I. Einleitung
Die Corona-Pandemie hat der Ressortforschung in mehrfacher Hinsicht zu ungeahnter Aufmerksamkeit verholfen. Zum einen wurden Institutionen der Ressortforschung, darunter das Robert Koch-Institut, funktional-politisch besonders relevant und entfalteten eine medial zuvor nicht gekannte Präsenz, zum anderen wurde die schon in den 1960er Jahren einen ersten Höhepunkt erlebende Frage nach dem angemessenen Verhältnis von wissenschaftlichen Experten und politischen Entscheidern, in deren Rahmen die institutionalisierte Ressortforschung eine Sonderstellung einnimmt, durch die Pandemie wieder in den Fokus gerückt. Die Pandemiebewältigung warf die Frage auf, welchen Einfluss eine Ressortforschungseinrichtung auf die politischen Entscheidungen hat bzw. ob sie auch zu regulatorischen Instrumenten ermächtigt werden sollte und ließ damit die Problematik um die Trennung oder Symbiose von Risikobewertungen und politischen Risikoentscheidungen virulent werden. Bei der gerichtlichen Überprüfung von staatlich verordneten Corona-Maßnahmen stellten sich ganz konkret auch Fragen nach den Einschätzungsspielräumen von Ressortforschungseinrichtungen. Der vorliegende Beitrag soll in die rechtliche Dimension der Ressortforschung einführen,1 die trotz ihrer weitreichenden Bedeutung in der Praxis noch immer ein gewisses Nischendasein im Wissenschaftsrecht führt2.
Die Unsichtbarkeit der Ressortforschung als eigene Forschungssäule liegt in ihrer doppelten Systemzugehörigkeit begründet, aber auch in ihrer heterogenen Struktur als historisch gewachsenes Phänomen, das durch sachliche und politische Notwendigkeiten geformt wurde. Im System der Forschungslandschaft zählen Ressortforschungseinrichtungen zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, organisatorisch sind sie aber zugleich regelmäßig Teil des nachgeordneten Geschäftsbereiches eines Ministeriums. Die Zugehörigkeit zur Ministerialverwaltung im weiteren Sinne wirft die Frage auf, inwieweit Forschung, die per definitionem in ihrem Kern allein wissenschaftlichen und nicht politischen Vorgaben folgen darf, im Rahmen einer Bundesoberbehörde zulässig ist und unter welchen Umständen Ressortforschung geboten sein kann. Politisches Handeln ist auf eine machterhaltende Problemlösung gerichtet und erfragt von der Wissenschaft vor allem Eindeutigkeit und dadurch geschaffene Legitimation der Entscheidungen, wohingegen die Wissenschaft dahin strebt, sich „ernsthaft und planmäßig“ dem Ungewissen zur Erkenntnisgewinnung bzw. der „Ermittlung der Wahrheit“ zu widmen.3
Aufgabe und Funktion der Ressortforschung ist es, die Ministerialverwaltung in Wahrnehmung ihrer Aufgaben wissenschaftlich zu unterstützen. Dadurch sollen politische Entscheidungen und das Verwaltungshandeln eine Rückbindung zur Wissenschaft erhalten und den Kriterien rationalen Staatshandelns gerecht werden. Dabei kann das Aufgabenspektrum von der Grundlagenforschung im Sinne einer „Vorlaufforschung“ sowie der spezifischen Auftragsforschung einschließlich von Dokumentationen und Datensammlungen als Grundlage politischen Handelns über verschiedene Formen langfristiger und kurzfristiger wissenschaftlicher Politikberatung bis hin zu regulativen Tätigkeiten reichen. Die Ressortforschung begleitet nicht nur konkrete Gesetzesvorhaben und Politiken der Exekutive, sondern soll auch vorausdenkend Themen setzen, die für die jeweiligen Politikfelder in Zukunft wichtig werden können („Antennenfunktion“). Sie entzieht sich durch diese Funktion einer sie prädestinierenden Vereinnahmung durch die Exekutive.
Die Ursprünge der institutionalisierten Ressortforschung der Bundesrepublik Deutschland reichen bereits in die Zeit des Norddeutschen Bundes zurück. So kann
A. Katarina Weilert
Ressortforschung. Eine institutionalisierte
Rationalität im politisch-gubernativen Gefüge
1 Der Artikel basiert auf den Ergebnissen des DFG-geförderten Forschungs projekts zur Ressortforschung, das mit der Monographie (Habilitationsschrift) 2022 in der Reihe Jus Publicum im Verlag Mohr Siebeck unter dem Titel „Ressortforschung. Forschung zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben unter besonderer Berücksichtigung des Bereichs s taatlicher und unionsrechtlicher Gesundheitsverantwortung“ seinen vorläufigen Abschluss gefunden hat. Wortgleiche Zitate aus der vorgenannten Schrift wurden nicht eigens gekennzeichnet.
2 Vgl. zu den Gründen für die Dominanz des Hochschulrechts im Wissenschaftsrecht: Schmidt-Aßmann, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und s taatlicher Ins titutionalisierung, in: Broemel/Kuhlmann/Pilniok, FS für H.-H. Trute, 2023, S. 3 (4).
3 BVerfGE 35, 79 (113, juris Rn. 92) – Hochschulurteil.
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
1 4 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
4 Siehe Weilert Fn. 1.
5 Vgl. zu den Rationalitätsanforderungen des Rechtss taats prinzips:
Britz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl.2013, Art. 5 III (Wissenschaft)
Rn. 17; Gartz, Begründungs pflicht des Gesetzgebers, 2015,
S. 206 ff.; Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische
Rechtsetzung im demokratischen Rechtss taat, VVDStRL
71 (2012), S. 49 (51 f.); Hesse, Der Rechtss taat im Verfassungssys
tem des Grundgesetzes, in: Hesse/Reicke/Scheuner (Hrsg.),
Staatsverfassung und Kirchenordnung, FS Rudolf Smend, 1962, S.
71 (83 f.); H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, S. 58 ff.; Schulze-
Fielitz, Rationalität als rechtss taatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber,
in: Rodi (Hrsg.), Staaten und Steuern, FS Klaus
Vogel, 2000, S. 311 ff. (insbes. 322); Trute, Die Forschung zwischen
grundrechtlicher Freiheit und s taatlicher Ins titutionalisierung,
1994, S. 193 ff.; Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht
zwischen gesellschaftlicher Selbs tregulierung und s taatlicher
Steuerung, DVBl 1996, S. 950 (956); Voßkuhle, Sachvers tändige
Beratung des Staates, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd.
III, 3. Aufl. 2005 § 43, insbes. Rn. 1.
6 Trute, in: Weingart/Wagner (Hrsg.), Wissenschaftliche Politikberatung
im Praxis tes t, 2015, S. 115.
7 Fassbender, Wissen als Grundlage s taatlichen Handelns in: Isensee/
Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 76.
8 Fassbender, Wissen, Fn. 7, § 76 Rn. 2.
9 Fassbender, Wissen, Fn. 7, § 76 Rn. 3.
10 BVerfGE 157, 30 (161 f., Rn. 240) ‒ Klimaschutz.
11 BVerfGE ebd.
12 Vgl. zur Rs pr. des BVerfG nur Führ, Rationale Gesetzgebung, 1998,
S. 11 ff.
13 Vgl. für eine mögliche methodische Ausfüllung von allgemeinen
Rationalitätsanforderungen an den Gesetzgeber Führ Fn. 12, S. 32
ff.
die damalige in der Norddeutschen Maß- und Gewichtsordnung
von 1868 vorgesehene „Normal-Eichungs-
Kommission“, die zentrale Leitungs- und Aufsichtsstelle
für Maße und Gewichte, als erste wissenschaftliche Bundesbehörde
in Form einer Bundesanstalt gelten. Diese
wurde dann später als Kaiserliche-Normal-Eichungs-
Kommission (1871 bis 1918) fortgeführt. Ein Meilenstein
war die Errichtung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes
durch das Reichshaushaltsgesetz von 1876, dessen Gründung
diesbezügliche Kompetenzstreitigkeiten zwischen
den Ländern und dem Reich vorausgingen. Damals wie
heute liegt die Zuständigkeit für Forschung bei den Ländern
und auch vor diesem Hintergrund sind die Ressortforschungseinrichtungen
des Bundes in ihrer Existenz
begründungsbedürftig.
Der Begriff der Ressortforschung kann auch auf institutionalisierte
politikdienende Forschungsstrukturen
des Unionsrechts übertragen werden, da der aus dem
Französischen stammende Ausdruck „ressort“ den Zuständigkeits-
oder auch Amtsbereich bezeichnet und damit
offen ist für eine Beschreibung einer politikdienenden
Forschung auch außerhalb der deutschen Ministerial-
und Verwaltungsstrukturen.
Im Folgenden soll der zulässige und gebotene Rahmen
von Ressortforschung in einigen Eckpunkten markiert
werden. Dabei begrenzt sich die hiesige Darstellung
auf allgemeine Strukturen der Ressortforschung.
Für den Bereich der Gesundheitsressortforschung, an
dem diese Strukturen verdeutlicht werden können, wird
auf die diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsarbeit
verwiesen.4
II. Pflicht zum wissensbasierten Handeln des Staates
und der Europäischen Union
Die Ressortforschung findet ihren Ausgangspunkt in der
Notwendigkeit, staatliches Handeln rational, effektiv
und zielführend auszurichten.
- Rationalitätsgebot
Eine staatliche Pflicht zum wissensbasierten politischen
Handeln kann aus dem materiellen Gehalt des Rechtsstaatsprinzips
abgeleitet werden, das die Rationalität
staatlichen Handelns fordert.5 Der Staat bezieht seine
Legitimität neben demokratischer Repräsentation aus
wissenschaftlicher Rationalität.6 „Wissen“ gilt als die
Grundlage staatlichen Handelns für den rationalen
Staat.7 Das „Vorhandensein von Wissen“ gehört „zu den
Grundlagen, den Voraussetzungen staatlichen Handelns,
so wie das staatliche Personal, die Finanzmittel
und die Organisation des Staates“9; „staatliche Entscheidungen
und Handlungen“ müssen „einer Überprüfung
am Maßstab ‚vernünftigen‘ Wissens standhalten“ . Der
Staat muss also sein Handeln, und zwar das exekutive,
legislative und judikative, auf entsprechendes Wissen
gründen und dieses beibringen. Schwieriger zu beurteilen
ist allerdings, in welcher Intensität und auf welche
Weise der Staat Zugriff auf Wissen haben bzw. nehmen
muss. Im Klimabeschluss des BVerfG10 räumte das
Gericht dem Gesetzgeber im Hinblick auf die Rationalitätsanforderungen
einen weiten Spielraum ein. Eine
generelle aus der Verfassung abgeleitete Sachaufklärungspflicht
des Gesetzgebers, nach der alle zugänglichen
Erkenntnisquellen ausgeschöpft werden müssten,
bestünde nicht.11 Frühere Urteile des BVerfG haben prozedurale
Mindestanforderungen (wie den Rekurs auf
verlässliche Quellen, eine Prognosepflicht, Begründungspflicht
und ggf. die Veranlassung einer Datenerhebung
in Bezug auf die Wirkungen eines Gesetzes) aufgestellt.
12
Das Rechtsstaatsprinzip schreibt zwar keine bestimmte
Art und Weise der Ausrichtung des staatlichen
Handelns an der Wissenschaft vor,13 jedoch sollte im Sinne
eines Untermaßverbotes ein Mindestmaß an Rationalität
im Sinne einer Ausrichtung an wissenschaftlichen
Grundlagen gefordert werden, womit ein Auftrag zu einer
prozeduralen Ausgestaltung und Gewährleistung
Weilert · Ressortforschung 1 4 9
15 Vgl. zu einer prozeduralen Bindung des Gesetzgebers: Gartz Fn. 5,
S. 181.
15 Vgl. zu den Vor- und Nachteilen einer integrativen Struktur durch
die Ressortforschung als Teil der Minis terialverwaltung: Weilert
Fn. 1, S. 134 ff.
16 Scott/Vos, The Juridification of Uncertainty: Observations on the
Ambivalence of the Precautionary Principle within the EU and
the WTO, in: Joerges/Dehousse (Hrsg.), Good Governance in
Europe´s Integrated Market, 2007, S. 253 (253).
17 Umfassend zum unionalen Vorsorgeprinzip: B. Arndt, Das
Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, S. 69 ff. Ers tmals nähere
Konturen erhielt das Vorsorgeprinzip in der Europäischen Union
durch das Grünbuch der Kommission, Allgemeine Grundsätze
des Lebensmittelrechts in der Europäischen Union, KOM (97) 176
endg. sowie durch Mitteilung der Kommission, Gesundheit der
Verbraucher und Lebensmittelsicherheit, KOM (97) 183 endg.;
weitere (rechtsunverbindliche) Klärungen wurden vorgenommen
durch Mitteilung der Kommission, Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips,
KOM (2000) 1 endg.; weitere Nachweise bei Weilert
Fn. 1, S. 389 in Anm. 9.
18 Vgl. Alber-Malchow/Steigleder, Definition der Begriffe Wissenschaft
und Forschung – Eigengesetzlichkeit von Wissenschaft und
Forschung, in: Wagner (Hrsg.), Rechtliche Rahmenbedingungen
für Wissenschaft und Forschung, 2015, S. 23 ff. (32).
19 Triepel, Die Kompetenzen des Bundess taates und die geschriebene
Verfassung, in: FS Paul Laband, Bd. II, 1908, S. 303.
20 Köttgen, Der Einfluß des Bundes auf die deutsche Verwaltung und
die Organisation der bundeseigenen Verwaltung (Berichtszeit:
Legislaturperiode des 1. Bundes tages), JöR 3 (1954), S. 67 (110 f., allerdings
ohne s pezifischen Rekurs auf Annexkompetenz); Meusel,
Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 2. Aufl. 1999,
§ 6 Rn. 124 und § 14 Rn. 226; Kös tlin, Ressortforschungseinrichtungen,
in: Flämig et al. (Hrsg.), Hdb. Wissenschaftsrecht, Bd. II, - Aufl. 1996, S. 1365 (1370); Oebbecke, Verwaltungszus tändigkeit,
in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 136
Rn. 108.; Weilert Fn. 1, S. 236 (mit umfangreichen Nachweisen in
Anmerkung 320).
21 Schmidt-Aßmann, Die Bundeskompetenzen für die Wissenschaftsförderung
nach der Föderalismusreform, in: Depenheuer et al.
(Hrsg.), Staat im Wort, FS Josef Isensee, 2007, S. 405 (419).
verbunden ist.14 Dabei sollte gelten, dass der Grad der
Wissenschaftsabhängigkeit staatlicher Aufgaben über
das Ausmaß der Pflicht zur Beibringung wissenschaftlicher
Expertise entscheidet, sei es durch Einholung entsprechenden
Sachverstandes oder Vorhalten desselben
in der Verwaltung. Die institutionalisierte Ressortforschung
ist dabei eine Möglichkeit des Staates, dem Rationalitätsgebot
Rechnung zu tragen.15
Im Unionsrecht lässt sich eine solche Rationalitätspflicht
aus Art. 114 Abs. 3 AEUV (jedenfalls für binnenmarktpolitisches
Handeln) ableiten, aber auch aus dem ‒
ursprünglich dem deutschen Recht entspringenden16 ‒
Vorsorgeprinzip,17 das sich, zunächst im Umweltrecht
beheimatet, auf Unionsebene mittlerweile fest etabliert
hat. Im Kern besagt das unionsrechtliche Vorsorgeprinzip,
dass trotz bestehender wissenschaftlicher Unsicherheit
das Ergreifen von Vorsorgemaßnahmen möglich ist,
auch wenn die Wahrscheinlichkeit für den Risikoeintritt
und die Schwere des möglichen Schadensausmaßes
noch nicht hinreichend abschätzbar sind. Die Raison für
dieses Prinzip liegt darin, dass wissenschaftliche Unsicherheiten
bei begründeter Besorgnis für gefährliche
Umwelt- oder Gesundheitsschäden dem rechtzeitigen
politischen Handeln nicht entgegenstehen sollen. Diese
Erlaubnis zu Risikomanagemententscheidungen in einem
Bereich wissenschaftlicher Unsicherheiten setzt einen
Prozess der Risikobewertung voraus, ohne den derartige
politische Entscheidungen willkürlich wären.
Das Rationalitätsgebot verlangt mithin die Verpflichtung
und Befähigung zu „informierten“ Entscheidungen
und Handlungen einer demokratisch legitimierten Instanz.
Informierte Entscheidungen müssen nicht notwendigerweise
„richtige“ oder „wahre“ Entscheidungen sein,
aber sie sollten in einem den rechtsstaatlichen Anforderungen
genügenden Prozess zustande gekommen sein.
Die Rationalitätspflicht des Rechtsstaatsprinzips darf
nicht dazu führen, das formale Rechtsstaatsprinzip, das
sich vor allem durch die Gesetzesbindung auszeichnet,
oder auch das Demokratieprinzip auszuhöhlen. Entscheidungen
legitimieren sich im Rechtsstaat nicht in
erster Linie durch ihren Wahrheitsgehalt, sondern durch
ihre Rechtmäßigkeit.18 - Forschungsaufgaben als Annex zur sachgerechten
Wahrnehmung der Verwaltungskompetenzen des Bundes
und der unionalen Sachbereichskompetenzen
a) Annex zu Bundeskompetenzen
Eng mit dem Rationalitätsgebot verbunden ist die
Begründungslinie der Bundeszuständigkeit für die Forschungsaufgaben
der Ressortforschungsbehörden. Diese
wird – schon seit Triepel19 – im Wesentlichen aus der
Annexzuständigkeit zur sachgerechten Wahrnehmung
der jeweiligen (und jeweils zu explizierenden) Bundesverwaltungskompetenz
abgeleitet.20 Die Ministerien sollen
in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben entsprechend
dem Stand von Wissenschaft und Forschung auszuüben.
Die Annexzuständigkeit markiert aber zugleich
auch die Grenze der Bundeskompetenz, denn reine Forschung,
die keinen ministeriellen Nah- oder Fernzwecken
dient, kann nicht mehr mit dem Annexgedanken
begründet werden.21 Insofern Ressortforschungseinrichtungen
verwaltende Aufgaben (z.B. Zulassungsverfahren)
ausführen, ergibt sich eine Bundeszuständigkeit
bereits direkt durch die Bundesverwaltungskompetenz
selbst, das heißt durch Spezialzuweisungen (vgl.
1 5 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
22 von Bogdandy/Wes tphal, Der rechtliche Rahmen eines autonomen
Europäischen Wissenschaftsrates, WissR 37 (2004), S. 224
(234); Glaesner, Außeruniversitäre Forschung in der europäischen
Rechtsordnung, in: Flämig et al. (Hrsg.), Hdb. Wissenschaftsrecht,
Bd. II, 2. Aufl. 1996, S. 1281 (1285 f.).
23 So die Rs pr. seit Fédéchar, zusammenfassend: Nettesheim, in:
Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen
Union, Werks tand: 71. EL Augus t 2020, Art. 1 AEUV (41. EL Juli
2020) Rn. 14.
24 Statt vieler: Berg, Die öffentlich-rechtliche Ans talt, NJW 1985,
S. 2294 (2297).
25 Vgl. Gröb, Die rechtsfähige öffentliche Schule, 2014, S. 58.
Art. 87 Abs. 1 und Art. 87 b GG) oder über die generalklauselartige
Ausnahmeermächtigung nach
Art. 87 Abs. 3 GG.
b) Annex zu Unionskompetenzen
Auch im Unionsrecht lässt sich eine Kompetenz zur Ressortforschung
aus dem Annexgedanken herleiten. Dabei
darf der unionsrechtliche Grundsatz der begrenzten
Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV) nicht
untergraben werden. Auch das Subsidiaritätsprinzip findet
auf die Ressortforschung und Forschungspolitik der
Union Anwendung.22 In der Terminologie des Unionsrechts
wird die Annexkompetenz als implied powers
gefasst. Implied powers werden angenommen, wenn
ohne die ungeschriebene Kompetenz eine vorhandene
Kompetenz der Union sinnlos werden würde bzw. wenn
die vorhandene Vorschrift „nicht in vernünftiger Weise
zur Anwendung gelangen“ könnte.23 Implied powers sollen
also die vorhandenen Kompetenzen effektuieren,
nicht jedoch, wie in der EuGH-Judikatur teils zu finden,
eine unionsrechtliche Aufgaben- oder Zielvorgabe zu
einer Kompetenz ausweiten. Eine Ressortforschungskompetenz
besteht also, insoweit sie notwendig ist, um
eine vorhandene Kompetenz sachgerecht ausüben zu
können. Die Union hat im Rahmen der ihr übertragenen
Politiken wissenschaftliche Erkenntnisse einzuholen
und einzubeziehen.
III. Institutionalisierte Ressortforschung - Institutionalisierte Ressortforschung als Hybrid: Teil
der deutschen Ministerialverwaltung und Säule der
außeruniversitären Forschung
a) Ressortforschungseinrichtungen als Teil der Ministerialverwaltung
Die institutionalisierte Ressortforschung findet schwerpunktmäßig
in Bundeseinrichtungen mit Forschungsund
Entwicklungsaufgaben (FuE) in behördlicher Form
statt, daneben bestehen auch institutionalisierte Forschungskooperationen.
Eine verwaltungsrechtliche
Besonderheit besteht darin, dass Ressortforschungseinrichtungen
als Bundesoberbehörden regelmäßig zugleich
in der Form nichtrechtsfähiger Anstalten organisiert
sind. Der Grund für die Wahl dieser Rechtsformen
liegt darin, dass die Ressortforschung eine dienende,
aber aufgrund ihres Forschungs- und Expertencharakters
auch eigenständige Funktion im Rahmen der Staatsverwaltung
einnimmt. Bis heute gibt es Unklarheiten
darüber, durch welche Kriterien sich eine nichtrechtsfähige
Anstalt auszeichnet24 und welche Rechtsfolgen sich
aus ihrer Organisationsform ergeben. Mit der Bezeichnung
der Ressortforschungseinrichtungen als nichtrechtsfähige
Anstalten soll von ministerieller Seite vor
allem zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich hier
um verselbstständigte Verwaltungseinheiten25 handelt.
Letztlich ist die Einordnung als nichtrechtsfähige Anstalt
teilweise historischer, jedenfalls vornehmlich akademischer
Natur, da in erster Linie für die rechtliche Einordnung
ausschlaggebend die Tatsache ist, dass es sich bei
Ressortforschungseinrichtungen um (selbständige Bundesober-)
Behörden handelt.
Die Rechtsform bedingt die Möglichkeiten des staatlichen
Einflusses auf die Ressortforschungseinrichtungen.
Das Satzungsrecht für die nichtrechtsfähigen Anstalten
liegt beim Bund und wird durch die Bundesministerien
nach ihrem Ermessen ausgeübt, gleichwie die
Ministerien über weitreichende Kompetenzen im Personalernennungsrecht
für die Ressortforschungseinrichtungen
verfügen. Insbesondere aber steht den Ministerien
über ihre Ressortforschungseinrichtungen die Rechtsund
Fachaufsicht zu, die jedoch angesichts des Charakters
der Einrichtungen als wissenschaftliche Behörden
schonend und kooperativ ausgeübt wird. Der rechtlichen
Eingebundenheit in das hierarchische System der
Ministerialverwaltung steht als faktisches Gegengewicht
die besondere Sachkompetenz der Behörden gegenüber,
die zu einer größeren Unabhängigkeit von der Ministerialverwaltung
führen kann. Die Einbindung in die
behördlichen Strukturen bedeutet aber auch, dass Ressortforschungseinrichtungen
hoheitliche Tätigkeiten
(z.B. im Rahmen von Zulassungsverfahren) übertragen
werden können. Aufgrund des Ressortprinzips führen
die Ministerien in ihrem Geschäftsbereich die Ressortforschungseinrichtungen
im Einzelnen sehr
unterschiedlich.
Der Begriff „Ressortforschung“ oder „Ressortforschungseinrichtung“
ist eine ministeriell zugewiesene
Weilert · Ressortforschung 1 5 1
26 Diese Spannung wird angedeutet bereits von Jakob, Forschungsfinanzierung
durch den Bund, Der Staat 24 (1985), S. 527 (560).
27 Vgl. zu den Aufsichtsmitteln der Staatsaufsicht: Kahl, Die Staatsaufsicht,
2000, S. 505 f.
28 Vgl. Meusel Fn. 20, § 19 Rn. 301.
Klassifizierung, kein normativer Begriff mit klaren rechtlichen
Konturen. Dem soll hier eine nach Kriterien definierte
Definition entgegengesetzt werden: Als Ressortforschungseinrichtungen
im engeren Sinne sind danach jene
behördlich organisierten Bundeseinrichtungen mit FuEAufgaben
zu bezeichnen, die in relevantem Umfang Forschung
(und nicht nur Forschungsförderung) betreiben,
so dass die ministerielle Bezeichnung eines Instituts als
Ressortforschungseinrichtung nur als richtungsweisend,
nicht aber als konstituierend für die Ressortforschungseigenschaft
betrachtet wird. Als Ressortforschungseinrichtungen
im weiteren Sinne gelten diejenigen Einrichtungen,
die durch entsprechende Gremienvertretung
von Staatsbediensteten oder auf sonstige Weise durch
den Staat gesteuert werden und überwiegend Ressortforschungsaufgaben
wahrnehmen, was auf die von der
Bundesregierung so bezeichneten FuE-Einrichtungen in
kontinuierlicher Zusammenarbeit zutrifft, aber auch für
andere Einrichtungen gelten kann, die die genannten
Kriterien erfüllen.
b) Ressortforschungseinrichtungen als Teil der außeruniversitären
Forschung
Die Ressortforschungseinrichtungen bilden neben ihrer
ministeriellen Zugehörigkeit eine Säule im Rahmen der
außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Einerseits
sind sie durch ihre behördliche Organisation klar von
anderen außeruniversitären Forschungseinrichtungen
abgegrenzt. Andererseits weichen die Ränder zunehmend
auf, da die strikte Versäulung und Domänenaufteilung
der deutschen Forschungslandschaft selbst mittlerweile
einer fortschreitenden Vernetzung zwischen
den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und
Hochschulen gewichen ist. Die Gründe hierfür liegen in
der Europäisierung der Forschungsförderung sowie der
deutschen Forschungspolitik, die durch Etablierung
einer Konkurrenz um Forschungsmittel und der Anforderung
an kooperatives und vernetztes Forschen den
Status quo der Forschungslandschaft tiefgreifend verändert
hat.
In der Praxis gibt es Überschneidungen, da die
Spannbreite zwischen Grundlagenforschung, angewandter
Forschung und der Übernahme staatlicher Aufgaben
oder spezieller ministerieller Beratung unter den einzelnen
Ressortforschungsinstituten variiert und auch in der
weiteren öffentlichen außeruniversitären Forschung teils
umfangreiche Zweckforschung und politische Beratung
erfolgt.26 So deckt die Fraunhofer-Gesellschaft entsprechend
ihrer Satzung auch Forschungsaufgaben ab, die
ihr von Bund und Ländern übertragen werden, und unterhält
insbesondere vom Bundesverteidigungsministerium
mitfinanzierte wehrwissenschaftlich forschende
Institute. Die Helmholtz-Gemeinschaft verfolgt nach ihrem
Satzungszweck langfristige Forschungsziele des
Staates und der Gesellschaft (staatliche Vorsorgeforschung)
und verbindet Grundlagen- mit angewandter
Forschung. Auch bei der Leibniz-Gemeinschaft gibt es
Überschneidungen in den Forschungsprojekten der Institute
zur Ressortforschung. Einzelne ministerielle Ressorts,
denen Leibniz-Einrichtungen zugeordnet sind, sehen
diese als Teil oder Ergänzung ihrer Ressortforschung.
Der staatliche Einfluss auf die Leibniz-Institute
erfolgt nicht nur durch Vergabe von entsprechenden
Drittmitteln, sondern auch auf institutioneller Ebene
durch entsprechende staatliche Gremienvertreter in den
Einrichtungen. Im Einzelfall kann daher bei Leibniz-
Einrichtungen die Schwelle zu einer Ressortforschungseinrichtung
im weiteren Sinne überschritten sein. Obwohl
das Ausmaß der staatlichen Aufsicht und Kontrolle
nicht notwendigerweise in Korrelation zu der organisatorischen
Verfasstheit der Forschungseinrichtung
steht, folgt doch aus der privaten oder öffentlichen Organisationsform
eine bedeutende Unterscheidung, da die
Aufsichtsmittel der klassischen Staatsaufsicht27 nur bei
öffentlich-rechtlich organisierten Forschungseinrichtungen
angewendet werden können, während der Staat
die privatrechtlich organisierte Forschung über die aus
der öffentlichen Finanzierung folgenden Kontrollmechanismen
(vor allem in Form von Wirtschaftsplanverhandlungen,
Nebenbestimmungen zu Zuwendungsbescheiden
und Gremienvertretungen) beaufsichtigt und
steuert.28 - Formen einer unionsrechtlichen Ressortforschung
a) Ressortforschung im Rahmen der Unionsverwaltung
Die Ausübung der der Europäischen Union übertragenen
Politiken und Verwaltungskompetenzen bedarf
ebenso wie die Aufgabenwahrnehmung durch die nationalen
Ministerien der wissenschaftlichen Beratung und
Unterstützung. Zum Teil erhält die Union diese durch
die mitgliedstaatlichen Ressortforschungsarrangements.
1 5 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
29 von Bogdandy, Die Informationsbeziehungen im europäischen
Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/
Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 3.
Aufl. 2022, § 25 Rn. 34 ff.; Kahl, Der Europäische Verwaltungsverbund:
Strukturen – Typen – Phänomene, Der Staat 50 (2011), S. 353
(360, 365, 384 ff.); Schmidt-Aßmann, Einleitung: Der Europäische
Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts,
in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold (Hrsg.),
Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen
Verwaltungsrechts, 2005, S. 1 ff.
30 Vgl. zum Wissensmanagement in der Europäischen Union: Kaiser,
Wissensmanagement im Mehrebenensys tem, in: Schuppert/Voßkuhle
(Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008, S. 217 ff.
31 EuGH, Rs. 9/56 (Meroni I/Hohe Behörde), Urt. v. 13. Juni 1958, Slg.
1958, 11 (36 ff.); EuGH, Rs. 10/56 (Meroni II/Hohe Behörde), Urt. v. - Juni 1958, Slg. 1958, 53 (75 ff.). Eingehend zu der Meroni-Rs pr.:
Berger, Vertraglich nicht vorgesehene Einrichtungen des Gemeinschaftsrechts
mit eigener Rechts persönlichkeit. Ihre Gründung
und die Folgen für Rechtsschutz und Haftung, 1999, S. 76 ff.
32 Übersichten und Analysen der Rs pr. finden sich bei: Calliess, in:
Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 13 EUV
Rn. 47 ff.; Orator, Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung
von Unionsagenturen, 2017, S. 235 ff.; Bienert, Europäische Regulierungsagenturen,
2018, S. 111 ff.
Der Rekurs der europäischen Gubernative und Verwaltung
auf mitgliedstaatliche Informationsbestände ist
kennzeichnend für den Verwaltungsverbund, der auch
als Informationsverbund charakterisiert worden ist.29
Die Informationsflüsse vollziehen sich vielfach unsichtbar
bzw. über die Verwaltungen vermittelt, indem Ressortforschungsinformationen
die nationalen Behörden
und Stellen in ihrer Wissenskompetenz stärken und Ressortforschungswissen
durch sie auch in die Unionsverwaltung
und die gubernativen Unionstätigkeiten einfließt.
Ressortforschung ist ein spezifischer Baustein im Gefüge
von wissenschaftlicher Politikberatung und sonstiger
Verwaltungsexpertisebeschaffung. Da die Europäische
Union als supranationale Gemeinschaft nicht mit
dem deutschen Staatsaufbau einschließlich der Behördenorganisation
vergleichbar ist, haben sich in der Union
eigene Formen unionsrechtlicher Ressortforschung
herausgebildet. Während in Deutschland die Verwaltungsbehörden
bis hin zu ihrer ministeriellen Spitze
über besonderes Fachwissen verfügen, in das sich die
Ressortforschungsbehörden als wissenschaftliche Behörden
einfügen, kann die Europäische Kommission
nicht in gleicher Weise auf einen hierarchischen Unterbau
an nachgeordneten Behörden zurückgreifen. Allerdings
haben sich andere Formen herausgebildet, die diesen
Raum einnehmen, darunter vor allem das wissenschaftliche
Ausschusswesen und die Gründung von Unionsagenturen.
30 Eine singuläre Form als Teil der
unmittelbaren Kommissionsverwaltung bildet die Gemeinsame
Forschungsstelle, die heute eine Generaldirektion
(vormals eine Dienstelle) der Kommission ist
und als einzige Ressortforschungseinrichtung auch primärrechtlich
verankert ist.
Werden Ressortforschungseinrichtungen als Teil der
unmittelbaren Unionsverwaltung geschaffen, sind rechtlich
verankerte Vorkehrungen notwendig, damit die
normalerweise in diesem Rahmen bestehende Weisungsabhängigkeit
nicht zu einer politischen Vereinnahmung
der Forschung führt. Bei der Gemeinsamen Forschungsstelle
hat sich die Kommission durch das Organisationsstatut
selbst eine Einschränkung der Weisungsbefugnisse
auferlegt (Selbstbindung).
Art. 298 AEUV normiert die Grundsätze der offenen,
effizienten und unabhängigen europäischen Verwaltung.
Effizienz und Unabhängigkeit bedürfen einer Rationalität,
für die Ressortforschungseinrichtungen Garant sein
können. Da gerade die Unabhängigkeit der Forschung in
Spannung zu einer Verwaltungshierarchie steht, kommt
insbesondere dem wissenschaftlichen Ausschusswesen
sowie der Gründung von Ressortforschungseinrichtungen
in Form von Unionsagenturen große Bedeutung zu.
Wissenschaftliche Ausschüsse sind sowohl direkt bei den
Generaldirektionen der Europäischen Union als auch –
und zwar im Zuge der fortgeschrittenen Ausdifferenzierung
der Agenturgründungen – zunehmend bei einzelnen
Agenturen angesiedelt. Gerade weil die Agenturen
als organisatorisch unabhängige Verwaltungseinheiten
mit eigener Rechtspersönlichkeit ein gewisses demokratisches
Defizit aufweisen, sind an die Übertragung forschungsbezogener
hoheitlicher Aufgaben wie etwa Regulierungsaufgaben
die von der Rechtsprechung in Meroni31
und den nachfolgenden Urteilen herausgearbeiteten
Grundsätze32 in Bezug auf die Begrenzung der Aufgabenübertragung
an Agenturen zu beachten. Der Grad
der möglichen hoheitlichen Befugnisübertragung und
des in diesem Rahmen übertragbaren Ermessens hängt
in einer Gesamtabwägung von den Einwirkungsmöglichkeiten
der Kommission und einer nachträglichen
Rechtskontrolle ab. Für die eigentliche Forschungstätigkeit
besteht das Legitimationsproblem, das in Bezug auf
die Unabhängigkeit von Unionseinrichtungen diskutiert
wird, nicht, da die Forschungstätigkeit selbst nur die
Voraussetzung für rechtswirksame Akte ist und überdies
gerade nach einer Struktur verlangt, die eine gewisse Unabhängigkeit
gewährleistet.
Weilert · Ressortforschung 1 5 3
b) Typisierung der unionalen Ressortforschung
Die institutionellen Ressortforschungsarrangements
können sich in zwei Formen einteilen lassen, nämlich
eine „institutionalisierte unionale Eigenressortforschung“
und eine „institutionalisierte und netzwerkartige
Verbundressortforschung“.
aa) Institutionalisierte unionale Eigenressortforschung
Mit der institutionalisierten unionalen Eigenressortforschung
soll die Ressortforschung bezeichnet werden, die
sich nicht auf mitgliedstaatlicher Ebene vollzieht bzw.
nicht durch mitgliedstaatliche Forschung und Forschungsstätten
gestützt wird, sondern originär auf Unionsebene
in institutionalisierter Form angesiedelt ist. In
ihrer reinen Form trifft dies gegenwärtig nur auf die
Gemeinsame Forschungsstelle zu. Die Mitarbeiter der
Forschungsstelle sind Bedienstete der Europäischen
Union und nicht abgesandte Experten der Mitgliedstaaten.
Die Gemeinsame Forschungsstelle ist als einzige
Ressortforschungseinrichtung primärrechtlich
(Art. 8 EAGV) verankert, jedoch ist die Grundlage im
Euratom-Vertrag angesichts des nicht mehr auf die
Kernforschung beschränkten Forschungsauftrags heute
systemfremd, so dass eine Verankerung im AEUV angezeigt
erscheint. Ressortforschung als wissenschaftliche
und technische Unterstützung bei der Ausarbeitung und
Durchführung der Unionspolitiken und des Unionsrechts
findet heute durch die Gemeinsame Forschungsstelle
im Rahmen der direkten (unmittelbare Aufträge
aus den Forschungsprogrammen) und der indirekten
(wettbewerblich eingeworbene Auftragsforschung aus
dem Forschungsrahmenprogramm) Forschung statt.
Die Gemeinsame Forschungsstelle übernimmt insbesondere
auch Wissensmanagementaufgaben, die im
Hinblick auf die stetig ansteigenden Datenmengen und
das wachsende verfügbare Wissen eine zentrale Ressortforschungsaufgabe
darstellen. Im Vergleich zu der deutschen
Ressortforschung ist die Gemeinsame Forschungsstelle
stärker wissenschaftlich ausgerichtet und ist gegenwärtig
nicht mit wissenschaftlichen Routinearbeiten
beauftragt.
Außerhalb ihrer spezifischen auf die Unionsorgane
und Unionseinrichtungen bezogenen Tätigkeiten erstreckt
sich die Funktion der Gemeinsamen Forschungsstelle
im Verwaltungsverbund primär auf den verbesserten
Informationsaustausch zwischen den mitgliedstaatlichen
Behörden sowie zwischen den Behörden
der Mitgliedstaaten (einschließlich der Ressortforschungseinrichtungen)
und der Gemeinsamen Forschungsstelle.
Ein Ausdruck des Verwaltungsverbundes
liegt auch in dem durch mitgliedstaatliche Experten besetzten
Verwaltungsrat. Die Gemeinsame Forschungsstelle
übernimmt hingegen keine Funktionen im Rahmen
von administrativen Verfahren, etwa der Zulassung
im Risikoverwaltungsrecht. Sie erarbeitet keine Beschlussvorlagen
oder ‑entwürfe für die Kommission, wie
es für eine Generaldirektion naheliegend gewesen wäre.
Ihr sind damit keine Aufgaben im unmittelbaren politischen
Risikomanagement zugewiesen, sondern ihre Forschungen
und Risikobewertungen dienen als Unterstützung
der Politiken (einschließlich der Rechtssetzungsvorbereitung)
der Unionsorgane, vornehmlich der
Kommission.
bb) Institutionalisierte und netzwerkartige Verbundressortforschung
Im Gegensatz zur institutionalisierten unionalen Ressortforschung
stammen die Expertise und die zugrundeliegenden
Forschungen bei der institutionalisierten und
netzwerkartigen Verbundressortforschung aus den Mitgliedstaaten,
die aber auf Unionsebene in institutionalisierten
Formen als Verbundressortforschung eine eigene
Dimension gefunden haben. Beispiele für eine solche
Verbundressortforschung sind das wissenschaftliche
Ausschusswesen, Wissensgenerierungen innerhalb von
Informations- und Wissenschaftsagenturen und sekundärrechtlich
verfestigte Informationsnetzwerke. Dabei
können sich diese Formen miteinander vermengen, so
etwa wenn das Ausschusswesen und das Netzwerk unter
dem Überbau einer Agentur bestehen oder wenn eine
Agentur, so wie es bei der Europäischen Arzneimittel-
Agentur der Fall ist, durch die Besetzung ihrer Gremien
ein Netzwerk zwischen den nationalen Zulassungsbehörden
spannt. Die Verbundressortforschung geht über
eine bloße Vernetzung der Ressortforschungen der einzelnen
Mitgliedstaaten hinaus und schafft auf der Unionsebene
institutionalisierte Arrangements. Diese unionale
Verbindung führt nicht nur zu einer Addition des
vorhandenen Wissens, sondern auch zu einer Generierung
neuen Wissens. Zum einen bedeutet allein schon
die Synthese von Wissensbeständen einen über die
Kumulation hinausreichenden Wissenszuwachs, da
hierdurch Dinge vergleichbar werden, Defizite augenfällig,
unterschiedliche Forschungsansätze sichtbar und da
darüber hinaus eine Pluralität von Forschung und Wissen
eintritt. So wird üblicherweise bereits die Darstellung
und Ergründung des Forschungsstandes selbst als
Teil wissenschaftlichen Arbeitens gewertet. Vor allem
aber reicht die Arbeit wissenschaftlicher Ausschüsse (sei
es auf Kommissionsebene oder im Rahmen von Agentu1
5 4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
33 Kahl, Der Europäische Verwaltungsverbund, Fn. 29, S. 363.
34 Kahl, Der Europäische Verwaltungsverbund, Fn. 29, S. 358.
35 Vgl. Schmidt-Aßmann, Forschung, Fn. 2, S. 6; Schulze-Fielitz,
in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hdb. des Verfassungsrechts, - Aufl. 1994, § 27 Rn. 24.
ren) über das Zusammentragen vorhandener Forschungsbestände
hinaus, und es wird in der Ausschussarbeit
durch wissenschaftliche Kommunikation ein neuer
Erkenntnisprozess befördert. Die Arbeit
wissenschaftlicher Ausschüsse kann daher als eigene
Kategorie der Verbundressortforschung gelten. Wissenschaftliche
Ausschüsse dienen der Risikoeinschätzung
technisch und wissenschaftlich komplexer Sachverhalte
und unterstützen die politischen Entscheidungsträger
sowohl bei legislativen als auch exekutiven Aufgaben.
Agenturen und wissenschaftliche Ausschüsse können
eine spezifische Funktion im Verwaltungsverbund, insbesondere
im Regulierungsverbund33, einnehmen. Werden
administrativ-politische Entscheidungen durch das
(Regulierungs-)Recht in einer Weise determiniert, dass
diese maßgeblich von der Risikobewertung abhängig
macht, können die Gutachten und Stellungnahmen von
wissenschaftlichen Ausschüssen besonderes administrativ-
politisches Gewicht entfalten und die Entscheidungen
der formal dazu berufenen politischen Entscheidungsträger
faktisch vorgeben. Der Ermessensspielraum
der politischen Handlungsträger wird empfindlich,
zuweilen sogar gänzlich, reduziert, wenn entsprechende
Voten wissenschaftlich hochkarätig besetzter Ausschüsse
ergehen, die die zentralen Wissens- und Forschungsbestände
unionsweit einbeziehen. Insbesondere wenn
die Ausschussmitglieder paritätisch nach Mitgliedstaatenzugehörigkeit
besetzt sind oder zugleich als Behördenvertreter
der Mitgliedstaaten fungieren (wie beim
Humanarzneimittelausschuss der Europäischen Arzneimittel-
Agentur), tritt zu der Legitimation kraft Sachverstandes
eine spezifische demokratische Legitimation.
Die Ressortforschung als Mixtum zwischen Forschung
und Politik zeichnet sich in diesen Fällen zusätzlich
durch die hybride Struktur unionalen und mitgliedstaatlichen
Entscheidens aus, die gerade für Agenturen
als Akteuren im Verwaltungsverbund typisch ist. Die
Struktur und Organisation von Unionsagenturen, die
eine Schnittmenge unionaler und mitgliedstaatlicher
Verwaltung darstellen, „eine Zwischenform zentralisierter
und dezentralisierter Integration“34 bilden und in einer
Spannung zwischen verwaltungsrechtlichem Eingebundensein
und verwaltungsrechtlicher Unabhängigkeit
stehen, stellen eine geeignete Form für die Verbundressortforschung
dar, die noch ausbaufähig ist.
Eine über den Regulierungsverbund hinausweisende
Funktion kann die Verbundressortforschung im sogenannten
Informationsverbund einnehmen. Hier geht es
um eine breitere Verwendung von Wissen jenseits klar
definierter Regulierungsverfahren. Wissensaustauschund
Wissensakkumulation sowie Datensammlungen
dienen als Grundlage für weniger klar vorgezeichnete
politisch-administrative Entscheidungen sowohl durch
Unionsorgane als auch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen
und Regierungen. Es geht um Bereiche, in denen,
wie bei Fragen der Infektionsabwehr, präventive Maßnahmen
zum Schutze der Bevölkerung (oder im Umweltbereich
der natürlichen Lebensgrundlagen) ergriffen
werden sollen, aber verschiedene politische Handlungsmöglichkeiten
in Konkurrenz zueinander stehen.
Die zu ergreifenden Maßnahmen sind hier nicht nur Teil
eines rechtlich vorbestimmten Verwaltungsverfahrens,
sondern des politischen Auslotens von gubernativen
Entscheidungen.
Hier bereitet Ressortforschung, vor allem in Form
von Netzwerken zur Daten- und Informationssammlung,
den Nährboden, um informierte politische Entscheidungen
treffen zu können. Die Aufgabe der Experten
ist die Sachinformation und die Exploration von Risiken,
während die Nutzen-Risiko-Abwägung einschließlich
der daraus zu ergreifenden konkreten
Maßnahmen aufgrund ihrer weitreichenden politischen
Tragweite (etwa für die Wirtschaft eines Landes oder
den europäischen Binnenmarkt) durch die Experten
nicht vorgegeben werden kann. In jenen Politikbereichen,
in denen die Europäische Union lediglich über koordinierende,
unterstützende und ergänzende Kompetenzen
verfügt, ist eine Verbundressortforschung (anstelle
einer institutionalisierten unionalen Eigenressortforschung)
schon kompetenzrechtlich geboten, da eine
Forschungs-Annexkompetenz der sachbereichsspezifischen
Unionskompetenz auch in ihrem Umfang folgt.
IV. Ressortforschung und Wissenschaftsfreiheit - Ressortforschungsfreiheit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips
in Verbindung mit der objektivrechtlichen
Garantie der grundrechtlichen Wissenschaftsfreiheit
Die Freiheit der Wissenschaft und Forschung nach
Art. 5 Abs. 3 GG genießt dank der nur durch verfassungsimmanente
Schranken möglichen Begrenzung
einen besonderen verfassungsrechtlichen Status und ist
prägend für das gesamte Wissenschaftsrecht.35 Der
Grund für diese herausgehobene Stellung liegt darin,
dass sie nicht nur die Wissenschaftler selbst schützt und
Weilert · Ressortforschung 1 5 5
36 Eingehend zur Frage, ob Ressortforschung als Forschung im Sinne
von Art. 5 Abs. 3 GG gelten kann: Weilert Fn. 1, S. 217 ff., S. 224 ff.
(mit umfangreichen Nachweisen) sowie Britz Fn. 5, Art. 5 III (Wissenschaft)
Rn. 22 („[a]uch bei der s taatlichen Ressortforschung
kann begrifflich durchaus Forschungs tätigkeit vorliegen“), Rn. 24:
(„solange der Methode nach autonome wissenschaftliche Arbeit
gegeben is t.“); Trute, Wissenschaft und Technik, in: Isensee/
Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 88 Rn. 25; Trute,
Forschung, Fn. 5, S. 102.
37 Eingehend zur objektivrechtlichen Funktion der Wissenschaftsfreiheit:
Weilert Fn. 1, S. 228 ff.
38 Stern, Idee und Elemente eines Sys tems der Grundrechte, in:
Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR IX, 3. Aufl. 2011, § 185 Rn. 80..
39 BVerfGE 35, 79 (112, juris Rn. 91) ‒ Hochschulurteil.
40 BVerfGE 35, 79 (114, juris Rn. 95).
41 Näher Weilert Fn. 1, S. 232 f.
42 Vgl. ausführlich und mit weiteren Nachweisen zur Verhältnisbes
timmung von objektivrechtlichem Gehalt und subjektivem Recht
Weilert Fn. 1, S. 233 ff. sowie Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 69 VI, S. 978 (bes. auch
S. 988 f.).
43 Vgl. zur Verfassungshis torie Schulze-Fielietz, in: Dreier (Hrsg.),
GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtss taat) Rn. 19; zur
„vornehmlichen Verankerung“ des Rechtss taats prinzips in
Art. 20 Abs. 3 GG: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022,
Art. 20 Rn. 37; zu den verfassungsrechtlichen Aus prägungen des
Rechtss taats prinzips in anderen Grundrechts- und Verfassungsbes
timmungen siehe Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021,
Rn. 77.
den staatlichen Universitäten eine entsprechende Selbstverwaltung
garantiert, sondern dass in Art. 5 Abs. 3 GG
auch eine Garantie der freien Wissenschaft zum Wohle
der Gesellschaft verbürgt ist. Problematisch ist jedoch
die Wissenschaftsfreiheit in Bezug auf staatliche Ressortforschungseirichtungen
und die hier tätigen Wissenschaftler,
da für die Ressortforschung als Teil der Ministerialverwaltung
innerhalb der behördlichen Hierarchie
in Bezug auf die Aufgabenerfüllung grundsätzlich keine
Staatsfreiheit eingefordert werden kann. Ausgangspunkt
einer Argumentation hat jedoch die Überlegung zu sein,
dass Forschung sich in einem Kernbereich dadurch konstituiert,
dass sie staatsfrei ist und nur ihrer Eigengesetzlichkeit
unterliegt. Damit geht es weniger um die grundrechtlich
sonst im Vordergrund stehende individuelle
Entfaltungsfreiheit, als vielmehr um die Gewährleistung
des Versprechens selbst, dass Ressortforschung auch
Forschung enthält. Den Forschungscharakter verliert die
Ressortforschung weder durch ihre Zweckgebundenheit
noch automatisch durch die Einbindung in den Verwaltungsapparat.
Entscheidend für die Abgrenzung zwischen
Forschung und Verwaltungstätigkeit ist das Streben
nach neuen Erkenntnissen unter Einsatz einer wissenschaftlichen,
d.h. der Eigengesetzlichkeit der
Wissenschaft folgenden, Methodik. Damit ist die Ressortforschung,
jedenfalls in ihren tatsächlich forschungsbezogenen
Aufgaben, ein potentielles Schutzgut im Sinne
von Art. 5 Abs. 3 GG.36
Um die Frage nach der Geltung der Wissenschaftsfreiheit
im Rahmen der Ressortforschung einer angemessenen
Lösung zuzuführen, ist an die objektivrechtliche
Dimension der Wissenschaftsfreiheit37 anzuknüpfen,
die besonders für dogmatische Weiterentwicklungen offen
ist38, und diese in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
(Verfassungsbindung der Staatsgewalten) dahingehend
auszulegen, dass der Staat auch die Ressortforschung
in bestimmten Grundparametern freiheitlich
auszugestalten und eine diesen Mindestanforderungen
genügende Ressortforschung strukturell zu gewährleisten
hat. Im Hochschulurteil von 1973 führt das BVerfG
die aus Art. 5 Abs. 3 GG folgende „objektive, das Verhältnis
von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat
regelnde wertentscheidende Grundsatznorm“ näher
aus39 und betont die „Schlüsselfunktion, die einer freien
Wissenschaft […] auch für die gesamtgesellschaftliche
Entwicklung zukommt“.40
Auch wenn sich die Postulate, die das BVerfG im vorgenannten
Hochschulurteil als Leitplanken eingeschlagen
hat, nicht unmittelbar auf die Ressortforschung beziehen
lassen,41 so kann immerhin festgehalten werden,
dass Art. 5 Abs. 3 GG in objektivrechtlicher Hinsicht ein
Interesse an einer freien, mithin nicht durch den Staat
verformten, Wissenschaft verbürgt. Diese objektivrechtliche
Begrenzung staatlichen Handelns besteht nicht nur
zur Verstärkung individualrechtlicher Positionen, sondern
auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse.42
Gleichfalls gilt nach dem Rationalitätsgebot des Rechtsstaatsprinzips,
dass der Staat sein Handeln nicht auf nur
vermeintliche wissenschaftliche Kenntnisse stützen darf
und dass er diejenige Forschung, auf die er sich zu stützen
vorgibt, auch ermöglichen muss. Das Gemeinwesen
hat ein berechtigtes Interesse an wissenschaftlichen Ergebnissen,
die im Rahmen der Eigengesetzlichkeit der
Wissenschaft vorgebracht wurden, gerade auch dann,
wenn wissenschaftliche Erkenntnisse zur Grundlage
staatlichen Handelns gemacht werden.
Dogmatisch lassen sich hier verschiedene Wege beschreiten:
Möglich ist es, den objektivrechtlichen Gehalt
der Wissenschaftsfreiheit als jenseits subjektiver Rechte
bestehendes Rechtsprinzip zu verstehen, auf das durch
Art. 20 Abs. 3 GG, der zentralen Norm des Rechtsstaatsprinzips,
43 Bezug genommen wird. Damit würde die
Wissenschaftsfreiheit im Kontext der Ressortforschung
nicht direkt, sondern über Art. 20 Abs. 3 GG vermittelt
gelten. Denkbar wäre aber auch, die Anforderungen an
die Ausgestaltung der Ressortforschung als Teil des Rati1
5 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
44 Den Begriff der Legitimationsforschung führt bereits Classen,
Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S. 351, ein.
45 Vgl. Gärditz, Politisierte Wissenschaft als Machttechnik – Bes prechung
von Cas par Hirschi, Skandalexperten – Expertenskandale,
WissR 2018, S. 244 (247).
46 BVerfGE 35, 79 (115, juris Rn. 96 f.) ‒ Hochschulurteil. Zum
Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren: früh schon
K. Hesse, Bes tand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik
Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427 (434 ff.). Aus dem jüngeren
Schrifttum: Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013,
Vorb. vor Art. 1 Rn. 105 f; Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit
nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in:
Becker/Bull/Seewald (Hrsg.), FS Werner Thieme, 1993, S. 697 ff.
47 BVerfGE 35, 79 (115, juris Rn. 97) ‒ Hochschulurteil.
48 BVerfGE 35, 79 (115 f., juris Rn. 97).
49 Näher Weilert Fn. 1, S. 254 ff.
50 Vgl. zur Fachaufsicht Weilert Fn. 1, S. 54; zur Unterscheidung
zwischen Lenkung und Kontrolle sowie der Einordnung von
Genehmigungsvorbehalten siehe Groß, Was bedeutet „Fachaufsicht“?,
DVBl 2002, S. 793 (797 ff.).
51 Graf von Kielmansegg, Das Sonders tatusverhältnis, JA 2012, S. 881
ff.; Loschelder, Grundrechte im Sonders tatus, in: Isensee/Kirchhof
(Hrsg.), HdbStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 202; Starck, in: v. Mangoldt/
Klein/Starck, GG, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 298.
52 So auch Graf von Kielmansegg Fn. 51, S. 885.
onalitätsgebotes des Rechtsstaatsprinzips zu begreifen
und die für die Forschungsfreiheit entwickelten Gehalte
nur als Orientierungspunkte im Rahmen des Rationalitätsgebots
des Rechtsstaatsprinzips zu betrachten. Letzteres
würde aber, da der Begriff der Rationalität als Verfassungsbegriff
unterbestimmt ist, die Gefahr einer beliebigen
Rechtsauslegung mit sich bringen.
Das sich aus dem objektivrechtlichen Gehalt der
Wissenschaftsfreiheit und dem Rechtsstaatsprinzip ableitende
Verbot einer Legitimationsforschung44 bedeutet,
dass nicht nur ein Anschein von Rationalität erzeugt
werden darf. Die Legitimationsforschung ist in mehrfacher
Hinsicht problematisch, erstens durch das Täuschen
über die Grundlagen der politischen Entscheidungen,45
zweitens aufgrund der fehlenden Rationalität des Exekutivhandelns
dort, wo sie ihr Handeln hätte auf Forschung
stützen müssen, dies aber nicht getan hat, und drittens
durch die politische Vereinnahmung von Forschung in
einer Weise, die in den Forschungsprozess eingreift und
aufgrund der bestehenden Forschungskommunikationsbeziehungen
die außerstaatliche Forschung zu beeinflussen
geeignet ist.
Forschungsmethoden und Ergebnisinterpretation
dürfen staatlich nicht vorgegeben oder beeinflusst werden,
da solche Reglementierungen den Forschungscharakter
selbst untergraben. Das BVerfG hat auf die Bedeutung
der Beziehung von Organisation und Grundrechtsverwirklichung
hingewiesen.46 Die innerbetrieblichen
Anforderungen für die Organisation von Wissenschaftseinrichtungen
bemäßen sich danach, „daß das Grundrecht
der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit
unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der
anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen
und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten
möglich“47 ist. Dies kann auch individualrechtliche
Positionen einschließen, um dem „Interesse des Gemeinwesens
an einem funktionierenden Wissenschaftsbetrieb“
48 gerecht zu werden. Der die Forschung
ausmachende Kerngehalt der Forschungsfreiheit ist organisationsrechtlich
durch gesetzliche und untergesetzliche
Vorschriften abzusichern, insbesondere auch durch
Vorgaben für die Ausübung der ministeriellen Aufsichtsrechte.
49 Dies gilt insbesondere für Elemente der steuernden
oder auch „präventiven“ Fachaufsicht.50 Es sind
gesicherte Strukturen zu schaffen, in denen nicht nur die
ministeriellen Belange ausschlaggebend sind, sondern
auch die Ideen der beteiligten Forscher zum Tragen
kommen. Die Einbindung der Forscher in die scientific
community ist entscheidend für die Forschungsqualität
und Vermeidung einer Degeneration zur bloßen Verwaltungseinheit.
Allgemeine Verwaltungsvorschriften, Weisungen
im Einzelfall und Genehmigungsvorbehalte etwa
für Forschungsprogramme müssen sich jeweils an den
hier dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben messen
lassen.
Die Effektuierung dieser Kerngehalte der Forschungsfreiheit
bedarf der prozessualen Absicherung,
die über die partikulare Zuerkennung subjektiver Rechte
erfolgen kann, die ihrerseits ganz im Dienste der objektivrechtlichen
Verpflichtung des Staates stehen, keine
Legitimationsforschung zu betreiben, und hierdurch
auch ihre Begrenzung erfahren. Im Einzelnen tangiert
die Frage nach dem Umfang subjektiver Rechte der Ressortforscher
zwei Problemfelder, nämlich die Anwendbarkeit
der Wissenschaftsfreiheit innerhalb der behördlichen
Ressortforschung und die Problematik der Reichweite
der Grundrechtsgeltung innerhalb der heute so genannten
Sonderstatusverhältnisse.51 Weisungen, die auf
die Art und Ausführung der Dienstaufgaben zielen, betreffen
den Bediensteten zunächst nur als Teil der Staatsverwaltung.
52 Eine Grundrechtsgeltung im öffentlichrechtlichen
Dienstverhältnis setzt eine persönliche Betroffenheit
voraus. Doch ist diese hier fraglich, da es sich
beim Ansinnen eines Beschäftigten einer Ressortforschungsbehörde,
ein anderes Thema zu verfolgen oder
andere Methoden zu wählen, nicht in erster Linie um ein
Weilert · Ressortforschung 1 5 7
53 von Münch/Mager, Staatsrecht I, 9. Aufl. 2021, Rn. 512.; Mager,
Einrichtungsgarantien, 2003, S. 358, 362.
54 Die Komplexität der rechtlichen Situation im Hinblick auf den
einzelnen Ressortforscher kann hier nicht abgebildet werden,
insofern wird auf Weilert Fn. 1, S. 258 ff. verwiesen.
55 Für weitere Einzelheiten siehe Weilert Fn. 1, S. 266 ff.
56 EuGH, Rs. 35/72 (Kley/Kommission), Urt. v. 27. Juni 1973, Slg. 1973,
679.
57 GA Trabucchini, Schlussantr. Rs. 35/72, Slg. 1973, 679 (702).
58 Ausführlich Weilert Fn. 1, S. 566 ff., insbes. 568 ff.; siehe auch
Thiele, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hdb. der Europäischen
Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 30 Rn. 29.
59 Vgl. zu den unterschiedlichen Rechts traditionen subjektiv einklagbarer
Rechte und objektivrechtlicher Konzepte: Kadelbach,
European Adminis trative Law and the Law of a Europeanized
Adminis tration, in: Joerges/Dehousse (Hrsg.), Good Governance
in Europe´s Integrated Market, 2007, S. 167 (186 f.).
freiheitsrechtliches Begehren, sondern ein leistungsrechtliches
handelt. Es geht zunächst nur um einen bestimmten
Dienstauftrag, der außerhalb des Forschungskontextes
auch weitgehend unproblematisch wäre. Heikel
ist hier nicht der Dienstauftrag selbst, sondern die
Causa der unzulässigen Legitimationsforschung. Um das
Verbot dieser Legitimationsforschung zu effektuieren
sollte vergleichbar der „im Interesse der Funktionsfähigkeit
des Berufsbeamtentums“53 im Einzelfall möglichen
subjektivrechtlichen Durchsetzung „hergebrachter
Grundsätze des Berufsbeamtentums“, auch hier ein prozessualer
Weg nicht gänzlich versperrt bleiben. Es
scheint dabei ausreichend und angemessen, diese Effektuierungsfunktion
auf die leitenden Forscher der Einrichtungsleitung
zu begrenzen.54
Ob den Ressortforschungseinrichtungen selbst ein
subjektives Recht zukommt, ist in Abhängigkeit von ihrer
Organisationsform zu bestimmen. Den – so der Normalfall
– als nichtrechtsfähigen Anstalten des öffentlichen
Rechts organisierten Ressortforschungseinrichtungen
in Form von Bundesoberbehörden kommt kein
Recht auf Einforderung der Forschungsfreiheit zu. Auch
die wenigen (teil-)rechtsfähigen Anstalten des öffentlichen
Rechts können sich nicht auf ein Individualrecht
berufen, da sie sich nicht in einer hierfür erforderlichen
grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden.55
Darüber hinaus bleibt es allen Ressortforschungseinrichtungen
unbenommen, auf politischem Wege die
über das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den objektivrechtlichen
Gehalten der Wissenschaftsfreiheit geltenden
Anforderungen an die Ausgestaltung der Ressortforschung
einzufordern.
Schließlich ist anzumerken, dass aufgrund der zentralen
Bedeutung der freien Forschung für eine Gesellschaft
aus dem objektivrechtlichen Gehalt der Wissenschaftsfreiheit
auch eine Subsidiarität der Staatsforschung
abzuleiten ist. Institutionalisierte Ressortforschung
ist damit nur legitim, wenn sie zur ministeriellen
Aufgabenerfüllung im weiteren Sinne notwendig und
erforderlich ist, mithin keine anderen gleich effektiven
Möglichkeiten für die Ministerialverwaltung zur Verfügung
stehen. - Verbot der Legitimationsforschung auf der Ebene der
Europäischen Union
Die Eruierung der Wissenschaftsfreiheit unionaler Ressortforschung
wirft ähnliche Fragen auf wie die bereits
im grundrechtlichen Kontext erörterten, hat aber zu
beachten, dass eine unreflektierte Gleichstellung von
Grundrechtsdogmatik und Unionsgrundrechtssystematik
die Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung negieren
würde. Die Europäische Union ist bei Ausübung
ihrer Kompetenzen an die Wissenschaftsfreiheit nach
Art. 13 GRCh gebunden, die Teil des Primärrechts ist.
Die einzig relevante Judikatur im Fall Kley umgeht die
Klärung der Forschungsfreiheit innerhalb der hier als
Ressortforschungseinrichtung eingeordneten Gemeinsamen
Forschungsstelle.56 In der Sache ging es um die
Veränderung der Organisationsstruktur und dadurch
bedingte Neuausrichtung der Arbeit des Klägers weg
von einer forschungsausgerichteten Tätigkeit in der
experimentellen Physik hin zu einer mit vielen Verwaltungsaufgaben
verbundenen Verantwortung für den
Reaktor Ispra I. Der EuGH umging jegliche Ausführungen
zur Wissenschaftsfreiheit. Der Generalanwalt führte
aus: „Die Freiheit der Wissenschaft schließt nicht aus,
daß dem Wissenschaftler auch auf organisatorischem
Gebiet Aufgaben gestellt sind. Euratom ist auch eine
rechtliche Organisation mit ihren praktischen und funktionellen
Erfordernissen, aus denen sich zwangsläufig
Einschränkungen für die Freiheit der wissenschaftlichen
Beamten in der Wahl ihrer jeweiligen Tätigkeit und für
das Interesse ihrer persönlichen Forschungen ergeben
müssen. Ihre Arbeitsstätten sind keine Akademien und
haben auch nicht die reine Forschung zum Gegenstand,
wie es vielleicht in einem Universitätslaboratorium
denkbar ist.“57 Die Ausführungen des Generalanwaltes
sind selbst keine dogmatischen Klärungen, sondern deuten
nur auf dogmatisch noch zu durchdringende Problemlagen
hin.
Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass
Ressortforschung unter den Forschungsbegriff des
Art. 13 GRCh fällt.58 Da die Rechte der Grundrechte-
Charta nicht mittels eines Individualbeschwerdeverfahrens
subjektivrechtlich einklagbar sind,59 liegt es nahe,
1 5 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
60 Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen
Union, 5. Aufl. 2019, Art. 13 Rn. 5; Sayers, in: Peers et
al. (Hrsg.), The Charter of Fundamental Rights, A Commentary,
2014, Art. 13 Rn. 13.40; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, - Aufl. 2018, Art. 13 GRCh Rn. 3. Zieht man die Verfassungsbes
timmungen der einzelnen Mitglieds taaten als Auslegungshilfe
heran, so ergibt sich ebenfalls kein einheitliches Bild: In manchen
Mitglieds taaten is t die Wissenschaftsfreiheit verfassungsrechtlich
als subjektives Abwehrrecht verbürgt, in anderen nur einfachgesetzlich,
in wieder anderen wird kein solches subjektives Recht
gewährt (siehe Pelzer, Die Kompetenzen der EG im Bereich Forschung,
2004, S. 155 f., sowie zuvor bereits Groß, Die Autonomie
der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S. 36 ff.).
61 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022,
Art. 13 EU-GRCh Rn. 7, unter Bezugnahme auf BVerfGE 35, 79
(113) ‒ Hochschulurteil.
62 Ruffert Fn. 61, Art. 13 EU-GRCh Rn. 7.
63 Näher Weilert Fn. 1, S. 572 ff.
64 So hat der EuGH die Grundsätze des Vertrauensschutzes, des
Rückwirkungsverbots, der Rechtssicherheit, des Bes timmtheitsgrundsatzes,
der Verhältnismäßigkeit und einer Rechtsschutzgarantie
entwickelt; siehe Calliess Fn. 32, Art. 2 EUV Rn. 26
sowie Pechs tein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018,
Art. 2 EUV Rn. 6, jeweils mit Nachweisen aus der R s pr.; Analyse
der Rs pr. bei Classen, Rechtss taatlichkeit als Primärrechtsgebot
in der Europäischen Union ‒ Vertragsrechtliche Grundlagen und
Rechts prechung der Gemeinschaftsgerichte, EuR 2008, Beiheft 3,
S. (18 ff.).
65 Vgl. auch A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010,
S. 145.
66 Mitteilung der Kommission, Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung
des Rechtss taats prinzips, COM/2014/158 final, S. 4 sowie ähnlich
im Anhang I (Das Rechtss taats prinzip als tragendes Prinzip der
Union), S. 4; siehe auch von Danwitz, The Rule of Law in the Recent
Juris prudence of the ECJ, Fordham International Law Journal
2014, S. 1310 (1346); Schmahl, Rechtss taatlichkeit, in: Schulze/
Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht. Hdb. für die deutsche
Rechts praxis, 4. Aufl. 2020, § 6 Rn. 4 u. Rn. 20 ff.
ihre Wirkungskraft zu verstärken, indem die Idee objektivrechtlicher
Gehalte im Sinne von „Rechtsprinzipien“
bzw. „Rechtsgrundsätzen“ auch auf Unionsebene verfolgt
wird; dies gilt umso mehr als der EuGH ursprünglich
die Grundrechtsgeltung über die allgemeinen
Grundsätze in das Unionsrecht eingebracht hat (vgl. die
Weitergeltung in Art. 6 Abs. 3 EUV) und überdies umstritten
ist, ob Art. 13 GRCh ein subjektives Recht verbürgt.
60 Noch ist das Unionsrecht im Hinblick auf die
Dogmatik der Charta-Grundrechte und die Frage einer
objektivrechtlichen Grundrechtsgeltung nicht ausgereift.
Ruffert betont unter Bezug auf das Hochschulurteil des
BVerfG von 1973, dass die „Schlüsselfunktion freier Wissenschaft
für die gesellschaftliche Entwicklung“ auch für
die Europäische Union gelte.61 Er unterstreicht, dass Forschung
für das Gemeinwesen notwendig sei, aber nur
freie Forschung diesen Zweck erfüllen kann.62 Es lassen
sich mithin gute Gründe ausmachen, auch den Unionsgrundrechten
durch Zuerkennung eines objektivrechtlichen
Gehalts zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen. Jedenfalls
bedarf auch die unionale Ressortforschung eines
Mindestmaßes an Freiheit, um ihrer Funktion gerecht
zu werden.
Neben einer im Kern aus dem Gebot der Wissenschaftsfreiheit
geltenden Freiheitlichkeit der Ressortforschung
kann auch aus dem unionalen Rechtsstaatsprinzip
das Verbot einer Legitimationsforschung abgeleitet
werden.63 Auch hier dürfen die Gehalte des deutschen
Rechtsstaatsprinzips jedoch nicht unbesehen auf das
unionale übertragen werden, zumal die Europäische
Union als supranationale Organisation auch anderen
Konstitutionsbedingungen und Anforderungen unterliegt
als der deutsche Bundesstaat. Welche Elemente das
Rechtsstaatsprinzip im Einzelnen umfasst, ist durch den
EuGH erst teilweise entwickelt worden und vom Gerichtshof
nicht immer in klare Zuordnung zum Rechtsstaatsprinzip
gestellt worden.64 Schon bei einem rein formalen
Verständnis des Rechtsstaatsprinzip, aus dem sich
die Verfassungs- und Gesetzesbindung ableiten lässt,
würde die Befolgung der Grundrechtecharta und der in
ihr verbürgten Wissenschaftsfreiheit verstärkt.65 Das
unionale Rechtsstaatsprinzip umfasst aber darüber hinaus
als Gegenkonzept zur Willkür auch Rationalitätsanforderungen
an das Recht. In diese Richtung weist auch
das Recht auf eine neutrale, unparteiische und gerechte
Verwaltung (Art. 41 Abs. 1 GRCh), das nur zu verwirklichen
ist, wenn Entscheidungen rückgebunden an das zur
Verfügung stehende Wissen getroffen werden und Experten
nicht von Fremdinteressen geleitet werden. Anerkannt
als Teil des unionsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips
ist weiterhin das Rechtmäßigkeitsprinzip, das einen
„transparenten, rechenschaftspflichtigen, demokratischen
und pluralistischen Gesetzgebungsprozess impliziert“.
66 Teil eines transparenten Verfahrens ist es, dass
ersichtlich wird, auf welcher Grundlage welches Expertenwissen
eingebracht wird. Mit dem vorstehend skizzierten
Gehalt kann also auch aus dem unionalen Rechtsstaatsprinzip
ein Verbot der Legitimationsforschung abgeleitet
werden.
V. Beurteilungsspielraum (ressort-)forschungsgestützter
Entscheidungen
Eine spezifische Frage im Rahmen der Spannung von
Kooperation und Trennung zwischen Wissenschaft und
Entscheidung betrifft den Beurteilungsspielraum (resWeilert
· Ressortforschung 1 5 9
67 Vgl. zu dieser Problematik auch Gärditz/Linzbach, Gesundheitswissen
aus Behördenhand, 2022, S. 155 ff.
68 Ausführliche Nachweise bei Weilert Fn. 1, S. 368 ff.
69 Bachof entwickelte 1955 die Lehre vom „Beurteilungss pielraum“
(Bachof, Beurteilungss pielraum, Ermessen und unbes timmter
Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, JZ 1955, S. 97 ff.). Ihm folgten
viele Stimmen in der Literatur, teils mit eigenen Akzenten (vgl.
„Vertretbarkeitslehre“ nach Ule, Rechtss taat und Verwaltung,
VerwArch 76 [1985], S. 1 [9 ff.]); ausführliche Nachweise: Weilert
Fn. 1, S. 367 (dort Anmerkung 396); eingehend für den Bereich des
Arzneimittelrechts: Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtss
taat, 1994, S. 265 ff.
70 Vgl. Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 79; Hoffmann-Riem, Innovation
und Recht – Recht und Innovation, 2016, S. 357.
71 In diese Richtung tendierend Jaeckel, Gefahrenabwehrrecht und
Risikodogmatik, 2010, S. 217 ff.
72 BVerfGE 149, 407 (415, Rn. 23) – Rotmilan.
73 BVerfGE ebd.
74 BVerfGE ebd.
75 Eichberger, Gerichtliche Kontrolldichte, naturschutzfachliche Einschätzungs
prärogative und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis,
NVwZ 2019, 1560 (1563 f.).
76 Ausführlich mit weiteren Nachweisen Weilert Fn. 1, S. 374 ff.
77 VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 29. Apr. 2021 – 1 S 1204/21
–, Rn. 79 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 12. Aug.
2021 – 1 S 2315/21 –, Rn. 41 ff. (Gericht prüft hier nur kursorisch,
auf welche Grundlagen sich das Robert Koch-Ins titut ges tützt hat
und betont abermals die besondere Berufung des Ins tituts nach
§ 4 Abs. 1 S. 1 IfSG).
sort-)forschungsgestützter Entscheidungen. Beurteilungsspielräume
sind dabei – klassisch – unmittelbar
aber auch mittelbar (entscheidungsvorbereitend) denkbar.
67
Die Rechtsprechung hat einen Beurteilungsspielraum
der Verwaltung bei der Bewertung von komplexen
und dynamischen Bereichen (Prognoseentscheidungen
und Risikobewertungen) zur Ausfüllung unbestimmter
Rechtsbegriffe unter Verweis auf die engere Sachnähe
der Verwaltung und die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung
anerkannt.68 Dabei folgt das Gericht der normativen
Ermächtigungslehre, wonach der Beurteilungsspielraum
„normativ angelegt“ sein müsse. Im Hintergrund
stehen zwei verschiedene Argumentationslinien,
nämlich einerseits die Funktionsgrenze der Rechtsprechung
und andererseits die höhere Sachnähe der Exekutive.
Das Schrifttum hat die Lehre vom Beurteilungsspielraum
weiter ausdifferenziert und sich teilweise
großzügiger in der Annahme verwaltungsrechtlicher
Beurteilungsspielräume gezeigt.69 Argumentativ wird
teils ein ausbalanciertes Verständnis der Gewaltenteilung
bemüht70 oder eher pragmatisch auf eine sachnähere
und damit „bessere“ Entscheidung durch die Behörde
abgestellt71.
Mit dem Rotmilan-Beschluss (Oktober 2018) hat das
BVerfG neben dem Beurteilungsspielraum eine weitere
Kategorie eingeschränkt gerichtlicher Überprüfungen
gebildet, nämlich die der außerrechtlichen Erkenntnisdefizite.
72 Es handele sich bei objektiven Erkenntnisgrenzen
um eine Situation, in der es „am Maßstab zur sicheren
Unterscheidung von richtig und falsch“ fehle.73 Diese
„faktische Grenze verwaltungsgerichtlicher Kontrolle“
sei keine „gewillkürte Verschiebung der Entscheidungszuständigkeit“
74 und daher vom Beurteilungsspielraum
zu unterscheiden. Die Kontrolle des Gerichts reduziere
sich hier auf eine Vertretbarkeitskontrolle, d.h. ob die
Behörde vertretbare fachliche Maßstäbe und Methoden
herangezogen habe. Während es hier also um den Fall
wissenschaftlich nicht aufklärbarer Tatsachenfeststellungen
geht, könne sich ein Beurteilungsspielraum nur auf
normative Bewertungen beziehen, etwa darauf, ob eine
Risikoerhöhung „signifikant“ ist.75
Bislang fehlt in der Rechtsprechung eine klare Auseinandersetzung
über die Maßstäbe eines Beurteilungsspielraums
bei fachlich besonders ausgewiesenen (Ressortforschungs-)
Behörden.76 Nur punktuell lassen sich
Hinweise auf die besondere Sachkompetenz im Vergleich
zur sonstigen Exekutive ausmachen. Im Rahmen
der Corona-Rechtsprechung finden sich immerhin Hinweise
auf die Anerkennung der entscheidungsvorbereitenden
besonderen Sachkunde von Ressortforschungseinrichtungen.
Hier geht es um die gerichtliche Überprüfung
von Maßnahmen der Exekutive bzw. des Erlasses
von Rechtsverordnungen nach dem
Infektionsschutzgesetz, bei denen die Exekutive ihrer
Handlung die Einschätzung etwa des Robert Koch-Instituts
zugrunde gelegt hatte. So befand der VGH Baden-
Württemberg, dass der Beurteilungsspielraum des Verordnungsgebers
nicht überschritten sei, wenn er sich auf
die Einschätzung des Robert Koch-Instituts, welches
„gemäß § 4 IfSG unter anderem zur frühzeitigen Erkennung
und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen
und dahingehender Analysen und Forschungen“
berufen sei, gestützt hat und keine wissenschaftlichen
Erkenntnisse vorliegen, die es „rechtfertigen würden“,
von dieser Einschätzung abzuweichen.77 Im
Ergebnis wurde der Exekutive ein Beurteilungsspielraum
eingeräumt, den diese legitim durch die Übernahme
der Einschätzung einer Ressortforschungsbehörde
ausfüllen durfte. Der hier grundgelegte Gedanke der besonderen
Sachkompetenz von Ressortforschungsbehörden
ist als Element der Lehre vom Beurteilungsspielraum
weiter auszubauen. Die Zuerkennung eines Beurteilungsspielraums
kann sich nicht allein an pauschalierten
Annahmen über eine sachnähere Verwaltung
festmachen, sondern hat die Besonderheiten der entscheidenden
Behörde zu würdigen. Zeichnet sich die Behörde
aufgrund ihres (gesetzlichen) Auftrags und ihrer
1 6 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 2 3 ) , 1 4 7 — 1 6 0
78 Vgl. hier auch Gärditz/Linzbach Fn. 67, S. 97 ff.
Struktur, wie dies für die Ressortforschungsbehörden
gilt, durch eine besondere Kompetenz zur Risikobewertung
und Prognoseeinschätzung aus, hat sich dies in der
Bewertung der Dichte der gerichtlichen Überprüfung
abzubilden. Damit hängt der Beurteilungsspielraum
nicht nur von der tatbestandlichen Fassung der Norm
(Ermächtigungsgrundlage bzw. Befugnisnorm) ab, sondern
auch von der jeweiligen Behördenkompetenz, die
(soweit es hierüber keine gesetzlichen Festlegungen in
Form von Beurteilungsspielräumen gibt) durch das Gericht
festzustellen ist. Eine gerichtliche Kontrolle von Beurteilungsfehlern
bleibt bei alledem unangetastet.
Fruchtbar gemacht werden kann hier auch die „Plausibilitätsprüfung“
bei außerrechtlichen Erkenntnisdefiziten
(Rotmilan-Beschluss), die bei objektiven Erkenntnisgrenzen
die behördliche Einschätzung nur auf ihre Vertretbarkeit
hin prüfen lässt und sie nicht einfach durch
eine andere (gerichtliche) Entscheidung ersetzt, die ihrerseits
auf einer beigezogenen (und nicht über alle
Zweifel erhabenen) Expertise beruht. Als Hybridform
zwischen Wissenschaft und Verwaltung ist die wissenschaftliche
Einschätzung der Ressortforschungsbehörde
im Gegensatz zu einem reinen Sachverständigengutachten
demokratisch legitimiert, was insbesondere dann ins
Gewicht fällt, wenn es um Fragen geht, die wissenschaftlich
nicht eindeutig zu beantworten sind. Eine Entscheidung
nur durch eine andere zu ersetzen, ohne dass es
hinreichende Gründe dafür gibt, dass die ersetzende
Entscheidung „richtiger“ oder demokratisch legitimierter
bzw. rechtsstaatlich gebotener ist als die ersetzte, wäre
kein Gebot rechtsstaatlicher Kontrolle, sondern
willkürlich.
Mit einer solchen Rechtsentwicklung nähert sich das
deutsche Recht dem Unionsrecht an, innerhalb dessen
ein Beurteilungsspielraum bezüglich von Normen, die
zu einer komplexen, wissenschaftlich-technischen Einschätzung
Anlass geben, weitreichend anerkannt ist. Die
gerichtliche Prüfung erstreckt sich hier lediglich auf formale
Kriterien und Schlüssigkeit. Auch hier ließe sich allerdings
die Dogmatik weiterentwickeln, indem der Beurteilungsspielraum
auch davon abhängig gemacht wird,
wie die Expertise zustande gekommen ist. Wurden im
Rahmen der Verbundressortforschung wissenschaftliche
Behörden der Mitgliedstaaten eingebunden, so begründet
sich in dem wissenschaftlichen Konsens der Mitgliedstaaten
nicht nur eine erhöhte fachliche Expertise,
sondern auch eine gewisse demokratische Legitimation.
VI. Ausblick
An dieser Stelle konnten nur einige grobe Pflöcke zur
Darstellung und rechtlichen Analyse der Ressortforschung
als institutionalisierter Rationalität im politischgubernativen
Gefüge der Bundesrepublik Deutschland
und der Europäischen Union eingeschlagen werden. Die
Heterogenität der einzelnen deutschen Ressortforschungseinrichtungen
und die verschiedenen Ressortkulturen,
in denen sie verortet sind, ihre jeweilige historische
Gründungsgeschichte und die Spannung zwischen
einer Eingebundenheit in eine Ministerialverwaltung
bei gleichzeitigem Anerkenntnis eines Forschungsfreiraums,
führen zu einer Reihe an juristisch-dogmatischen
Problemen, die auch in Zukunft noch weiter – und
zunehmend auf europäischer Ebene – zu ventilieren
sind. Es zeigt sich, dass ein reines Trennungsmodell zwischen
Wissenschaft und politischer Entscheidung nicht
der deutschen Ressortforschungspraxis entspricht und
auch auf europäischer Ebene nicht in Reinform vorfindlich
ist.78 So sind die Fragen zum Zusammenspiel und
der Trennung zwischen Risikobewertung und Risikomanagement,
die national und unionsrechtlich durchaus
unterschiedlich bewertet werden, in Zukunft immer
wieder neu zu justieren. Auch wird man die direkten
und indirekten Entscheidungsspielräume wissenschaftlicher
Behörden dogmatisch noch weiter anhand der
künftigen Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu klären
haben und hierfür auch in nähere Vernetzung zur unionsrechtlichen
Entwicklung treten müssen. Die Corona-
Pandemie hat die diesbezügliche Rechtsentwicklung
herausgefordert und beschleunigt und es wird sich zeigen,
welche weiteren (rechts-)politischen Konsequenzen
hieraus für die Ressortforschung auf deutscher und
europäischer Ebene gezogen werden.
Priv.-Doz. Dr. A. Katarina Weilert ist wissenschaftliche
Referentin an der Forschungsstätte der Ev. Studiengemeinschaft
e.V. — Institut für interdisziplinäre Forschung.
Sie lehrt als Privatdozentin an der Ruprecht-
Karls-Universität Heidelberg mit einer Venia Legendi
für die Fächer Öffentliches Recht, Gesundheitsrecht,
Völker- und Europarecht.