I. Einleitung
Das Hochschulzulassungsrecht ist ein wichtiges Kapitel aus dem großen Buch der Mangelverwaltung.1 Insofern teilt das es das Schicksal etwa des Organtransplantati- onsrechts. Während letzteres in einem rechtsstaatlich und grundrechtlich desaströsen Zustand ist – nach 20 Jahren Transplantationsgesetz ist das Organtransplanta- tionsrecht heute von grundrechtlichen und rechtsstaatli- chen Mindeststandards weit entfernt2 – weist das Hoch- schulzulassungsrecht dank der Rechtsprechung des Bun- desverfassungsgerichts (BVerfG)3 und der Verwaltungsgerichte rechtsstaatlich und grundrechtlich annehmbare Konturen auf. Diese hat das BVerfG in sei- ner jüngsten Entscheidung vom 19.12.20174 weitgehend bestätigt und konsolidiert. Auch wenn die Wissen- schaftsministerien der Länder, auf die nun eine Menge Umsetzungsarbeit zukommt, dies anders sehen mögen, so handelt es sich bei der Entscheidung des BVerfG um ein in der Sache doch eher unspektakuläres Urteil. Das Gericht enthält sich sowohl im dogmatischen Grundan- satz als auch in den Konsequenzen grundlegender Ände- rungen seiner bisherigen Rechtsprechung. Das System des Hochschulzulassungsrechts mit zentralen und dezentralen Elementen sowie Vorab- und Hauptquoten bleibt vom BVerfG unangetastet.5 Pointierte Optionen zur Lösung des Mangelproblems lässt es beiseite.
Für die Lösung eines Mangelproblems kommen drei Optionen in Betracht:
(1) Man kann erstens das knappe Gut, das es zu ver- teilen gilt, vermehren. Diese Option steht freilich nicht stets zur Verfügung, wie ein Blick auf das Organtrans- plantationsrecht zeigt. Im Hochschulzulassungsrecht wäre diese Lösung indes gangbar, denn die Erhöhung der Zahl der Studienplätze, also die Ausweitung der Ka- pazität, ist weder denklogisch noch rechtlich unmöglich. Gleichwohl – und hier liegt die erste dogmatische Be- deutung des Urteils – lehnt das Bundesverfassungsge-
* Schriftliche Fassung des Vortrags auf dem 13. Deutschen Hoch- schulrechtstag am 15.5.2018 in Erlangen.
- 1 Grundsätzlich F. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 2010.
- 2 S. dazu nur W. Höfling, 20 Jahre Transplantations(verhinderungs)gesetz – eine kritische Bilanz ZRP 2017, 233.
- 3 Beginnend mit dem ersten NC-Urteil aus dem Jahr 1972:BVerfGE, 33, 303; zur weiteren Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG und des Hochschulzulassungsrecht insgesamt s. den Überblick bei J.F. Lindner, in: Hartmer/Detmer (Hg.), Hochschul-
richt eine Pflicht des Staates zur Kapazitätserhöhung ab. Eine solche folge insbesondere nicht aus dem grund- rechtlichen Teilhabeanspruch aus Art. 12 und Art. 3 des Grundgesetzes. In Randnummer 105 der Entscheidung schreibt das Gericht:6
„Das Teilhaberecht reicht nicht so weit, dass es einen individuellen Anspruch begründen könnte, Ausbildungs- kapazitäten in einem Umfang zu schaffen, welcher der je- weiligen Nachfrage gerecht wird. Die Frage der Bemessung der Anzahl verfügbarer Ausbildungsplätze obliegt der Ent- scheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der bei seiner Haushaltswirtschaft neben den Grundrech- ten der Studienplatzbewerberinnen und ‑bewerber auch andere Gemeinwohlbelange berücksichtigt. Das Recht auf chancengleichen Zugang zum Hochschulstudium besteht damit nur in dem Rahmen, in dem der Staat tatsächlich Ausbildungskapazitäten zur Verfügung stellt.“
(2) Eine zweite Option bestünde darin, zwar nicht die Menge des zu verteilenden Gutes zu erhöhen, wohl aber die Anzahl der Nachfrager zu reduzieren. Dieser Weg bestünde entweder darin, die Zahl der Hochschulzu- gangsberechtigten zu begrenzen, etwa Bewerber mit ei- ner außerschulischen Hochschulzugangsberechtigung7 auszuschließen, oder die materiellen Zugangs- also Qua- lifizierungsvoraussetzungen zu verschärfen. Dieser Weg wäre in der Tat ein spektakulärer und liefe dem hoch- schulpolitischen Mainstream, die Zahl der Hochschul- zugangsberechtigten immer weiter zu erhöhen, diamet- ral entgegen. Man mag sich den Aufschrei vorstellen, wenn das BVerfG den Weg der Reduzierung der Nach- frage beschritten hätte.
(3) Bleibt schließlich nur noch die dritte, eben un- spektakuläre Option zum Umgang mit dem Mangelpro- blem, nämlich die gleichheitskonforme Verteilung des knappen Gutes. Diesen Weg, den das BVerfG auch schon bisher beschritten hat, geht es auch im jüngsten Urteil. Dabei wird das im Hochschulrahmengesetz, im Staats- vertrag und in den Hochschulzulassungsgesetzen der
recht, 3. Aufl. 2017, XI, Rn. 97 ff.
4 BVerfG, Urt. v. 19.12.2017 – 1 BvL 3/14 und 4/14 – NJW 2018,
361.
5 Umfassender Überblick über den durch die Entscheidung ausge-
lösten Änderungsbedarf bei R. Brehm/A. Brehm-Kaiser, Das Dritte Numerus-Clausus-Urteil des BVerfG, NVwZ-Extra, 2018, 1; M. Bode, Zwischen Realität und Utopie: Die „Numerus Clausus III“- Entscheidung des BVerfG, OdW 2018, 173.
6 BVerfG, aaO, Rn. 106.
Josef Franz Lindner
Das NC-Urteil des BVerfG vom 19.12.2017 aus grundrechtsdogmatischer Sicht*
Ordnung der Wissenschaft 2018, ISSN 2197–9197
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Länder angelegte Hochschulzulassungsrecht im System nicht angetastet. Zwar werden dem Gesetzgeber Ände- rungen im Detail aufgegeben – insbesondere bei der Wartezeitquote und der Ausgestaltung des Auswahlver- fahrens der Hochschulen, das System aus zentraler und dezentraler Auswahlentscheidung, aus der Bildung von Vorab- und Hauptquoten bleibt ebenso unberührt, wie der gesamte Bereich der Kapazitätsermittlung.
Gleichwohl hat die Entscheidung in der Öffentlich- keit große Resonanz hervorgerufen. Dies mag an der Grundrechtssensibilität des Themas, der Zahl der Be- troffenen und vor allem an der Fokussierung auf das in der bildungspolitischen Diskussion beliebte Thema der Unvergleichbarkeit von Abiturabschlüssen liegen. Von daher verdient auch ein in der Sache eher unspektakulä- res Urteil der wissenschaftlichen Analyse. Im Folgenden soll zunächst auf die grundrechtsdogmatische Konstruk- tion des Bundesverfassungsgerichts eingegangen werden (II.) und sodann ein Blick auf die Eignung als Paradigma gleichheitskonformer Vergabe gerichtet werden (III.). Schließlich sind einige Konsequenzen anzusprechen, die sich aus der Entscheidung ergeben oder ergeben können.
II. Die grundrechtsdogmatische Konstruktion des BVerfG
Zunächst zur grundrechtsdogmatischen Konstruktion, die das BVerfG seiner Entscheidung vom 19.12.2017 zu Grunde legt. Auch diese ist unspektakulär.
1. Das BVerfG legt seiner Entscheidung einen grund- rechtlichen Teilhabeanspruch zugrunde, den es aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG ableitet. Diese Konst- ruktion besteht seit der ersten NC-Entscheidung aus dem Jahr 1972.8 Blickt man genauer hin, bleibt der exak- te grundrechtsdogmatische Ansatz – wie so häufig, wenn das BVerfG sog. „in Verbindung mit“-Grundrechte etab- liert – eher unklar. Handelt es sich nun um einen frei- heitsrechtlichen, um einen gleichheitsrechtlichen oder um einen freiheits- und gleichheitsrechtlichen Anspruch oder um einen solchen Anspruch, der zwar ein freiheits- rechtlicher ist, seine Anspruchsqualität aber nur über den Gleichheitssatz erlangt? Kurz: Handelt es sich um ei- nen originären oder um einen derivativen Leistungsan- spruch? Diese Frage ist keineswegs belanglos. Denn ent- nimmt man dem Artikel 12 Abs. 1 GG einen originären Leistungs- oder Teilhabeanspruch, so könnte sich der Staat letztlich zur Rechtfertigung der Vorenthaltung
7 Zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen dem Hochschul- zugangs- und dem Hochschulzulassungsrecht s. Lindner (Fn. 3), Rn. 1 ff.; zur Entwicklung des Hochschulzugangsrechts ebenda
nicht auf Kapazitätserwägungen berufen. Ebenso wie sich der Staat beim originären Leistungsanspruch auf ein (menschenwürdiges) Existenzminimum9 nicht auf Haushaltsknappheit berufen kann, könnte sich der Staat bei Verweigerung eines Studienplatzes auch nicht auf die Begrenzung der zur Verfügung stehenden Studienplätze berufen.
Einem solchen originären Leistungsanspruch, der letztlich auf einen Anspruch auf Kapazitätserweiterung hinausliefe, erteilt das Gericht wie bereits erwähnt eine deutliche Absage: Das Teilhaberecht reiche nicht so weit, dass es einen individuellen Anspruch begründen könn- te, Ausbildungskapazitäten in einem Umfang zu schaf- fen, der der jeweiligen Nachfrage gerecht werde. Das Recht auf chancengleichen Zugang zum Hochschulstu- dium bestehe nur in dem Rahmen, in dem der Staat tat- sächlich Ausbildungskapazitäten zur Verfügung stelle. In Rn. 106 betont das BVerfG ausdrücklich: „Es handelt sich hierbei um ein derivatives Teilhaberecht“. Die Bedeutung dieser Aussage ist in ihrer verfassungsrechtlichen Rele- vanz und Brisanz kaum zu überschätzen. Denn nimmt man die Ausschließlichkeit des derivativen Ansatzes ernst, ließe sich auch gegen einen Abbau von Studien- platzkapazitäten aus verfassungsrechtlicher, zumal grundrechtlicher Sicht, nichts einwenden.
Das Bundesverfassungsgericht scheint es also aus- schließlich dem politischen Gestaltungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers zu überantworten, in welchem Umfang er Studienplätze zur Verfügung stellt. Nicht aus- geschlossen erschiene es bei einem derivativen Ansatz auch, dass der Staat sich aus der Finanzierung des Medi- zinstudiums vollständig zurückzieht und die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses dem Privatsektor oder Angeboten im Ausland überantwortet.
Insgesamt durchziehen die Entscheidung des Ge- richts durchaus Sätze von bemerkenswerter Härte. Zwei davon seien nachfolgend zitiert:
(1) „Das Teilhabrecht reicht nicht so weit, dass jeder und jede Hochschulzugangsberechtigte beanspruchen könnte, die Zulassung zu dem gewählten Studium tatsäch- lich eines Tages zu erhalten. In Fächern wie der Human- medizin, in denen die Anzahl an Bewerbungen das Ange- bot an Studienplätzen weit übersteigt, kann der Teilhabe- anspruch die tatsächliche Studienleistung von vorneherein nicht garantieren. Die verfassungsrechtlich gebotene Chancenoffenheit schließt das Risiko des Fehlschlags einer Bewerbung auf einen Studienplatz ein, da bei der Vergabe knapper unteilbarer Güter jedes Auswahlsystem – wie im-
Rn. 54 ff.
8 BVerfGE 33, 303.
9 BVerfGE 125, 175; 137, 34.
Lindner · Das NC-Urteil aus grundrechtsdogmatischer Sicht 2 7 7
mer es ausgestaltet ist – nur einem Teil der Bewerberinnen und Bewerber reale Aussichten eröffnen kann, auch tat- sächlichen Erfolg zu haben.“10
(2) Und ein zweites Zitat direkt im Zusammenhang mit den kritischen Ausführungen des Gerichts zur War- tezeit: „Der Gesetzgeber kann im Rahmen seiner Gestal- tungsbefugnis vielmehr auch ganz auf die Zulassung einer Wartezeit verzichten. Aus verfassungsrechtlicher Sicht muss nicht jeder grundsätzlich hochschulreife Bewerber den Anspruch auf Zulassung zu seinem Wunschstudium im Ergebnis tatsächlich realisieren können.“11
Letztlich löst das Bundesverfassungsgericht damit den Hochschulzulassungsanspruch maßgeblich von dessen freiheitsrechtlicher,inArt.12Abs.1desGrundgesetzesver- ankerter Dimension und legt den Schwerpunkt eindeutig auf die gleichheitsrechtliche Dimension. Die zur Verfügung stehenden Plätze müssen gleichheitskonform verteilt wer- den. Damit erfährt das Hochschulzulassungsrecht insge- samt eine schwächere grundrechtsdogmatische Veranke- rung, denn der Gleichheitssatz ist aus der Perspektive der Betroffenen ein schwächeres Grundrecht als ein Freiheits- recht. Dies mag durch die dogmatisch teilweise vorgenom- mene Annäherung der grundrechtsdogmatischen Prüfung von Freiheitseingriffen und Ungleichbehandlungen auch anders gesehen werden können. Jedoch erscheint eine Un- gleichbehandlung stets leichter begründbar als eine Freiheitsbeschränkung.
2. Im Zusammenhang damit steht eine zweite grund- rechtsdogmatische Erkenntnis des Urteils. Das Bundes- verfassungsgericht geht – von seinem Ansatz her ganz konsequent – von einem teilhaberechtlichen, also letzt- lich der leistungsrechtlichen Dimension der Grundrech- te zuzuordnenden Konstellation aus. Es versucht aber nicht, dieser leistungsrechtlichen Dimension eigene dogmatische Konturen zu erschließen, so dass wir trotz Hundertausenden von Seiten grundrechtsdogmatischer Literatur und hundertvierzig Bänden Bundesverfas- sungsgerichtsentscheidungen immer noch keine klare grundrechtsdogmatische Konturierung der leistungs- rechtlichen Dimension12 der Grundrechte haben.
Das Verfahren hätte Gelegenheit gegeben, die leistungs- rechtliche Dimension dogmatisch näher zu entfalten. Darauf konnte das BVerfG, leider möchte man sagen, verzichten, weil es die teilhaberechtliche Dimension des Art. 12 Abs. 1 GG ausschließlich über den gleichheits- rechtlichen Gehalt, also über Art. 3 Abs. 1 GG konturiert. Aus der leistungsrechtlichen Dimension wird dadurch schlicht eine Gleichheitsprüfung.
- 10 BVerfG, aaO, Rn. 106.
- 11 BVerfG, aaO, Rn. 218.
- 12 Zu den Grundlagen und Problemen der leistungsrechtlichenDimension der Grundrechte s. R. Alexy, Theorie der Grundrech-
Immerhin hätte es schon von der Betroffenheit der Ein- zelnen, die keinen Studienplatz erhalten, nahe gelegen, die Vorenthaltung einer Leistung einem Grundrechts- eingriff gleichzustellen. Denn macht es einen Unter- schied, ob man einer Person die Ausübung eines bestimmten Berufes verbietet oder ob man ihr das zur Ausübung des Berufes notwendigen Studium bzw. der dafür erforderlichen Studienplatz vorenthalte? Die Vor- enthaltung einer Leistung, also die Verwehrung des Stu- dienplatzes, wird hier zum Eingriffsäquivalent.
Es hätte sich daher durchaus angeboten, das vorhan- dene Regelungsinstrumentarium zur Vergabe von Studi- enplätzen weniger über Art. 3 Abs. 1 GG als vielmehr über die eingriffsabwehrrechtliche Dimension der Grundrechte zu verarbeiten. Die Vorenthaltung eines Studienplatzes wäre dann ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG, der sich nach dem üblichen eingriffsabwehrrechtli- chen Prüfungsschema rechtfertigen lassen muss, an- sonsten er sich als Grundrechtsverletzung erweist.
Ein solcher Ansatz hätte den Vorteil, dass insbeson- dere mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein griffi- geres Instrumentarium zur Verfügung steht als im Rah- men des Art. 3 Abs. 1 GG, es sei denn, man wendet die Verhältnismäßigkeitsdogmatik eins zu eins auch beim Gleichheitsrecht an,13 was das BVerfG vorliegend aber nicht getan hat.
Nach einem streng freiheitsrechtlichen Ansatz lies- sen sich die einzelnen Verteilungsregeln, die Vertei- lungskriterien, der mittlerweile entstandene Wildwuchs an Vorabquoten und Sonderregelungen sich nicht mehr einfach über Art. 3 Abs. 1 GG oder das Sozialstaatsprin- zip rechtfertigen, es müsste vielmehr nach den dahinter- stehenden Zwecken und deren Legitimation gefragt wer- den. Und diese Zwecke müssten ins Verhältnis zum frei- heitsrechtlichen Kern des Art. 12 Abs. 1 GG gesetzt werden.
3. In grundrechtsdogmatischer Hinsicht ist drittens zu bemerken, dass das BVerfG den gleichheitsrechtlich fundierten Teilhabeanspruch erneut mit dem Sozial- staatsprinzip verknüpft. Die Bedeutung dessen wird nicht ganz klar.
Sicher dürfte sein, dass das BVerfG das Sozialstaats- prinzip nicht zur Verstärkung der Anspruchsgrundlage heranzieht, sondern eher zur Ausgestaltung des Hoch- schulzulassungsrechts insgesamt.
So formuliert das Gericht in Leitsatz 2: „Regeln für die Verteilung knapper Studienplätze haben sich grundsätz- lich am Kriterium der Eignung zu orientieren. Daneben
13
te, 2. Aufl. 1994, S. 171 ff., 395 ff.; J.F. Lindner, Theorie der Grund- rechtsdogmatik, 2005, S. 338 ff.
Zu dieser Diskussion Lindner (Fn. 12), S. 412 ff.
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berücksichtigt der Gesetzgeber Gemeinwohlbelange und trägt dem Sozialstaatsprinzip Rechnung.“14
Wirklich näher dogmatisch ausgeformt wird das im weiteren Verlauf des Urteils nicht. Dass das BVerfG das Sozialstaatsprinzip vor allem im Zusammenhang mit der Legitimation der sog. Vorabquoten heranzieht, zeigt, dass es ihm zur Rechtfertigung von Privilegierungen, die über den Bereich der Eignung hinausgehen, dient. Eine Anerkennung von Vorabquoten zur Verfolgung gewich- tiger öffentlicher Interessen und aus sozialstaatlichen Er- wägungen sei im Blick auf die dadurch bedingte Be- schränkung der Zahl der in den Hauptquoten verfügba- ren Studienplätze mit den Gleichheitsanforderungen grundsätzlich vereinbar.15
Gerade im Zusammenhang mit den Vorabquoten macht es sich das BVerfG aber doch ein wenig leicht. Blickt man auf die Vorabquoten und deren privilegierte Destinatäre, so hat man schon den Eindruck, dass inso- weit durchaus – ähnlich wie im Steuerrecht – starke Inte- ressengruppen am Werk sind. So findet sich etwa im bayerischen Hochschulzulassungsgesetz16 – freilich im Zusammenhang mit dem örtlichen Auswahlverfahren – eine Vorabquote für Angehörige von Sportkadern.
III. Die „Eignung“ als zentrales Vergabekriterium
Dass der freiheitsrechtliche Eingriffsabwehransatz der dogmatisch geeignetere wäre, zeigt sich auch am Umgang des BVerfG mit dem Kriterium der Eignung. Das Gericht sieht die Eignung als Kernkriterium, gewissermaßen als Paradigma einer gleichheitsgerechten Auswahlentschei- dung an.
Die gesamten Ableitungen und Konsequenzen des Gerichts im Hinblick auf die Bedeutung der Abiturbes- tenquote und der Vergleichbarkeit der Abiturzeugnisse, der zusätzlich geforderten Qualifizierungsmerkmale, der Einordnung der Wartezeit, etc., beruhen letztlich auf dem Kriterium der Eignung.
In Randnummer 109 formuliert das Gericht: „Aus dem Gebot der Gleichheitsgerechtigkeit folgt, dass sich die Regeln über die Vergabe von Studienplätzen grundsätzlich an dem Kriterium der Eignung orientieren müssen. Das kann die Ungleichbehandlung rechtfertigen, welche mit der Verteilung einer den Bedarf nicht deckenden Zahl von Studienplätzen zwangsläufig verbunden ist.“
Nun ist es zweifelsohne sachgerecht, auf die Eignung abzustellen. Allerdings erstaunt das Gericht insoweit nicht nur durch eine blumige Sprache, wenn es von „Gleichheitsgerechtigkeit“ spricht, es lässt vielmehr auch
- 14 BVerfG, aaO.
- 15 BVerfG, aaO, Rn. 123 ff.
analytische Klarheit vermissen. Denn was soll Kriterium der Eignung eigentlich bedeuten? Hier hätte es nahegele- gen, für die Grundlegung der weiteren Ableitungen zwi- schen einem Eignungskonzept und den darauf zu bezie- henden Eignungskriterien zu unterscheiden.
Es wäre also zu unterscheiden zwischen der Frage „Eignung in Bezug auf was“ und „Eignung wodurch“? Kurz: Wofür muss ein Studienplatzbewerber geeignet sein und wie lässt sich eine zuverlässige Prognose darü- ber bilden, ob diese Eignung gegeben ist? Zwar tauchen an verschiedenen Stellen des Urteils verschiedene Eig- nungskonzeptionen auf, insbesondere mit den Ausfüh- rungen zum Erfordernis weiterer Eignungskriterien. Hier ist dann u.a. von kommunikativen und sozialen Kompetenzen und ähnlichem die Rede.17
Die Frage ist allerdings, wie sich diese Einzelaspekte zu einem grundsätzlichen Eignungskonzept verdichten lassen.
Nun mag man dagegenhalten, dass dies zu formulie- ren Sache des Gesetzgebers sei. Im Hinblick auf den pa- radigmatischen Charakter des Begriffs der Eignung hät- te man aber schon erwartet, dass das Gericht hier eine stärkere analytische Klarheit walten lässt und auch eini- ge nähere Hinweise zu einem verfassungskonformen Eignungskonzept gibt.
IV. Einige Konsequenzen
Abschließend seien noch einige Konsequenzen wenigstens kurz benannt, die sich aus dem Urteil ergeben.
1. Zunächst gibt das BVerfG dem Gesetzgeber auf, das Hochschulzugangsrecht bis Ende 2019 den Maßgaben des Gerichts anzupassen und grundrechtskonform aus- zugestalten. Es hat dabei insbesondere den Landesge- setzgeber im Auge, der das Hochschulzulassungsrecht im Staatsvertrag und in den Landeshochschulzulas- sungsgesetzen regelt. Dementsprechend gelten die ledig- lich für verfassungswidrig erklärten Vorschriften der Landeshochschulgesetze und des Hochschulrahmenge- setzes bis zum 31.12.2019 weiter. Fraglich ist, was passiert, wenn die Länder diese Frist nicht einhalten können, sei es, dass eine Neuregelung erst nach dem genannten Stichtag politisch ins Werk gesetzt werden kann, sei es, dass ein entsprechender Staatsvertrag bereits vorher zu- stande kommt, jedoch Bedarf für einen Übergangszeit- raum besteht, insbesondere zur softwaretechnischen Umsetzung der neuen Regelungen. Da das BVerfG die übergangsweise Weitergeltung der bisherigen Rege-
16 Art. 5 Abs. 3 Satz 2 BayHZG. 17 BVerfG, aaO, Rn. 197 ff.
Lindner · Das NC-Urteil aus grundrechtsdogmatischer Sicht 2 7 9
lungen ausdrücklich auf den 31.12.2019 befristet hat, wäre ein Reißen dieser Frist verheerend. Denn in diesem Fall würden die alten Regelungen nicht mehr oder nur noch im Umfang ihrer Verfassungsmäßigkeit gelten, neue wären indes noch nicht in Kraft oder noch nicht anwendbar oder vollziehbar. Die Länder sollten nicht darauf vertrauen, dass das BVerfG diese Frist irgendwie verlängern würde – in welchem Verfahren auch?18 Es muss von den Ländern geleistet werden, dass der Staats- vertrag so rechtzeitig in Kraft tritt, dass bereits das Zulas- sungsverfahren für das Sommersemester 2020 nach ver- fassungskonformen Regelungen abläuft. Denkbar wäre eine Übergangsphase, soweit diese ihrerseits verfas- sungskonform ausgestaltet ist.
2. Fraglich ist, ob der Bund etwas regeln darf oder muss. Dürfen tut der Bund freilich. Er hat die Gesetzge- bungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG für das Hochschulzulassungswesen in der gesamten Breite. Er könnte also ein Hochschulzulassungsgesetz erlassen. Von diesem freilich könnten die Länder wiederum im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung nach Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 GG abweichen.
Fraglich ist, ob der Bund tätig werden muss? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es den An- schein hat. Natürlich folgt prima facie aus einer Gesetz- gebungskompetenz noch keine Pflicht, von dieser auch Gebrauch zu machen. Sollte sich jedoch herausstellen, dass die Länder ihrer Pflicht zur Umsetzung der verfas- sungsgerichtlichen Vorgaben nicht oder nicht rechtzeitig nachkommen wollen oder werden, könnte sich der poli- tische Ermessensspielraum von einer Kompetenz auf eine Pflicht verdichten, um das völlige Lahmlegen der Hochschulzulassung zu verhindern. Auch vor diesem Hintergrund sind die Länder gut beraten, in größtmög- licher Konzentration ihre Umsetzungspflicht zu erfüllen.
3. Ein schwieriges, praktisch wichtiges Spezialprob- lem stellt sich in Folge der notwendig werdenden Ände- rungen im Bereich der Wartezeitquote. Zwar hat das BVerfG die Wartezeitquote, die im neuen (noch nicht in Kraft getretenen) Staatsvertrag Bewerbungssemester- quote heißt, nicht für verfassungsrechtlich unzulässig er- klärt, jedoch die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer Begrenzung der Wartezeitdauer betont.19 Zudem dürfe der Gesetzgeber auch auf eine Wartezeitquote verzichten.
Würde dies in einem neuen Staatsvertrag umge- setzt und würde die Wartezeitquote ganz abgeschafft oder würden in die Bewerbungssemesterquote dieje-
- 18 In Betracht käme allenfalls ein Vorgehen über § 35 BVerfGG in direkter oder analoger Anwendung.
- 19 BVerfG, aaO, Rn. 215 ff.
nigen, die schon länger als sieben Semester warten, nicht mehr einbezogen, stünde die Problematik von Übergangs- und Vertrauensschutzregelungen für sol- che „Altwarter“ im Raum. Das BVerfG hat zwar vor langer Zeit schon einmal über den Vertrauensschutz von „Altwartern“ bei Änderungen im Wartezeitre- gime entschieden.20 Diese Entscheidungen sind aber schon deswegen nicht ohne Weiteres auf die hiesige Konstellation übertragbar, weil es damals um Ände- rungen des Gesetzgebers ging, die nicht auf einer Ver- fassungswidrigerklärung der einschlägigen Vorschrif- ten durch das BVerfG beruhten.
4. Das BVerfG hat mit deutlicher Klarheit festgestellt, dass die Abiturabschlüsse der Länder nach wie vor mitein- ander nicht vergleichbar sind. Es hat zwar nicht die Abitur- bestenquoten als solche für verfassungswidrig erklärt, je- doch gefordert, die mangelnde Vergleichbarkeit zu kom- pensieren. Hierbei hat es die im zentralen Vergabeverfah- ren zu bildenden Landesquoten gebilligt, jedoch das Auswahlverfahren der Hochschulen, in dem die Abiturbes- tenquote ebenfalls eine Rolle spielt, wegen des Fehlens von Kompensationsmechanismen beanstandet.21
Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass das BVerfG den Bemühungen der Kultusministerkonferenz um eine stärkere Vergleichbarkeit der Abiturnoten äußerst skep- tisch, um es vorsichtig auszudrücken, gegenübersteht. Gleichwohl lässt sich dem Urteil keine Pflicht der Länder entnehmen, für eine stärkere Vergleichbarkeit der Abi- turnoten zu sorgen. Weder aus Art. 12 GG noch aus Art. 3 GG leitet das BVerfG eine Pflicht der Länder zu ent- sprechenden Bemühungen ab. Das Gericht scheint sich also mit der mangelnden Vergleichbarkeit der Abiturno- ten abzufinden und sieht keinen verfassungsrechtlichen Hebel, dies zu ändern. Vielmehr überantwortet es die FragederHerstellungderVergleichbarkeitdempoliti- schen Handlungswillen der Länder. Solange diese dies- bezüglich nicht oder nur unzureichend tätig werden, verbleibt es eben beim Erfordernis, die mangelnde Ver- gleichbarkeit im Rahmen der Abiturbestenquoten durch Kompensationsregelungen zu flankieren.
Bildungspolitisch freilich ist das Urteil des BVerfG ein deutlicher Impuls nicht nur für den Hochschulzulas- sungsgesetzgeber, sondern auch für den Schulgesetzge- ber. Nicht von ungefähr, sind die Forderungen nach ei- nem Schul- oder Bildungsstaatsvertrag der Länder gera- de auch in der Folge des Urteils des BVerfG lauter geworden.
Wir werden es also in Zukunft nicht nur mit einem neuen Hochschulzulassungsstaatsvertrag zu tun haben,
20 BVerfGE, 43, 291; 59, 1.
21 BVerfG vom 19.12.2017, Rn. 173 ff.
280 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2018), 275–280
sondern vielleicht auch mit einem Schul- oder Bildungsstaatsvertrag22.
Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphiloso- phie an der Universität Augsburg.
22 Dazu näher J.F. Lindner, Reform des deutschen Bildungsfödera- lismus, ZRP 2018, 94.