Übersicht
I. Vorüberlegung: Zur systematischen Anschlussfähigkeit der Biosicherheit
1. Biosicherheit und Sicherheitsverfassung 2. Biosicherheit und Risikodogmatik
II. Der Schutzbereich der Forschungsfreiheit
III. Zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Forschungsfreiheit 1. Bestimmtheitsanforderungen an die Eingriffsgrundlagen
2. Geeignetheit und Erforderlichkeit
3. Angemessenheit und Eingriffsschwellen
a. Forschungsverbote b. Publikationsverbote
IV. Zu den grundrechtlichen Schutzpflichten
Die Forschung am Vogelgrippevirus hat eine öffentliche Debatte um die sog. „Biosicherheit“ heraufbeschworen.1 Diese nahm ihren Ausgang bei der Frage, ob die Publika- tion von Forschungsergebnissen zu unterbleiben habe, um einen Missbrauch durch Terroristen auszuschlie- ßen.2 Alsbald gerieten auch die Risiken der Forschung selbst in den Blick: Neben der ungewollten Freisetzung ggf. genetisch veränderter Viren, wurde auch hier ein terroristischer Zugriff besorgt: Das zu Forschungszwe- cken vorgehaltene Biomaterial – so die Befürchtung – könnte gezielt zur Verursachung von Pandemien und damit zur Erschütterung der politischen Ordnung ver- breitet werden.3
Nun mag man über das Gefahrenpotenzial des natio- nalen und internationalen Terrorismus verschiedener Auffassung sein. Jedenfalls werden entsprechende Sze- narien und Gegenmaßnahmen neuerdings unter den Schlagworten der „Biosicherheit“, bzw. „Biosecurity“4 verhandelt, was nach dem verfassungsrechtlichen Rah-
- 1 Vgl hierzu die öffentliche Anhörung des Deutschen Ethikrates am 24.04. 2012. Abrufbar unter http://www.ethikrat.org/veranstaltun- gen/anhoerungen/biosicherheit [22.08.2013].
- 2 Vgl Dickmann/Drosten/Becker, Wir müssen die Risiken aushalten, FAZ 18.02.2012.
- 3 Vgl zu entsprechenden Szenarien etwa Blawat, Wo die Freiheit der Forschung aufhört, süddeutsche.de vom 3.12.2011, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/wissen/streit-um-hn-studien-wo-die- freiheit-der-forschung-aufhoert‑1.1225586 [22.08.2013].
- 4 Die „Biosecurity“ wird regelmäßig der „Biosafety“ gegenüber gestellt, wobei nach der Ursache der befürchteten Freisetzung von Bioorganismen unterschieden wird: „Biosecurity“ meint den Schutz vor ingerenten Zugriffen Dritter, indes zielt „Biosafety“
men für die normative Ausgestaltung dieses Sachbe- reichs fragen lässt.5 Dabei bedarf keiner besonderen Hervorhebung, dass diese Begriffe nicht solche des Ver- fassungsrechts sind, sondern allenfalls ungefähre Be- schreibungen tatsächlicher Problemstellungen abgeben, die es erst mit verfassungsrechtlichen Kategorien zu er- fassen gilt. Und doch liegt ein strategischer Zugewinn der genannten Begriffsbildungen in der Bündelung gleichgelagerter Konfliktlagen und Lösungsmöglichkei- ten, was – so steht zu hoffen – die Herausbildung kohä- renter verfassungsrechtlicher Maßstäbe erleichtern wird. Darüber hinaus mag die verfassungsrechtliche Begriffs- bildung den Anschluss an die Nachbarwissenschaften begünstigen, in denen sich der Begriff der „Biosicher- heit“ schon etabliert zu haben scheint.6
Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe der „Biosicher- heit“ sind noch nicht geschrieben. Daher bietet es sich in diesem ersten Zugriff an, nach einer Referenzdogmatik zu suchen, um im Wege eines Wertungs- bzw. Dogma- tiktransfers eine gewisse Orientierung zu erhalten und die Anschlussfähigkeit des so zu entwickelnden Teilver- fassungsrechts sicherzustellen (dazu I.). Dabei wird für die Referenzdogmatik die Perspektive des Bundesverfas- sungsgerichts zu Grunde zu legen, insoweit also eine „verfassungsgerichtspositivistische“ Perspektive einzu- nehmen sein.7 Hingegen ist der Transfer dieser Maßstä- be auf die Biosicherheit konstruktiv.
Sodann ist nach dem Schutzbereich der Forschungs- freiheit zu fragen, der in Folge seiner schrankenlosen Gewährleistung in besonderer Weise den Versuchungen einer restriktiven Interpretation ausgesetzt war (dazu II.). Auch insoweit soll im Ergebnis der Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts zu Grunde gelegt, indes auch alternierende Vorschläge der Literatur diskutiert wer- den. Ein dritter Abschnitt wendet sich den verfassungs-
auf die Verhinderung ungewollter Ausbreitungen ab. Vgl hierzu Teetzmann, Rechtsfragen der Sicherheit in der biologischen For- schung, im Erscheinen, S 15 f mwN; Schmidt, in: Pühler u. A. (Hg), Synthetische Biologie, 2011, S 111.
5 Die „Biosecurity“ hat im Unterschied zur „Biosafety“ bislang nur punktuell spezialgesetzliche Normierung erfahren. Vgl hierzu die Nachweise bei Teetzmann, aaO, S 18 ff.
6 Zur Funktion derartiger „Brückenbegriffe“ am Beispiel der „Ver- antwortung“ Trute, in: Schuppert (Hg), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, 2009, S 13.
7 Kritisch zum „Verfassungsgerichtspositivismus“ Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungs- gerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989) 161, 163.
Thomas Würtenberger und Steffen Tanneberger
Biosicherheit und Forschungsfreiheit.
Zu den Schranken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
Ordnung der Wissenschaft 2014, ISSN 2197–9197
2 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2014), 1–10
immanenten Schranken der Forschungsfreiheit zu. Da- bei wird insbesondere nach den Eingriffsschwellen, den Gefährdungs- und Risikosituationen zu fragen sein, die Eingriffe in die Forschungsfreiheit zu rechtfertigen ver- mögen.
Die Bestimmung der verfassungsimmanenten Schran- ken der Forschungsfreiheit leitet bereits zu der Reichweite der staatlichen Schutzpflichten über (vgl. IV.): Muss der Staat auch alle Begrenzungsmöglichkeiten der For- schungsfreiheit ausschöpfen, die ihm verfassungsrecht- lich zu Gebote stehen? Wann verdichten sich die staatli- chen Schutzpflichten zu einem – möglicherweise ein- klagbaren – subjektiven Recht des Bürgers?
I. Vorüberlegung: Zur systematischen Anschlussfähigkeit der Biosicherheit
Entsprechend des eingangs Gesagten ist in einem ersten Zugriff die systematisch-inhaltliche Anschlussfähigkeit der Biosicherheit an verfassungsgerichtliche Ausdiffe- renzierungen des Grundrechtsschutzes zu klären:
1. Biosicherheit und Sicherheitsverfassung
Mit den eingangs beschriebenen Risikolagen und den zu ihrer Abwehr angedachten Maßnahmen gerät auch die Forschungsfreiheit in das Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit, das binnen der letzten Dekade vom Bun- desverfassungsgericht in einer beeindruckenden Recht- sprechung ausgemessen wurde. Dabei hatte der Erste Senat eine ganze Sicherheitsverfassung geschaffen, an der sich neue Eingriffsbefugnisse – etwa die Telekommuni- kationsüberwachung,8 die Wohnraumüberwachung,9 die Rasterfahndung,10 die automatisierte Kennzeichenerfas- sung11 oder die Vorratsdatenspeicherung12 – messen las- sen mussten. Da die Biosicherheit – gleich den eben genannten Instrumenten – auf den Schutz vor terroristi- schen Anschlägen abzielt, liegt auf den ersten Blick eine Übertragung dieser Maßstäbe der Sicherheitsverfassung nahe.
Allerdings ist zu sehen, dass diese Sicherheitsverfas- sung ausgehend von Eingriffen in das informationelle Selbstbestimmungsrecht nebst seinen speziellen Ausprä- gungen in Art. 10 Abs. 1 GG, bzw. Art. 13 Abs. 1 GG ent-
- 8 BVerfGE 100, 313; 113, 348.
- 9 BVerfGE 109, 279.
- 10 BVerfGE 115, 320.
- 11 BVerfGE 120, 378.
- 12 BVerfGE 125, 260.
- 13 Vgl hierzu Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung. Eine systema-tische Darstellung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- richts, § 9, im Erscheinen.
faltet wurde.13 Unmittelbare Aussagen über die Be- schränkbarkeit der Forschungsfreiheit lassen sich dort nicht finden. Zu fragen bleibt aber, ob sich dogmatische Argumentationsfiguren bzw. grundlegende Wertent- scheidungen auf den vorliegenden Kontext übertragen lassen. Hiergegen spricht, dass das Bundesverfassungs- gericht mit seiner dezidiert liberalen Sicherheitsverfas- sung besonderen grundrechtlichen Gefährdungslagen begegnen wollte, die in Ansehung der Forschungsfrei- heit nicht bestehen. So befürchtete der Erste Senat ange- sichts anlassloser,14 weit gestreuter,15 vor allem aber heimlicher16 (Überwachungs-) Maßnahmen Einschüch- terungswirkungen17 bei den Bürgern und in der Folge eine Erosion der psychologischen Grundrechtsvoraus- setzungen eines unbefangenen Freiheitsgebrauchs.18 Da- raus wiederum leitete der Senat eine besondere Schwere der Eingriffe ab und gelangte in der Folge zu akzentuier- ten Rechtfertigungsvoraussetzungen.19
Dieser Begründungsstrang lässt sich auf die vorlie- gend in Rede stehenden Eingriffe in die Forschungs- freiheit nicht übertragen, weil diese keine Einschüch- terungswirkungen und damit keine Verkürzungen der subjektiven Grundrechtsvoraussetzungen besorgen las- sen. Es handelt sich um Sachrecht, nicht um Ermitt- lungsbefugnisse. Dementsprechend sind diese Eingriffe im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- richts weder anlasslos, noch weit gestreut, noch heim- lich. Schließlich sind auch die betroffenen Wissenschaft- ler und die potentiellen Täter nicht personenidentisch. Zwar mag dies für die eingangs genannten sicherheits- rechtlichen Instrumente in Konstellationen der Drittbe- troffenheit20 ebenso gelten, allerdings sind insoweit die Grenzen fließend: Der zunächst Unverdächtige mag Ver- dächtiger werden und so in das Fadenkreuz der Gefah- renabwehr- oder Strafverfolgungsbehörden geraten.
Entsprechende Szenarien sind mit Blick auf die be- troffenen Wissenschaftler nicht ernsthaft zu besorgen, zumal hier funktionale Grenzen insoweit bestehen, als die entsprechenden Eingriffe durch die Wissenschafts- ministerien bzw. Hochschulverwaltungen, ggf. auch durch Ethikkommissionen, nicht aber durch Sicher- heitsbehörden vorgenommen werden. Schließlich eignet der Wissenschaftsfreiheit keine den genannten Infor-
14 Vgl BVerfGE 113, 29 (46); 120, 378 (402).
15 BVerfGE 107, 299, 328; 120, 274, 323; 120, 378, 402.
16 BVerfGE 107, 299, 328; 109, 279, 354 f; 120, 378, 403.
17 BVerfGE 107, 299, 320, 328; 109, 279, 354 f; 113, 348, 383; 115, 320,
354 f; 120, 274, 323; 120, 378, 402; 122, 342, 369, 371; 125, 260, 320. 18 Hierzu Tanneberger, aaO, § 10 II 4.
19 Vgl Tanneberger, aaO, § 10 II 2, § 11 III 3, 4.
20 Hierzu Tanneberger, aaO, § 11 III 4 e bb ggg.
Würtenberger/Tanneberger · Biosicherheit und Forschungsfreiheit 3
mationsgrundrechten vergleichbare Persönlichkeitsre- levanz, was dem psychologisierenden Ansatz des Bun- desverfassungsgerichts vieles seiner Plausibilität nimmt.
Nach alldem kommt ein unmittelbarer Transfer der verfassungsgerichtlichen Sicherheitsverfassung auf die „Biosecurity“ in ihrem Kern nicht in Betracht. Dies schließt nicht aus, gewisse Anleihen, etwa im Bereich der Eingriffsschwellen, oder aber in Ansehung der Be- stimmtheitsanforderungen zu nehmen. So kann auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück- gegriffen werden, wenn es um sicherheitsrechtliche Ge- fahrenprognosen bei der Einschränkung von Grund- rechten, um sicherheitsrechtliche Konkretisierungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips oder um den staatlichen Auftrag, Leben und Gesundheit vor terroristischen oder kriminellen Gefährdungen zu schützen, geht. Gerade in diesen Bereichen hat das Bundesverfassungsgericht weitreichende Abwägungsdirektiven und Argumentati- onsmuster entwickelt, die auch im Bereich der Biosi- cherheit die Argumentation anleiten mögen.
2. Biosicherheit und Risikodogmatik
Forschungsverbote, die darauf abzielen, nachteilige Fol- gen der Forschungstätigkeit oder erst der Forschungser- gebnisse auszuschließen, setzen weit im Vorfeld konkre- ter Gefahren für die zu schützenden Rechtsgüter an. Es handelt sich damit um Ausprägungen der Risikovorsor- ge, die die Rechtswissenschaft seit nunmehr gut drei Jahrzehnten beschäftigt.21 Diese mit großem theoreti- schem Aufwand geführte Debatte kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden.22 Vielmehr soll sich dieser Beitrag entsprechend seiner Zielsetzung auf die einschlä- gigen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts fokussie- ren. Dieses hat sich in zwei komplementären Rechtspre- chungssträngen der Risikodogmatik sowohl aus grund- rechtlicherAbwehr als auch aus Schutzpflichtenperspektive
- 21 Grundlegend Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994.
- 22 Zusammenfassend Jaeckel, Gefahrenabwehrrecht und Risikodog- matik, 2010.
- 23 Hierzu Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz, NVwZ 2013, 1, 5ff.
- 24 Hierzu Schmidt, Die Freiheit der Wissenschaft, 1929, S 23 ff, und insbes 43 ff. Allgemein zur historischen Entwicklung auch Mager, Freiheit von Forschung und Lehre, in: Isensee/Kirchhof (Hg), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl, Band VII, 2009, § 166, Rn 4 ff.
- 25 Vgl etwa Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, 1794, S 84: „Von dem Fortgange der Wissenschaft hängt unmittelbar der Fortgang des Menschengeschlechtes ab. Wer jenen aufhält, hält diesen auf “. Vgl weiter Ruffert, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65, 2006, S 146, 169 ff.
- 26 Vgl zur Bedrängung der Wissenschaftsfreiheit in Restauration
genähert, ohne dabei den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers über Gebühr zu beschneiden.23 So ist der Gesetzgeber im Grundsatz nicht gehindert, bereits auf bestehende Risiken für Rechtsgüter hin tätig zu werden, wie er aber nur in äußerst engen Grenzen zur Abwehr von Risiken verpflichtet werden kann. Darauf wird zurückzukommen sein. An dieser Stelle soll die Feststel- lung genügen, dass die verfassungsgerichtliche Referenz- masse der Biosicherheit in erster Linie im Bereich der grundrechtlichen Risikodogmatik, in zweiter Linie in der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Sicher- heitsverfassung zu suchen ist.
II. Der Schutzbereich der Forschungsfreiheit
Die Forschungsfreiheit steht in der Tradition des Wis- senschaftsoptimismus des 18. und 19. Jahrhunderts.24 Von den Erkenntnissen wissenschaftlichen Fortschritts erhoffte man eine Verbesserung der sozialen und ökono- mischen Verhältnisse und damit einen Aufbruch in eine bessere Zukunft.25 Und in der Tat beflügelte eben diese – immer wieder politischen Repressionen ausgesetzte26 – Staatsferne und Selbstverantwortung wissenschaftlicher Forschung ihre Erkenntnisleistungen und verschaffte damit dem zivilisatorischen Fortschritt unerlässliche Impulse.27
Nach der Negation der Wissenschaftsfreiheit im Na- tionalsozialismus28 hat diese in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG eine akzentuierte, da schrankenlose29 Garantie erfahren:30 „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Das Bundesverfassungsgericht begreift die Wissen- schaft als Oberbegriff von Forschung und Lehre.31 Der sachliche Schutzbereich der Forschungsfreiheit als der ernsthafte und planmäßige Versuch der Wahrheitser- mittlung umfasst „insbesondere die Fragestellung und die Grundsätze der Methodik sowie die Bewertung des
und Vormärz Oppermann, Freiheit von Wissenschaft und Lehre, in: Isensee/Kirchhof (Hg), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl, Band VI, 2001, § 145 Rn 3.
27 Vgl auch BVerfGE 128, 1, 87. Zur Bedeutung der Forschung für die heutige Volkswirtschaft Löwer, Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre, in: Merten/Papier (Hg), Handbuch der Grundrechte, Band IV, 2011, § 99 Rn 1.
28 Vgl etwa Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 1939, S 482.
29 Der Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs 3 S 2 GG bezieht sich ausweislich seines Wortlauts alleine auf die Lehre, nicht auch die Forschung. Hierzu Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl 2008, § 26, Rn 102.
30 Dabei mag überraschen, dass die Exzesse der Forschung in der Zeit des Nationalsozialismus augenscheinlich keine Veranlassung gaben, der Forschungsfreiheit im Grundgesetz ausdrückliche Grenzen zu setzen.
31 BVerfGE 35, 79, 112. Ähnlich nunmehr BVerfGE 128, 1, 40 mwN.
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Forschungsergebnisses und seiner Verbreitung“.32 Dabei ist die Publizität der Erkenntnisse nicht ein irgendwie gearteter Annex der Forschungsfreiheit, sondern dieser geradezu inhärent: Wissenschaftliche Forschung basiert auf Prozessen interindividualer Sinnvermittlung,33 ja sie ist gerade als ein spezifisches Kommunikationssystem zu verstehen, das auf einen kritischen und dialogischen Er- kenntniszugewinn abzielt.34
In personaler Hinsicht umfasst der Schutzbereich der Forschungsfreiheit nicht nur die staatlichen und priva- ten Universitäten, sondern auch privatwirtschaftliche Unternehmen, darüber hinaus jeden privaten Forscher.35
Nach dem Gesagten gewährleistet Art. 5 Abs. 3 GG die Forschungsfreiheit vorbehaltlos.36 Damit ist die Fra- ge aufgeworfen, ob sie mit Blick auf ihre sozialen, ökolo- gischen oder sicherheitsrelevanten Folgen gleichwohl begrenzt werden kann. Im Grundsatz stehen hierfür zwei dogmatisch gangbare, durchaus kommensurable Wege offen:37 Nach überkommener Methode mag man die durch die Forschung nachteilig betroffenen Interes- sen mit einem Verfassungsgut identifizieren und dieses in Abwägung mit der Forschungsfreiheit zur Konkor- danz bringen.38 Oder aber man umgeht die solcherart aufgeworfenen Rechtfertigungs- und Begründungslas- ten durch eine restriktive Schutzbereichsdefinition, die eine Kollision mit Drittinteressen bzw. anderen Verfas- sungsgarantien gar nicht erst aufkommen lässt.39
Eine solche restriktive bzw. funktionale Bestimmung der Schutzbereiche wurde in der Literatur wiederholt verfochten40 und auch in der Rechtsprechung des Bun-
- 32 BVerfGE 35, 79,112. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staats- recht, 32. Aufl 2008, § 26, Rn 85; Löwer, Freiheit wissenschaftli- cher Forschung und Lehre, in: Merten/Papier (Hg), Handbuch der Grundrechte, Band IV, 2011, § 99 Rn 11.
- 33 Scholz, in: Maunz/Dürig, 67. EGL, 2013, Art 5 Abs 3, Rn 180.
- 34 Vgl dazu das Sondervotum Simon/Rupp‑v. Brünneck, BVerfGE 35,79, 156.
- 35 BVerfGE 35, 79, 111 f; 88, 129, 136; 126, 1, 19. Hierzu Löwer, Freiheitwissenschaftlicher Forschung und Lehre, in: Merten/Papier (Hg),Handbuch der Grundrechte, Band IV, 2011, § 99 Rn 18 ff.
- 36 Zu — systematisch fehlgehenden — Ansätzen, die Schranken der Art 5 Abs 2 GG bzw des Art 2 Abs 1 GG auf Art 5 Abs 3 GG zuübertragen, R. Dreier, Forschungsbegrenzung als verfassungs-rechtliches Problem, DVBl 1980, 471, 472 f.
- 37 Vgl Merten, Immanente Schranken und verfassungsunmittelbareGrenzen, in: Merten/Papier (Hg), Handbuch der Grundrechte,Band III, 2009, § 60 Rn 12.
- 38 Hierzu Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl2008, § 7 Rn 37 ff. Vgl für die Wissenschaftsfreiheit BVerfGE 128,1, 41.
- 39 Hierzu Zippelius/Würtenberger, aaO, § 19 Rn 6 f, 11 ff.
- 40 Vgl etwa Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, Verfassungsim-manente Schranken, Der Staat 42 (2003), 165 (174 ff); Hoffmann- Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), 203.
desverfassungsgerichts waren – wenngleich nicht in An- sehung der Forschungsfreiheit – zwischenzeitlich ent- sprechende Tendenzen auszumachen.41 Die Chance die- ses (Neu-)Ansatzes liegt in einer Reeffektuierung der grundgesetzlichen Schrankensystematik, die im Zuge des vorherrschenden Abwägungsparadigmas weitge- hend nivelliert wurde.42 In funktioneller Hinsicht führte eine restriktive Schutzbereichsdefinition zu Gestaltungs- spielräumen des Gesetzgebers, das Bundesverfassungs- gericht wäre wohl weitaus seltener – dann aber unter ak- zentuierter Beachtung der grundgesetzlichen Schran- kensystematik – zur Entscheidung berufen. Freilich ste- hen diesen Chancen auch erhebliche Risiken für die Grundrechtsdogmatik gegenüber, wie gerade ein Blick auf die – im Ergebnis fehlgehende – Umsetzung dieses Ansatzes in der Osho- bzw. der Glykolentscheidung des Bundesverfassungsgerichts belegt.43 Jedenfalls wird der für sich genommen plausible Gedanke einer engen Schutzbereichsdefinition überstrapaziert, wenn genuine Abwägungsfragen auf Schutzbereichsebene verhandelt werden.
Teils in Umsetzung, teils in Vorwegnahme der eben vorgestellten Neuakzentuierung der Grundrechtsdog- matik wurde und wird der Schutzbereich der For- schungsfreiheit von zahlreichen Stimmen in der Litera- tur44 ganz erheblich beschränkt.45
So etwa soll Art. 5 Abs. 3 GG immanent durch den Vorbehalt verantwortlichen Freiheitsgebrauchs begrenzt sein.46 Eine solche „ethische Limitation“47 des Schutzbe- reichs des Art. 5 Abs. 3 GG ist freilich abzulehnen, weil
41 Vgl BVerfGE 104, 92, 104 f — Sitzblockaden III; 105, 252, 273 — Gly- kol 105, 279 — Osho. Hierzu Murswiek, Grundrechtsdogmatik am Wendepunkt?, Der Staat 45 (2006), 473 (479 ff).
42 Murswiek, aaO, 477, 500.
43 Hierzu Murswiek, aaO, 491 ff.
44 Grundlegend Wahl, Forschungs- und Anwendungskontrolle tech-
nischen Fortschritts als Staatsaufgabe? – dargestellt am Beispiel der Gentechnik, UTR 14 (1991), 7, 33 ff; R. Dreier, Forschungsbe- grenzung als verfassungsrechtliches Problem, DVBl 1980, 471, 473. Vgl auch die umfangreichen Nachweise bei Ruffert, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006) 142, 174, Fn 129.
45 Ausführlich hierzu Löwer, Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre, in: Merten/Papier (Hg), Handbuch der Grundrechte, Band IV, 2011, § 99 Rn 15.
46 Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, 400ff. Ablehnend Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, 159; Wagner, Forschungsfreiheit und Regulierungsdichte, NVwZ 1998, 1235, 1237.
47 Vgl Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S 509.
Würtenberger/Tanneberger · Biosicherheit und Forschungsfreiheit 5
sie zu einer grundrechtsdogmatisch überaus problemati- schen Diffusion von Recht und Ethik führt.48 Dies gilt umso mehr, als durch neue Forschungszweige schwieri- ge ethische Fragen aufgeworfen werden, für die sich eine allgemeine – oder doch mindestens überwiegend – aner- kannte ethische Bewertung (noch) nicht herausgebildet hat.49 Vielmehr sind die Schranken der Forschungsfrei- heit durch prozedural legitimiertes Recht zu konturie- ren, wie es sich als das Ergebnis eines offenen normati- ven Diskurses darstellt.50
Ein weiterer Ansatz will den Schutzbereich der For- schungsfreiheit auf die Fragestellung,51 bzw. die geistige Leistung des Wissenschaftlers reduzieren.52 Damit ginge freilich eine erhebliche Beschränkung der Wissen- schaftsfreiheit gerade im Bereich der Naturwissenschaft einher,53 die ohne Experimente gar nicht gedacht wer- den kann. Überdies ist das Verständnis der modernen (Natur-)Wissenschaft auf das engste mit dem auf Galileo Galilei zurückgehenden planmäßigen Experimentieren verknüpft54 und es bedürfte mehr als Opportunitätser- wägungen55 oder eines pauschalen Bestreitens ihrer ge- sellschaftsnützlichen Bedeutung,56 um die Forschung i. S. d. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG aus diesem überkommenen Be- griffsverständnis hinauszuweisen. Dies gilt umso mehr, als sich gerade für die Naturwissenschaften unter dem Eindruck einer zeitgeistigen Wissenschaftsskepsis eine besondere Gefährdungslage und damit eine besondere
- 48 Dieser Kritik steht nicht entgegen, dass die Grundrechte des GG auch als eine Wertordnung und damit als ein ethisches Programm verstanden werden können, mithin vielfältige Wechselwirkun- gen und Abhängigkeiten zwischen Recht und Ethik bestehen. Entscheidend ist, dass ethische Richtigkeitsvorstellungen nur dann und nur insoweit Eingang in juristische Argumentations- zusammenhänge finden können, als sie von der Rechtsordnung anerkannt, d. h. positiviert wurden. Zusammenfassend hierzu Vöneky, Recht, Moral und Ethik, 2010, S 104 ff.
- 49 Zudem ist zweifelhaft, ob sich in einem pluralen Gemeinweisen überhaupt allgemeine ethische Grundüberzeugungen hinsichtlich der Zulässigkeit bestimmter Forschungsvorhaben herausbilden können. Allgemein zu diesem Problem Vöneky, aaO, S 65 ff.
- 50 Dabei besteht das Problem, dass der – auch hier – verfochtenen „Abwägungslösung“ die Tendenz eignet, den Gestaltungsspiel- raum des Gesetzgebers stark zu verengen. Allerdings ist das nicht notwendige Folge der hier geforderten gesetzlichen Bestimmung der Grundrechtsschranken, wie auch umgekehrt, die ethische Limitation von Schutzbereichen zu einer verstärkten verfassungs- gerichtlichen Kontrolle herausfordern mag.
- 51 Vgl Wahl, Forschungs- und Anwendungskontrolle technischen Fortschritts als Staatsaufgabe? – dargestellt am Beispiel der Gen- technik, UTR 14 (1991) 7, 34 f.
- 52 So wohl Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Der Staat, 30 (1991) 19, 45 unter Verweis auf Köttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, in: Neumann uA (Hg), Die Grundrechte, Band 2 (1954) S 291, 296 ff. Für eine entsprechend restriktives Verständnis bereits Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4 (1928) 44, 66.
- 53 Dies wird von den Verfechtern des dargestellten engen Wissen-
Schutzbedürftigkeit abzeichnet.57 Der beschriebene Ein- bruch in den Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit ist daher abzulehnen.58
Nach anderer Ansicht sollen Forschungen, die poten- tiell zu Beeinträchtigungen der Gesundheit bzw. sonsti- gen Rechtsgütern Dritter führen können, von vornher- ein nicht dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG unter- fallen.59 Dieser Auffassung ist insoweit beizutreten, als sich eine gezielte Beeinträchtigung der von der Verfas- sung vorausgesetzten Güterordnung nicht auf grund- rechtlichen Schutz berufen kann. Exemplarisch ist hier der eigenmächtige Zugriff des sog. „Sprayers aus Zürich“ auf fremdes Eigentum, dem das Bundesverfassungsge- richt zur Recht eine Berufung auf die Kunstfreiheit ver- sagte.60 Indes liegen die vorliegenden Konstellationen anders, denn der Forschung ist es nicht darum zu tun, gegen den Willen der Berechtigen final auf fremde Rechtsgüter zuzugreifen, etwa Haustiere gegen den Wil- len der Eigentümer für Tierversuche heranzuziehen. Vielmehr ergeben sich die möglichen Beeinträchtigun- gen Dritter aus mittelbaren, zudem höchst ungewollten Zwischenfällen, denen wiederum beachtliche Chancen für den Rechtsgüterschutz gegenüber stehen. Damit aber greift es zu kurz, den Schutzbereich der Forschungsfrei- heit pauschal unter Verweis auf (mögliche!) Grund- rechtsingerenzen Dritter zu verneinen, wie nicht zuletzt ein Vergleich mit dem „Referenzgrundrecht“61 der
schaftsbegriffs nicht verkannt, jedoch hingenommen, weil die Wissenschaft „keinen rechtlichen Sonderstatus beanspruchen kann“, Köttgen, aaO, S 298. Daran ist richtig, dass eine gezielte Inanspruchnahme fremder Rechtspositionen nicht unter Hinweis auf die Wissenschaftsfreiheit zurechtfertigen ist, dazu sogleich. Allerdings fordert dieser Gedanke nicht, den Schutzbereich der Forschungsfreiheit bis zur Unkenntlichkeit zu beschneiden.
54 Vgl Rattner/Danzer, Galileo Galilei und die Begründung der neuzeitlichen Naturwissenschaft, in: Dies, Die Geburt des mo- dernen europäischen Menschen in der italienischen Renaissance 1350–1600, 2004, S 267 ff.
55 Köttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, in: Neumann uA (Hg), Die Grundrechte, Band 2, 1954, S 291, 299.
56 Vgl aber Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Der Staat, 30 (1991) 19, 46.
57 Wagner, Forschungsfreiheit und Regulierungsdichte, NVwZ 1998, 1235, 1238. Anschaulich etwa Waechter, aaO, S 45 f, der – metho- disch zweifelhaft – gerade die zeitgeistige Geringschätzung der Wissenschaft als Argument für ein restriktives Begriffsverständ- nis heranzieht: „Wenn ein glücklicher Ausgang dieses Fortgangs [des wissenschaftlichen Fortschritts] nicht mehr gewiss geglaubt wird, ist Wissenschaft in eine Position gewachsen, die sie nicht mehr privilegierungsfähig macht“.
58 So auch Wagner, aaO, S 1237 f.
59 Vgl Mager, Freiheit von Forschung und Lehre, in: Isensee/Kirch-
hof (Hg), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl, Band VII, 2009, §
166 Rn 13 mwN.
60 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1984, 1293, 1294.
61 Zu diesem Konzept Ruffert, Grund und Grenzen der Wissen-
schaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006) 146, 161.
6 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2014), 1–10
Kunstfreiheit belegt: Auch dort würde niemand den grundrechtlichen Schutz versagen wollen, weil Darstel- lungen – über die intendierte Provokation hinaus – in Einzelfällen pathologische Erschütterungen des Publi- kums hervorrufen mögen.62
Dementsprechend ist die grundrechtsdogmatische Abbreviatur, gezielte Inanspruchnahmen fremder Rechts- positionen von vornherein aus dem Schutzbereich aus- zuschließen, nicht auf Fälle zu übertragen, in denen nur Risiken für die Grundrechte Dritter begründet werden, deren Hinnehmbarkeit schwierige Prognose- und Abwä- gungsfragen aufwirft.63
Demgegenüber ließe sich allenfalls argumentieren, dass auch im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung entsprechende Prognose- und Wertungsfragen abgear- beitet werden können. Freilich erschließt sich der dog- matische Zugewinn einer solchen Problemverschiebung von der Rechtfertigungs- auf die Schutzbereichsebene nicht, im Gegenteil: Würde der Schutzbereich der spezi- ellen Forschungsfreiheit in Folge einer Abwägung ver- neint, so wäre der Eingriff an subsidiären Grundrechts- garantien, etwa Art. 12 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. Dies führte zu einer Komplizierung der Grundrechtsprüfung, möglicherweise auch zu einer Ab- senkung des grundrechtlichen Schutzes wissenschaftli- cher Forschung, weil die Abwägungen auf Schutzbe- reichsebene jene auf Eingriffsebene nicht ersetzen kann.64
Damit bleibt mit dem Bundesverfassungsgericht dar- an festzuhalten, dass Art. 5 Abs. 3 GG – von den genann- ten Evidenzfällen abgesehen – die Forschungsfreiheit umfassend schützt.65 Dies gilt selbst dann, wenn die For- schung Risiken für Leben und Gesundheit Dritter be- gründen mag.66
- 62 Vgl etwa zur Düsseldorfer Tannhäuser-Inszenierung, die eine psychologische Betreuung des Publikums erforderlich machte, „Erste Hilfe“, faz.net vom 09.05.2013. Abrufbar unter http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/rheinoper-setzt- tannhaeuser-ab-erste-hilfe-12177705.html [22.08.2013].
- 63 Im Ergebnis auch BVerfGE 128, 1, 40.
- 64 Vgl Löwer, Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre, in:Merten/Papier (Hg), Handbuch der Grundrechte, Band IV, 2011, § 99 Rn 15; Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewähr- leistungsgehalt, Der Staat 43 (2004) 167, 192 f.
- 65 Auch das BVerfG geht davon aus, dass Missbrauchsbeschränkun- gen auf Rechtfertigungsebene zu bewältigen sind, BVerfGE 85, 386, 397. Daraus lässt sich verallgemeinernd der Schluss ziehen, dass das BVerfG Beschränkungen der Forschungsfreiheit auf Rechtfertigungsebene verhandeln will. Hierzu Losch/Radau, For- schungsverantwortung als Verfahrensaufgabe, NVwZ 2003, 390, 393. Vgl weiter Löwer, aaO, § 99 Rn 15.
- 66 Vgl BVerfGE 128, 1, 40. Dort freilich mit dem Zusatz: „Dies gilt
III. Zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Forschungsfreiheit
Die Forschungsfreiheit ist nach Art. 5 Abs. 3 GG schran- kenlos gewährleistet, unterliegt aber gleichwohl verfas- sungsimmanenten Schranken, die der gesetzgeberischen Ausgestaltung bedürfen.67 Dabei sind die zu Grunde lie- genden Grundrechtskollisionen „unter Rückgriff auf weitere einschlägige verfassungsrechtliche Bestimmun- gen und Prinzipien sowie auf den Grundsatz der prak- tischen Konkordanz durch Verfassungsauslegung zu lösen“.68 Hierbei kommt der Wissenschaftsfreiheit nicht schlechthin der Vorrang gegenüber anderen Verfas- sungswerten, etwa Leben und Gesundheit, zu.69 Freilich wird im Einzelfall vieles von Art und Schwere der Ein- griffe in die Wissenschaftsfreiheit abhängen: Diese rei- chen phänomenologisch von den bereits bestehenden Ausübungs- und Rahmenregelungen,70 etwa Anzeige- und Erlaubnispflichten beim Umgang mit Krankheits- erregern,71 über die derzeit diskutierten Publikations- bis hin zu sektoralen Forschungsverboten.
1. Bestimmtheitsanforderungen an die Eingriffsgrundlagen
Die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz steigen mit zunehmender Eingriffsintensität.72 Für Pub- likations- und Forschungsverbote als besonders schwere Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit mag man sich an den Bestimmtheitsanforderungen orientieren, die das Bundesverfassungsgericht im Bereich der Sicherheits- verfassung für intensive Grundrechtseingriffe eingefor- dert hat. Demnach sind entsprechende Begrenzungen der Forschung an gefährlichen Viren durch den Gesetz-
jedenfalls für die experimentelle Forschung an Universitäten“. Ob damit eine Schutzbereichsbeschränkung ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, scheint zweifelhaft. Näher liegt, dass der Senat seine Ausführungen zum Schutzbereich auf das durch die Fall- entscheidung Veranlasste beschränken wollte. So auch Dederer, Verfassungskonforme Übermaßregulierung der „Grünen Gen- technik“, Jura 2012, 218, 221.
67 Vgl zuletzt BVerfGE 128, 1, 41 mwN.
68 BVerfGE 128, 1, 41.
69 BVerfGE 47, 327, 369. Vgl der Sache nach insbesondere auch
BVerfGE 128, 1.
70 Eine detaillierte Zusammenstellung entsprechender Normen
findet sich in der verdienstvollen Untersuchung von Teetzmann, Rechtsfragen der Sicherheit in der biologischen Forschung, im Erscheinen, S 18 ff.
71 Vgl etwa § 44 IfSG.
72 BVerfGE 110, 33, 55; 120, 378, 408; 125, 260, 328.
Würtenberger/Tanneberger · Biosicherheit und Forschungsfreiheit 7
geber normenklar und bereichsspezifisch zu regeln,73 sie dürfen im Kern nicht der Abwägung der Kontrollbehör- den überlassen bleiben.74 Dies schließt es freilich nicht aus, dass im Einzelfall den Behörden wegen der Komple- xität der zu beurteilenden Sachfragen ein nicht gänzlich durch einfaches Recht determinierter Entscheidungs- spielraum verbleibt.
Hingegen sind bei äußeren Begrenzungen der For- schungsfreiheit, Schrankenbestimmungen mithin, weit- aus geringere Anforderungen zu stellen. Damit werden zugleich der Selbstorganisation der Wissenschaft, der gerade für die Formulierung der technischen Standards eine besondere Sachkompetenz zuzusprechen ist, die notwendigen Freiräume belassen.
2. Geeignetheit und Erforderlichkeit
Nach allgemeiner Verhältnismäßigkeitsdogmatik müs- sen Eingriffe in die Forschungsfreiheit geeignet sein, den Schutz – vorliegend – von Leben und Gesundheit zu för- dern. Davon ist mit Blick auf Forschungs- und Publikati- onsverbote im Ergebnis auszugehen, wenngleich gewisse Bedenken nicht von der Hand zu weisen sind. So mögen Forschungsverbote eine Exilierung der entsprechenden Forschung in das Ausland bedingen, was angesichts der dort oftmals niedrigeren Sicherheitsstandards und der vielfach beschworenen pandemischen Verbreitung von Infektionskrankheiten den Nutzen dieser Maßnahmen fraglich werden lässt. Erheblicher noch sind die Einwän- de gegen Publikationsverbote.75 Diese mögen zwar zwi- schenzeitlich eine Kenntniserlangung unbefugter Drit- ter verhindern bzw. erschweren, indes werden sich die entsprechenden Erkenntnisse kaum dauerhaft geheim halten lassen.
Indes fordert die Geeignetheit eine solche optimale Zweckerreichung nach dem zutreffenden Verständnis des Bundesverfassungsgerichts nicht. Vielmehr genügt es, wenn durch die fragliche Maßnahme „der erstrebte Erfolg gefördert werden kann“.76 Hierfür reicht es aus „wenn die abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung besteht“, d.h. die fraglichen Maßnahmen „nicht von vornherein untauglich sind“.77 Das Regelungsziel muss nicht „in jedem Einzelfall tatsächlich erreicht“ werden.78
- 73 Zur Generalklauselresistenz der Wissenschaftsfreiheit Löwer, Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre, in: Merten/Pa- pier (Hg), Handbuch der Grundrechte, Band IV, 2011, § 99 Rn 33.
- 74 So im Bereich der Sicherheitsverfassung BVerfGE 110, 33, 52 ff, 113, 348, 375 ff; 120, 378, 407 f, 423.
- 75 Zu den hier nicht weiter zu verfolgenden rechtlichen Grundlagen derartiger Publikationsverbote Calliess, Verfassungsrechtliche Vorgaben im Hinblick auf die Regulierung des Exports von Wis- sen: Von der Gefahrenabwehr zur Risikovorsorge, Typoskript.
- 76 Für die Sicherheitsverfassung BVerfGE 109, 279, 336. Inhaltlich ebenso BVerfGE 115, 320, 345; 125, 260, 317 f.
Insgesamt kommt damit dem Gesetzgeber bei der Beur- teilung der Geeignetheit ein weiter Einschätzungsspiel- raum zu.79
Dementsprechend wäre gegen die Einschätzung des Gesetzgebers, ein nationales Forschungs- oder Publika- tionsverbot diene dem Lebens- und Gesundheitsschutz, nichts zu erinnern. Entsprechendes hat – wenngleich hier vieles von den Umständen des Einzelfalls abhängen wird – für die normative Ausgestaltung des Forschungs- rahmens, verstanden als den äußeren Bedingungen der Forschungstätigkeit, zu gelten: Anzeigeverpflichtungen
oder etwa technische Standards bei der Arbeit mit be- stimmten Erregern sind regelmäßig geeignet, dem Schutz von Leben und Gesundheit zu dienen.
Gleiches hat im Grundsatz für die Erforderlichkeit zu gelten. Auch und gerade in Ansehung von Forschungs- und Publikationsverboten sind keine milderen Maßnah- men ersichtlich, die in entsprechend effektiver Weise dem Schutz von Leben und Gesundheit dienen würden.
3. Angemessenheit und Eingriffsschwellen
Die Angemessenheit ist gewahrt, wenn „die Schwere der gesetzgeberischen Grundrechtsbeschränkung bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe steht“.80 In diese Gesamtabwägung sind drei Parameter einzustellen:81 Die Intensität des Eingriffs in die Forschungsfreiheit, das Gewicht der verfolgten Gemeinwohlinteressen, vorlie- gend der Schutz von Leben und Gesundheit der Bevöl- kerung und schließlich die Eingriffsschwellen, d.h. die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Rechts- gutsverletzung. Diese für die Angemessenheitsprüfung relevanten Parameter sind nach Maßgabe der sog. „Je- Desto-Formel“ zur Konkordanz zu bringen.82
Dementsprechend vollzieht sich die Abwägung vor- liegend nicht im binären Schema von Schutzbereich und Eingriffsrechtfertigung, vielmehr sind in einem mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis83 verschiede- ne Grundrechte verschiedener Grundrechtsträger mög- lichst freiheitsschonend zuzuordnen. Eine zusätzliche Komplizierung erfährt die dabei vorzunehmende Abwä- gung durch die Unbestimmtheiten ihrer Tatsachen-
77 BVerfGE 100, 313, 373.
78 BVerfGE 125, 260, 317.
79 BVerfGE 109, 279, 336; 120, 274, 320.
80 BVerfGE 120, 378, 438: „stRspr“.
81 Vgl zur Sicherheitsverfassung des BVerfG, gleichwohl für den
vorliegenden Sachbereich von Interesse Tanneberger, Die Sicher-
heitsverfassung, § 11 III 4 e bb.
82 Vgl BVerfGE 115, 320, 360 f; 120, 378, 429.
83 Vgl Calliess, Verfassungsrechtliche Vorgaben im Hinblick auf die
Regulierung des Exports von Wissen: Von der Gefahrenabwehr zur Risikovorsorge, Typoskript, S 8 ff.
8 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2014), 1–10
grundlage. So lassen sich die – vielerlei Kontingenzen unterworfenen – Risiken ihrem Wesen gemäß schwer- lich fassen, weshalb auch diese Unbestimmtheiten auf Abwägungsebene verarbeitet werden müssen.
Anhaltspunkte für das Ergebnis dieser Gewich- tung ergeben sich aus der Gentechnikentscheidung des Bundesverfassungsgerichts.84 Auch dort war in An- sehung von Freilandversuchen mit genmanipulier- ten Pflanzen eine Kollision zwischen der Forschungs- freiheit und den dadurch hervorgerufenen Risiken für Leben und Gesundheit des Publikums zur Konkor- danz zu bringen. Allerdings waren die Bestimmungen des Gentechnikgesetzes von vornherein sehr um einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen bemüht.85 Dementsprechend standen nicht Forschungs- oder Pu- blikationsverbote, sondern die „Rahmenbedingungen“86 der Forschung – etwa Anzeigepflichten und Haftungs- fragen – auf dem verfassungsgerichtlichen Prüfstand.87 Diese – durchaus in den Schutzbereich der Wissen- schaftsfreiheit eingreifenden – Maßnahmen der Risiko- vorsorge waren nach dem Dafürhalten des Senats mit Blick auf das besondere Gewicht der Schutzgüter Leben und Gesundheit gerechtfertigt.88
Dementsprechend lässt sich der Gentechnikentschei- dung des Bundesverfassungsgerichts zunächst die ver- fassungsrechtliche Unbedenklichkeit gesetzgeberischer Rahmenregelungen für die Ausübung der Forschungs- freiheit entnehmen. Zu fragen bleibt, ob sich der Ent- scheidung darüber hinaus Aussagen über die verfas- sungsrechtliche Zulässigkeit von Forschungs- und Publi- kationsverboten entnehmen lassen. Mindestens, aber immerhin, scheint eine wertende Orientierung an den in der Gentechnikentscheidung entwickelten Maßstäben möglich.
a) Forschungsverbote
Der Senat hat in der Gentechnikentscheidung den vom Gesetzgeber austarierten substantiellen Ausgleich der betroffenen Verfassungsgüter nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Regelungskonzept des GenTG gebilligt. Daraus lässt sich, selbst wenn man den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in Rechnung stellt, schließen, dass eine „Auflösung“ der Grundrechts-
- 84 BVerfGE 128, 1. Hierzu Dederer, Verfassungskonforme Über- maßregulierung der „Grünen Gentechnik“, Jura 2012, 218; Kahl, Neuere höchstrichterliche Rechtsprechung zum Umweltrecht — Teil 1, JZ 2012, 667, 669; Bickenbach, Die Freiheit, Wissen zu schaf- fen – Zur Minderung der Last des Nichtwissens auf dem Gebiet der Gentechnik, ZJS 2011, 1; Winkler, Deutsches Gentechnikgesetz verfassungsgemäß, ZUR 2011, 137.
- 85 Vgl BVerfGE 128, 1, 85 f.
- 86 So BVerfGE 128, 1, 41.
- 87 Zu diesen Rahmenbedingungen rechnete der Erste Senat auch
kollision einseitig zu Lasten der Wissenschaftsfreiheit – etwa durch ein Verbot der Gentechnik bzw. deren Aus- bringung – vor dem Senat nicht bestanden hätte. Diese nahe liegende, wenngleich nicht zwingende Folgerung zu Grunde gelegt, wäre ein Forschungsverbot im Bereich der Biosicherheit nur dann zu rechtfertigen, wenn sich die Abwägungsparameter – im Unterschied zur Gen- technik – zu Lasten der Wissenschaftsfreiheit verscho- ben haben würden. Das ist freilich nicht erkennbar:
So ist bereits zweifelhaft, ob die Forschung an gefähr- lichen Viren im Ergebnis ein höheres Schadensrisiko be- gründet, als die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man das Schadensrisiko als das Produkt von Schadenspotential und Verbreitungsrisiko begreift: So weist die Gentechnik zwar das entschieden geringere Schadenspotential auf, allerdings werden die fraglichen Organismen in Gestalt der Freilandforschung auch gleichsam „probeweise“ freigesetzt.89 Das Schadenspotential der Gentechnik kann sich daher praktisch ungehindert entfalten, indes die Forschung an gefährlichen Viren unter höchsten Si- cherheitsvorkehrungen – die ihrerseits als Rahmenbe- dingungen der Forschungstätigkeit zulässig sind, vgl. oben – stattfindet. Dementsprechend ist das höhere Schadenspotential der fraglichen Viren kaum geeignet, das Schadensrisiko im Vergleich zur Gentechnik anzu- heben und dadurch die Gewichte zu Lasten der For- schungsfreiheit zu verschieben.
Hinzu kommt ein Weiteres: Die Virenforschung zielt anders als die „grüne“ Gentechnik unmittelbar auf den Schutz von Leben und Gesundheit, etwa durch die Ent- wicklung entsprechender Impfstoffe, ab. Damit greift es zu kurz, Leben und Gesundheit einseitig zu Lasten der Forschungsfreiheit in Ansatz zu bringen, vielmehr er- fährt die – ohnedies gewichtige90 – Forschungsfreiheit aufgrund ihrer Bedeutung für den Schutz der Rechtsgü- ter des Art. 2 Abs. 2 GG eine weitere Schutzbereichsver- stärkung.91
Demnach spricht auf der Basis eines wertenden Ver- gleichs mit der Gentechnikentscheidung Vieles dafür, dass ein Forschungsverbot an gefährlichen Viren alleine zur Vorsorge vor Risiken für die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 GG nicht mit der Wissenschaftsfreiheit in Ein-
die in § 36a GenTG vorgesehene Haftung der Verwender von gentechnisch veränderten Organismen, vgl BVerfGE 128, 1, 85 ff. Damit übernahm der Senat nicht das Vorbringen der Antragstel- lerin, die dieser Haftungsregel eine faktisch prohibitive Bedeu- tung zuschreiben wollte, aaO, S 18 ff.
88 BVerfGE 128, 1, 39 ff, 57 f, 67 f, 85 ff.
89 Vgl hierzu BVerfGE 128, 1, 87.
90 Vgl BVerfGE 128, 1, 87 f.
91 Allgemein hierzu: Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht,
32. Aufl 2008, § 18 Rn 93.
Würtenberger/Tanneberger · Biosicherheit und Forschungsfreiheit 9
klang stünde. Dies gilt mindestens so lange, als die Schutzbereichsverstärkung durch Art. 2 Abs. 2 GG greift, die Forschung also auch und gerade der Vorsorge vor Pandemien dient. Anderes mag dann gelten, wenn die fragliche Forschung ihrem Ansatz nach keinen Bezug zum Schutz von Leben und Gesundheit aufweist, mithin den geschaffenen Risiken kein unmittelbarer Ertrag für den Lebens- und Gesundheitsschutz entspricht.
Hingegen dürften Forschungsverbote ab der Schwel- le einer konkreten Gefahr für Leib und Leben im Grund- satz angemessen sein. So etwa, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte92 mit terroristischen Anschlägen auf For- schungseinrichtungen zu rechnen ist. Allerdings gehen mit der Anhebung der Eingriffsschwelle auf konkrete Gefahren regelmäßig weitere Abwehrmöglichkeiten ein- her, die die Erforderlichkeit von Forschungsverboten in Zweifel ziehen. So wird sich der entsprechende Lebens- sachverhalt ab der Gefahrenschwelle regelmäßig in zeit- lich-örtlicher, bzw. personaler Hinsicht so verdichtet ha- ben, dass passgenaue und damit effektivere Abwehrmög- lichkeiten als Forschungsverbote bestehen. Darüber hin- aus dürften punktuelle Gefahrenabwehrmaßnahmen regelmäßig das mildere Mittel darstellen, als sie im Un- terschied zu Forschungsverboten eine vergleichsweise geringe „Streubreite“93 aufweisen.
Daraus resultiert: Forschungsverbote sind im Grund- satz angemessen, so sie der Abwehr konkreter Gefahren für die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 GG dienen. Aller- dings werden sich mit dem Überschreiten der Gefahren- schwelle alternative Abwehrmaßnahmen aufdrängen, weshalb in diesen Fällen regelmäßig die „relative Ver- hältnismäßigkeit“, d. i. die Erforderlichkeit der breiten- wirksamen Forschungsverbote zu verneinen sein wird.
b) Publikationsverbote
Gleichsam zwischen den grundsätzlich zulässigen Rah- menbestimmungen der Forschungsfreiheit und den in der Regel unzulässigen Forschungsverboten stehen die Publikationsverbote. Zwar fällt die Publikation der Ergebnisse entsprechend des eingangs Gesagten in den
- 92 Zu den hier nicht zu vertiefenden Anforderungen an die Ge- fahrenprognose: Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hg), Besonderes Verwaltungsrecht, 3. Aufl 2013, § 69 Rn 235 f.
- 93 Im Zusammenhang mit Eingriffen in das informationelle Selbstbestimmungsrecht hatte das BVerfG im Rahmen seiner Rechtsprechung zum Sicherheitsverfassungsrecht die Streubreite von Grundrechtseingriffen gegen deren Verhältnismäßigkeit in Ansatz gebracht. Vgl BVerfGE 115, 320, 354; 120, 274, 323, 342; 120, 378, 402; 124, 43, 63; 125, 260, 318.
- 94 Zur hier nicht weiter zu vertiefenden Herleitung des Schutzpflich- tenkonzepts: Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl 2008, § 17 Rn 29 ff; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht
Kernbereich der Forschungsfreiheit. Gleichwohl wiegen entsprechende Eingriffe weniger schwer, weil der For- schung zwar diskursive Entfaltungs- und Effektivie- rungsmöglichkeiten genommen, diese aber gleichwohl – mindestens für einen Übergangszeitraum – isoliert wei- ter betrieben werden kann. Entscheidend aber ist, dass ein ganzes Bündel an Instrumentarien zur Gewährleis- tung der Verhältnismäßigkeit von Publikationsverboten zur Verfügung steht: An erster Stelle sind hier zeitliche Befristungen zu nennen, hinzukommen Abschichtun- gen im Empfängerkreis, etwa Publizitätsbeschränkun- gen in institutioneller, inhaltlicher oder auch personaler Hinsicht. Schließlich mag man gar, um dem kompetiti- ven Arrangement des wissenschaftlichen Betriebes gerecht zu werden, eine Hinterlegung von Forschungser- gebnissen andenken.
Zusammenfassend ist damit davon auszugehen, dass sich Veröffentlichungsverbote bereits im Vorfeld kon- kreter Gefahren ohne Verstoß gegen den Verhältnismä- ßigkeitsgrundsatz ins Werk setzen lassen.
IV. Zu den grundrechtlichen Schutzpflichten
Nach dem Gesagten sind unter engen Voraussetzungen Eingriffe in die Forschungsfreiheit zum Schutz der Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG zulässig. Damit ist frei- lich nicht gesagt, dass der Staat von diesen Gestaltungs- spielräumen auch Gebrauch machen muss. Diese Frage hängt vielmehr von der Reichweite und Determinations- kraft der grundrechtlichen Schutzpflichten ab.94
Insoweit ist anerkannt, dass dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs‑, Wertungs- und Gestaltungsspiel- raum zukommt,95 der nur in seltenen Ausnahmefällen verletzt ist96 Dies gilt selbst im Bereich des Lebens- und Gesundheitsschutzes.
Fern liegende Gefährdungsmöglichkeiten des Le- bensgrundrechts als „vitaler Basis“ der Menschenwürde rechtfertigen noch keine Verengungen des gesetzgeberi- schen Gestaltungsspielraums.97 Sicherheitspolitische Ent- scheidungen sind nicht verfassungsrechtlich determiniert,
und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hg), Hand- buch des Staatsrechts, 3. Aufl, Band IX, 2011, § 191 Rn 146 ff und 150 (zu den Schutzpflichten bei terroristische Gefährdungen).
95 BVerfGE 46, 160, 164; 121, 317, 356 f; 125, 39, 78 f; Zippelius/Wür- tenberger, aaO, § 17 Rn 39.
96 Vgl etwa BVerfGE 88, 203, 251 ff, sowie das Sondervotum Papier, Graßhof und Haas in BVerfGE 98, 265, 356.
97 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl 2008, § 21 Rn 20, 49; Ipsen, Der „verfassungsrechtliche Status“ des Embryos in vitro. Anmerkungen zu einer aktuellen. Debatte, JZ 2001, 989, 996. Anders Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, JZ 2003, 809, 812 f zum Embryonenschutz.
10 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2014), 1–10
sondern demokratisch zu legitimieren. Dementspre- chend liegt ein Verstoß gegen grundrechtliche Schutz- pflichten auch hier nur vor, wenn die bislang getroffenen Schutzmaßnahmen völlig unzulänglich oder ungeeignet sind.98 Dieses Untermaßverbot ist allerdings nicht sta- tisch zu denken, sondern in Ansehung von Eintritts- wahrscheinlichkeit und Schadensausmaß im Einzelfall zu bestimmen: Je bedeutsamer sich das Schadensrisiko ausnimmt, desto höhere Anforderungen sind an den staatlichen Mindestschutz zu stellen.99 Bei dieser Pro- portionalität der Schutzgewähr spielen die Bedeutung des jeweiligen Grundrechts für den Einzelnen, das Risi- ko und Ausmaß möglicher Gefahren sowie widerstrei- tende Grundrechte Dritter eine Rolle. So etwa muss bei höchstem bzw. existentiellem Gefahrenpotential die Ein- trittswahrscheinlichkeit „nach dem Stand von Wissen- schaft und Technik praktisch ausgeschlossen sein“.100 Die verbleibenden Restrisiken, die daraus resultieren, dass der Eintritt künftiger Schadensereignisse nie mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden kann, sind von den Bürgern als sozialadäquat hinzunehmen.101 Ei-
nen optimalen Schutz im Sinne einer „Restrisikomini- mierung“ schuldet der Gesetzgeber nicht.102
Dementsprechend genügt der Gesetzgeber seinen grundrechtlichen Schutzpflichten jedenfalls dann, wenn er – so in weitem Umfang geschehen103 – Maßnahmen ergreift, um eine Freisetzung biologischer Gefahrstoffe zu verhindern, oder aber mit den Mitteln des Sicher- heits‑, insbesondere des Gefahrenabwehrrechts terroris- tische Anschläge per se zu unterbinden. Für das Szenario der Forschung am Vogelgrippe-Virus gilt gleiches wie für alle Maßnahmen des Staates, die auf ein Leben der Bürger in Freiheit und Sicherheit zielen: Eine vollkom- mene Sicherheit, ein vollkommener Schutz von Leben und Gesundheit ist praktisch nicht realisierbar und da- her auch – impossibilium nulla est obligatio – rechtlich nicht gefordert.
Thomas Würtenberger ist Professor an der Albert-Lud- wigs-Universität Freiburg und Leiter der Forschungs- stelle für Hochschulrecht und Hochschularbeitsrecht. Steffen Tanneberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle.
- 98 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hg), Handbuch des Staats- rechts, 3. Aufl, Band IX, 2011, § 191 Rn 295.
- 99 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2010, 702, 703 f.
- 100 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2010, 702, 704.
101 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2010, 702, 704 mit Verweis auf BVerfGE 49, 89, 143.
102 BVerfGK 14, 402, 416.
103 Vgl hierzu Teetzmann, Rechtsfragen der Sicherheit in der biologi-
schen Forschung, im Erscheinen.