Nämlich jene harmlosen Menschen des goldenen Zeital- ters kamen ohne das Rüstzeug der Wissenschaft aus; die Natur allein trieb und leitete sie. Wozu hätten sie auch Grammatik gebraucht, da alle dieselbe Sprache redeten und man mit Sprechen nichts anderes wollte, als sich verständlich machen? Was nützte dort Dialektik, wo es noch keinen Kampf sich befehdender Lehren gab? Was hatte Rhetorik dort zu suchen, wo keiner dem andern am Zeug flickte? Wozu brauchte man im Gesetzbuch beschlagen zu sein, da man nichts wußte von der Schlechtigkeit, die ja die Mutter der guten Gesetze ist? Und ihre fromme Scheu war viel zu groß, als daß sie frech neugierig die Geheimnisse der Natur durchstö- bern, Größe, Lauf und Wirkung der Gestirne berechnen und nach dem verborgenen Urgrund aller Dinge hätten bohren mögen. Als Sünde galt es bei ihnen, wenn ein Sterblicher versuchte, weiser zu werden, als ihm beschie- den; und gar der Unsinn, zu forschen und zu fragen, was jenseits des Himmels liege, kam ihnen nie in den Sinn. Aber als allmählich die lautere Einfalt des goldenen Zeit- alters dahinschwand, wurden zuerst, wie gesagt, von den bösen Dämonen die gelehrten Sachen ersonnen, doch nur wenige, und die fanden nur wenige Liebhaber. Allein dann brachten die abergläubischen Chaldäer und die
nichtsnutzigen, faulenzenden Griechen noch tausend andere auf, wahre Folterwerkzeuge für den Geist – genügt doch schon die Grammatik, den Menschen sein Leben lang bis aufs Blut zu quälen.
Jedoch auch von den Wissenschaften gelten am meisten die, welche am nächsten mit dem Menschenverstand, will sagen, der Torheit, verwandt sind; hungern muß der Gottesgelehrte, frieren der Naturforscher, verlacht wird der Sterndeuter und der Logiker verachtet; einzig der Arzt »hält vielen andern die Waage«, um mit Homer zu reden. Aber selbst hier steht es so: je unwissender, fre- cher, bedenkenloser er ist, desto mehr zieht er, nicht zuletzt an den Fürstenhöfen; die Heilkunst ist eben, zumal wie sie jetzt im Schwange, nichts als ein Schar- wenzeln, genau so wie die Schönrederei. Der zweite Rang, wenn nicht der erste, gebührt den Rechtsformeln- krämern. Ihr Gewerbe verhöhnen die Philosophen, um meinerseits nichts zu sagen, einhellig als einen Beruf für Esel; und doch entscheidet die Laune dieser Esel in kleinsten und größten Dingen. Ihnen wachsen die Land- güter aus dem Boden, während der Theologe, der den ganzen Himmelsschrein durchforscht hat, am Hunger- tuch nagt und sich mit Wanzen und Läusen herum- schlägt.
1 Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit («ECONIUM MO- RIAE») in der Übersetzung von Emil Major, 1966, S 18.
Ausgegraben:
Erasmus von Rotterdam Lob der Torheit1
Ordnung der Wissenschaft 2014, ISSN 2197–9197
178 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2014), 177–178