I. Wissenschaft unter Druck
Die Herausforderungen, denen sich die Wissenschaften national wie international seit einigen Jahren gegenüber- sehen, sind zahlreich: Zu gesellschaftlichen Debatten über die Vertrauenswürdigkeit von Wissenschaft, deren öffentliche Finanzierung oder über Fälle wissenschaftli- chen Fehlverhaltens gesellen sich wissenschaftsinterne Diskussionen über Replikationskrisen und Methoden- probleme, Hochschul- und Karrierestrukturen oder über Reputationsmechanismen und Publikationssyste- me, um nur einige prominente Beispiele zu nennen. Wie kann bzw. wie sollte Wissenschaft diesen, teils hitzig geführten Debatten begegnen? Wie kann eine angemes- sene Reaktion auf solche Diskussionen aus der Wissen- schaft selbst heraus gelingen? Und auf welchen Ebenen (Lehre, Forschung, Outreach) sollte diese Reaktion in welcher Form erfolgen?
Ein interdisziplinärer Forschungs- und Lehrbereich, der seit einigen Jahren zunehmend sichtbar und wahrge- nommen wird und der diese Fragen zu adressieren ver- mag, ist die Wissenschaftsreflexion (WiR) (Jungert et al. 2020; Barlösius/Wilholt 2021). In diesem Artikel soll zu- nächst im ersten Schritt eine kurze Kartierung dieses Feldes vorgenommen werden: Um welche Form eines interdisziplinären Forschungsbereichs handelt es sich? Wie wird Interdisziplinarität realisiert bzw. wie kann sie (besser) realisiert werden? Welche Akteure und Diszipli- nen sind beteiligt und welche Themen eignen sich für eine Bearbeitung? Im zweiten Schritt wird am Beispiel der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn- berg (FAU) und ihres Kompetenzzentrums für interdis- ziplinäre Wissenschaftsreflexion (ZIWIS) gezeigt, auf der Grundlage welcher universitären und gesellschaftli- chen Bedarfe, Fragestellungen und Potentiale die Institu- tionalisierung von Wissenschaftsreflexion gelingen kann: Welche Themen werden in der Forschung adres- siert? Wie kann ein wissenschaftsreflexives Lehrpro- gramm an einer Volluniversität konzipiert und verankert werden? Wie können die im ersten Schritt beschriebe- nen Anforderungen an die Interdisziplinarität des Feldes implementiert werden? Beginnen wir aber zunächst mit
der Frage, wie Wissenschaftsreflexion verstanden und konzipiert werden kann.
II. Was ist und zu welchem Ende betreibt man Wis- senschaftsreflexion?
Die Zahl der wissenschaftsbeforschenden (Teil-)Diszip- linen ist groß. Sie reichen von der Wissenschaftsge- schichte, ‑philosophie/-theorie, ‑soziologie, ‑psycholo- gie, der Wissenschaftsethik und dem Wissenschaftsrecht bis hin zur Szientometrie/Bibliometrie, den Science and Technology Studies (STS) und neueren Disziplinen oder Forschungsfeldern wie Metascience (Anjum/Mumford 2018), Science of Science (Fortunato et al. 2018) und Cognitive Science of Science (Thagard 2014). Zwar ist all diesen Disziplinen, Teildisziplinen und Forschungsfel- dern der Untersuchungsgegenstand Wissenschaft gemein – allerdings bearbeiten sie häufig sehr spezifi- sche Fragestellungen, oft innerhalb enger disziplinärer und/oder methodischer Grenzen, oder beschränken ihren Objektbereich auf bestimmte Disziplinen. Es gibt nur wenige Versuche, mehrere oder gar eine Vielzahl dieser Bereiche systematisch zusammenzubringen.1 Für den interdisziplinären Austausch zwischen den wissen- schaftsbeforschenden Fächern wie auch für deren Außenwahrnehmung ist dieser Zustand nicht förderlich. Es fehlt im wissenschaftlichen Diskurs oft die Zusam- menführung von Perspektiven und die Anwendung unterschiedlicher Methoden auf eine gemeinsame Fra- gestellung, in der Wissenschaftskommunikation dage- gen die Vermittlung eines „Big Picture“ mit Blick auf (Selbst-)Reflexionsfragen der Wissenschaft. Anders gesagt: Die so vehement eingeforderte Interdisziplinari- tät entpuppt sich in der Praxis nicht selten als Kompilati- on von je fachdisziplinären Texten zu einem gemeinsa- men Thema, ohne dass diese indes aufeinander argu- mentativ Bezug nehmen; eine „Klammer“ findet sich allenfalls im verbindenden Vorwort.
Die Wissenschaftsreflexion unternimmt den Versuch, mehreren dieser Desiderate konstruktiv zu begegnen. Sie versteht sich dabei nicht als eine (potentiell) neue wissenschaftliche Disziplin, sondern als eine Art Klam-
History and Philosophy of Science dar, die sich u.a. in Form von eigenen Studiengängen und Departments vielerorts etabliert hat.
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Eine Ausnahme stellt bspw. die Verbindung von Wissenschaftsge- schichte und Wissenschaftsphilosophie/-theorie im Rahmen der
Michael Jungert, Max-Emanuel Geis
Wissenschaftsreflexion: Bedarf, Konzept und das „Erlanger Modell“
Ordnung der Wissenschaft 2024, ISSN 2197–9197
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mer oder Bindeglied zwischen den zahlreichen, hetero- genen wissenschaftsbeforschenden Disziplinen. Sie er- kennt und betont den dezidiert interdisziplinären bzw. transdisziplinären Charakter2 vieler Fragestellungen der Wissenschaftsforschung – womit hier in einem sehr wei- ten Sinne alle Forschungsbereiche und Disziplinen ge- meint sind, die Wissenschaft als (einen) Untersuchungs- gegenstand haben. In umfassender Weise thematisiert Wissenschaftsreflexion die epistemischen, sozialen, his- torischen, institutionellen, ökonomischen, rechtlichen, kognitiven und psychologischen sowie praktischen Be- dingungen und Voraussetzungen von Wissenschaft und die Folgen und Auswirkungen wissenschaftlichen For- schens, Handelns und Kommunizierens in all diesen Hinsichten (Jungert et al 2020, S. 5). Charakteristisch für Wissenschaftsreflexion sind dabei insbesondere die fol- genden vier Merkmale (vgl. Jungert et al. 2020, S. 5–7):
1. Die Bandbreite der Untersuchungsgegenstände
Wissenschaftsreflexion nimmt mit Blick auf ihre Unter- suchungsgegenstände keine Beschränkungen oder ein- seitigen Schwerpunktsetzungen – etwa auf empirische Wissenschaften oder exakte Naturwissenschaften – vor, sondern adressiert Wissenschaft in umfassender Weise und bezieht so unter anderem auch die Geistes- und Naturwissenschaften als Gegenstandsbereich mit ein. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich etwa von der klas- sischen Wissenschaftstheorie, deren Schwerpunkt die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften und insbe- sondere mit der Physik als einem zentralen Anwen- dungs- und Testbereich für wissenschaftstheoretische Erklärungen (Kornmesser/Büttemeyer 2020, S. 209) dar- stellt. Auf der Grundlage dieses breiten Verständnisses von Wissenschaft untersucht Wissenschaftsreflexion die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Fragestellun- gen, Erkenntnisproduktionsprozessen, Methoden, Begriffsbildungen und vielem mehr – auch im Vergleich unterschiedlicher Disziplinen. Der Namensbestandteil „Reflexion“ betont diesen wichtigen Aspekt eines (selbst-)kritischen, vergleichend-prüfenden Nachden- kens über Wissenschaft(en).
2. Die Bandbreite der beteiligten Disziplinen und Pers- pektiven
Der pluralistische Ansatz von Wissenschaftsreflexion, wie er für die die Auswahl von Untersuchungsgegen- ständen skizziert wurde, setzt sich auch hinsichtlich der Bandbreite derjenigen Disziplinen und wissenschaftli-
Zu den Definitionen und theoretischen wie praktischen Schwie- rigkeiten von Inter- und Transdisziplinarität vgl. Jungert et al. 2013.
chen Perspektiven fort, die bei wissenschafts-reflexiven Forschungsfragen und ‑projekten miteinbezogen wer- den (können). Die Palette der – je nach Fragestellung potentiell involvierten – Disziplinen und Bereiche reicht von Wissenschafts- und Hochschulrecht, Wissenschafts- ökonomie, ‑soziologie, ‑geschichte, ‑ethik und ‑philoso- phie über Public Understanding of Science, Wissen- schaftskommunikationsforschung, Wissenschaftsjour- nalismus und Politische Theorie bis hin zu Wissenschaft und Kunst, Wissenschaft und Literatur und Wissen- schaft und Sprache. Auch solche Disziplinen, die selbst nicht (explizit) wissenschaftsreflexive Themen erfor- schen – etwa die Naturwissenschaften – werden bei der Auswahl von Fragestellungen und auch bei deren inter- disziplinärer Erörterung als Mitforschende auf Augen- höhe einbezogen. Es handelt sich bei Wissenschaftsrefle- xion folglich nicht um eine primär geistes- oder sozial- wissenschaftliche Untersuchung anderer Wissenschaften „von außen“, sondern um eine Form der integrativen, interdisziplinär-kooperativen Forschung zu Fragen, die durch die und aus den Wissenschaften entstehen – also um eine Reflexion in den Wissenschaften. Hinsichtlich dieses Selbstverständnisses ähnelt das Programm der Wissenschaftsreflexion dem einer „Philosophy in Sci- ence“ (als Alternative zu einer Philosophy of oder on Sci- ence; Pradeu et al. 2021), die sich als eine aktiv und kooperativ an der Bearbeitung wissenschaftlicher Frage- stellungen mitwirkende Disziplin versteht.
3. Die Vielfalt der Methoden
Aus dem Einbeziehen vielfältiger Disziplinen in wissen- schaftsreflexive Projekte resultiert auch eine Vielfalt der Methoden, mit denen Wissenschaftsreflexion arbeiten kann. Diese – teils sehr unterschiedlichen Methoden – bleiben im Idealfall wissenschaftsreflexiver Forschung nicht nebeneinander stehen, sondern werden im interdisziplinären Dialog diskutiert und aufein- ander bezogen. Durch die Betrachtung und Analyse eines Phänomens mit verschiedenartigen Methoden, etwa empirischen, logisch-begriffsanalytischen oder his- torisch-hermeneutischen, können im Vergleich zu strikt disziplinärer Forschung vielfältige Aspekte eines Phäno- mens betrachtet und Verbindungen zwischen den unter- schiedlichen Analyseebenen und Fragerichtungen her- gestellt werden. Ziel ist es, auf diesem Weg zu einer epis- temisch-pluralistischen Forschungsperspektive auf wissenschaftsbezogene Fragestellungen zu gelangen.
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Jungert/Geis · Wissenschaftsreflexion: Bedarf, Konzept und das „Erlanger Modell“ 5 3
4. Der Praxis- und Anwendungsbezug
Wissenschaftsreflexion kann, wie bis hierher beschrie- ben, zum einen interdisziplinäre Grundlagenforschung betreiben, zum anderen aber auch Anwendungswissen- schaft mit vielfältigen gesellschaftlichen Interaktionen sein. In ihrer Funktion als Anwendungswissenschaft nimmt sie die Möglichkeit in den Blick, aus den Wissen- schaften selbst heraus auf wissenschaftsbezogene Debat- ten und wissenschaftskritische oder ‑skeptische Heraus- forderungen zu antworten. Auch die Reflexion und Wei- terentwicklung von Wissenschaftskommunikation und ‑vermittlung können Bestandteil wissenschaftsreflexiver Forschung sein. Beispielsweise können im Rahmen eines Forschungsprojekts, das sich mit dem Scheitern in den Wissenschaften befasst, einerseits grundlegende philo- sophische und historische Fragen nach den Formen, Funktionen und historischen Veränderungen des Schei- terns in wissenschaftlichen Kontexten verhandelt wer- den (Jungert/Schuol 2022). Andererseits können die Ergebnisse dieser Forschung zugleich konkret genutzt werden, um die Darstellung des Scheiterns in Wissen- schaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus so zu gestalten, dass Nicht-Wissenschaftlern ein realisti- sches Bild des wissenschaftlichen Arbeits- und Erkennt- nisgewinnungsprozesses vermittelt wird, was wiederum konkrete Auswirkungen auf die Ausbildung von Ver- trauen in die Wissenschaften und auf Bereiche wie die wissenschaftsbasierte Politikberatung haben kann (Mäder 2022).
Werden diese vier Merkmale in die Praxis wissen- schaftsreflexiver Forschung und Lehre umgesetzt und implementiert, kann dies umfassende positive Folgen sowohl mit Blick auf die Inhalte und Gegenstände der Forschung als auch auf die Integration wissenschaftsre- flexiver Themen in die fachübergreifende Lehre und auf die Außenwahrnehmung von Wissenschaft als einem Unternehmen, das sich selbst kritisch reflektiert und nach Verbesserungen strebt, haben. Dazu bedarf es je- doch bestimmter struktureller und institutioneller Vor- aussetzungen, die nachfolgend am Beispiel des „Erlanger Modells“ der Wissenschaftsreflexion beschrieben werden.
III. Zur Institutionalisierung und Verankerung von Wissenschaftsreflexion – Das „Erlanger Modell“
Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn- berg (FAU) gehört zu den Universitäten, die bereits in
den 1970er Jahren auf den zunehmenden Bedarf nach reflexiver Forschung und Lehre zu den Voraussetzungen und Folgen wissenschaftlichen Handelns und Forschens reagiert und eine Einrichtung geschaffen haben, die sich diesem Bedarf dezidiert widmet. 1979 wurde unter der Leitung des Wissenschaftstheoretikers Paul Lorenzen das Interdisziplinäre Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte (IIWW), das bis 2005 Bestand hatte, als zentrale wissenschaftliche Einrichtung gegründet. Aus einer Zusammenarbeit des IIWW mit dem „Institut für Gesellschaft und Wissenschaft“, das bereits 1969 gegründet wurde und von 1971 bis zu seiner Auflösung im Jahre 1993 den Status eines Instituts der Philosophischen Fakultät hatte, entstand die Idee, für das IIWW beim Stifterverband für die Deutsche Wissen- schaft eine Stiftungsprofessur für (empirische) Wissen- schaftsforschung zu beantragen. Dieser Antrag war erfolgreich und so wurde die neue Professur 1991 als damals einzige Stiftungsprofessur an der Philosophi- schen Fakultät mit dem Soziologen Christoph Lau besetzt.
Aufgrund der seit den 1990er Jahren stark zuneh- menden innerwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedarfe an wissenschaftsethischer Forschung und Lehre, an Angewandter Ethik und an einer fundierten Theorie und Praxis von Wissenschaftskommunikation wurde es 2005 durch das Zentralinstitut für Angewandte Ethik und Wissenschaftskommunikation (ZIEW) abgelöst, das bis 2015 vom Wissenschaftsphilosophen Rudolf Köt- ter geschäftsführend geleitet wurde. Als zentrale wissen- schaftliche Einrichtung, die keiner Fakultät zugeordnet und der Universitätsleitung unterstellt war, konnte das ZIEW in der Forschung wissenschaftsreflexive und ins- besondere Themen der Angewandten Ethik interdiszip- linär gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftlern aller Disziplinen und Fakultäten bearbeiten und Lehrveranstaltungen für alle Studierenden anbieten. Im Rahmen der sog. „Schlüsselqualifikationen“, die an der FAU bis heute als freier Bereich oder Wahlpflichtbe- reich in zahlreichen Studiengängen implementiert sind, konnten die Studierenden die dort erbrachten Leistun- gen häufig auch in ihr Fachstudium einbringen. Schwer- punkte in der Lehre waren unter anderem Themen der Bioethik, philosophische Aspekte der Genetik und Evo- lutionstheorie und wissenschaftstheoretische Fragen der Inter- und Transdisziplinarität. Die Idee einer interdiszi- plinären wissenschaftsreflexiven Lehre trug nicht nur in- nerhalb der FAU Früchte, sondern reichte auch darüber hinaus. Feste Bestandteile waren dabei etwa gemeinsame
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erfolgreiche Lehrveranstaltungen zusammen mit Sie- mens Healthineers und mit dem Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen in Erlangen.3
2017 wurde das ZIEW umgewidmet in das ZiWiS, das Zentralinstitut für Wissenschaftsreflexion und Schlüsselqualifikationen. Damit erhielt das im zweiten Abschnitt dieses Artikels skizzierte Feld der Wissen- schaftsreflexion auch Einzug in den Namen des Instituts. Zu Beginn des Jahres 2023 erfolgte dann im Rahmen ei- ner universitätsweiten Neuordnung, Neubenennung und Profilschärfung der zentralen wissenschaftlichen Einrichtungen die Etablierung des FAU Kompetenzzent- rums für interdisziplinäre Wissenschaftsreflexion (FAU ZIWIS) als Nachfolger des ZiWiS.4 Als dauerhaft einge- richtete zentrale wissenschaftliche Einrichtung hat das ZIWIS die Aufgabe, Wissenschaftsreflexion in For- schung, Lehre und Outreach zu verankern, innerhalb wie auch außerhalb der FAU bekannt zu machen und ihre gesellschaftliche Bedeutung durch konkrete The- men (etwa Vertrauen in der und in die Wissenschaft, Be- deutung und Mehrwert von Interdisziplinarität oder Formen und Funktionen des Scheiterns in den Wissen- schaften) greifbar und verständlich zu machen.
Zum Erlanger Modell der Wissenschaftsreflexion ge- hört es dabei, dass alle Fächer und Fakultäten der Uni- versität umfassend eingebunden werden. Dies geschieht innerhalb der Leitungsebenen des ZIWIS auf zweifache Art und Weise: Der kollegialen Leitung gehören neben demGeschäftsführervierProfessorInnenundein/eVer- treterIn des akademischen „Mittelbaus“ an, sodass in der Besetzung der Leitung alle fünf Fakultäten der FAU re- präsentiert werden können. Zugleich werden damit die empirisch-naturwissenschaftlichen, die geisteswissen- schaftlichen, die sozialwissenschaftlichen, die techni- schen Disziplinen sowie die Medizin mit ihren in episte- mischer wie methodischer Hinsicht teils sehr unter- schiedlichen Denk- und Vorgehensweisen abgebildet. Diese strukturelle Einbeziehung aller Fächer und Fakul- täten stellt zusammen mit der disziplinübergreifenden Stellung als zentrale Einrichtung und der stark interdis- ziplinären Zusammensetzung der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ZIWIS ein wich- tiges Alleinstellungsmerkmal und eine zentrale Voraus- setzung für gelingende wissenschaftsreflexive Forschung und Lehre dar. Als zweite tragende Säule des Instituts fungiert ein Mitgliederkreis, der gegenwärtig aus über 40 WissenschaftlerInnen der FAU besteht, die in jedem Semester in einer Mitgliederversammlung die For-
3 Zu Konzept und Motivation dieses Ansatzes sowie zu den Erfah- rungen damit vgl. Kötter 2017.
schungs- und Lehrthemen des ZIWIS besprechen und mitgestalten, sich selbst in Forschungs‑, Lehr- und Out- reachprojekte einbringen und als wichtige Multiplikato- ren in den Fakultäten und Departments wirken, wo- durch weitere WissenschaftlerInnen und Studierende für das ZIWIS und für das interdisziplinäre Feld der Wissenschaftsreflexion gewonnen werden.
Auf der Basis dieser Organisationsstruktur wird es, analog zum oben skizzierten Verständnis, möglich, Wis- senschaftsreflexion in den Wissenschaften zu betreiben und so gemeinsam mit allen Wissenschaftsbereichen re- levante Fragen definieren, diskutieren und erforschen zu können, anstatt Fragen nur einseitig an bestimmte Diszi- plinen heranzutragen oder diese aus der eigenen Fach- lichkeit heraus ohne Dialog mit den betreffenden Wis- senschaften beantworten zu wollen. Die kritische Refle- xion wissenschaftlicher Prozesse, Aussagen und Metho- den sowie der historischen, epistemischen oder sozialen Voraussetzungen und Folgen von Wissenschaft kann auf diese Weise zu einem kooperativen Projekt für eine Viel- zahl an WissenschaftlerInnen und Studierenden werden. Für das Erlanger Modell ist es diesbezüglich von großer Bedeutung, dass die FAU als eine der wenigen Volluni- versitäten in Deutschland – d.h. eine klassische, auch medizinführende Universität inklusive einer technisch- ingenieurwissenschaftlichen Fakultät – alle großen Wis- senschaftsbereiche unter ihrem Dach vereint, wodurch wissenschaftsreflexive Projekte innerhalb einer Universi- tät mit allen großen Fachbereichen entwickelt und durchgeführt werden können.
Neben der Verankerung von Wissenschaftsreflexion als gemeinsamem Projekt an der eigenen Universität spielen Kooperationen mit weiteren Universitäten, Aka- demien und wissenschaftsfördernden Akteuren eine zentrale Rolle: mit WissenschaftlerInnen und Einrich- tungen der Universitäten Hannover, Bielefeld und Mainz wird an einem gemeinsamen Verständnis von Wissen- schaftsreflexion gearbeitet, was unter anderem durch Forschungs- und Publikationsprojekte und durch ge- meinsame Tagungen seit mehreren Jahren geschieht. Mit Unterstützung der Volkswagenstiftung konnten 2023 erstmals wichtige Akteure der Wissenschaftsreflexion aus ganz Deutschland im Rahmen eines „Scoping-Work- shops“ zusammenkommen, die Potentiale und Charak- teristika von Wissenschaftsreflexion intensiv diskutieren und konkrete Ideen für die Zukunft des Feldes entwi- ckeln. Auch die Nationale Akademie der Wissenschaften – Leopoldina (Halle/Saale) ist durch ihr Zentrum für
4 www.ziwis.fau.de
Jungert/Geis · Wissenschaftsreflexion: Bedarf, Konzept und das „Erlanger Modell“ 5 5
Wissenschaftsforschung (ZfW) in diese Kooperation eingebunden. Im März 2023 fand eine erste, gemeinsam von WissenschaftlerInnen aus Bielefeld (Martin Carrier und Carsten Reinhardt), Erlangen-Nürnberg (Max Ema- nuel-Geis und Michael Jungert) und Hannover (Eva Bar- lösius, Nadja Bieletzki und Torsten Wilholt) sowie des ZfW der Leopoldina (Rainer Godel) veranstaltete Früh- jahrstagung mit dem Titel „Wissenschaftsreflexion: Kon- zepte – Ziele – Perspektiven“ an der Leopoldina statt, bei der über theoretische Konzepte und gesellschaftliche Be- darfe diskutiert und konkrete Themen wissenschaftsre- flexiver Forschung mit Expertinnen aus Deutschland, Österreich, Norwegen, Frankreich und der Schweiz ex- emplarisch analysiert wurden. Im Juli 2023 folgte in SchlossHerrenhausen(Hannover)einvonderVolkswa- genstiftung geförderter „Scoping-Workshop“ zum The- ma „Wissenschaftsreflexion als Methode: empirische, historische, analytische und normative Forschung über Wissenschaft integrieren“, in dessen Rahmen über 30 WissenschaftlerInnen über Methoden- und Kooperati- onsfragen wissenschaftsreflexiver Forschung diskutieren und auch strategische Fragen einer zukünftigen Förde- rung und Weiterentwicklung des Feldes besprechen konnten. Für die kommenden Jahre sind eine Fortfüh- rung und die Intensivierung dieser Kooperationen und die Einbeziehung weiterer Partner geplant, um Wissen- schaftsreflexion deutschlandweit als interdisziplinäres Feld institutionell zu etablieren und auch international sichtbar zu machen.
IV. Perspektiven: Wissenschaftsreflexion (in) der Zukunft
Die zu Beginn dieses Beitrags genannten gesellschaftli- chen Bedarfe nehmen weiter zu, wie etwa das Beispiel der Debatten über wissenschaftliche Evidenzen und Begründungsansprüche in der Coronapandemie zeigt (Hauswald/Schmechtig 2023). Viele der in dieser Zeit geführten Debatten berühren zentrale Themen der Wis- senschaftsreflexion, etwa die Begründung und Vermitt- lung eines realistischen Bildes davon, wie wissenschaftli- che Erkenntnisse gewonnen und wann und warum sie modifiziert und revidiert werden (müssen), oder die Frage, wie eine epistemische pluralistische Perspektive, die wissenschaftliche Ergebnisse und Debatten aus unterschiedlichen Fächern und Fachkulturen berück- sichtigt und versucht, diese aufeinander zu beziehen, entstehen und sichtbar gemacht werden kann. Auch die
Frage, wie Selbstkorrektur- und Verbesserungsmecha- nismen noch stärker in den Wissenschaften verankert werden können, gehört zu den Themen der Wissen- schaftsreflexion für die kommenden Jahre.
Eine adäquate Reaktion auf diese Debatten muss, in Zusammenarbeit mit Wissenschaftsjournalismus und Wissenschaftskommunikation, aus den Wissenschaften selbst heraus erfolgen. Dass dies möglich ist, zeigen die in diesem Beitrag skizzierten Entwicklungen im Bereich der Wissenschaftsreflexion, die ihr Potential in den kom- menden Jahren durch eine weiter fortschreitende Insti- tutionalisierung, die feste Verankerung in der universitä- ren Lehre, geeignete Förderformate und durch die ge- zielte Zusammenarbeit zwischen Akteuren in Wissen- schaft, Gesellschaft, Wissenschaftsförderung und Wissenschaftspolitik noch umfassender entfalten kann.
Dr. Michael Jungert, Geschäftsführer des FAU Kompe- tenzzentrums für Wissenschaftsreflexion (ZIWIS), FAU Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Max-Emanuel Geis, Sprecher der Kollegialen Leitung des ZIWIS, Lehrstuhl für Deutsches und Bayeri- sches Staats- und Verwaltungsrecht, FAU Erlangen- Nürnberg.
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