie­rungs­ver­fah­ren mit- zuwir­ken. Der öffent­li­che Dienst ist hier gegen­über vie- len mög­li­chen Alter­na­ti­ven schlicht im Nach­teil. Dies bezieht sich in ers­ter Linie nicht auf die nied­ri­ge­re Ver- gütung, son­dern vor allem auf die gerin­ge­ren Mög­lich- kei­ten von indi­vi­du­el­ler För­de­rung, Auf­stiegs­chan­cen und Selbst­be­stimmt­heit der Arbeit.

4. Kul­tur und Selbst­ver­ständ­nis von Jurist*innen

Des Wei­te­ren zei­gen sich Jurist*innen ver­mehrt auch in ande­ren Rol­len, die nicht unbe­dingt eine neue Berufs- spar­te bedeu­ten. Gera­de bei der Fra­ge des Daten­schut­zes bzw. der Beur­tei­lung der dahin­ter­ste­hen­den Rech­te (auf EU-Ebe­ne: Ach­tung des Pri­vat- und Fami­li­en­le­bens sowie Schutz bezo­ge­ner Daten, Art. 7, 8 GrCh; auf natio- naler Ebe­ne: Recht auf infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim- mung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG) hat sich in den letz­ten Jah­ren eine inten­si­ve und kon­tro­vers geführ­te Dis­kus­si­on gezeigt. Hier­bei kommt es vor, dass

Jün­ge­ren pro­fi­tie­ren.
84 Deut­scher Rich­ter­bund ebda., S. 10 ff.
85 Zur Grund­rechts­ge­währ­leis­tung durch Daten­nut­zung sie­he Heck-

mann/Paschke, Daten­schutz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht,

Mün­chen, 2022, § 103 Rn. 97 ff.
86 Hes­se, Grund­zü­ge des Ver­fas­sungs­rechts der Bundesrepublik

Jurist*innen, die eigent­lich dazu ange­hal­ten wären, den Umgang mit Daten in einen recht­lich zuläs­si­gen Rah- men zu len­ken und dabei die ver­schie­de­nen recht­lich geschütz­ten Posi­tio­nen in einen ange­mes­se­nen Aus- gleich zu brin­gen, sich eher als Lobbyist*innen her­vor- getan haben. Kei­ne Fra­ge, Jurist*innen dür­fen par­tei­isch sein, wenn ihre Posi­ti­on dies erfor­dert. Wer­den sie aber (im staat­li­chen und damit all­ge­mei­nen Inter­es­se) für bestimm­te Auf­ga­ben, z.B. als Daten­schutz­be­auf­trag­te, bestellt, so gilt es, alle rele­van­ten Posi­tio­nen ein­zu­be­zie- hen. Neben dem Schutz per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten bein- hal­tet das auch das Recht auf Nut­zung (per­so­nen­be­zo­ge- ner) Daten.85 Des Öfte­ren scheint in der (öffent­li­chen) Debat­te ver­ges­sen zu wer­den, dass bspw. die DSGVO nicht nur „Vor­schrif­ten zum Schutz natür­li­cher Per­so- nen bei der Ver­ar­bei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten“, son­dern auch „zum frei­en Ver­kehr sol­cher Daten“ ent- hält, vgl. Art. 1 Abs. 1 DSGVO. Das Recht auf Daten- schutz ist kein „Über­grund­recht“ und über­trumpft daher auch nicht pau­schal ande­re Inter­es­sen. Wie bei ande­ren Kol­li­sio­nen eben­falls, gilt es, die betrof­fe­nen Rechts­po­si- tio­nen in einen ange­mes­se­nen Aus­gleich zu brin­gen. Kol­li­die­ren ver­schie­de­ne Grund­rech­te mit­ein­an­der, muss ihnen im Wege der prak­ti­schen Kon­kor­danz zu Gel­tung ver­hol­fen wer­den. Dem­nach gilt es, eine Lösung zu fin­den, bei der bei­de Grund­rech­te best­mög­lich zum Tra­gen kom­men, durch das eine das ande­re jedoch nicht an Wirk­kraft verliert.86

Das Daten­schutz­recht ist hier­bei nur ein Bei­spiel da- für, dass sich Jurist*innen durch­aus als „Ver­hin­de­rer“ und weni­ger als „Ermög­li­cher“ posi­tio­nie­ren. Statt in den auf­ge­wor­fe­nen Rechts­fra­gen die Mög­lich­keit zu se- hen, Chan­cen zu ergrei­fen und Wege auf­zu­zei­gen, wird oft­mals betont, was nicht geht. Damit wird mit­un­ter der Weg zu einer mög­li­chen funk­tio­nie­ren­den und rechts- kon­for­men Lösung verbaut.

Eng mit dem Selbst­ver­ständ­nis der Jurist*innen ver- bun­den ist die bestehen­de Kul­tur. Die Aus­bil­dung för- dert wei­ter­hin Einzelkämpfer*innen und belohnt Indi­vi- duen, die sich von der Grup­pe abhe­ben. Der Fokus der Aus­bil­dung und Bewer­tung liegt dabei auf dem Repro- duzie­ren bestimm­ter Streit­stän­de und Recht­spre­chung. Mit­tel­bar wird dadurch die Abgren­zung unter den Stu- die­ren­den geför­dert, Aus­wen­dig­ler­nen geht Ver­ständ­nis vor und zusätz­li­che Akti­vi­tä­ten und das Erler­nen wei­te- rer Kompetenzen87, die nicht examens­re­le­vant sind,

Deutsch­land, Hei­del­berg, 1999, S. 71.
87 Zur Team­fä­hig­keit und ihrer Ein­be­zie­hung in Aus­bil­dung und

Prü­fung sie­he auch Heckmann/Seidl/Pfeifer/Koch c.t. <com­pli­ant team­work>. Team­ori­en­tier­tes Ler­nen in den Rechts­wis­sen­schaf- ten, Ber­lin, 2015.

88 Vgl. Heck­mann, Gel­tungs­kraft und Gel­tungs­ver­lust von Rechts-

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 2 0 3

204 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

wer­den nur sel­ten hono­riert. Es wun­dert daher nicht, dass man auch den „fer­ti­gen Jurist*innen“ nach­sagt Einzelkämpfer*innen zu sein und sich schwer tun, als Grup­pe oder Team etwas zu errei­chen. Mög­li­cher­wei­se bedingt dies eben­falls, dass Feh­ler eher ver­steckt wer­den, als die­se öffent­lich zu machen, um einen gemein­sa­men Lern­pro­zess anzustoßen.

5. Nega­ti­ve Synergien

Hin­zu kommt, dass sich die vor­ge­nann­ten Fak­to­ren gegen­sei­tig ver­stär­ken. Das immer wei­te­re Ent­fer­nen von Recht und Wirk­lich­keit sorgt für eine ste­ti­ge Aus- wei­tung von Rechts­un­si­cher­heit und damit zu nega­ti­ven Fol­gen für das Indi­vi­du­um und die Gesell­schaft. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, Inno­va­tio­nen durch einen ent­spre­chen­den Rechts­rah­men zu ermög­li­chen und zu för­dern, ver­liert sei­ne Attrak­ti­vi­tät als Wirt­schafts­stand- ort. Feh­len­de Res­sour­cen bei stei­gen­dem Bedarf sowie die im Ver­hält­nis unat­trak­ti­ver wer­den­den beruf­li­chen Aus­sich­ten, ver­stär­ken den bestehen­den Per­so­nal­man­gel und ver­rin­gern die Hand­lungs­mög­lich­kei­ten des Staa­tes wei­ter. Eine Lösung erscheint hier nicht mehr allein über das Auf­brin­gen enor­mer finan­zi­el­ler Mit­tel mög­lich, son­dern es droht zumin­dest ein zeit­wei­ses Abfal­len der Qua­li­tät. Schließ­lich kön­nen die indi­vi­du­el­len nega­ti­ven Erfah­run­gen mit dem Recht in all sei­nen Facet­ten zum Schwin­den der Akzep­tanz in der Gesell­schaft bei­tra­gen und die Steue­rungs­mög­lich­keit des Rechts wei­ter ein- schrän­ken, bis der Rechts­staat schließ­lich ganz zum Erlie­gen kommt.

6. Zwi­schen­er­geb­nis: Der Rechts­staat in einer Abwärts- spirale

Ein Aus­ein­an­der­fal­len von Recht und Wirk­lich­keit ist unse­rem Rechts­staat zu einem gewis­sen Grad nicht fremd.88 Die zöger­li­che bzw. über­leg­te Adap­ti­on des Rechts mag zum Teil sogar als Vor­teil im Sin­ne eines Ge-

nor­men, 1997, S. 173 ff.; Brin­ge­wat, Gel­tungs­ver­lust von Nor­men und Ver­fü­gun­gen des öffent­li­chen Bau­rechts im Span­nungs­ver- hält­nis von Recht und Wirk­lich­keit, Baden-Baden, 2012, S. 19; vgl. auch, jedoch mit stär­ke­rem Fokus auf Öster­reich Scham­beck, Vom Sinn­wan­del des Rechts­staa­tes, Ber­lin, 1970, S. 30.

89 Zum Ent­wi­ckeln von Visio­nen aus Sci­ence-Fic­tion s. Her­mann, Von Sci­ence-Fic­tion ler­nen: Wel­che Digi­tal- und Daten­po­li­tik wol­len wir?, Tages­spie­gel Back­ground v. 2.12.22, abruf­bar unter: https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/von-science- fiction-lernen-welche-digital-und-datenpolitik-wollen-wir.

90 So beein­fluss­ten die im Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ver­an­ker­ten Wer­te und Kon­zep­te die Ver­fas­sun­gen einer Viel­zahl von Demo­kra­tien, u.a. erkenn­bar z. B. auch bei der Ver­an­ke­rung der Unan­tast­bar­keit der Wür­de des Men­schen in die post-fran­quis­ti­sche Ver­fas­sung Spa­ni­ens von 1978, vgl. Oeh­ling de

gen­pols an Bestän­dig­keit zu den sich ansons­ten so schnell ver­än­dern­den Umstän­den ange­se­hen werden.

Gewiss bedeu­tet Kon­ti­nui­tät im Recht auch Ver­läss- lich­keit, Absi­che­rung und Vor­her­seh­bar­keit; Attri­bu­te, die man mit einem funk­tio­nie­ren­den Rechts­staat ver­bin- den soll­te. Nichts­des­to­trotz kann die Dis­kre­panz zwi- schen Recht und Wirk­lich­keit irgend­wann so groß wer- den, dass die bei­den Ebe­nen nur noch los­ge­löst von­ein- ander exis­tie­ren, das Recht mit­hin sei­ne Steue­rungs­kraft im Wesent­li­chen verliert.

In einer sol­chen Situa­ti­on hel­fen auch abs­trak­te Wer- te oder Ord­nungs­prin­zi­pi­en nicht, wenn sie nicht (mehr) mit Vor­stel­lung und Moral der gegen­wär­ti­gen Gesell- schaft als Sub­jek­te der Rechts­ord­nung über­ein­stim­men. Die Fol­ge einer sol­chen Abwärts­spi­ra­le ist der schlich­te Akzep­tanz­ver­lust des Rechts und mit ihm die feh­len­de Mög­lich­keit, zu wirken.

Die­ser Abwärts­spi­ra­le ent­ge­gen­zu­wir­ken wird daher zen­tra­le Auf­ga­be der kom­men­den Jah­re sein, um auch unter Zeit­druck den ver­schie­de­nen Kri­sen trot­zen zu können.

III. Dem Steue­rungs­ver­lust des Rechts begegnen

Aus die­ser beschrie­be­nen Abwärts­spi­ra­le ergibt sich nichts weni­ger als ein dro­hen­der Steue­rungs­ver­lust des Rechts, dem es ganz­heit­lich zu begeg­nen gilt.

1. Das Ziel: Der Rechts­staat als Standortfaktor

Ziel der Maß­nah­men kann dabei nicht nur sein, die Steue­rungs­kraft in irgend­ei­ner Art zu erhal­ten, son­dern viel­mehr einer kla­ren Visi­on zu folgen.89 Das deut­sche Rechts­sys­tem ist im EU-wei­ten und inter­na­tio­na­len Ver- gleich hoch ange­se­hen, ver­fügt über vie­le Stär­ken und sowohl Recht­spre­chung als auch Geset­ze gel­ten als Vor- bil­der und Ori­en­tie­rungs­mar­ken für ver­schie­de­ne Län- der weltweit.90 Ein funk­tio­nie­ren­der, im Sin­ne von Kon-

91

los Reyes, El con­cep­to con­sti­tu­cio­nal de digni­dad de la per­so­na: For­ma de com­pren­sión y modelos pre­do­mi­nan­tes de recep­ción en la Euro­pa con­ti­nen­tal, in: Revis­ta Espa­ño­la de Der­echo Con­sti­tu- cio­nal, 2011, S. 164 ff. Auch im zivil- und straf­recht­li­chen Bereich konn­ten zahl­rei­che deut­sche jur. Kon­zep­te und Stan­dards ihren Fin­ger­ab­druck in diver­sen inter­na­tio­na­len Rechts­ord­nun­gen hin­ter­las­sen (v.a. in Est­land, Asi­en und Süd­ame­ri­ka), vgl. Kull, Reform of Con­tract Law in Esto­nia: Influen­ces of Har­mo­ni­sa­ti­on of Euro­pean Pri­va­te Law, in: Juri­di­ca Inter­na­tio­nal, 2008, S. 122 ff.; Zaffaroni/ Cro­x­at­to, El pen­sa­mi­en­to ale­mán en el der­echo penal argen­ti­no, in: Jour­nal of the Max Planck Insti­tu­te for Euro­pean Legal Histo­ry, 2014, S. 192 ff.; Lun­ey Jr., Tra­di­ti­ons and for­eign influen­ces: Sys­tems of Law in Chi­na and Japan, in: Law and Con- tem­po­ra­ry Pro­blems, 1989, S. 129 ff.
Vgl. z.B. LL.B Legal Tech (Pas­sau), https://www.uni-passau.de/

tinui­tät und Zuver­läs­sig­keit getra­ge­ner, Rechts­staat stellt hier­bei auch einen wich­ti­gen Stand­ort­fak­tor dar, auf den es sich zu besin­nen und die­sen es auch künf­tig zu för- dern gilt. Frag­lich ist daher, mit wel­chen Impul­sen es gelin­gen kann, den Rechts­staat auch im Jah­re 2035 (noch) als wert­vol­len Stand­ort­fak­tor zu eta­blie­ren bzw. zu för­dern. Denn die oben dar­ge­stell­ten nega­ti­ven Syn- ergien auf Wirt­schaft, Poli­tik und Zivil­ge­sell­schaft könn- ten mit einem star­ken Rechts­staat eben­so ins Gegen­teil ver­kehrt wer­den. Der Rechts­staat wäre somit Garant für eine Gesell­schaft nach unse­ren frei­heit­lich demo­kra­ti- schen Vor­stel­lun­gen und Wer­ten – mit­hin im Sin­ne aller.

2. Moder­ni­sie­rung der juris­ti­schen Ausbildung

Das Recht ist ohne die Men­schen nichts. Wie bei ande- ren Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen, hängt des­sen Erfolg maß­geb­lich von den Per­so­nen ab, die sie bewir­ken und die von ihnen betrof­fen sind. Der effek­tivs­te Pro­zess und die bes­ten Tech­no­lo­gien sind wert­los, wenn sie nicht genutzt wer­den. Aus die­sem Grund gilt es, die juris­ti­sche Aus­bil­dung an die Arbeits­welt und Her­aus­for­de­run­gen von Gegen­wart und Zukunft anzu­pas­sen. Neben der mate­ri­ell-recht­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit Digi­ta­li- sie­rungs­the­men (wie z.B. durch die Mög­lich­keit sich bereits wäh­rend der Aus­bil­dung dar­auf zu spe­zia­li­sie­ren (sog. Schwer­punkt­be­reich oder Berufs­feld) oder im Rah­men spe­zi­el­ler und inter­dis­zi­pli­nä­rer Stu­di­en­gän- ge91), bedarf es eben­so der Ver­mitt­lung der prak­ti­schen Fähig­kei­ten. Jurist*innen arbei­ten bereits jetzt zu wesent- lichen Tei­len am Com­pu­ter, nut­zen ver­schie­de­ne Daten- ban­ken und Soft­ware zur Erstel­lung der Schrift­sät­ze oder Berech­nung von Ansprü­chen. Eine Reform der juris­ti­schen Aus­bil­dung hät­te nicht nur den Vor­teil, dass die­se inklu­si­ver und chan­cen­ge­rech­ter gestal­tet wäre und die Absolvent*innen die tat­säch­lich benö­tig­ten Fähig­kei­ten ver­mit­telt bekämen,92 son­dern auch, dass die ten­den­zi­ell bestehen­de Hem­mung gegen­über Inno- vatio­nen im Rechts­be­reich abge­baut wer­den könn­te. Dies ebnet den Weg dafür, das tech­nisch Mög­li­che gekonnt ein­zu­set­zen und so zur drin­gend benö­tig­ten Ent­las­tung des knap­pen Per­so­nals bei­zu­tra­gen. Jurist*innen sind nicht ersetz­bar, es gibt jedoch Aspek­te der juris­ti­schen Arbeit, die sich auto­ma­ti­sie­ren oder zumin­dest ver­ein­fa­chen lie­ßen, wenn man es denn zulie- ße.

legal­tech, sowie LL.M. Legal Tech (Regens­burg), https://www. legaltech-ur.de/.

92 Vgl. Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elek­tro­ni­sche Fernprü-

Initia­ti­ven wie iur.reform93 set­zen sich bereits jetzt für eine Moder­ni­sie­rung der juris­ti­schen Aus­bil­dung ein. Dazu wur­de die seit über 20 Jah­ren bestehen­de Re- form­dis­kus­si­on aus­ge­wer­tet und in 44 zen­tra­le The­sen gefasst, wel­che schließ­lich in die bun­des­weit größ­te Um- fra­ge unter Jurist*innen geflos­sen sind. Sol­che Best­re- bun­gen gilt es zu för­dern und deren Ergeb­nis­se als ers­ten Impuls zu nutzen.

3. Netz­wer­ke schaf­fen und fördern

Netz­wer­ke sind auch für Jurist*innen wich­tig. Sie soll­ten weni­ger mit dro­hen­den Befan­gen­heits­an­trä­gen asso­zi- iert und statt­des­sen bewusst geschaf­fen und genutzt wer- den. Sol­che Netz­wer­ke ent­ste­hen aktu­ell vor allem auf natür­li­che Wei­se in den ver­schie­de­nen Insti­tu­tio­nen und über die übli­chen beruf­li­chen Kon­tak­te. In eini­gen Berei­chen fin­den sich auf Initia­ti­ve Ein­zel­ner bereits orts- bzw. insti­tu­ti­ons­über­grei­fend Men­schen zum Aus- tausch zusam­men. Foren wie die digi­ta­le Rich­ter­schaft oder Ver­ei­ne wie der Next e.V. ermög­li­chen es Inte­res- sier­ten einer­seits, sich mit ihren Erfah­run­gen und Fra- gen an ein grö­ße­res Publi­kum zu wen­den und per­sön­li- che Kon­tak­te zu knüp­fen. Dies schafft Ver­trau­en unte­rei- nan­der und för­dert einen ehr­li­chen Umgang mit Pro­ble­men und Her­aus­for­de­run­gen. Ande­rer­seits infor- mie­ren sol­che Initia­ti­ven und len­ken Auf­merk­sam­keit auf bestimm­te The­men, sor­gen somit für eine gewis­se Sicht­bar­keit und moti­vie­ren mög­li­cher­wei­se zum eige- nen Enga­ge­ment. Dadurch wie­der­um kön­nen ver­meint- liche Einzelkämpfer*innen ermu­tigt und zusam­men­ge- bracht wer­den. Die­se Netz­wer­ke sind zudem not­wen­dig, um der stei­gen­den Kom­ple­xi­tät auf tech­ni­scher und recht­li­cher Ebe­ne zu begeg­nen. Es gilt daher, sie aktiv ein­zu­rich­ten und zu fördern.

4. Durch­läs­sig­keit und Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät stärken

Die Viel­sei­tig­keit der juris­ti­schen Beru­fe und die unter- schied­li­chen Erfah­run­gen, die dadurch gesam­melt wer- den kön­nen, bie­ten eine wei­te­re gro­ße Chan­ce von­ein- ander zu ler­nen. Den­noch sind Per­spek­tiv­wech­sel eher eineSeltenheit.NurwenigeJurist*innenwechselnaus der Anwalt­schaft ins Rich­ter­amt und umge­kehrt, oft- mals wird der nach dem Examen ein­ge­schla­ge­ne Kar­rie- reweg über vie­le Jah­re wei­ter­ver­folgt. Gera­de das Dienst- und Beam­ten­recht bie­tet hier nur wenig Durchlässigkeit

fung, Ber­lin, 2023, S. 22. 93 Vgl. https://iurreform.de/.

94 Zum bis­he­ri­gen Stand und Ver­ständ­nis s. Wrase/Scheiwe, Rechts-

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 2 0 5

206 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

und Anrei­ze, die in ande­ren Berei­chen erwor­be­nen Fähig­kei­ten (zeit­wei­se) in den Dienst des Staa­tes zu stel- len.

Anpas­sun­gen in die­sem Bereich müs­sen zudem nicht auf Jurist*innen beschränkt sein. Bereits jetzt stellt die­se Berufs­grup­pe z.B. einen gro­ßen Teil der minis­te­ri­el­len Beamt*innen und schließt dadurch wert­vol­le Per­spek­ti- ven und Metho­den ande­rer Fach­rich­tun­gen aus. Fel­low- ship-Pro­gram­me wie Work4Germany haben den Mehr- wert die­ses Ansat­zes bereits unter Beweis gestellt und ge- zeigt, dass inter­dis­zi­pli­nä­res Arbei­ten auch im öffent­li- chen Sek­tor gelin­gen kann.

Neben der Durch­läs­sig­keit zwi­schen den ver­schie­de- nen Beru­fen, gilt es daher, die Rechts­wis­sen­schaft mit wei­te­ren Dis­zi­pli­nen zu ver­knüp­fen. Recht und Rechts- staat sind jetzt auf die Erkennt­nis­se ande­rer Wis­sen- schaf­ten und Dis­zi­pli­nen ange­wie­sen. So wird es auf- grund der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on immer wich­ti­ger, neben der tech­ni­schen Funk­ti­ons­wei­se auch die Aus­wir- kun­gen auf Gesell­schaft oder Wirt­schaft zu begreifen.

Damit dies gelingt, mit­hin eine „gute“ Recht­set­zung ermög­licht wird, die den Rege­lungs­be­darf erkennt und im Rah­men der (verfassungs-)rechtlichen Vor­ga­ben und anhand des poli­ti­schen Wil­lens umsetzt, bedarf es mehr als die aktu­ell im Gesetz­ge­bungs­pro­zess eta­blier­ten An- hörun­gen. Es ist viel­mehr ein früh­zei­ti­ger und ech­ter in- ter­dis­zi­pli­nä­rer Aus­tausch not­wen­dig. Dies umfasst ins- beson­de­re eine Kom­mu­ni­ka­ti­on auf Augen­hö­he, die Fä- hig­keit, sich in ande­re Posi­tio­nen hin­ein­zu­ver­set­zen und das Hin­ter­fra­gen der eige­nen Annah­men. Inter­dis­zi­pli- näres Arbei­ten ist mehr als das Betei­li­gen ver­schie­de­ner Dis­zi­pli­nen. Es erfor­dert weni­ger die höchs­ten Fer­tig­kei- ten im eige­nen Fach­be­reich, son­dern viel­mehr bestimm- te, oft unter der Kate­go­rie soft skills zusam­men­ge­fass­te Fähig­kei­ten, die somit als „Zukunfts­skills“ in den Mit­tel- punkt rücken.

5. Feh­ler- und Lern­kul­tur etablieren

Auch wenn ein Rechts­staat danach strebt, Feh­ler zu ver- mei­den, so kom­men sie zwangs­läu­fig vor und wer­den sich mög­li­cher­wei­se häu­fen, wenn man inno­va­ti­ve Ansät­ze ver­folgt. Eine Kul­tur, in der Feh­ler unwei­ger­lich nega­ti­ve Kon­se­quen­zen für den Ein­zel­nen haben, regt dazu an, die­se zu ver­schwei­gen. Dass Feh­ler nicht ver- schwie­gen, son­dern offen behan­delt wer­den soll­ten, ist per se nicht Neu­es. Wich­tig ist jedoch sich bewusst zu machen, dass der trans­pa­ren­te Umgang mit Feh­lern nicht nur aus Sicht des Ein­zel­nen wün­schens­wert ist,

wir­kungs­for­schung revi­si­ted, in: Zeit­schrift für Rechtssoziologie,

2018, S. 5 ff.
95 S. Les­sig, Code: And Other Laws Of Cyber­space, New York, 1999,

son­dern vor allem die Mög­lich­keit bie­tet, durch Auf­klä- rung und Adap­ti­on des Sys­tems wei­te­re Feh­ler zu ver- mei­den. Daher müs­sen sol­che Struk­tu­ren geschaf­fen wer­den, die sicher­stel­len, dass etwa­ige Feh­ler nicht nur kom­mu­ni­ziert, son­dern aus ihnen auch die not­wen­di­gen Schlüs­se gezo­gen wer­den, somit neben einer Feh­ler- auch eine Lern­kul­tur sicherstellen.

6. Digi­ta­li­sie­rung des Rechts

Ent­schei­dend wird zudem sein, ob es gelingt, die Poten- tia­le der Digi­ta­li­sie­rung auch im und für das Recht zu nut­zen. Eine flä­chen­de­cken­de elek­tro­ni­sche Akten­füh- rung kann hier­bei nur ein ers­ter Schritt sein, um eine umfas­sen­de elek­tro­ni­sche Grund­la­ge für die wei­te­re Arbeit zu schaf­fen. Es bedarf dar­über hin­aus einer umfas­sen­den Daten­grund­la­ge und der qua­li­ta­ti­ven Auf- berei­tung die­ser, um den künf­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen zu begeg­nen. Nicht nur wür­de z.B. eine Ver­öf­fent­li­chung und Auf­be­rei­tung sämt­li­cher Gerichts­ent­schei­dun­gen in anony­mi­sier­ter Form dazu bei­tra­gen, dass Richter*innen bei ihren Ent­schei­dun­gen im gesam­ten Bun­des­ge­biet auf umfas­sen­de Mate­ria­li­en zur Bewer­tung und Ein­schät- zung zurück­grei­fen könn­ten, son­dern ebne­te dies auch den Weg zu einer umfas­sen­den Rechts­wir­kungs­for- schung. Auf der einen Sei­te wür­den dadurch die Entscheidungsträger*innen in Exe­ku­ti­ve, Legis­la­ti­ve und Judi­ka­ti­ve ent­las­tet, da sie ihre wert­vol­len Kapa­zi­tä- ten nicht mehr zur müh­sa­men Erfas­sung und Auf­be­rei- tung des Sach­ver­halts, der Beauf­tra­gung von wei­te­ren Gut­ach­ten oder Stu­di­en sowie der Tat­sa­che, dass bestimm­te Infor­ma­tio­nen schlicht nicht ein­ge­holt wer- den kön­nen, ver­wen­den müss­ten. Zudem schafft ein solch daten­ba­sier­tes Recht Trans­pa­renz und dadurch nicht nur Ver­trau­en in den Rechts­staat, son­dern ermög- licht es eben­so, dass das Recht gerech­ter wird. Ver­hält- nis­mä­ßig leicht könn­ten z.B. regio­na­le Unter­schie­de in der recht­li­chen Bewer­tung dar­ge­stellt und hin­ter­fragt wer­den. Zudem könn­te dadurch über­prüft wer­den, ob die Rege­lungs­in­ten­ti­on des Gesetz­ge­bers mit einer kon- kre­ten Norm tat­säch­lich erreicht wird sowie, ob und wo sich Pro­ble­me in der Rechts­an­wen­dung stel­len, um ent- spre­chend schnell dar­auf reagie­ren zu kön­nen (Rechts- wirkungsforschung94). Wei­ter könn­ten Regu­lie­rungs- wir­kun­gen von Umstän­den oder Drit­ten auf­ge­deckt wer­den, die bei der bis­he­ri­gen Fokus­sie­rung auf for­mel- les und mate­ri­el­les Recht unbe­rück­sich­tigt blei­ben. Neben der nor­ma­ti­ven Kraft des Fak­ti­schen gilt es eben- so, die nor­ma­ti­ven Wir­kun­gen von Code95, (Indus­trie-)

S. 3 ff.
96 Ins­bes. auch nicht gesetz­lich nor­mier­te Regu­la­ri­en, sog. (Indust-

Standards96 oder die Macht nicht­staat­li­cher und/oder glo­ba­ler Akteu­re zu untersuchen.97

In die­sem Zusam­men­hang ist zudem zu hin­ter­f­ra- gen, inwie­weit durch tech­ni­sche oder sys­tem­im­ma­nen­te Vor­ga­ben Rechts­brü­che bereits ver­mie­den wer­den kön- nen. So mag es auf der einen Sei­te vor­teil­haft erschei­nen, dass bestimm­te rechts­wid­ri­ge Hand­lun­gen schlicht un- mög­lich gemacht wür­den, auf der ande­ren Sei­te darf nicht ver­ges­sen wer­den, dass Gegen­stand einer sol­chen Regu­lie­rung durch Tech­nik der Mensch ist, des­sen indi- vidu­el­le (Entscheidungs-)Freiheit es durch das Recht zu schüt­zen gilt. Eine sol­che Lösung löst daher nur das ober­fläch­li­che Pro­blem der Über­las­tung, schützt in Wahr­heit aber nicht die indi­vi­du­el­le Frei­heit und ist da- her im Ergeb­nis abzu­leh­nen. So mag es viel­leicht kein „Recht auf Rechts­bruch“ geben, jedoch schüt­zen grund- recht­li­che Frei­hei­ten vor einer voll­stän­di­gen Deter­mi- nie­rung mensch­li­cher Ent­schei­dun­gen und Hand­lungs- wei­sen durch umfas­sen­de tech­no­lo­gisch ermög­lich­te Auto­ma­ti­sie­rung des Normvollzugs98.

Mehr Daten führ­ten dar­über hin­aus kei­nes­falls dazu, dass Jurist*innen obso­let wür­den. Die kom­ple­xen Ein- schät­zungs­spiel­räu­me und Abwä­gun­gen erfor­dern gera- de eine mensch­li­che Ent­schei­dung, die nicht auto­ma­ti- siert wer­den kann. Daten und der Ein­satz ent­spre­chen- der daten­ba­sier­ter Tech­no­lo­gien (z.B. durch Legal Tech) kön­nen jedoch die not­wen­di­ge Ent­las­tung im Bereich des Rechts schaf­fen. Dies kann indes nur gelin­gen, wenn neben der tech­ni­schen Infra­struk­tur, dem Auf­bau der Daten und der Kom­pe­tenz­ver­mitt­lung auch ein all­ge- mei­nes Bekennt­nis zur Daten­nut­zung erfolgt. Dies be- deu­tet, dass eine etwa­ige bestehen­de ein­sei­ti­ge Fokus­sie- rung auf Daten­schutz in einen ver­hält­nis­mä­ßi­gen Aus- gleich mit den Inter­es­sen an der Daten­nut­zung gebracht wer­den muss.

Dar­über hin­aus müs­sen die Fra­gen der prak­ti­schen Umset­zung, u.a. das Auf­brin­gen der not­wen­di­gen finan- ziel­len Mit­tel, dis­ku­tiert wer­den. Im Bun­des­rat wur­de hier­zu bei­spiels­wei­se schon ein Vor­schlag für eine dies- bezüg­li­che Grund­ge­setz­än­de­rung eingebracht.99

rie-)Standards (z. B. DIN-Nor­men), neh­men mitt­ler­wei­le einen hohen Stel­len­wert im inter­na­tio­na­len Han­del ein, vgl. Sandl, Tech­ni­sche Nor­men und Stan­dards – unter­schätz­te Grö­ßen im geo­po­li­ti­schen Macht­wett­be­werb, in: Zeit­schrift für Außen- und Sicher­heits­po­li­tik, 2021, S. 265 ff.

97 Bspw. Gewerk­schaf­ten als kon­struk­ti­ve Veto­spie­ler, vgl. Urban, Gewerk­schaf­ten als kon­struk­ti­ve Veto­spie­ler. Kon­tex­te und Prob- leme gewerk­schaft­li­cher Stra­te­gie­bil­dung, in: For­schungs­jour­nal NSB, 2005, S. 44 ff.

7. Wan­del der Rechtskultur

Kein Zwei­fel: Wir wer­den inner­halb der nächs­ten 12 Jah- re einen Wan­del des Rechts – von der Art, wie es ent- steht, über die Mecha­nis­men sei­ner Ver­wirk­li­chung bis zu der Rol­le der (mensch­li­chen) Akteu­re in der Rechts- ord­nung – erle­ben, wie es dies über all die Jah­re, Jahr- zehn­te, Jahr­hun­der­te nicht gab, in denen Rechts­staat- lich­keit zum prä­gen­den Ele­ment moder­ner Gesell­schaf- ten avan­cier­te. Die rasan­te tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung schafft neue Zugän­ge zum Recht durch Digi­ta­li­sie­rung, Kon­flikt­ver­mei­dung durch Auto­ma­ti­sie­rung, pro­duk­ti­ve Mensch-Maschi­ne-Inter­ak­tio­nen und Ver­fah­rens­ef­fi­zi- enz durch smar­te Pro­zes­se auf bes­se­rer Daten­ba­sis. So forscht man bereits an algo­rith­men­ba­sier­ter Gesetz­ge- bung, die künf­tig Grund­la­ge des auto­ma­ti­sier­ten Geset- zes­voll­zugs, aber auch der digi­ta­len Ver­mitt­lung von Nor­m­in­hal­ten an die (rechts­un­kun­di­gen) Norm­adres­sa- ten sein wird.

Es leuch­tet ein, dass dies alles schon auf­grund sei­ner Kom­ple­xi­tät und Dyna­mik nicht in die Denk­wei­se über- kom­me­ner Rechts­pra­xis und Juris­ten­aus­bil­dung passt. Um so mehr (und schnel­ler) muss man umden­ken und die Rechts­ord­nung – behut­sam anpas­send – umge­s­tal- ten, solan­ge dies noch in beherrsch­ba­ren Schrit­ten erfol- gen kann. Das alles gelingt unter­des­sen nur, wenn man das über­kom­me­ne Recht nicht gegen inno­va­ti­ve Rechts- ideen aus­spielt, ganz nach dem Mot­to: Die hier dar­ge- stell­ten juris­ti­schen Inno­va­tio­nen sei­en letzt­lich rechts- wid­rig und schon des­halb zu unter­bin­den. Um genau dies zu ver­hin­dern, for­dert Dirk Heck­mann einen Rechts- kulturwandel100 hin zu einer kon­struk­tiv-abwä­gen­den Hal­tung gegen­über dem Neu­en, dem Unbe­kann­ten: „Kon­struk­tiv in dem Sin­ne, dass man auch als Jurist nicht ein­fach Beden­ken in den Raum stellt, son­dern so- fort Lösun­gen anbie­tet oder zumin­dest anstrebt – und dabei zugleich den Wert der digi­ta­len Inno­va­ti­on aner- kennt. Sowie abwä­gend in dem Sin­ne, dass man bei dem (im Übri­gen not­wen­di­gen) Rechts­gü­ter­schutz nicht nur das eine Rechts­gut benennt und ver­tei­digt, um das man

98 So zutref­fend in Anleh­nung an das Böcken­för­de-Dik­tum Pasch­ke, Digi­ta­le Gerichts­öf­fent­lich­keit und Deter­mi­nie­rungs­ge­samt­rech- nung, in: MMR 2019, 563: „Nur ein tota­li­tä­rer Staat ver­hin­dert flä­chen­de­ckend den Rechts­bruch, erzwingt die Ein­hal­tung des­sen, was er als Recht setzt, durch Total­über­wa­chung oder all­ge­gen­wär- tigen tech­ni­schen Zwang.“

99 BR-Drs. 165/1/18, S. 10 f.
100 Sie­he den IFO-Schnell­dienst 08/2023 vom 16. August 2023, S. 22 ff. 101 Hier­zu der Werk­statt­be­richt von Rach­ut, ODW 2023, 89 ff.

Rach­ut · Recht ohne Wirk­lich­keit? 2 0 7

208 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2023), 191–208

sich sorgt, son­dern zugleich kol­li­die­ren­de Rechts­gü­ter in den Blick nimmt, deren Wert und Wich­tig­keit eben­so auf die Waag­scha­le gehören.“

Das alles lässt sich aber nur bewäl­ti­gen, wenn man stär­ker als je zuvor wis­sen­schaft­li­che Exper­ti­se in all die- se Pro­zes­se ein­be­zieht, und zwar von der Kon­zep­ti­ons- pha­se über Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten in der Pro­jekt- ent­wick­lung bis zur fach­li­chen Unter­stüt­zung vor, wäh- rend und nach einer Eva­lua­ti­on. Eine sol­che Rol­le nimmt etwa das TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices (www. tum-cdps.de) seit sei­ner Ent­ste­hung im Juni 2020 mit Erfolg ein.101

Die Neu­ge­stal­tung einer (digi­ta­li­sier­ten) Rechts­ord- nung kann nicht „von innen her­aus“ gelin­gen – viel­mehr soll­te hier die (Rechts-)Wissenschaft sol­che Trans­for­ma- tions­pro­zes­se beglei­ten: sie hat die not­wen­di­ge Exper­ti- se, Glaub­haf­tig­keit und Gestal­tungs­kraft. Rechts­wis­sen- schaft, zumal in ihrer inter­dis­zi­pli­nä­ren Ver­flech­tung, kann mehr als nur das Recht erklä­ren und Debat­ten lei- ten. Sie kann und soll­te auch Gesetz­ge­bung, Ver­wal­tung und Recht­spre­chung dar­in unter­stüt­zen, sich unter den Bedin­gun­gen fort­wäh­ren­der Digi­ta­li­sie­rung, Auto­ma­ti- sie­rung und Ver­net­zung zu erneuern.

IV. Fazit: Das Recht zwi­schen Kon­ti­nui­tät und Adap- tion

Die vor­ste­hen­den Maß­nah­men zei­gen ers­te Ansatz- punk­te auf, um den Rechts­staat zukunfts­fä­hig zu machen. Unbe­nom­men wird das Recht stets auf Verän- derun­gen reagie­ren müs­sen. Denn Auf­ga­be des Rechts ist es nicht, zu regu­lie­ren, was in fer­ner Zukunft sein könn­te, son­dern all­ge­mein gül­ti­ge abs­trakt-gene­rel­le Rege­lun­gen für das Heu­te auf­zu­stel­len und über deren Anwen­dung zu wachen. Die­se Nor­men anzu­pas­sen kann aus ver­schie­de­nen Grün­den not­wen­dig sein. Inno- vatio­nen kön­nen ein Trei­ber die­ser Ent­wick­lung sein, nicht jeder Fort­schritt erfor­dert jedoch eine Anpas­sung des Rechts. Die bekann­ten Her­aus­for­de­run­gen in die-

sem Anpas­sungs­pro­zess erhal­ten durch die aktu­ell bes­te- hen­den, zu erwar­ten­den und noch nicht abseh­ba­ren Ent­wick­lun­gen eine neue Dimen­si­on. Die digi­ta­le Trans- for­ma­ti­on und der ste­ti­ge tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt sind nur ein Bei­spiel für Her­aus­for­de­run­gen in einer Grö­ße, dass, soll­ten sie igno­riert wer­den, sie zu einem Steue­rungs­ver­lust des Rechts füh­ren könnten.

Die Fra­gen, mit denen sich der Rechts­staat kon­fron- tiert sieht, haben sich durch das Digi­ta­le bereits ver­viel- facht und wer­den dies künf­tig in immer schnel­le­rer Ab- fol­ge tun. Damit der Rechts­staat wei­ter­hin hand­lungs­fä- hig blei­ben kann und nicht exter­nen Zwän­gen unter- worfen wird, sind bereits heu­te weit­sich­ti­ge Anpas­sun­gen erfor­der­lich. Bei dem Ruf nach Adap­ti­on und Inno­va­ti- on, darf gleich­zei­tig nicht ver­ges­sen wer­den, dass die Kon­ti­nui­tät des Rechts ein zen­tra­ler Erfolgs­fak­tor unse- res Rechts­staats ist. Eine gewis­se Zer­ris­sen­heit des Rechts zwi­schen Kon­ti­nui­tät und Adap­ti­on ist daher un- aus­weich­lich. Statt zu ver­su­chen die­sen Kon­flikt auf­zu- lösen oder zu umge­hen, kann er statt­des­sen genutzt wer- den, um das Gleich­ge­wicht zwi­schen die­sen bei­den Po- len her­zu­stel­len und zu bewah­ren. Dies mag sich als be- son­ders her­aus­for­dernd und in der Pra­xis durch­aus auf­rei­bend gestal­ten, kann letzt­lich jedoch die Zukunfts- fähig­keit des frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Rechts­staa­tes gewähr­leis­ten. Alle­mal lohnt es sich, über die Rol­le des Rechts in der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on inno­va­tiv, krea­tiv und auch dis­rup­tiv nach­zu­den­ken – und dies jetzt, nicht erst in 12 Jahren.

Sarah Rach­ut ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Lehr­stuhl für Recht und Sicher­heit der Digi­ta­li­sie­rung (Prof. Dr. Dirk Heck­mann) an der Tech­ni­schen Uni­ver­si- tät Mün­chen und Geschäfts­füh­re­rin der For­schungs- stel­le TUM Cen­ter for Digi­tal Public Ser­vices. Sie forscht und lehrt zu ver­fas­sungs­recht­li­chen Fra­gen der Digi­ta­li­sie­rung, schwer­punkt­mä­ßig in den Berei­chen E‑Government, E‑Health und E‑Education.