Etliche unter den an unseren Universitäten vertretenen Disziplinen haben das große und verantwortungsvolle Privileg, die humanistische Tradition, die letzte, die unserer Kultur eine tragfähige und integrative Bildungs- konzeption vermittelt hat, im Bewußtsein zu halten. Innerhalb der Wissenschaft kann man diese Aufgabe nicht dadurch wahrnehmen, daß man eine neue Ideolo- gie des Humanismus proklamiert. Die Wissenschaft, ins- besondere die Philologie, muß vielmehr die Ursprünge dieser Tradition, ihre Entfaltung und Veränderung im Lauf der Zeiten, ihr Wesen, ihre Stärken und Schwächen und ihre geschichtlichen Wirkungen zum Gegenstand der Forschungen machen. Wie, wann und in welchem Ausmaß die Resultate solcher Forschung auf das allge- meine Bewußtsein der Menschen einwirken können, läßt sich kaum bestimmen und hängt von vielen, vor- nehmlich außerwissenschaftlichen Faktoren ab. Verant- wortungsvoll bleibt die Aufgabe trotzdem, geht es dabei doch um eine geschichtliche Größe, die zu den bis heute in keiner Weise ersetzten Grundlagen unseres geistigen
Lebens gehört. Wenn nämlich heute z.B. wissenschaft- lich orientiertes Denken weite Teile unserer Lebenswelt bestimmt, so ist das die Folge einer vom Humanismus motivierten und legitimierten Entfaltung der Wissen- schaften. Lebendige Wissenschaft führt zur steten Ver- änderung des Erkenntnisstandes und der daraus herge- leiteten Sicht der Welt. Soll aber dieses ständig sich wan- delnde Wissen der Erziehung der Menschen nutzbar gemacht werden, so muß die Konzeption, nach der das geschieht, zugleich stabil und flexibel sein — stabil in den Grundlagen, wenn denn individuelle und kollektive Erziehung eine zuverlässige Orientierung gewähren soll, und flexibel in der Ausformung angesichts des schnellen Wandels unserer Lebensverhältnisse.
Albrecht Dihle ist em. o. Professor für klassische Philo- logie in Köln und ab 1974 in Heidelberg sowie Mitglied des Ordens „Pour le mérite für Wissenschaften und Künste.“
1 Albrecht Dihle, Humanismus und Wissenschaft, 1994, S. 25 ff.
Ordnung der Wissenschaft 2019, ISSN 2197–9197
Albrecht Dihle
Humanismus und Wissenschaft1