I. Einleitung
In ihrem Beschluss vom 16.10.20141 stellt die 9. Kammer des Verwaltungsgerichts Münster unter anderem fest, dass die in § 26 Abs. 1 VergabeVO NRW geregelte Rang- folge bei der Vergabe von verfügbar gebliebenen Studi- enplätzen in höheren Fachsemestern zulassungszahlen- begrenzter Studiengänge (hier: Humanmedizin) nicht gegen Bestimmungen des Europarechts verstößt. § 26 Abs. 1 VergabeVO NRW sieht bei der Vergabe der Studi- enplätze in höheren Fachsemestern eine unterschiedli- che Behandlung von Ortswechslern innerhalb Deutsch- lands auf der einen Seite und Bewerbern, die anrechen- bare Leistungen im Ausland erbracht haben, auf der anderen Seite vor.
II. Ausgangslage
Seit Inkrafttreten der Ersten Verordnung zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte (ÄAppO) vom 17.7.20122 ist das mindestens sechsjährige3 Studium der Medizin wieder in drei Abschnitte aufgeteilt (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 ÄAppO).4
- 1 VG Münster, Beschluss 16.10.2014 – 9 L 787/14 –, juris.
- 2 Erste Verordnung zur Änderung der ÄAppO vom 17.6.2012(BGBl. I, S. 1539).
- 3 In den Mitgliedsländern der Europäischen Union muss die ärztli-che Grundausbildung mindestens sechs Jahre und 5.500 Stunden theoretischen und praktischen Unterrichts an einer Universität oder unter Aufsicht einer Universität umfassen, Art. 24 Abs. 2 der RL 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates.
- 4 Mit der Approbationsordnung für Ärzte vom 27.6.2002, BGBl. I S. 2405, wurde die Prüfungsstruktur zum 1.10.2003 weitgehend verändert. Diese sah eine zweigeteilte Ärztlichen Prüfung, also mit dem Ersten Abschnitt nach zwei Jahren und dem Zweiten Abschnitt (dem sog. „Hammerexamen“) nach sechs Jahren Me- dizinstudium, folglich nach dem Praktischen Jahr, vor, vgl. hierzu Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2010, § 7 Rn. 6 ff. Die Erste Verordnung zur Änderung der ÄAppO führte zu einer Rückkehr zum alten Prüfungsmodell, vgl. Haage, MedR 2012, 630, 633.
- 5 Die Angaben zur Dauer der jeweiligen Abschnitte beziehen sich auf die vorgesehene Regelstudienzeit.
- 6 Vgl. auch Haage, in: NK-ÄAppO, § 1 Rn. 4 ff.
So schließt der Erste Studienabschnitt (auch „Vorkli- nik“) nach vier Semestern5 mit dem Ersten Abschnitt der ärztlichen Prüfung (andere Bezeichnung: „Physi- kum“). Diesem folgt der zweite Abschnitt (auch „klini- scher Abschnitt“) mit einer Dauer von 3 Jahren und eine zusammenhängende praktische Ausbildung („Praktisches Jahr“) von 48 Wochen. Der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung (schriftlich) findet vor, der dritte und letzte Ab- schnitt (mündlich-praktisch) nach dem Praktischen Jahr statt.6
Da das Medizinstudium in Deutschland mit einem numerus clausus belegt ist, greifen einige Studienbewer- ber auf die Möglichkeit zurück, sich an einer Hochschu- le im europäischen Ausland einzuschreiben. Inzwischen besteht diesbezüglich ein großes Studienangebot7 – teil- weise verbunden mit erheblichen Studiengebühren.8 Nach Absolvieren des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung versuchen dann einige Studenten, ihr begonne- nes Studium in Deutschland fortzusetzen.9
Im Auswahlverfahren, das für höhere Fachsemester nicht von der Stiftung für Hochschulzulassung (SfH), sondern von der jeweiligen Hochschule nach Landes- recht durchgeführt wird, konkurrieren diese Bewerber
7 Ein Medizinstudium in deutscher Sprache kann in Österreich, Schweiz, Ungarn und Polen absolviert werden. Ein Studium in englischer Sprache bieten Universitäten – neben solchen in Eng- land und Irland – in Ungarn, Serbien, Slowenien, Polen, Rumä- nien, Bulgarien, Kroatien, Litauen, Zypern, Lettland, Tschechien, Slowakei und Spanien an. Nicht selten bieten Unternehmen eine entsprechende Vermittlung an diese Universitäten an.
8 So betragen die Studiengebühren für ein (deutschsprachiges) Studium an der Semmelweis-Universität in Budapest 6.900€ pro Semester, s. http://medizinstudium.semmelweis.hu/nav/aufnah- me_fur_studienanfanger (7.6.2015).
9 Dies kann zum einen damit zusammenhängen, dass ein Weiter- führen des Studiums in der Regel nur noch in englischer Sprache oder in der Landessprache möglich ist. Zum anderen sind im Rahmen der Ausbildung in dem klinischen – praktischen – Studienabschnitt Kenntnisse der jeweiligen Landessprache für
den Patientenkontakt erforderlich. Schließlich besteht auch die Möglichkeit, dass ein Studium in den ost- oder mitteleuropäischen Ländern ohnehin nur als Einstieg in das Humanmedizinstudium dienen sollte und eine Weiterführung an einer deutschen Univer- sität von Anfang an geplant war.
Patrick Schultes
Grenzüberschreitende studentische Mobilität in Europa und Hochschulzulassung
in höhere Fachsemester
– zugleich Anmerkung zum Beschluss des VG Münster vom 16.10.2014 – 9 L 787/14
Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
166 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2015), 165–174
mit Bewerbern, die den Studienort innerhalb Deutsch- lands wechseln (Ortswechsler), mit Bewerbern, die auf einen Teilstudienplatz zugelassen sind (Teilzugelassene), mit Bewerbern, die infolge eines wichtigen Grundes – z.B. Betreuung eines Kindes oder eines zeitweiligen Aus- landsstudiums – ihr Studium unterbrechen mussten (Unterbrecher), und mit Bewerbern, die in einem ande- ren Studiengang anrechenbare Leistungen erworben ha- ben (Quereinsteiger).
III. Vergabe von Studienplätzen in höheren Fachsemestern
Nach § 26 Abs. 1 VergabeVO NRW werden die verfügba- ren Studienplätze nach der dort festgeschriebenen Rang- folge vergeben. An dritter Stelle werden diejenigen Bewerberinnen und Bewerber berücksichtigt, die im Zeitpunkt der Antragstellung an einer Hochschule im Geltungsbereich des Grundgesetzes für den gewählten Studiengang endgültig eingeschrieben sind oder vor die- sem Zeitpunkt endgültig eingeschrieben waren; erst an
- 10 Gesetz über die Zulassung zum Hochschulstudium in Mecklen- burg-Vorpommern (Hochschulzulassungsgesetz — HZG M‑V) v. 14.8.2007 (GVOBl. M‑V 2007, S. 286), zuletzt geändert am 16.12.2010 (GVOBl. M‑V, S. 730, 758).
- 11 Verordnung über die Zulassung zum Hochschulstudium in Mecklenburg-Vorpommern (Hochschulzulassungsverordnung — HZVO M‑V) v. 23.5.2008 (GVOBl. M‑V 2008, S. 145), zuletzt geändert am 9.7.2014 (GVOBl. M‑V S. 387).
- 12 Niedersächsisches Hochschulzulassungsgesetz (NHZG) v. 29.1.1998 (Nds.GVBl. Nr.3/1998, S.51), zuletzt geändert am 11.12.2013 (Nds.GVBl. Nr.22/2013, S. 287).
- 13 Verordnung über die Vergabe von Studienplätzen durch die Hochschulen (Hochschul-Vergabeverordnung) v. 22.6.2005 (Nds. GVBl. Nr.14/2005, S.213), zuletzt geändert am 19.6.2014 (Nds. GVBl. Nr.11/2014, S.158).
- 14 Gesetz über die Zulassung zum Hochschulstudium im Freistaat Sachsen (Sächsisches Hochschulzulassungsgesetz — SächsHZG) v. 7.6.1993 (SächsGVBl., S. 462), zuletzt geändert am 18.10.2012 (SächsGVBl., S. 568).
- 15 Hochschulzulassungsgesetz Sachsen-Anhalt (HZulG LSA) v. 12.5.1993 (GVBl. LSA 1993, S. 244, zuletzt geändert am 24.7.2012 (GVBl. LSA, S. 297).
- 16 Verordnung des Landes Sachsen-Anhalt über die Vergabe von Studienplätzen (Hochschulvergabeverordnung — HVVO) v. 26.5.2008 (GVBl. LSA 2008, S. 196), zuletzt geändert am 27.5.2014 (GVBl. LSA, S. 232, ber. 381).
- 17 Insoweit wird noch das Kriterium der „sozialen Härte“ angeführt: Nach § 8 Abs. 2 HZG sind Studienplätze zunächst an Bewer- berinnen und Bewerber, die für diesen Studiengang an einer Hochschule im Geltungsbereich des Grundgesetzes endgültig eingeschrieben sind oder waren und für die die Ablehnung des Zulassungsantrages eine soziale Härte bedeuten würde und erst dann an sonstige Bewerberinnen und Bewerber, die für diesen Studiengang an einer Hochschule in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union endgültig eingeschrieben sind oder waren, zu vergeben.
vierter und letzter Stelle folgen Bewerberinnen und Bewerber, die anrechenbare Leistungen im Ausland vor- weisen können.
Der nordrhein-westfälischen Regelung ähnliche Be- stimmungen finden sich in Mecklenburg-Vorpommern, § 5 Abs. 2 und 3 HZG M‑V10 i.V.m. § 8 Abs. 1 HZVO M‑V11, Niedersachsen, § 6 NHZG12 i.V.m. § 15 HVVO13, Sachsen, § 7 SächsHZG14, und Sachsen-Anhalt, § 9 Abs. 2 HZulG LSA15 i.V.m. § 17 Abs. 1 HVVO16; in einem be- grenzteren Maße auch in Schleswig-Holstein17, § 8 Abs. 2 HZG18 i.V.m. § 37 HZVO19. Der Wortlaut der Regelun- gen in Brandenburg20 und Thüringen21 ist diesbezüglich nicht eindeutig.22 Kürzlich geändert wurden die Rege- lungen betreffend die Hochschulzulassung in höheren Semestern in Berlin, Hessen und Schleswig-Holstein.23 Eine ausdrückliche Gleichstellung von Ortswechslern innerhalb Deutschlands und Bewerbern, die anrechen- bare Leistungen im Ausland erbracht haben, erfolgt hin- gegen beispielsweise in Baden-Württemberg.24
18 Hochschulzulassungsgesetz (HZG) v. 19.6.2009 (GVOBl. 2009, S. 331), zuletzt geändert am 24.9.2014 (GVOBl. 2014, S. 306).
19 Landesverordnung über die Kapazitätsermittlung, die Curricu- larwerte, die Festsetzung von Zulassungszahlen, die Auswahl von Studierenden und die Vergabe von Studienplätzen (Hochschulzu- lassungsverordnung — HZVO) v. 21.3.2011 (NBl. MWV. Schl.-H. 2001, S. 11), zuletzt geändert am 4.4.2014 (NBl. HS MBW. Schl.- H. 2014, S. 27).
20 § 15 der Verordnung über die Vergabe von Studienplätzen in zulassungsbeschränkten Studiengängen durch die Hochschulen des Landes Brandenburg (Hochschulvergabeverordnung – HVV) vom 16.5.2014
21 § 35 Abs. 5 der Thüringer Verordnung über die Vergabe von Studienplätzen an den staatlichen Hochschulen (Thüringer Verga- beverordnung) v. 18.6.2009 (GVBl., S. 485), zuletzt geändert durch Verordnung v. 7.4.2014 (GVBl., S. 151).
22 In beiden Fällen werden „Bewerber, die für denselben Studien- gang an einer Hochschule eingeschrieben sind“ vor sonstigen Be- werbern eingestuft. Ob der Begriff „Hochschule“ auch Universitä- ten außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes umfasst, ergibt sich nicht direkt aus dem Wortlaut. Selbmann/Drescher sehen in dieser Formulierung allerdings eine Bevorzugung von Ortswechslern, Selbmann/Drescher, Zur Europarechtskonformität von Regelungen der Bundesländer zur Hochschulzulassung in höhere Fachsemester, DÖV 2010, 961, 962 ff.
23 Vgl. noch zur alten Gesetzeslage: Selbmann/Drescher aaO. (Fn. 22), 962 ff.
24 Hier findet sich eine ausdrückliche Gleichstellung in § 19 Verordnung des Wissenschaftsministeriums über die Vergabe von Studienplätzen in zulassungsbeschränkten Studiengängen durch die Hochschulen (Hochschulvergabeverordnung — HVVO) v. 13.1.2003 (GBl. 2003, S. 63, ber. S. 115), zuletzt geändert am 9.5.2014 (GBl., S. 262) und § 7 Gesetz über die Zulassung zum Hochschulstudium in Baden-Württemberg (Hochschulzulas- sungsgesetz — HZG) v. 15.9.2005 (GBl. 2005, S. 629), zuletzt geändert am 5.5.2015 (GBl. 2015, S. 313).
Schultes · Anmerkung zum Beschluss des VG Münster vom 16.10.2014 1 6 7
Neben dem VG Münster haben sich bisher das OVG Schleswig-Holstein,25 das OVG NRW26 und jüngst auch das VG Leipzig27 mit der Europarechtskonformität der Bevorzugung von Ortswechslern gegenüber Bewerbern, die die vorklinischen Semester im Ausland absolviert ha- ben, befasst. Diese kommen zu einem ähnlichen Ergeb- nis wie die zu besprechende Entscheidung.
IV. Sachverhalt
Die Antragstellerin hatte nach der Approbationsord- nung für Ärzte anrechnungsfähige Studien der Medizin an der Universität Riga, Lettland, absolviert. Zum Win- tersemester 2014/2015 bewarb sie sich auf Zulassung zum 5. Fachsemester bzw. zum 1. Klinischen Fachsemester an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU Münster). Ihr auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO gerichteter Antrag zielte darauf, die Antragsgegnerin, die WWU Münster, zu verpflichten, ihre Bewerbung in die Ranggruppe nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 HZG i.V.m. § 26Abs. 1 Nr. 3 VergabeVO NRW – anstelle der Ranggruppe nach § 5 Abs. 2 Nr. 4 HZG i.V.m. § 26 Abs. 1 Nr. 3 VergabeVO NRW – einzuordnen. Die Antragstellerin erstrebte folglich eine Gleichbehandlung ihrer Bewerbung mit derjenigen von Bewerbern, die bereits an einer anderen deutschen Hochschule im Stu- diengang Humanmedizin eingeschrieben sind oder waren.
V. Entscheidung des Verwaltungsgerichts
Zunächst lässt das Verwaltungsgericht offen, ob ein hin- reichendes Rechtsschutzinteresse besteht. Insofern sei es der Antragstellerin möglich, die Zuweisung eines Studi- enplatzes nach Ablehnung oder Nichtbescheidung des Zulassungsgesuchs im gerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen. Es bestünden zumindest Bedenken, ob ein Teilaspekt des Zulassungsverfahrens einer gerichtlichen Überprüfung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschut- zes zugeführt werden könne.28
Unabhängig davon verneint das Gericht das Vorlie- gen sowohl des Anordnungsgrundes als auch des An- ordnungsanspruchs. Für die begehrte einstweilige An- ordnung fehle zunächst der Antragsgrund, da es auf die von der Antragstellerin gestellte Rechtsfrage nicht an-
- 25 OVG Schleswig-Holstein, Beschluss 10.4.2008, 3 MB 10/08.
- 26 OVG NRW, NVwZ-RR 2010, 229.
- 27 VG Leipzig, Beschluss 17.12.2014 – NC 2 L 1129/14, NC 2 L1130/14, NC 2 L 1131/14, NC 2 L 1282/14, NC 2 L 1283/14, NC 2L 1284/14, NC 2 L 1383/14 –, juris.
- 28 VG Münster aaO. (Fn. 1), Rn. 5.
- 29 Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und dieVergabe von Studienplätzen in höheren Fachsemestern an den
komme. § 1 i.V.m. Anlage 5 der Zulassungszahlenverord- nung29 legt die Zahl der Studienplätze für das 1. klinische Semester des Humanmedizinstudiums an der WWU Münster auf 113 Studienplätze fest (Auffüllgrenze). Die Antragsgegnerin habe glaubhaft geltend gemacht, dass sich bereits 159 Studentinnen und Studenten i.S.d. § 25 Abs. 2 VergabeVO NRW zurückgemeldet hätten. Damit ergebe sich bereits durch reguläre Rückmelder eine Überschreitung der Sollzahl, die aus der Studien- fortführungsgarantie für Medizinstudenten und –stu- dentinnen, § 3 der Zulassungszahlenverordnung, resul- tiere. In dieser Situation sei das Eilrechtsschutzgesuch in Wahrheit auf die Erteilung einer gerichtlichen Rechts- auskunft gerichtet.30
Sodann führt das Gericht aus, dass im Übrigen aber ohnehin ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft ge- macht werden könne.
So verstoße die Rangfolge des § 26 Abs. 1 Nrn. 1–4 VergabeVO NRW bei summarischer Prüfung nicht ge- gen europarechtliche Bestimmungen. Dabei zitiert das VG Münster – ausführlich (Rn 17–25) – die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein- Westfalen vom 1. Oktober 2009.31 Darin verneint das Gericht einen Verstoß gegen das Diskriminierungsver- bot aus Gründen der Staatsangehörigkeit des Art. 12 EGV (heute Art. 18 AEUV), da nach § 2 VergabeVO NRW die Studienplätze an Deutsche sowie an ausländische Staats- angehörige oder Staatenlose, die im Sinne dieser Verord- nung Deutschen gleichgestellt sind, vergeben werden.
Anschließend befasst sich die die zitierte Entschei- dung mit der Prüfung eines Eingriffs in die Freizügigkeit nach Art. 18 EGV (heute: Art. 21 AEUV) im Zusammen- spiel mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV (Art. 18 AEUV). Ein Eingriff in den Ge- währleistungsbereich des Freizügigkeitsrechts in seiner Verklammerung mit dem Diskriminierungsverbot wird angenommen.32
Die vorgesehene Nachrangigkeit lasse sich aber nach dem Gemeinschaftsrecht rechtfertigen. Zunächst solle eine Umgehung der Zulassungsbegrenzung für Hoch- schulen verhindert werden. Es sei insofern ein legitimes Interesse des Verordnungsgebers, den Studenten, die in Deutschland über eine Zulassung zum Studium verfü- gen, die Fortsetzung des Studiums zu ermöglichen und sie nicht einem Wettbewerb mit denjenigen auszusetzen,
Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen zum Studienjahr 2014/2015 vom 19.8.2014 (GV. NRW 2014, Ausgabe Nr. 24, S. 429–474).
30 VG Münster aaO. (Fn. 1), Rn. 6.
31 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss 1.10.2009 – 13 B 1185/09
–, juris.
32 VG Münster aaO. (Fn. 1), Rn. 21.
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die – ohne das nc-Verfahren durchlaufen zu haben – Ausbildungsabschnitte im Ausland absolviert haben. Dies würde dem nationalen Zulassungsrecht zuwider- laufen.33
Diesen Ausführungen tritt nun das VG Münster bei. Es unterstützt diese Auffassung mit einem Hinweis auf die Gesetzesmaterialien, die auf die „Intensität des Zu- lassungsanspruchs der jeweiligen Bewerber“ abstellen. Ortswechsler hätten „mit dem erfolgreich durchlaufen- den Auswahlverfahren und deren Ausnutzung durch Einschreibung an einer deutschen Hochschule eine auch rechtlich beachtliche Bindung an das staatlich zur Verfü- gung gestellte Bildungssystem auf Hochschulebene er- langt, die sich von denjenigen Bewerbern, bei denen dies nicht der Fall ist (Ranggruppe Nr. 4) deutlich unterschei- det“. Der Bewerberkreis, der sich ausländische Leistungen hat anrechnen lassen, habe zu keinem Zeitpunkt eine recht- lich geschützte Akzeptanz entwickeln können.34
VI. Kritische Würdigung
Nachfolgend sollen nur die – interessanten, aber nicht entscheidungserheblichen – Passagen des Urteils, die sich mit der Europarechtskonformität der Vergabever- ordnung auseinandersetzen, näher beleuchtet werden.
Das VG Münster bejaht – richtigerweise – eine Be- einträchtigung des Schutzbereiches von Art. 21 AEUV i.V.m. Art. 18 AEUV.
Titel XII des dritten Teils des AEUV zu den internen Politiken der Union (Art. 165 und 166 AEUV) widmet sich der allgemeinen und beruflichen Bildung. Kein Ge- genargument für die Eröffnung des Schutzbereiches wäre hier, wie teilweise vor dem EuGH vorgetragen,35 dass die Verantwortung der Mitgliedstaaten für Lehrin-
- 33 VG Münster aaO. (Fn. 1), Rn. 25.
- 34 VG Münster aaO. (Fn. 1), Rn. 28.
- 35 Dieses Argument wurde beispielsweise bemüht durch die deut-sche, die niederländische, die österreichische und die schwedische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission in Urteil EuGH, Morgan, Rs. C‑11/06 und 12/06, EU:C:2007:626, Rn. 24.
- 36 Vgl. in diesem Sinne: Urteil EuGH, Morgan, Rs. C‑11/06 und 12/06, EU:C:2007:626, Rn. 24; Urteil EuGH, Schwarz und Gootjes-Schwarz, Rs. C‑76/05, EU:C:2007:492, Rn. 70.
- 37 Vgl. in diesem Sinne: Urteil EuGH, Morgan, Rs. C‑11/06 und 12/06, EU:C:2007:626, Rn. 24; Urteil EuGH, Schwarz und Gootjes-Schwarz, Rs. C‑76/05, EU:C:2007:492, Rn. 99.
- 38 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 165; Rn. 1; vgl. auch den Überblick bei Fürst, Die bildungspolitischen Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, S. 98 ff.
- 39 Urteil EuGH, Land Nordrhein-Westfalen/Uecker und Jac- quet/Land Nordrhein-Westfalen, Rs. C‑64/96 und C‑65/96, EU:C:1997:285, Rn. 23; Urteil EuGH, Steen/Deutsche Bundes- post, Rs. C‑332/90, EU:C:1992:40, Rn. 9 f.; vgl. auch Nic Shuibhne, Free Movement of Persons and the Wholly Internal Rule: Time
halte und Gestaltung des Bildungssystems von der Uni- on strikt geachtet werden muss, Art. 165 AEUV (ex Art. 149 EGV). Der EuGH hat mehrmals und früh klarge- stellt, dass diese Zuständigkeit unter Beachtung des Ge- meinschaftsrechts ausgeübt werden muss,36 und zwar insbesondere unter Beachtung der Grundfreiheiten und der Bestimmungen über das Recht, sich im Hoheitsge- biet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhal- ten.37 Insofern bildet sich hier eine Schnittmenge der bil- dungspolitischen Kompetenzverteilung zwischen supra- nationaler und mitgliedstaatlicher Ebene und somit ein Spannungsfeld.38
Ebenso wenig – so richtig vom VG Münster erkannt – ist hier problematisch, dass vorliegend Ansprüche ge- gen den Herkunftsstaat geltend gemacht werden. Der EuGH verneint zwar die Anwendbarkeit des Diskrimi- nierungsverbots und der Grundfreiheiten auf rein inner- staatliche, d.h. nicht grenzüberschreitende Sachverhal- te.39 In der Rs. D’Hoop machte der EuGH allerdings deutlich, dass es bei der Bestimmung dieses Merkmals weniger auf das Kriterium verschiedener Nationalitäten ankommt, sondern mehr und mehr um die Unterschei- dung zwischen Staatsangehörigen geht, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht, und solchen, die dieses Recht nicht genutzt haben.40 Er führte – unter Rückgriff auf die in Singh eröffnete Linie41 – aus, dass es für denjenigen, der von dem Recht auf Freizügigkeit Ge- brauch gemacht hat, „mit dem Recht auf Freizügigkeit unvereinbar (wäre), wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, ihn deshalb weniger günstig be- handeln würde, weil er von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Freizügigkeitsbestimmungen des EG-Vertrags eröffnen.“42 Dies gilt besonders im Be- reich der Bildung – es soll insbesondere die Mobilität
to Move On?, 39 Common Market Law Review 2002, 731; Tryfo- nidou, Reverse Discrimination in Purely Internal Situations: An Incongruity in a Citizens’ Europe, 35 Legal Issues of Economic Integration 2008, 43; Spaventa, Seeing the Wood Despite the Trees? On the Scope of Union Citizenship and its Constitutional Effects, 45 Common Market Law Review 2008, 13; Dautricourt/ Thomas, Reverse discrimination and free movement of persons under Community law: all for Ulysses, nothing for Penelope?, 34 European Law Review 2009, 433.
40 Haltern verweist insofern auf die veränderte Vergleichsgruppe, Haltern, Europarecht, Dogmatik im Kontext, 2. Auflage 2007,
Rn. 1297 ff.; Chalmers/Davies/Monti, European Union Law, 3. Aufl. 2014, 492.; s. auch Urteil EuGH, Knoors/Staatssecretaris van Economische Zaken, Rs. C‑115/78, EU:C:1979:31, Rn. 24.
41 Urteil EuGH, D’Hoop, Rs. C‑224/98, EU:C:2002:432, Rn. 31. 42 Urteil EuGH, D’Hoop, Rs. C‑224/98, EU:C:2002:432, Rn. 39;
Urteil EuGH, De Cuyper, Rs. C- 406/04, EU:C:2006:491, Rn. 39; Urteil EuGH, Schwarz und Gootjes-Schwarz, Rs. C‑76/05, EU:C:2007:492, Rn. 93; Urteil EuGH, Morgan, Rs. C‑11/06 und 12/06, EU:C:2007:626, Rn. 25.
Schultes · Anmerkung zum Beschluss des VG Münster vom 16.10.2014 1 6 9
von Lernenden und Lehrenden gefördert werden.43 Die deutschen Medizinstudierenden, die die Freizügigkeits- bestimmungen genutzt haben, kommen somit nicht zu einer „internen Situation“ zurück; benachteiligende Maß- nahmen dürfen hier nicht ansetzen.44
Eine solche Beschränkung kann nach Gemeinschafts- recht nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängi- gen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht, die in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationa- len Recht rechtmäßigerweise verfolgten Zweck stehen.45
Grundsätzlich kommen vier – vor dem EuGH aufge- worfene – Rechtfertigungsgründe in Betracht: das Argu- ment der übermäßigen Belastung der Finanzen,48 der Schutz der öffentlichen Gesundheit,46 die Wahrung der Einheitlichkeit des Hochschulunterrichts47 und zuletzt die Erhaltung und Verbesserung des Bildungssystems.49
Erstens: Das Argument der übermäßigen Belastung der Finanzen greift vorliegend nicht.50 Unabhängig da- von, dass dieses Argument vor dem EuGH wenig erfolg- versprechend ist,51 ist es hier nicht sachlich einschlägig. Die Zahl der Studienplätze im klinischen Bereich ist fest- gesetzt und an vorhandene Kapazitäten gebunden; im Streit steht hier nur die Reihenfolge der Zulassung. Das finanzielle Argument kann daher (zum gegenwärtigen Stand) nicht erfolgreich bemüht werden.
Als entscheidender Rechtfertigungsgrund diente in der Rs. Bressol das Argument des Schutzes der öffentli- chen Gesundheit.52 Dieses dürfte hier zweitens ebenso nicht einschlägig sein. Dass eine Ausbildung im europä- ischen Ausland den erforderlichen Anforderungen nicht genügt, kann wohl nicht erfolgreich vorgetragen wer- den53 – die Anrechnung des im Ausland absolvierten Studiums ist schließlich bei Bewerbung auch für ge- wöhnlich erfolgt (Gleichwertigkeitskriterium, § 12 ÄAp- pO). Letztens würde auch der Nachweis eines zukünfti- gen Ärztemangels schwerfallen: Die Studienbewerber
- 43 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03, EU:C:2005:427, Rn. 44.
- 44 Chalmers/Davies/Monti aaO. (Fn. 40), S. 493.
- 45 Urteil EuGH, De Cuyper, Rs. C- 406/04, EU:C:2006:491, Rn. 40.
- 46 Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181.
- 47 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03,EU:C:2005:427.
- 48 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03,EU:C:2005:427 und Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08,EU:C:2010:181.
- 49 Urteil EuGH, Lyyski, Rs. C‑40/05, EU:C:2007:10.
- 50 Dieses Argument hatte im Rechtsstreit auch keinen Erfolg.Nachdem die finanzielle Natur der Problematik auf EuGH-Ebene insbesondere anfänglich weitgehend ignoriert wurde, wurde in Bressol nur kurz darauf verwiesen, dass sich das Bildungswesen auf der Grundlage des Systems der „geschlossenen Dotierung” finanziert, bei dem die globale Mittelzuweisung nicht von der Gesamtzahl der Studierenden abhängt, Urteil EuGH, Bressol u.a.,
wollen sich gerade in der Regel in Deutschland nach erfolg- reichem Abschluss des Medizinstudiums niederlassen.
Mit der Rechtfertigung aufgrund der Wahrung der Einheitlichkeit des Hochschulunterrichts haben sich drittens in der Rs. Kommission/Österreich sowohl der EuGH als auch insbesondere Generalanwalt Jacobs schwer getan.54 Österreich wollte im konkreten Fall wohl geltend machen, dass die Offenheit des Hochschulzu- gangs – Österreich sperrte sich im Gegensatz zu Deutsch- land gerade gegen die Einführung eines numerus clausus – und die Durchlässigkeit des Bildungssystems gefährdet sei. Der EuGH hat diesem Rechtfertigungsversuch aber schnell den Wind aus den Segeln genommen. Auch setz- te er hier eine hohe Hürde in Bezug auf die Beibringung von Beweismitteln (s.u.). Auch wenn sich der EuGH in der Rs. Bressol gegenüber dieser Argumentationslinie empfänglicher zeigte und dort eine darauf gestützte Rechtfertigung grundsätzlich für möglich hielt,55 er- scheint es sinnvoller, eine mögliche Rechtfertigung für die Regelung von § 26 VergabeVO NRW mit der in der Rs. Lyyski hervorgebrachten Rechtfertigung der Erhal- tung und Verbesserung des Bildungssystems zu diskutie- ren.56 In diese Kategorie zählen wohl auch die Argumen- te, die vom VG Münster (und ursprünglich vom OVG Münster) vorgebracht wurden.
Diesen Erwägungen entgegnet die Literatur,57 dass die erbrachten Leistungen – nicht zuletzt in der erfolgen- den Anrechnung manifestiert – gleichwertig seien. Wei- terhin sei es für die im Ausland eingeschriebenen Studie- renden schwerer, ihr Studium fortzusetzen (aus kapazi- tären oder sprachbezogenen Gründen). Des Weiteren berechtige nicht die Zulassung an einer bestimmten Hochschule per se zu einem Ortswechsel. Es fehle inso- fern an einem sachlichen Grund, Ortswechsler aus Deutschland zu bevorzugen.58
Aufschluss über den Erfolg solcher Argumente kann jedoch nur durch einen detaillierten Blick auf die bishe-
Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181, Rn. 50. Ob dieses Argument, das für Belgien und Österreich in der Tat von einigem Gewicht ist, bei weiterer Überzeugungsarbeit unter Rückgriff auf empirisches Datenmaterial ein stärkeres werden kann, ist aber nicht ausge- schlossen, Hilpold, Anm. zu EuGH: Beschränkung der Neuein- schreibung „nichtansässiger” Studenten, EuZW 2010, 465, 472.
51 Vgl. u.a. Urteil EuGH, Kommission/Italien, Rs. C‑388/01, EU:C:2003:30, Rn. 13 und Urteil EuGH, Verkooijen, Rs. C‑35/98, EU:C:2000:294, Rn. 48.
52 Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181, Rn. 54 ff. 53 So auch Selbmann/Drescher aaO (Fn. 22), S. 967.
54 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03,
EU:C:2005:427, Rn. 50.
55 Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181, Rn. 53. 56 Urteil EuGH, Lyyski, Rs. C‑40/05, EU:C:2007:10, Rn. 39.
57 Zu beachten ist, dass diese ggf. eigene Interessen verfolgt, s. Selb-
mann, der Studierende in Studienplatzklagen vertritt. 58 Selbmann/Drescher aaO (Fn. 22), S. 967 f.
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rige Spruchpraxis des EuGH sowie kontextuale Erwä- gungen gewonnen werden. Der vom VG Münster zu ent- scheidende Fall betrifft eine nachgelagerte Ebene im Vergleich zu den Urteilen des EuGH in den Rs. Bressol und Kommission/Österreich: Hier war nicht eine Zulas- sungsbeschränkung gegenüber Staatsangehörigen ande- rer Mitgliedstaaten streitgegenständlich, sondern die Be- handlung von Staatsangehörigen im Herkunftsstaat, die nach Rückkehr in den Herkunftsstaat eine andere Be- handlung erfuhren. Dennoch sind die beiden Urteile hier durchaus von Interesse.
Das von Österreich angeführte Argument der „Wah- rung der Einheitlichkeit des österreichischen Bildungs- systems” – gemeint war ein starker Andrang von Studi- enwerbern aus anderen Mitgliedstaaten mit der Folge von strukturellen, personellen und finanziellen Proble- men – überzeugte den EuGH nicht (s.o.). Insbesondere Generalanwalt Jacobs äußerte sich skeptisch ob dieses Rechtfertigungsgrundes.59 Der EuGH bemängelte aus- drücklich, dass Österreich erst in der mündlichen Ver- handlung Schätzungen über den zu erwartenden Stu- dentenandrang – zudem allein für das Fach Medizin und somit keine Schätzungen in Bezug auf andere Studienfä- cher – vorgelegt hatte. Dabei musste Österreich einräu- men, insoweit über keine anderen Daten zu verfügen.60 Im Übrigen scheint es dem EuGH auch bitter aufgesto- ßen zu sein, dass die fragliche nationale Bestimmung im Wesentlichen vorbeugenden Charakter hatte.61
Der deutlichen Kritik der fehlenden Nachweise steht entgegen, dass Österreich durchaus plausible Gründe für eine Zulassungsbeschränkung hatte: Einerseits sah sich Österreich einem großen Strom deutscher Studenten ausgesetzt; andererseits wollte es an einem grundsätzlich freien Hochschulzugang festhalten und gerade keinen numerus clausus einführen. Dies hing auch damit zu- sammen, dass Österreich eine unterdurchschnittliche Akademikerquote von 15% verzeichnete (OECD-Durch- schnitt: 24 %).62 Österreich hatte in der mündlichen Ver- handlung geltend gemacht, dass im Fach Medizin die Zahl der Studienbewerber bis zu fünfmal so hoch sein könnte wie die Zahl der verfügbaren Studienplätze, was
- 59 „Erstens ist nicht klar, was mit dem Ziel gemeint ist, die Einheit- lichkeit des österreichischen Systems der Hochschulausbildung zu erhalten. Nach dem allgemeinen Tenor der österreichischen Argumentation und dem Sachverhalt des Falles scheint „Ein- heitlichkeit“ so viel zu bedeuten wie „bevorrechtigter Zugang für österreichische Staatsangehörige“, Schlussanträge GA Jacobs, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03, EU:C:2005:427, Rn. 30.
- 60 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03, EU:C:2005:427, Rn. 62 ff.
- 61 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03, EU:C:2005:427, Rn. 62 ff.
- 62 http://www.news.at/a/oesterreich-hochschulbildung-akademiker- quote-oecd-schnitt-121318 (7.6.2015).
das finanzielle Gleichgewicht des österreichischen Sys- tems der Hochschulausbildung und damit dessen Be- stand selbst bedrohen würde.63 Hilpold weist ferner dar- auf hin, dass der Prozentanteil der ausländischen Studie- renden in Österreich mit 18,7% europaweit an erster und weltweit an dritter Stelle stand und weiterhin etwa 30% aller in Österreich Studierenden Studienfächer belegten, für welche in Deutschland Zugangsbeschränkungen durch einen numerus clausus galten.64
Der EuGH beschränkte sich auf der Rechtfertigungs- ebene aber darauf, festzustellen, dass hier nicht eine al- lein Österreich betreffende Problemstellung vorliege.65
Als Rechtfertigungsgrund in der Rs. Bressol führte Belgien zunächst übermäßige Belastungen zur Finanzie- rung des Hochschulunterrichts an. Diese waren jedoch ausweislich der Ausführungen des Gesetzgebers kein entscheidender Grund für die Regelung.66
So befasste sich der EuGH im Anschluss mit der Fra- ge, ob die Regelung aus Gründen der Wahrung der Ein- heitlichkeit des Systems des Hochschulunterrichts zu rechtfertigen sei. Zwar schloss der EuGH nicht ohne Weiteres aus, dass dies die Ungleichbehandlung be- stimmter Studierender rechtfertigen könne. Er zog es je- doch vor, die hierzu vorgebrachten Rechtfertigungs- gründe unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der öf- fentlichen Gesundheit zu prüfen.67 Insofern zeigte sich der EuGH feinfühlig in Bezug auf die Situation der Mit- gliedstaaten Österreich und Belgien und vermied eine direkte Stellungnahme.
Somit stand nur eine Rechtfertigung aufgrund von Erfordernissen der öffentlichen Gesundheit im Raum.68 Nach dem EuGH kann die Aufrechterhaltung einer qua- litativ hochwertigen, ausgewogenen und allgemein zu- gänglichen medizinischen Versorgung ein legitimes Ziel darstellen. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer diesbezüglichen Maßnahme überließ der EuGH zwar dem vorlegenden nationalen Gericht; er gab allerdings klar begrenzte und detailliert ausgeführte Hinweise mit an die Hand. Er verlangt dabei spezifische Untersuchun- gen zur tatsächlichen Gefährdung der öffentlichen Ge- sundheit; diese sind dem Gericht durch die zuständigen
63 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03, EU:C:2005:427, Rn. 64.
64 Hilpold, Hochschulzugang und Unionsbürgerschaft, Das Urteil des EuGH vom 7.7.2005 in der Rechtssache C‑147/03, Kommissi- on gegen Österreich, EuZW 2005, 647, 650.
65 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03, EU:C:2005:427, Rn. 62.
66 Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181, Rn. 50. 67 Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181, Rn. 54. 68 Dieses Argument war auch deswegen entscheidend, weil der
EuGH in Hartlauer kurz zuvor diesem Rechtfertigungsgrund ei- nen hohen Stellenwert eingeräumt hatte. Urteil EuGH, Hartlauer, Rs. C‑169/07, EU:C:2009:141, Rn. 47.
Schultes · Anmerkung zum Beschluss des VG Münster vom 16.10.2014 1 7 1
Stellen vorzulegen.69 Auch stellt er das Erfordernis einer Prüfung auf, inwiefern die zuständigen Stellen die Errei- chung dieses Ziels angemessen mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Erfordernissen in Einklang ge- bracht haben, insbesondere mit dem den Studierenden aus anderen Mitgliedstaaten zustehenden Recht auf Zu- gang zum Hochschulunterricht, das zum Kernbereich des Grundsatzes der Freizügigkeit der Studierenden gehört.70
Insofern wird deutlich, dass der EuGH seiner Linie, den Gesundheitsschutz als wirksamen Rechtfertigungs- grund für Beschränkungsmaßnahmen mit weitem Er- messen für die Mitgliedstaaten zu akzeptieren treu bleibt. Dabei verlangt er jedoch eine kohärente und sub- stantiierte Darlegung der Rechtfertigung.
Tatsächlich formuliert der EuGH hier vorsichtiger und zeigt sich sensibel in Bezug auf die mitgliedstaatli- chen Problematiken, die sowohl Belgien als auch Öster- reich im Dialog vorgebracht haben. Auch ist die Sprache bei weitem nicht mehr so empathisch wie zu Beginn der Entwicklung der Unionsbürgerschaft. Letztlich wird die Entscheidung auch dem vorlegenden Gericht aufgege- ben. In der Literatur wurde dies bereits als eine Verschie- bung von der strikten Auffassung hin zu einer verständ- nisvolleren Betrachtung (von Bidar71 hin zu Förster72 oder von Kommission/Österreich73 hin zu Bressol74) gesehen.75
Dies darf jedoch nicht über die tatsächlichen Konse- quenzen hinwegtäuschen. Auch in Bressol ist die Recht- fertigungsmöglichkeit sehr eng umgrenzt – nach Hilpold grenzen die Kriterien gar an eine „probatio diabolica”.76 In der Tat hat der belgische Verfassungsgerichtshof die Quote in nur drei Fällen für gerechtfertigt gehalten, nämlich für die Bachelor-Studiengänge in „Veterinärme- dizin“, „Heilpädagogik“ und „Heilpädagogik und Reha- bilitation“.77 In allen übrigen Fällen verneinte das Ge- richt das Vorliegen von ausreichenden Nachweisen. So hielt sich das belgische Gericht an die enge Marschroute, die durch den Gerichtshof vorgegeben wurde. Chalmers/ Davies/Monti so auch ferner darauf hin, dass eine sehr
- 69 Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181, Rn. 74.
- 70 Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181, Rn. 79.
- 71 Urteil EuGH, Bidar, Rs. C‑209/03, EU:C:2005:169.
- 72 Urteil EuGH, Förster, Rs. C‑158/07, EU:C:2008:630.
- 73 Urteil EuGH, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03, EU:C:2005:427.
- 74 Urteil EuGH, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2010:181.
- 75 Craig/de Búrca, EU Law: Text, Cases, and Materials, 5. Aufl. 2011,S. 841.
- 76 Hilpold aaO. (Fn. 50), 473.
- 77 Belgischer Verfassungsgerichtshof, Urteil Nr. 89/2011 31.5.2011,Geschäftsverzeichnisnr. 4034 und 4093, B.8.1 – B.8.8.5.
- 78 Chalmers/Davies/Monti aaO. (Fn. 40), S. 921, mit Verweis auf dieKontextvergleichbarkeit im Bereich der Gesundheit.
- 79 Scott, On Kith and Kine (and Crustaceans): Trade and Envi-ronment in the EU and WTO, in: Weiler (Hrsg.), The EU, the
naheliegende Gefahr von weitgehenden Beschränkun- gen im grenzüberschreitenden Zugang zur Ausbildung besteht, sofern es Mitgliedstaaten zuerkannt werden sollte, Maßnahmen auf der Basis von unklarem potenti- ellen Risiko zu erlassen.78
Auffällig ist, dass der Gerichtshof in beiden Fällen starken Fokus auf Aufschlüsselung, Nachweise und Bele- ge seitens der Mitgliedstaaten gelegt hat. Damit entgeht er zum Teil der Kritik, zu schwere Bedeutung auf das Er- gebnis selbst und zu wenig auf den Prozess zu legen.79 Andererseits gibt dies dem EuGH mehr Spielraum in der Begründung seines Urteils – insbesondere da er so in Bressol Verständnis für die belgische Situation zeigen konnte.80
Damit eng zusammen hängt auch das Prozessverhal- ten der Mitgliedstaaten. Es wird in der Entscheidung Kommission/Österreich deutlich, dass der EuGH wenig Mühe hatte, die Argumente Österreichs abzuweisen. Dem lag offensichtlich auch Kritik am Prozessverhalten Österreichs zugrunde.81 Gleiches gilt auch für die Vertei- digung Belgiens „pre-Bressol“, die bis dahin keine den EuGH zufrieden stellende Rechtfertigung nahebringen konnte.82 Dies scheinen keine Einzelfälle zu sein.83
Hingegen hat das Argument, in dem vorliegenden Fall handele es sich nur um „Trittbrettfahrer“ in Bezug auf die Nutzung der grenzüberschreitenden Mobilität, das moralische Gewicht auf seiner Seite, das auch in dem Urteil des VG Münster durchschimmert: Das nationale Verfahren wird – unter Rückgriff auf das europäische Ausland mit deutlich höheren Studiengebühren – um- gangen, weil dessen Maßstäbe gegebenenfalls nicht er- füllt werden können. Es fragt sich insoweit, ob die „Tritt- brettfahrer“ noch mit dem eigentlichen Zweck in Ein- klang stehen. Diese Abwägung nimmt Generalanwalt Ja- cobs wie folgt vor:
„(41) Es fragt sich, ob diese zwei Situationen rechtlich un- terschiedlich behandelt werden sollten oder können.
WTO and the NAFTA: Towards a Common Law of International
Trade?.
80 Van der Mei bezeichnete das Urteil deswegen als „clever ruling“,
A.P. van der Mei, (13) European Journal of Migration and Law
2011, 123, 130.
81 Hilpold aaO. (Fn. 50), S. 650 weist auf Dobrowz, Ecolex 2005,
85, 87 hin, der befürchtete, Österreich könnte versucht sein, das Verfahren halbherzig zu betreiben, um über die „Hintertür eines Vertragsverletzungsverfahrens” die Einführung eines numerus clausus zu rechtfertigen.
82 Urteil EuGH Gravier/Ville de Liège, Rs. C‑293/83, EU:C:1985:69; Urteil EuGH Kommission/Belgien, Rs. C‑47/93, EU:C:1994:181, Rn. 9; Urteil EuGH, Kommission/Belgien, Rs. C‑65/03, EU:C:2004:402, Rn. 30.
83 Nic Shuibhne, Annotation of Schwarz, Commission v. Germany and Morgan (2008), 45 CML Rev, 771, 781–786.
172 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2015), 165–174
Das ist meines Erachtens zu verneinen. Der gegenwärti- ge Stand der Rechtsprechung gibt dafür keine Grundla- ge her. Beide Arten von Studenten genießen – wenn- gleich aus unterschiedlichen Gründen – individuelle Rechte, die ihnen im EG-Vertrag eingeräumt wurde , und ich meine nicht, dass die Motive für die Wahl der einen oder der anderen Hochschule irgendeine Auswirkung auf den Umfang dieser Rechte haben sollten, vorausge- setzt natürlich, dass es zu keinem Missbrauch kommt – ein Thema, mit dem ich mich im Zusammenhang mit der zweiten von Österreich geltend gemachten Rechtferti- gung befassen werde.“84
AusdemUrteildesVerwaltungsgerichtsergebensich keinerlei präzise Nachweise, die diesen hohen Kriterien des Gerichtshofs genügen würden. Vielmehr dürfte die- se pauschale Begründung so keinen Erfolg haben. Es er- scheint weiterhin zumindest zweifelhaft, dass sich für das beschriebene Vorbringen im Rahmen der Rechtferti- gung ausreichend Nachweise oder Belege finden lassen, sodass die nordrhein-westfälische Regelung den stren- gen Maßstäben des EuGH standhielte.
VII. Kontextuelle Erwägungen
Die grenzüberschreitende Mobilität Studierender inner- halb der EU nimmt immer größere Ausmaße an:85 Bereits 2008 studierten etwa 500.000 Studenten in ande- ren Mitgliedstaaten als ihrem Heimatstaat; dies ent- spricht einem Zuwachs von 50% gegenüber dem Jahr 2000.86 Die EU-Minister haben sich darauf geeinigt, den Anteil der Studierenden, die einen Teil ihres Studiums
- 84 Schlussanträge GA Jacobs, Kommission/Österreich, Rs. C‑147/03, EU:C:2005:427, Rn. 41.
- 85 Bode, Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studieren- der und ihre Auswirkungen in den Mitgliedstaaten, S. 21.
- 86 Commission Staff Working Document, SEC(2011)526 “Progress Towards the Common European Objectives in Education and Training (2010/2011): Indicators and Benchmarks”, S. 34 ff.
- 87 http://ec.europa.eu/education/policy/higher-education/mobility- cbc_de.htm (7.6.2015).
- 88 Hingewiesen sei exemplarisch auf die Programme Erasmus, Eras- mus+, Europäischer Hochschulraum oder den Bologna-Prozess. Vgl. dazu ebenso Kommission, KOM(2009) 329, Grünbuch — Die Mobilität junger Menschen zu Lernzwecken fördern oder Mitteilung der Kommission KOM(2010) 2020, EUROPA 2020, Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum.
- 89 Beispielhaft sind die Äußerungen vom ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Schüssel in Parker, Austrian chancellor urges EU court to heed national feelings, Financial Times (20.4.2006), oder vom ehemaligen dänischen Ministerpräsidenten Rasmussen, EUOb- server.com, unter euobserver.com/9/20666.
- 90 O’Leary, The Social Dimension of Community Citizenship, in: Rosas/Antola (Hrsg.), A Citizen’s Europe, 156, 178.
- 91 Vgl. statt vieler Haltern aaO. (Fn. 40), Rn. 1326. Haltern führt in Rn. 1370 aus: „Damit wird nachvollziehbar, was – mit dem Be-
oder ihrer Ausbildung im Ausland absolvieren, bis 2020 auf 20 % zu erhöhen.87 Die Aktivität der EU-Organe in diesem Bereich ist ebenfalls beträchtlich.88 Demgegen- über stehen – bereits angesprochene – mitgliedstaatliche Bedenken gegenüber dieser studentischen Mobilität.89
Diese grenzüberschreitende Mobilität dient nicht mehr nur den Studenten selbst. Drei kontextuelle Erwä- gungen liegen hinter der bisherigen Spruchpraxis des EuGH und können auch im gegenwärtigen Fall frucht- bar gemacht werden. Die starke Eindämmung mitglied- staatlicher Macht und Erweiterung des Einflusses der EU-Organe ist erstens im Rahmen der Entwicklung ei- ner europäischen Identität zu sehen.90 Zweitens sind kontextuelle politische Hintergründe zu beleuchten. Drittens offenbaren auch wirtschaftliche Hintergründe einen anderen, beachtenswerten, Blick auf das Bild der Rechtsprechung.
Erstens: Die Verschränkung der Thematik der Uni- onsbürgerschaft mit dem Identitätsdiskurs wurde bereits ausgiebig an anderer Stelle besprochen.91 Die Grundidee dabei ist, dass durch die Begegnung von Studierenden verschiedener Nationalitäten ein Gefühl der gemeinsa- men Zugehörigkeit zu Europa unter den Teilnehmern entsteht, und auf diesem Wege europäische Bürger ge- formt werden.92
In Bezug auf Studierende wird diese Idee durch meh- rere politik- und sozialwissenschaftliche Studien ge- stützt: Diese weisen darauf hin, dass Studenten, die einen Studienaufenthalt innerhalb Europas absolviert haben, – im Vergleich zu nicht-mobilen Studenten – eher anga- ben, sich als Europäer zu fühlen.93 Dabei kamen einige Studien zu dem Ergebnis, dass während der Auslandspe-
griff und der Praxis der Unionsbürgerschaft – auf dem Spiel steht. Wer sich als Bürger eines Gemeinwesens definiert, nimmt den transtemporalen, kollektiven Charakter dieses Gemeinwesens in seine individuelle Identität mit auf. (…) Dieser erfolgreiche Vorgang hat zur Folge, dass er Ansprüche stellen kann, die im Extremfall das Äußerste von seinen Bürgern verlangen und doch als legitim be- trachtet werden. Dies kann erfüllend und sinnstiftend sein. Es kann aber auch zu all jenen Katastrophen und Hypertrophien führen, die uns aus dem blutigen letzten Jahrhundert bekannt sind.“
92 Mitchell, Student mobility and European Identity: Erasmus Study as a civic experience?, Journal of Contemporary European Research 8(4) 2012, S. 490 ff.
93 Basierend auf Deutsch et al., Political Community and the North Atlantic Area; Lijphart, Tourist Traffic and Integration Poten-
tial, Journal of Common Market Studies, Vol. 2 No. 3 1964, S.
251 ff.; Fligstein, Euroclash. The EU, European Identity, and the Future of Europe; Mitchell aaO. (Fn. 91); Recchi/Favell, Pioneers of European Integration. Citizenship and Mobility in the EU; Roeder, Does Mobility Matter for Attitudes to Europe? A Multi- level Analysis of Immigrants‘ Attitudes to European Unification, Political Studies, Vol. 59 No. 2 2011, S. 458–471; Kommission (Auftraggeber), The Erasmus Impact Study, Effects of mobility on the skills and employability of students and the internationalisati- on of higher education institutions, S. 136.
Schultes · Anmerkung zum Beschluss des VG Münster vom 16.10.2014 1 7 3
riode das Gefühl einer europäischen Identität nochmals verstärkt wird;94 andere Studien nach verändert sich die Einstellung nicht signifikant im Zeitverlauf des Aus- landsjahres.95 Insofern scheint der Schluss dergestalt na- heliegend, dass ein Auslandsaufenthalt zumindest das Potential hat, die Einstellung zur europäischen Identität zu verändern. Dieses Potential entfaltet sich jedoch – evtl. abhängig von der vorherigen Einstellung – bei nicht allen Teilnehmenden.96
Wie Haltern ausführt, liegt die Unionsbürgerschaft als Folie über der Frage, wer wir sind und welche Identi- tät wir haben.97 Dies könnte umso mehr gelten ange- sichts der Überlegung, dass Studierende durch ihre Mo- bilität und durch ihre Zugehörigkeit zur intellektuellen Elite „Unionsbürger par excellence“ und „Hoffnungsträ- ger des Integrationsprozesses“ sind.98 Insofern lässt sich jedoch mit den obigen Ergebnissen im Gegenteil fragen, ob für die Verankerung dieser Idee nicht andere Schich- ten als der junge und gut ausgebildete Europäer geeigne- ter wären.99
Zweitens sind die politischen Hintergründe zu beach- ten. Es ist keineswegs der Fall, dass der EuGH aus- schließlich für die Integration im Bildungsbereich ver- antwortlich ist; so haben die Mitgliedstaaten selbst eine bedeutende Rolle in der Europäisierung der Bildung ge- spielt.100 Besonders erkennbar wird dies durch den Bolo- gna-Prozess, einen zwischenstaatlichen Reformprozess, der am 19.6.1999 mit der Unterzeichnung der so genann-
- 94 van Mol, From EU-identification Towards a Wider European identity. The Influence of European Student Mobility on Euro- pean Identity, Paper for the ISA Conference 2010; van Mol, The Influence of European Student Mobility on European Identity and Subsequent Migration Behavior, in: Dervin (Hrsg.): Analy- sing the Consequences of Academic Mobility and Migration S. 29 ff.; Streitwieser, Erasmus Mobility Students and Conceptions of National, Regional and Global Citizenship Identity, Northwestern University, Center for Global Engagement (Working Paper No. 11–001).
- 95 Sigalas, Cross-border mobility and European identity: The effec- tiveness of intergroup contact during the ERASMUS year abroad, European Union Politics 11(2), S. 241 ff.; Wilson, What Should We Expect of ‚Erasmus Generations‘?, Journal of Common Market Studies, Vol. 49, No. 5 2011, S. 1113–1140. Verschiedene Erklärungen werden für die Divergenzen hervorgebracht: Zum einen beruht die Studie von Wilson auf einer relativ kleinen Stich- probe (99 Erasmus-Studierende, 145 Studierende ohneAuslands- aufenthalt); die Studie von Sigalas konzentriert sich zudem nur auf England als Entsende- und Empfängerland. Der Kontext in diesem Zusammenhang kann aber durchaus von Bedeutung sein; Unterschiede innerhalb der europäischen Länder wurden in wei- teren Studien ausgemacht, vgl. van Mol, Europe on the Move. A study into intra-European student exchanges in higher education. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass die Einstellung bezüglich der europäischen Identität im Vereinigten Königreich abweichend zu anderen europäischen Ländern sein könnte, vgl. Hawkins, Nation, Separation and Threat: An Analysis of British Media Discourses on the European Union Treaty Reform Process, Journal of Common Market Studies Vol. 50 2012, S. 561–577.
ten Bologna-Erklärung durch Hochschulminister und ‑ministerinnen aus 29 europäischen Ländern begann. Diese Erklärung beginnt mit den Worten:
„Dank der außerordentlichen Fortschritte der letzten Jahre ist der europäische Prozeß für die Union und ihre Bürger zunehmend eine konkrete und relevante Wirk- lichkeit geworden. Die Aussichten auf eine Erweiterung der Gemeinschaft und die sich vertiefenden Beziehun- gen zu anderen europäischen Ländern vergrößern die Dimension dieser Realität immer mehr.“
Es folgt zweimal die Formulierung „Europa des Wis- sens“.101 Diese Formulierungen in einem außerhalb des europäischen Rahmens angelegten Abkommen scheinen nicht nur den oben beschriebenen Bedenken der Mit- gliedstaaten zu widersprechen; sie ebnen dem Gerichts- hof weiterhin den Weg für weitreichende Entscheidun- gen wie Kommission/Österreich oder Bressol.102 Ebenso wird darauf hingewiesen – und dies dürfte mindestens ebenso bedeutend sein – dass die Kommission im Zuge des Bologna-Prozesses deutlich an Einflussnahme und Spielraum gewonnen hat. Sie konnte die Entwicklung ei- nes „Europas des Wissens“ nur als ein Zuwerfen des Spielballes deuten und sah sich fortan als Spielmacher des weiteren Prozesses. Auch dieser ebnete den Weg für die behandelten Urteile des EuGH.103
Wichtiger erscheint allerdings das Argument, dass sich Erasmus- Studierende gegenüber nicht-mobilen Studierenden bereits vor dem Auslandsaufenthalt durch eine höhere Affinität zu Europa, durch eine ansatzweise bereits vorhandene Art europäischer Identität auszeichnen. Sigalas, van Mol und Wilson kommen zu diesen Ergebnissen. Diese Hypothese lässt sich derzeit jedoch noch nicht endgültig überprüfen; diesbezüglich besteht noch wissenschaftlicher Aufholbedarf.
96 So auch Kuhn, Why Educational Exchange Programmes Miss Their Mark: Cross-Border Mobility, Education and European Identity, Journal of Common Market Studies (50) 2012, S. 994.
97 Haltern aaO. (Fn. 40), Rn. 1374.
98 So Hilpold aaO. (Fn. 50), 471.
99 Diese Theorie entwickelt Kuhn aaO. (Fn. 95), S. 994 ff. mit
Hinweis darauf, dass Europäer aus niederen Bildungsschichten in der Regel nicht in Berührung mit der Förderung der grenzüber- schreitenden Mobilität kommen.
100 Garben, The Bologna process and the Lisbon strategy: commer- cialisation of higher education through the back door? Croatian Yearbook of European Law and Policy (6) 2010, 209, 217.
101 Der Europäische Hochschulraum Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister, 19.6.1999.
102 Es dürfte kein Zufall sein, dass GA in Sharpston den Bologna-Pro- zess auch in ihren weitreichenden und einschneidenden Schlus- santrägen im Bressol-Fall nutzt: Schlussanträge GAin Sharpston, Bressol u.a., Rs. C‑73/08, EU:C:2009:396, Rn. 1.
103 Garben aaO. (Fn. 103), 219; Ravinet, From Voluntary Partici- pation to Monitored Coordination: Why European Countries Feel Increasingly Bound by their Commitment to the Bologna Process, 43 (3) European Journal of Education 2008, 353, 357.
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Drittens sind jedoch immer mehr Formulierungen wie die einer „wissensbasierten“ Wirtschaft und einem wettbewerbsfähigen Bildungssystem in den Fokus ge- rückt. Diese Forderung wurde sodann nicht nur be- zeichnenderweise zum Schlüsselwort der Lissabon-Stra- tegie,104 sondern fand sich auch in Begründungssträngen der handelnden Organe.105 Die immer wiederkehrende Rhetorik zeigt die der Idee zugrunde liegende Kraft. Fe- jes führt in diesem Sinne aus:
„[the] planetspeak rhetoric such as the ideas of the know- ledge society, employability, lifelong learning, quality as- surance and mobility […] constitute a way of thinking that makes participation in the Bologna process and the im- plementation of its objectives a rational way to act.”106
VIII. Fazit
Diese drei im Hintergrund laufenden kontextuellen Erwägungen sind ebenso zu beachten, wenn der Stand-
punkt des Gerichtshofes ausgeleuchtet werden soll. Inso- fern erscheint es – auch unter Berücksichtigung der beschriebenen Entscheidungen Bressol und Kommission/ Österreich – nur schwer nachvollziehbar, dass dem EuGH die kurze und auf eine „Intensität des Zulassungs- anspruches“ gestützte Argumentation genügen würde. Auch erscheint fraglich, ob der strengen Nachweispflicht Genüge getan werden könnte; pauschale Begründungen reichen dem EuGH jedenfalls ausdrücklich nicht. Es dürfen Zweifel bestehen, ob die nordrhein-westfälische Regelung in dieser Form vor dem EuGH Bestand hätte.
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Insti- tuts für Öffentliches Recht, Abt. 1: Europa- und Völker- recht der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
104 http://www.consilium.europa.eu/de/uedocs/cms_data/docs/ pressdata/en/ec/00100-r1.en0.htm (07.06.2015).
105 Garben aaO. (Fn. 103), S. 227 ff.
106 Fejes, The Bologna process: governing higher education in
Europe through standardization, in: Halvorsen/Nyhagen (Hrsg.): The Bologna process and the shapening of the future knowledge societies, S. 219.