Die Selbstständigkeit der Universität dient dazu, der Wissenschaft in Forschung und Lehre den Raum freier Selbstbestimmung zu sichern, dessen sie bedarf um unvoreingenommen Erkenntnis zu gewinnen und damit dem Staat und allen außerstaatlichen Mächten auch kri- tisch gegenübertreten zu können. Der Sinn ist nicht Abkehr vom Staat, sondern ein besonderer Dienst im Staat. Zwar wäre es unrichtig zu behaupten, unvoreinge- nommene, kritische Forschung sei nur in autonomen Forschungseinrichtungen möglich. Es gibt allenthalben staatliche und industrielle Forschungsinstitute, deren Forschungsarbeit dem Rang nach nicht hinter der der Hochschulen zurückbleibt, und man würde sich die Kri- tik am sowjetischen System unverantwortlich leicht machen, wollte man Rang und Wert der an den dortigen Anstalten getriebenen Forschung leugnen. Aber alle geschichtliche Erfahrung lehrt, daß die Versuchung für
den Staat als Machthaber zu groß ist, die Forschungser- gebnisse zu beeinflussen und die wissenschaftliche Kri- tik zu unterdrücken. Wie der demokratische Rechtsstaat des Rechtes bedarf, um in Ehren leben zu können, und dennoch die Rechtsprechung unabhängigen Gerichten anvertraut, so muß von ihm um seiner Existenz willen gefordert werden, daß er den Universitäten als den hauptsächlichen Trägern der Wissenschaft, deren Hal- tung den Maßstab setzt für alle übrigen Forschungsein- richtungen des Landes, diejenige Selbstständigkeit gibt und rechtlich sichert, die es ihnen ermöglicht, ihren Dienst im und am Staat frei auszurichten.
Ludwig Raiser (1904–1980) war Rektor der Universitä- ten Göttingen und Tübingen, 1951–1955 DFG-Präsident und 1961–1965 Vorsitzender des Wissenschaftsrats.
1 Auszug entnommen aus Ludwig Raisers Schrift „Die Universität im Staat“. Erschienen im Rahmen der Schriften des Hofgeismarer Kreises zur Lage und Reform der deutschen Hochschulen, Heidel- berg 1958
Ludwig Raiser
Die Universität im Staat1
Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
188 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2015), 187–188