Dirk Heckmann und Lorenz Marx
Hans Burkhardt Thomas Würtenberger
Sarah Rachut
KI-Einsatz zur Leistungskontrolle am (Hochschul-)Arbeitsplatz
Anforderungen aus Sicht des Datenschutz- rechts 63–70
Ein Beitrag zur Künstlichen Intelligenz
71–78
Studium der Psychotherapie — auch an Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften? 79–88
E‑Klausur und elektronische Fernprüfung: Technologischer Fortschritt und Prüfungskul- turwandel im Spiegel des Rechts
- Ein Werkstattbericht 89–98
Heft 2 / 2023
Aufsätze
Urteilsbesprechungen
Georg Caspers Felix Hornfischer
Arbeitszeiterfassung an Hochschulen — Anmerkung zum Beschluss des BAG vom 13.9.2022 — 1 ABR 22/21 — 99–106
Zur Reichweite der Lehrverpflichtung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG BW i. V. m. der Lehrverpflichtungsverordnung.
Zugleich Besprechung des Urteils des Ver- waltungsgerichts Karlsruhe vom 14.12.2020 — 11 K 1503/19 — 107–114
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISBN/ISSN 3–45678-222–7
ORDNUNG DER WISSENSCHAFT (2023)
Berichte
Bernhard Weisser Zur Ausstellung der Medaillensammlung Ius in nummis im Münzkabinett der Staatli-
chen Museen zu Berlin 115–118 Johannes M. Deutsch Juristenausbildung in Kanada 119–126
Ausgegraben
Johann Heinrich Gottlob Justi Über die studierende Jugend 127–128
I. Einleitung
II. Verhaltens- und Leistungskontrollen im betrieblichen und wissenschaftlichen Bereich
III. Status Quo: Grundlagen des (Beschäftigten-)Datenschutzes im Kontext von Verhaltens- und Leistungskontrolle
IV. Herausforderungen und Lösungsansätze
1. Interessensabwägung bei Leistungskontrolle am Arbeitsplatz
2. Der Einsatz von KI zur Leistungskontrolle: Verschärfung der Überwachung oder legitimes „Feintuning“?
V. Ausblick auf den KI-Einsatz zur Leistungskontrolle im Be- schäftigungskontext im Jahr 2030
VI. Handlungsempfehlungen VII. Zusammenfassung
I. Einleitung
Seit das textbasierte Dialogsystem (Chatbot) ChatGPT des US-amerikanischen Unternehmens OpenAI Ende 2022 zur kostenfreien Verwendung online gestellt wur- de, ist ein regelrechter Hype um KI-gestützte Textgene- ratoren, das zugrundeliegende Text- und Data-Mining und deren Anwendungsmöglichkeiten u.a. auch in rechtlichen Kontexten2 entstanden. Die Fortschritte, die in der Entwicklung von KI-Anwendungen sichtbar wer-
- 1 Der Beitrag knüpft an den projektbezogenen Beitrag „Informa- tionelle Selbstbestimmung in der digitalen Arbeitswelt“ aus dem BMBF-geförderten Projekt „Inverse Transparenz — Beteiligungsori- entierte Ansätze für Datensouveränität in der digitalen Arbeitswelt gestalten“ an, der am 24.5.2022 im Forschungsreport „Daten – In- novation – Privatheit: Mit Inverser Transparenz das Gestaltungsdi- lemma der digitalen Arbeitswelt lösen“, S. 56 ff., erschienen ist. Der vorliegende Beitrag entwickelt diese Gedanken zum KI-Einsatz im Kontext staatlicher Hochschulen weiter und sucht Lösungsan- sätze für eine verhältnismäßige Leistungs- und Verhaltenskont- rolle mittels algorithmischer Systeme.
- 2 Hierzu Bachgrund/Nesum/Bernstein/Burchard, Das Pro und Con- tra für Chatbots in Rechtspraxis und Rechtsdogmatik, CR 2023, 132 ff.
- 3 Vgl. u.a. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zalando-ueber- wachung-zonar‑1.4688431 (letzter Zugriff am 27.02.2023).
- 4 Lurtz, Bewertungstechnologien im Beschäftigungsverhältnis – eine (erste) datenschutzrechtliche Bewertung, ZD-Aktuell 2020,
den, führen dazu, dass auch solche Einsatzszenarien auf den Prüfstand kommen, die schon vermeintlich recht- lich geklärt schienen. Dies gilt etwa für Leistungskont- rollen bzw. Aufsichtsmaßnahmen des Arbeitgebers oder Dienstherrn gegenüber Beschäftigten.
Der Einsatz von KI-Systemen zur Leistungskontrolle am Arbeitsplatz ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den öffentlichen Fokus gerückt. Im November 2019 geriet beispielsweise das Berliner Startup Zalando in die Schlagzeilen durch den Einsatz einer Personalsoftware namens „Zonar“, mit der die Leistung und das Verhalten von Arbeitskollegen bewertet werden kann.3 Das Thema wurde vereinzelt auch in juristischen Fachkreisen aufge- griffen.4 Wohl in Folge der kritischen Berichterstattung nahm Zalando Änderungen an der Software vor.5 Im Juni 2020 waren die ebenfalls von Zalando verwendeten Software-Systeme „Zalos“ und „Zafeto“ Gegenstand des öffentlichen Diskurses.6 Mit diesen beiden Tools kann etwa erfasst werden, wie viele Artikel ein Beschäftigter pro Schicht bearbeitet.7 In den beiden letzteren Fällen hat die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Infor- mationsfreiheit eine Prüfung eingeleitet und Ände- rungshinweise erteilt.8 Die fortwährende Erfassung von Leistungsdaten beim Online-Händler Amazon wurde hingegen — nach Untersagung durch die Landesbeauf-
06926; Holthausen, Big Data, People Analytics, KI und Gestaltung von Betriebsvereinbarungen– Grund‑, arbeits- und datenschutz- rechtliche An- und Herausforderungen, RdA 2021, 19, 22 Fn. 65; Joos, Einsatz von künstlicher Intelligenz im Personalwesen unter Beachtung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1221.
5 Vgl. https://www.datenschutz-notizen.de/zalando-aendert- eigene-bewertungssoftware-zonar-2829837/ (letzter Zugriff am 27.02.2023).
6 Vgl. u.a. https://t3n.de/news/ueberwachung-berlin- prueft-1286877/ (letzter Zugriff am 27.02.2023).
7 Vgl. https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2020–05/zalan- do-datenschutzbeauftragte-pruefverfahren-logistikzentrum?utm_ referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (letzter Zugriff am 27.02.2023).
8 Vgl. Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfrei- heit, Jahresbericht 2020 Datenschutz und Informationsfreiheit, S. 267.
Dirk Heckmann und Lorenz Marx
KI-Einsatz zur Leistungskontrolle am (Hochschul-)Arbeitsplatz1
Anforderungen aus Sicht des Datenschutzrechts
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
64 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 63–70
tragte für den Datenschutz Niedersachsen — erst kürzlich gerichtlich für zulässig erklärt.9 Die in Echtzeit minutiös erfolgende Erfassung der Arbeitsschritte von Mitarbei- tern wurde vom Gericht unter dem Aspekt logistischer Abläufe für erforderlich gehalten.10
Diese Beispiele zeigen nur einen Ausschnitt des denkbar breiten Spektrums an potenziellen Anwen- dungsfällen für eine KI-unterstützte Leistungskontrolle nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch an Hochschu- len und Forschungseinrichtungen, die in Zukunft durch große Trends wie Big Data und die Verfügbarkeit immer vielfältigerer und leistungsfähigerer algorithmischer Syste- me noch wachsen dürfte. Anders als beim Einsatz von KI-Systemen im Rahmen des Bewerbungsprozesses wird der Einsatz von KI zur Leistungskontrolle während des Beschäftigungsverhältnisses in der Rechtswissenschaft noch vergleichsweise wenig diskutiert.11 Dieser Beitrag zeigt die datenschutzrechtlichen Determinanten sowie den verbleibenden Aktionsradius auf.
II. Verhaltens- und Leistungskontrollen im betriebli- chen und wissenschaftlichen Bereich
Die fortwährende Überwachung und die Kontrolle des Verhaltens sowie der Leistung von Beschäftigten im Hin- blick auf ihre (außer-)vertraglichen Pflichten ist ein eng mit der Durchführung des Arbeitsverhältnisses verbun- denes Instrument.12 Solche Verhaltens- und Leistungs- kontrollen sind dabei nicht automatisch Ausdruck von Misstrauen im machtasymmetrischen Verhältnis von Vorgesetzten und Beschäftigten. Vielmehr können sol- che Kontrollen auch geeignet sein, interne Prozesse zu überarbeiten und zu optimieren und erforderlich sein, um Compliance-Pflichten nachzukommen (s.u. IV.1.).
Dabei sind die Arten von Leistungskontrollen außer- ordentlich vielfältig. Der technische Fortschritt der digi- talen Transformation und die rasch voranschreitende
- 9 VG Hannover 9.2.2023, 10 A 6199/20; s. hierzu auch https:// www.verwaltungsgericht-hannover.niedersachsen.de/aktuelles/ pressemitteilungen/datenerhebung-bei-amazon-in-winsen-ist- rechtmassig-219664.html (letzter Zugriff am 27.02.2023).
- 10 Vgl. auch Montag, Ständige Mitarbeiterkontrolle bei Amazon Logistik nicht zu beanstanden, beck-aktuell v. 10. Februar 2023 zu VG Hannover 9.2.2023, 10 A 6199/20.
- 11 So auch Joos, Einsatz von künstlicher Intelligenz im Personalwe- sen unter Beachtung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1221.
Automatisierung von Prozessen mittels riesiger Daten- mengen ermöglicht immer neuere und weitergehende Kontrollen. Im betrieblichen Beschäftigtenkontext sind paradigmatisch die Zeiterfassung, Videoüberwachung, GPS-Tracking, die Kontrolle und Protokollierung der IT-Nutzung oder die Verarbeitung von Bewertungen von Beschäftigten und Vorgesetzten anzuführen. Derar- tige Instrumente erzeugen eine Vielzahl von Datenpunk- ten. Da sich Verhaltens- und Leistungsdaten sinnvoller- weise immer bestimmten, hierdurch zumindest identifi- zierbaren Personen zuordnen lassen, handelt es sich in aller Regel um personenbezogene Daten gemäß Art. 4 Nr. 1 DSGVO,13 weshalb die beschriebenen Organisati- onsinteressen immer auch mit dem Schutz der Persön- lichkeitsrechte der Mitarbeiter in Einklang zu bringen sind (s. hierzu ausführlich IV.).
Auch in staatlichen Hochschulen und Forschungsein- richtungen können Verhaltens- und Leistungskontrollen zur Prozessoptimierung und Einhaltung von Compli- ance-Anforderungen geeignet sein und daher Anwen- dung finden. Hierbei ist aber streng zwischen nicht-wis- senschaftlichem und wissenschaftlichem Personal zu differenzieren. Die Instrumente zur Mitarbeiterüberwa- chung bei nicht-wissenschaftlichem, in der Regel mit Verwaltungsaufgaben betrautem Personal können auf- grund der Linearität und Wiederholbarkeit der Aufga- ben und der regelmäßig vordefinierten Ziele durchaus denen im betrieblichen Kontext (s.o.) ähneln.
Bei wissenschaftlichem Personal gestalten sich derar- tige Leistungskontrollen schwieriger. Auch wenn ihre Arbeit sich an einem Erkenntnisgewinn orientiert,14 kann hieraus noch kein messbares Ziel geschlossen wer- den, zumindest kein vordefiniertes. Im Lichte der verfas- sungsrechtlich geschützten Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG bzw. der Forschungsfreiheit nach Art. 13 GRCh müsste man bereits bei der Frage ansetzen, was überhaupt unter „Leistung“ in diesem Kontext zu
12 Taeger/Gabel/Zöll, 4. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 41; ErfK/Fran- zen, 23. Aufl. 2023, BDSG § 26 Rn. 22.
13 Vgl. so auch Winter, Leistungsdaten im Kontext des Datenschutz- rechts, SpuRt 2020, 168, 169.
14 Das BVerfG definiert Forschung als „geistige Tätigkeit mit dem Ziele, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“, s. BVerfG 29.5.1973, 1 BvR 325/72, BVerfGE 35, 79, 113, vgl. auch Dürig/Herzog/Scholz/Gär- ditz, 99. EL Sept. 2022, GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 94.
Heckmann/Marx · KI-Einsatz zur Leistungskontrolle am (Hochschul-)Arbeitsplatz 6 5
verstehen ist und an welchen Parametern eine Leistungs- kontrolle ansetzen kann. Staatliche Hochschulen werden im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit gegenüber ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern zur Gewährleistung von Freiheit in Lehre und Forschung verpflichtet.15 Eineinhaltliche Kontrolle von wissenschaftlichem Personal kann nur mit „Mitteln des wissenschaftlichen Diskurses“ erfolgen, solange dem jeweiligen Forschungsergebnis nicht bereits der ernsthafte Versuch abgesprochen wer- den kann, die Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens zu beachten.16 Hierbei rückt insbesondere algorithmen- basierte Plagiatssoftware in den Fokus, die riesige Men- gen an Textdaten aggregiert und wissenschaftliche Texte mit den zugrundeliegenden Textdaten vergleicht, um Übereinstimmungen festzustellen. Ebenso könnte künf- tig die sog. Anmaßung einer wissenschaftlichen Auto- renschaft, die ein mit den wissenschaftlichen Grundsät- zen unvereinbares Fehlverhalten darstellt,17 zum Beispiel durch technische Erweiterungen bereits vielfach ver- wendeter Projektverwaltungssoftware, die häufig alle Entwicklungsschritte und inhaltlichen Beiträge der tat- sächlich beteiligten Wissenschaftler speichert, automati- siert identifiziert werden.
Darüber hinaus sind aber auch hier die neuerlichen Auswirkungen KI-gestützter Systeme wie ChatGPT zu beachten: Während herkömmliche Plagiatssoftware die Texte des Dialogsystems teilweise als „menschlich echt“ einstufte,18 verfügt Software, die spezifisch zur Aufde- ckung ChatGPT-generierter Texte entwickelt wurde (z.B.GPTZero),nochnichtüberdieerforderlicheLeis- tungsfähigkeit und Treffsicherheit.19 Sowohl herkömmli- che als auch spezifische Plagiatskontrolle funktioniert also noch nicht hinreichend zuverlässig. KI-Systeme bringen nunmehr KI-Systeme zur Plagiatskontrolle an ihre Grenzen.
Die beschriebenen betrieblichen Instrumente zur Verhaltens- und Leistungskontrolle können auf Wissen- schaftler mit Blick auf deren individuell gewährleistete
- 15 Jarass/Pieroth/Jarass, 17. Aufl. 2022, GG Art. 5 Rn. 133.
- 16 So bzgl. Hochschullehrern auch BVerfG 8.8.2000, 1 BvR653/97, NJW 00, 3635; Jarass/Pieroth/Jarass, 17. Aufl. 2022, GGArt. 5 Rn. 155.
- 17 DFG, Guidelines for Safeguarding Good Research Practice. Codeof Conduct, 2022, S. 18 f.
- 18 S. hierzu auch https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/ki-darf-chatgpt-wissenschaftliche-artikel-schreiben,TTxluZc (letzterZugriff am 27.02.2023).
- 19 Vgl. auch https://t3n.de/news/app-gptzero-chatgpt-plagi-at-1525329/ (letzter Zugriff am 27.02.2023).
- 20 BVerfG 13.4.2010, 1 BvR 216/07, BVerfGE 126, 1, 25; Jarass/Pieroth/Jarass, 17. Aufl. 2022, GG Art. 5 Rn. 149.
Wissenschaftsfreiheit nicht ohne Weiteres übertragen werden. Am ehesten kann deren Einsatz ausnahmsweise noch mit einer völlig fehlenden Beachtung der Grund- sätze wissenschaftlichen Arbeitens im Einzelfall oder mit dem Erhalt der Funktionsfähigkeit20 der jeweiligen Hochschule begründet werden.
III. Status Quo: Grundlagen des (Beschäftigten-) Datenschutzes im Kontext von Verhaltens- und Leis- tungskontrolle
Trotz vereinzelter rechtspolitischer Bemühungen in der Vergangenheit gibt es in Deutschland bislang kein (nati- onales) Beschäftigtendatenschutzgesetz.21 Ein durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) eingesetzter interdisziplinärer und unabhängiger Beirat kam in seinem Abschlussbericht im Januar 2022 zu dem Ergebnis, dass ein solches eigenständiges Gesetz aber durchaus erforderlich sei.22 Auch mit der Neuordnung des europäischen Datenschutzrechts durch die Daten- schutz- Grundverordnung (DSGVO) wird der Beschäf- tigtendatenschutz nicht direkt auf Unionsebene geregelt. Die DSGVO statuiert in Art. 88 Abs. 1 aber eine Öff- nungsklausel zur Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungskontext. Darüber hinaus zieht sie in Art. 88 Abs. 2 Grenzen für (automatisierte) Über- wachungssysteme am Arbeitsplatz, besonders mit Blick auf die Menschenwürde und berechtigte Interessen der Betroffenen.23
In Anwendung der Öffnungsklausel des Art. 88 Abs. 1 DSGVO stellt § 26 BDSG die relevante Rechtsgrundlage für die Verarbeitung personenbezoge- ner Daten im Rahmen von bestimmten Beschäftigungs- verhältnissen dar, die den allgemeineren Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO in ihrem Anwendungsbereich verdrängt.24 Gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG dürfen perso- nenbezogene Daten für die Zwecke des Beschäftigungs- verhältnisses (unter anderem) verarbeitet werden, wenn
21 Hierzu Heckmann/Paschke/Braun, jurisPK-Internetrecht, 7. Aufl. 2021, Kap. 7 Rn. 11.
22 Vgl. zum Ergebnis des unabhängigen, interdisziplinären Beirats zum Beschäftigtendatenschutz auch https://www.bmas.de/DE/ Service/Presse/Meldungen/2022/bmas-veroeffentlicht-ergebnisse- des-beirats-zum-beschaeftigtendatenschutz.html (letzter Zugriff am 27.02.2023).
23 BeckOK DatenschutzR/Riesenhuber, 42. Ed. 1.11.2022, DSGVO Art. 88 Rn. 91; Paal/Pauly/Pauly, 3. Aufl. 2021, DSGVO Art. 88 Rn. 17.
24 Maschmann, Führung und Mitarbeiterkontrolle nach neuem Datenschutzrecht, NZA-Beilage 2018, 115, 116.
66 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 63–70
es für die Durchführung des Beschäftigungsverhältnis- ses erforderlich ist. „Die Kontrolle, ob der Arbeitnehmer seinen Pflichten nachkommt“, gehört dabei ebenso zur Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses und fällt deshalb in den Anwendungsbereich des § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG.25
Erfolgt die Datenverarbeitung auf Grundlage einer Einwilligung, so legt § 26 Abs. 2 BDSG die Prüfkriterien für die Wirksamkeit der Einwilligung fest. Insbesondere die für das Beschäftigungsverhältnis charakteristische Machtasymmetrie ist nach § 26 Abs. 2 S. 1 BDSG für die Beurteilung der Freiwilligkeit der Einwilligung zu be- achten. Nach § 26 Abs. 2 S. 2 BDSG kommt eine Freiwil- ligkeit insbesondere in Betracht, wenn ein Vorteil für die beschäftigte Person erreicht wird. Dieser Vorteil kann sowohl wirtschaftlicher als auch rechtlicher Natur sein. Eine Einwilligung kann auch insbesondere dann freiwil- lig sein, wenn eine kongruente Interessenlage besteht.
Die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezo- gener Daten an staatlichen Hochschulen zu Zwecken der Forschung ist trotz des Spannungsverhältnisses von Da- tenschutz und Forschungsfreiheit unter bestimmten Vo- raussetzungen sinnvoll möglich.26 Geht es um die Verar- beitung personenbezogener Daten im Beschäftigungskon- text an staatlichen Hochschulen und Forschungseinrich- tungen, gilt die Vorschrift des § 26 BDSG allerdings nicht, außer es handelt sich bei der verarbeitenden Be- hörde um eine Hochschule des Bundes. Denn nach § 1 Abs. 1 BDSG öffnet sich der Anwendungsbereich des Gesetzes für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch öffentliche Stellen des Bundes (Abs. 1 S. 1 Nr. 1) und nicht-öffentliche Stellen (Abs. 1 S. 2), wozu beispiels- weise Arbeitgeber gehören.27 Für öffentliche Stellen der Länder, also auch die allermeisten staatlichen Hochschu- len, ist der Anwendungsbereich erheblich eingeschränkt (Abs. 1 S. 1 Nr. 2). Das BDSG greift hier nur, wenn diese Stellen Bundesrecht ausführen oder es sich bei den Stel-
- 25 Taeger/Gabel/Zöll, 4. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 41; zum BDSG a.F. BAG, 29.6.107, 2 AZR 597/16, NZA 2017, 1179 Rn. 26.
- 26 Einen guten Überblick hierzu bieten Bronner/Wiedemann,Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung bei wissenschaftlicherForschung an staatlichen Hochschulen, ZD 2023, 77 ff.
- 27 Vgl. BAG 7.5.2019, 1 ABR 53/17, NZA 2019, 1218 Rn. 29 f.
- 28 Spezielle Regelungen zur Datenverarbeitung im Beschäftigungs-kontext enthalten z.B. § 15 LDSG BW, § 18 BlnDSG, § 26 Bbg DSG, § 12 BremDSGVOAG, § 10 HmbDSG, § 23 HDSIG, § 10 DSG M‑V, § 12 NDSG, § 18 DSG NRW, § 20 LDSG RLP, § 22 SDSG, § 11 SächsDSDG, § 26 DSAG LSA, § 15 LDSG SH, § 27 ThürDSG.
- 29 Eine Übersicht und eine vergleichende Betrachtung mit § 26 BDSG findet sich bei Gola, Der Beschäftigtendatenschutz in den novellierten Landesdatenschutzgesetzen, ZD 2018, 448 ff.
len um Organe der Rechtspflege handelt und der Daten- schutz nicht durch Landesrecht geregelt ist. Die aller- meisten Landesdatenschutzgesetze enthalten spezielle Regelungen für den Beschäftigtendatenschutz,28 die sich in ihrer Reichweite aber teils deutlich unterscheiden.29
Schließlich ist im Rahmen des Einsatzes von KI-Sys- temen zudem Art. 22 Abs. 1 DSGVO zu berücksichtigen. Dieser verbietet allgemein (auch im Beschäftigungskon- text) ausschließlich aufgrund automatisierter Verarbei- tung – einschließlich Profiling – getroffene Entscheidun- gen, die rechtserhebliche Auswirkungen haben. Art. 4 Nr. 4 DSGVO definiert Profiling als automatisier- te Verarbeitung personenbezogener Daten, die darin be- steht, bestimmte persönliche Aspekte einer natürlichen Person zu analysieren und vorherzusagen. Hierzu gehö- ren beispielsweise das Verhalten und die Arbeitsleistung von Personen. Ein generelles Verbot von Profiling an sich enthält Art. 22 Abs. 1 DSGVO jedoch nicht, lediglich das Verbot aufgrund eines Profilings einer automatisier- ten beeinträchtigenden Entscheidung unterworfen zu werden.30
Automatisierte Entscheidungen auf Grundlage von Profiling können ausnahmsweise nach Art. 22 Abs. 2 DS- GVO zulässig sein,31 insbesondere aufgrund einer Ein- willigung. Ob eine solche aber innerhalb eines Beschäfti- gungsverhältnisses aufgrund des strukturellen Machtun- gleichgewichts als freiwillig gelten kann, ist zu hinterfragen.32
IV. Herausforderungen und Lösungsansätze
1. Interessensabwägung bei Leistungskontrolle am Arbeitsplatz
Gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG dürfen personenbezogene Daten im Beschäftigungskontext (unter anderem) verar- beitet werden, wenn die Verarbeitung für die Durchfüh- rung des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist.
30 Huff/Götz, Evidenz statt Bauchgefühl? – Möglichkeiten und recht- liche Grenzen von Big Data im HR-Bereich, NZA-Beilage 2019, 73, 76; Rudkowski, „Predictive policing“ am Arbeitsplatz, NZA 2019, 72, 75.
31 Vgl. Joos, Einsatz von künstlicher Intelligenz im Personalwesen unter Beachtung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1217 f. zum Einsatz von KI im Bewerbungsprozess.
32 Ablehnend bereits für den Bewerbungsprozess Joos, Einsatz von künstlicher Intelligenz im Personalwesen unter Beachtung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1217, 1221, auch für die Mitarbeiterentwicklung, sofern es keinen „echten Bestands- schutz“ für das Arbeitsverhältnis gibt. Vgl. auch Graf/Kemper, Optimierung und Produktivitätssteigerung durch Human Enhancement-Technologien, PinG 2021, 131, 136 f. („Machta- symmetrie zwischen Arbeitgeber und Beschäftigtem“).
Heckmann/Marx · KI-Einsatz zur Leistungskontrolle am (Hochschul-)Arbeitsplatz 6 7
Erforderlich ist eine Datenverarbeitung i.S.v. § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG, wenn die berechtigten Interessen und Zwecke des Arbeitgebers eine Datenverarbeitung erfordern.33 Das Kriterium der Erforderlichkeit findet sich auch in den meisten landesrechtlichen Vorschriften zur Verarbeitung personenbezogener Daten im Dienst- oder Beschäftigungskontext. Die Freiheit des Arbeitge- bers, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wie er seine Betriebe und Dienststellen organisiert, ist zu achten.34 Im Ergebnis ist eine zweistufige Verhältnismäßigkeitsprü- fung durchzuführen:35
Auf der ersten Stufe „muss die Überwachungsmaß- nahme für die Wahrung eines berechtigten Interesses des Arbeitgebers erforderlich sein“, auf der zweiten Stufe ist „die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu prüfen“.36
Auf der ersten Stufe ist zunächst festzustellen, dass die Kontrolle, ob ein Beschäftigter seinen Pflichten nach- kommt, essenziell zur Durchführung des Arbeitsverhält- nisses gehört.37 Für den Arbeitgeber sind Leistungskont- rollen in gewissem Umfang regelmäßig notwendig, nicht zuletzt auch um ordnungsgemäßen Compliance-Grund- sätzen zu genügen, etwa aus § 91 Abs. 2 AktG, §§ 30, 130, 9 OWiG.38
Auf der zweiten Stufe kommt es für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne maßgeblich auf die jeweiligen konkreten Umstände an. Aus der ver- fügbaren behördlichen und gerichtlichen Praxis sowie dem Schrifttum lassen sich jedoch einige „Leitplanken“ ermitteln.
Zulässige Leistungskontrolle: Die IT-Nutzung darf grundsätzlich kontrolliert werden, wenn eine Privatnut- zung verboten ist;39 allerdings muss insbesondere die
- 33 BeckOK DatenschutzR/Riesenhuber, 42. Ed. 1.11.2022, BDSG § 26 Rn. 114.
- 34 BeckOK DatenschutzR/Riesenhuber, 42. Ed. 1.11.2022, BDSG § 26 Rn. 114.
- 35 Maschmann, Führung und Mitarbeiterkontrolle nach neuem Da- tenschutzrecht, NZA-Beilage 2018, 115, 117. 36 Gola/Heckmann/ Gola/Pötters, 3. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 156 f.
- 37 Taeger/Gabel/Zöll, 4. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 41; zum BDSG a.F. BAG, 29.6.107, 2 AZR 597/16, NZA 2017, 1179 Rn. 26.
- 38 Taeger/Gabel/Zöll, 4. Aufl. 2022, BDSG § 26 Rn. 42; Stück, Com- pliance: Überwachungsmöglichkeiten des Arbeitgebers im Lichte aktueller Rechtsprechung, ArbRAktuell 2018, 31.
- 39 Maschmann, Führung und Mitarbeiterkontrolle nach neuem Datenschutzrecht, NZA-Beilage 2018, 115, 122; vgl. auch BAG 27.7.2017, 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327.
- 40 Maschmann, Führung und Mitarbeiterkontrolle nach neuem Datenschutzrecht, NZA-Beilage 2018, 115, 122.
- 41 LArbG München 23.7.2020, 2 TaBV 126/19; hierzu Wedde, Streit um Einigungsstellenspruch zur Einführung eines IT-Sicherheits- systems: Anlasslose präventive Verarbeitung von Beschäftigtenda-
Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.40 Nach Auffassung des LArbG München kann insoweit gegebenenfalls so- gar eine anlasslose Überwachung durch ein KI-IT-Si- cherheitssystem verhältnismäßig sein, wenn sie darauf abzielt, auffällige Aktivitäten zu identifizieren, die An- haltspunkte für eine Bedrohung der Informationssicher- heit sein können, insbesondere vor dem Hintergrund bankenaufsichtsrechtlicher und bankenaufsichtsbehörd- licher Vorgaben zur Datensicherheit.41
Unzulässige Leistungskontrolle: Jedenfalls anonyme bzw. nicht erkennbare und nicht abwendbare Überwa- chung stellt einen erheblichen Eingriff in das Daten- schutzrecht des Beschäftigten dar.42 Sie ist grundsätzlich unzulässig, § 26 Abs. 1 S. 2 BDSG reicht hierfür nicht.43
Eine „permanente, heimliche und in ihrem Volumen nicht einschätzbare Totalüberwachung des Umgangs mit dienstlich zu verwendenden IT-Systemen“ kann „allenfalls dann zulässig sein, wenn ein auf den einzel- nen Arbeitnehmer bezogener begründeter Verdacht für eine Straftat oder für eine schwerwiegende Pflichtver- letzung besteht“.44
Der dauerhafte Einsatz von Keyloggern ist vor die- sem Hintergrund nicht mehr verhältnismäßig.45 In aller Regel nicht mehr verhältnismäßig ist auch eine offene präventive Videoüberwachung am Arbeitsplatz.46 Das- selbe gilt für Videoüberwachungen, die die Intimsphäre berühren.47
Der flächendeckende Einsatz von GPS-Ortungssyste- men ist nach Auffassung des Landesbeauftragten für Da- tenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg i.d.R. nicht erforderlich, wenn der Aufenthaltsort des
ten durch KI-Software zulässig, jurisPR-ArbR 17/2021 Anm. 6. 42 Paal/Pauly/Pauly, 3. Aufl. 2021, DSGVO Art. 88 Rn. 16.
43 EGMR 7.12.2017, C‑329/16, EuZW 2018, 169 Rn. 121; Masch-
mann, Führung und Mitarbeiterkontrolle nach neuem Daten-
schutzrecht, NZA-Beilage 2018, 115, 121.
44 Wedde, Streit um Einigungsstellenspruch zur Einführung eines
IT-Sicherheitssystems: Anlasslose präventive Verarbeitung von Beschäftigtendaten durch KI-Software zulässig, jurisPR-ArbR 17/2021 Anm. 6.; vgl. auch BAG 27.7.2017, 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327.
45 Stück, Datenschutz = Tatenschutz? Ausgewählte datenschutz- und arbeitsrechtliche Aspekte nach DSGVO sowie BDSG 2018 bei präventiver und repressiver Compliance, CCZ 2020, 77, 81; vgl. auch BAG 27.7.2017, 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327.
46 Vgl. hierzu im Detail Stück, Datenschutz = Tatenschutz? Ausge- wählte datenschutz- und arbeitsrechtliche Aspekte nach DSGVO sowie BDSG 2018 bei präventiver und repressiver Compliance, CCZ 2020, 77, 81 f.
47 Maschmann, Führung und Mitarbeiterkontrolle nach neuem Datenschutzrecht, NZA-Beilage 2018, 115, 121.
68 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 63–70
Beschäftigten auch direkt bei diesem (etwa durch einen Anruf) erhoben werden kann. Eine solche dauerhafte Ortung kann i.d.R. nicht auf eine Einwilligung gestützt werden. Sie erzeugt zudem einen permanenten Kontroll- druck und ist daher unzulässig.48
Bei allem sind allgemein die Betroffenenrechte und die Informationspflichten zu wahren.49 Bemerkenswert ist insoweit der bereits erwähnte Beschluss des LArbG München v. 23.07.2020.50 Das Gericht äußerte sich zu ei- nem KI-IT-Sicherheitssystem, das einen umfassenden Datenzugriff ermöglicht und dessen Abläufe für Be- schäftigte intransparent sind. Nach Ansicht des Gerichts bestünden sachliche Gründe dafür, sicherheitstechni- sche Details des Systems nicht vollständig offenzulegen.51
2. Der Einsatz von KI zur Leistungskontrolle: Verschär- fung der Überwachung oder legitimes „Feintuning“?
KI-Einsatz und Datenschutzrecht stehen in einem Span- nungsverhältnis.52 Allemal definiert das Datenschutz- recht — aufgrund noch fehlender horizontaler Regulie- rung von KI-Tools – ein Mindestmaß an Grundregeln für den Einsatz von KI-Systemen.53
Beim Einsatz von KI-Systemen zur Leistungskontrol- le handelt es sich in der Regel um Profiling i.S.v. Art. 4 Nr. 4 DSGVO,54 dort ist als Regelbeispiel gerade die Arbeitsleistung genannt, die analysiert oder vorher- gesagt werden soll. Ausschließlich auf Automatisierung beruhende Entscheidungen auf der Grundlage von Pro- filing sind grundsätzlich aber nicht zulässig, Art. 22 Abs. 1 DSGVO. Soweit dies gilt, setzt die Verwer- tung des KI-Ergebnisses voraus, dass ein Mensch mit
- 48 Ratgeber Beschäftigtendatenschutz, Landesbeauftragter für Da- tenschutz und Informationsfreiheit Baden- Württemberg, 4. Aufl. 2020, S. 37 f., auch zu den Anforderungen, die an eine zulässige GPS-Überwachung zu stellen sind.
- 49 Dies ist ein allgemeines Problem und hängt nicht speziell mit dem Arbeitnehmerdatenschutz zusammen, hierzu bspw. Conrad, DSGVO 2.0 – Effizienter(er) Schutz durch KI?, DSRITB 2019, 391, 401 ff.
- 50 LArbG München 23.7.2020, 2 TaBV 126/19; hierzu Wedde, Streit um Einigungsstellenspruch zur Einführung eines IT-Sicherheits- systems: Anlasslose präventive Verarbeitung von Beschäftigtenda- ten durch KI-Software zulässig, jurisPR-ArbR 17/2021 Anm. 6.
- 51 Vgl. Wedde, Streit um Einigungsstellenspruch zur Einführung eines IT-Sicherheitssystems: Anlasslose präventive Verarbeitung von Beschäftigtendaten durch KI-Software zulässig, jurisPR-ArbR 17/2021 Anm. 6.
- 52 Kaulartz/Braegelmann/Paal, Artificial Intelligence und Machine Learning, Kap. 8.7 Rn. 38.
- 53 Hierzu Schefzig, Asimov 2.0 – Datenschutzrechtliche KI-Grund- regeln, DSRITB 2018, 491, 496 ff; i.E. auch Joos, Einsatz von
Entscheidungsspielraum die Entscheidung in einem ge- wissen Umfang nachprüft.55
Eine Rechtfertigungsmöglichkeit aufgrund von Ein- willigung dürfte aufgrund des strukturellem Machtun- gleichgewichts typischerweise entfallen. Gegebenenfalls können hier in gewissem Rahmen Betriebsvereinbarun- gen herangezogen werden.56
Aus datenschutzrechtlicher Sicht ist deshalb festzu- halten, dass „KI-basierte Gesamtlösungen“ in den seltens- ten Fällen DSGVO-konform zu gestalten sind. Denkbar sind jedoch „KI-basierte Einzellösungen“, die in einen komplexeren Datenverarbeitungsprozess eingebettet sind und insbesondere Raum für nicht ausschließlich automatisiert erfolgende Letztentscheidungen einräu- men.57 Hinz bringt diesen Ansatz mit folgendem Beispiel prägnant auf den Punkt:
„So darf etwa das KI-System den als unzuverlässig ein- geordneten Arbeitnehmer nicht selbsttätig zu einer Com- pliance-Schulung verpflichten oder ihn versetzen. Hinge- gen kann der Arbeitgeber auf Grundlage des Predictive Po- licing [Unterfall des Profilings] den Arbeitnehmer zur Schulungsteilnahme anweisen.“58
Dieser Ansatz kann ebenso auf Beschäftigte von Hochschulen und Forschungseinrichtungen angewendet werden.
In jedem Fall erfordert der Grundsatz der Transpa- renz (Art. 13–15 DSGVO), dass die Betroffenen über den Einsatz des KI-Tools und die Folgen unterrichtet wer- den.59 Es sind geeignete technisch-organisatorische Maßnahmen zu treffen, die insbesondere Erklärbarkeit
künstlicher Intelligenz im Personalwesen unter Beachtung der
DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1217.
54 Joos, Einsatz von künstlicher Intelligenz im Personalwesen unter Beachtung der DS-GVO und des BDSG, NZA 2020, 1216, 1217. 55 BeckOK DatenschutzR/von Lewinski, 42. Ed. 1.11.2022, DSGVO
Art. 22 Rn. 24a f.
56 Hierzu Holthausen, Big Data, People Analytics, KI und Ge-
staltung von Betriebsvereinbarungen – Grund‑, arbeits- und datenschutzrechtliche An- und Herausforderungen, RdA 2021, 19, 28 ff.
57 Kaulartz/Braegelmann/Meents, Artificial Intelligence und Machi- ne Learning, Kap. 8.8 Rn. 65 f.
58 Kaulartz/Braegelmann/Hinz, Artificial Intelligence und Machine Learning, Kap. 11 Rn. 25.
59 BeckOK DatenschutzR/Schild, 42. Ed. 1.11.2022, DSGVO
Art. 4 Rn. 67; Maschmann, Führung und Mitarbeiterkontrolle nach neuem Datenschutzrecht, NZA-Beilage 2018, 115, 118; Dies gibt bereits der Unionsgesetzgeber in Art. 88 Abs. 2 DSGVO
vor, vgl. Sydow/Marsch/Tiedemann, 3. Aufl. 2022, DSGVO
Art. 88 Rn. 18 f.
Heckmann/Marx · KI-Einsatz zur Leistungskontrolle am (Hochschul-)Arbeitsplatz 6 9
und Transparenz gewährleisten müssen.60 Nicht endgül- tig geklärt ist dabei, ob die Betroffenen auch Einsicht in den Algorithmus selbst erlangen müssen;61 dies wird oft- mals technisch nicht möglich sein, weshalb zumindest über die Eingangsdaten und die Herkunft der Daten in- formiert werden muss.62
V. Ausblick auf den KI-Einsatz zur Leistungskontrol- le im Beschäftigungskontext im Jahr 2030
Im kommenden Jahrzehnt ist zu erwarten, dass der Ein- satz von KI ‑Tools zur Leistungskontrolle und damit ver- bunden die Frage nach der datenschutzrechtlichen Zulässigkeit an Bedeutung gewinnen wird. Dies betrifft Beschäftigte in der Privatwirtschaft sowie in Hochschu- len und Forschungseinrichtungen gleichermaßen. Gleichzeitig sollten die hier skizzierten datenschutz- rechtlichen Anforderungen nicht allein als „Hemm- schuh“, sondern vielmehr als „Gestaltungskorridor“ ver- standen werden. Auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit hat darauf hingewiesen,
„dass in den nächsten Jahren entscheidende Weichen- stellungen für die KI getroffen werden und der Daten- schutz nicht zwangsläufig die Entwicklung beeinträch- tigen muss.“63
Perspektivisch soll daher die folgende These aufge- stellt werden: Richtig eingesetzt (d.h. insbesondere unter Ausschluss von automatisierten beeinträchtigenden Ent- scheidungen allein auf Grundlage des verwendeten KI- Tools) können „KI-basierte Einzellösungen“ zur Leis-
- 60 Joos/Meding, Künstliche Intelligenz und Datenschutz im Human Resource Management, CR 2020, 834, 837 ff.
- 61 Huff/Götz, Evidenz statt Bauchgefühl? – Möglichkeiten und recht- liche Grenzen von Big Data im HR-Bereich, NZA-Beilage 2019, 73, 76.
- 62 Huff/Götz, Evidenz statt Bauchgefühl? – Möglichkeiten und recht- liche Grenzen von Big Data im HR-Bereich, NZA-Beilage 2019, 73, 77.
- 63 BfDI fordert datenschutzgerechten Einsatz von KI, ZD-Aktuell 2019, 06806.
- 64 Bisweilen wird gar eine „Pflicht“ zum Einsatz von KI diskutiert, vgl. Kaulartz/Braegelmann/Meents, Artificial Intelligence und Machine Learning, Kap. 8.8 Rn. 4, der jedenfalls KI-basierte Ge- samtlösungen aber i.E. als kaum bis unvereinbar mit der DSGVO einstuft, Rn. 65.
- 65 Ebenso Kaulartz/Braegelmann/Meents, Artificial Intelligence und Machine Learning, Kap. 8.8 Rn. 66.
tungskontrolle nicht etwa zu einem Mehr an (Total-) Überwachung führen, sondern im Gegenteil der Wah- rung der Anforderungen des Datenschutzrechts dienen:64
Der Einsatz von KI kann etwa zur Wahrung des Grundsatzes der Speicherbegrenzung (Art. 5 Abs. 1 lit. e DSGVO) fruchtbar gemacht werden,65 denn eine KI kann die erhobenen Daten (zum Vorteil der betroffenen Person) unmittelbar prüfen, während eine menschliche Prüfung eine längere Speicherung der Daten erforderlich machen kann. Der Einsatz von KI kann zudem dem Gebot der Datenminimierung (Art. 5 Abs. 1 lit. c DSGVO) dienen, etwa durch verlässli- che Techniken der Anonymisierung.66 Denn während etwa im Falle der Videoüberwachung ein Mensch den Beschäftigten beobachten müsste, würde eine KI an des- sen Stelle treten, die datenschutzwidrige Inhalte sogleich löschen würde. Die Privatsphäre würde so also weniger tangiert. Es entfällt insbesondere das dauerhafte „Beobachtetsein“.
Perspektivisch gedacht könnte der Einsatz von „KI- basierten Einzellösungen“ sogar eines Tages dem Stand der Technik nach Art. 25 Abs. 1 DSGVO (Stichwort „Pri- vacy by Design“) entsprechen und wären daher sogar verpflichtend.67 Dies betrifft insb. die Anonymisierung. Weitergehender Schutz von Betroffenen ist auch durch den AI Act68 der Europäischen Union zu erwarten, der sich derzeit noch im Gesetzgebungsverfahren befindet.69 Der Verordnungsentwurf der EU-Kommission stuft in seinem risikobasierten Regulierungsansatz solche Syste- me als „Hochrisiko-KI-Systeme“ ein, die grundsätzlich mit einem hohen Risiko für die Grundrechte von natürli- chen Personen verbunden sind.70 Solche Systeme, zu
66 Kaulartz/Braegelmann/Meents, Artificial Intelligence und Machi- ne Learning, Kap. 8.8 Rn. 58 ff.
67 Kaulartz/Braegelmann/Meents, Artificial Intelligence und Machi- ne Learning, Kap. 8.8 Rn. 67.
68 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union (Entwurf zum AI Act), COM (2021) 206 final.
69 Siehe zum aktuellen Stand des Gesetzgebungsver-
fahrens https://eur-lex.europa.eu/legal- content/EN/ HIS/?uri=CELEX:52021PC0206 (letzter Zugriff am 27.02.2022).
70 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union (Entwurf zum AI Act), COM (2021) 206 final, S. 11, 13.
70 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 63–70
denen aufgrund der potenziellen Eingriffsintensität in die informationelle Selbstbestimmung betroffener Beschäf- tigter auch KI-Tools zur Verhaltens- und Leistungskont- rolle gehören, müssen künftig eine Vielzahl von organisa- torischen und technischen Anforderungen erfüllen, wozu auch eine erhöhte Transparenz im Sinne eines interpretierbaren Outputs (Art. 13 AIA‑E) sowie eine mögliche menschliche Überwachung (Art. 14 AIA‑E) gehören.
VI. Handlungsempfehlungen
Nach richtiger Auffassung stellt das Datenschutzrecht keine unüberwindbaren Hürden für den Einsatz von KI- Systemen zur Leistungskontrolle am Arbeitsplatz auf. Vielmehr setzt es den äußeren Rahmen für die Gestal- tung des Einsatzes solcher Tools.
Danach sind zumindest „KI-basierte Einzellösungen“ zur Leistungskontrolle denkbar, die in einen komplexe- ren Datenverarbeitungsprozess eingebettet sind und ins- besondere Raum für nicht ausschließlich automatisiert erfolgende Letztentscheidungen bieten.71
Hierzu ist es auch erforderlich, bereits in der Ent- wicklungsphase (Stichwort „Privacy by Design“, Art. 25 Abs. 1 DSGVO) über eine Begrenzung des KI- Einsatzes zur Leistungskontrolle nachzudenken,72 auch in zeitlicher Hinsicht oder begrenzt auf Stichproben, wo- bei KI wiederum helfen kann, ein angemessenes Maß zu finden.
VII. Zusammenfassung
Eine Leistungskontrolle am Arbeitsplatz ist aus Sicht des Arbeitgebers bzw. Dienstherrn grundsätzlich legitim, besonders weil und soweit es um die Erfüllung von Com-
pliance-Anforderungen in Betrieben und Dienststellen geht (Unterbindung von Betrug, Korruption, Spionage etc.). Dabei sind die Interessen der überwachten Beschäf- tigten, insbesondere deren Privatheit und Persönlich- keitsrechte, ebenso schutzwürdig. Dies gilt in besonde- rem Maße beim Einsatz von KI-basierten Kontrollsyste- men, mit und ohne automatisierte Einzelfallentscheidung. Solange es hier aber nicht zu einer „Totalüberwachung“ kommt, ist eine datenschutzkonforme Gestaltung der Leistungskontrolle denkbar, zumal der IT-Einsatz helfen kann, die Kontrolle auf das erforderliche und verhältnis- mäßige Maß zu reduzieren. Bei der Entwicklung ent- sprechender Systeme sollten Juristen und Informatiker zusammenwirken, ihr Einsatz muss zudem transparent und für alle Betroffenen (notfalls gerichtlich) überprüf- bar sein. Eine Verhaltens- und Leistungskontrolle von wissenschaftlichem Personal an Hochschulen und in Forschungseinrichtungen ist im Hinblick auf die Wis- senschaftsfreiheit nur sehr eingeschränkt möglich und zulässig. Auch hier können KI- Systeme aber künftig sinnvoll eingesetzt werden, um missbräuchlichem Ver- halten Einhalt zu gebieten.
Prof. Dr. Dirk Heckmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Recht und Sicherheit der Digitalisierung an der Techni- schen Universität München. Nebenamtlich wirkt er als Direktor am Bayerischen Forschungsinstitut für Digita- le Transformation (www.bidt.digital) und als Verfas- sungsrichter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof.
Dr. Lorenz Marx ist Corporate Counsel bei Amazon. Zuvor war er Rechtsanwalt bei verschiedenen Groß- kanzleien. Von 2019–2021 hat er als PostDoc und geschäftsführender Assistent maßgeblich den neuen Lehrstuhl von Professor Heckmann an der TU Mün- chen mit aufgebaut.
- 71 Kaulartz/Braegelmann/Meents, Artificial Intelligence und Machi- ne Learning, Kap. 8.8 Rn. 65 f.
- 72 Praktische Schwierigkeiten könnte eine solche Begrenzung des KI-Einsatzes insbesondere im Hinblick auf die fortschreitende Verbreitung von Big Data-Analysen und die immer tiefgrei-
fendere Vernetzung i.R.v. Industrie 4.0 bereiten; hier ist es ggf. kaum mehr möglich, einzelne Use Cases/Beschäftigte/Zeitpunkte „herauszufiltern“, vgl. Puschky, Datenschutzrechtliche Implikatio- nen in der Industrie 4.0 am Beispiel des Forschungsprojekts „IIP- Ecosphere“, ZD-Aktuell 2021, 05101.
Dieser Aufsatz wird nicht in der Lage sein, das Thema umfassend zu behandeln,1 vielmehr werden wesentliche Gedankenansätze der Künstlichen Intelligenz (KI) beleuchtet und erläutert. Auf Mathematik wird weitge- hend verzichtet. Der Beitrag zeigt die elementaren Wirk- prinzipien heutiger KI auf, verweist auf eine Reihe erfolgreicher Anwendungen und zeigt Perspektiven für die Zukunft auf.
I. Was ist künstliche Intelligenz?
Die Vision, dass Maschinen eines Tages sprechen, abs- trakte Konzepte bilden, die gleichen Probleme wie Men- schen lösen und sich ständig verbessern, führte 1956 zur Gründung des Forschungsgebiets Künstliche Intelligenz (KI). Es war schon immer ein Traum der Informatiker, dass man mit einem Computer intelligentere Dinge tun kann als nur Zahlen zu addieren und zu multiplizieren.
Künstliche Intelligenz (KI, engl. artificial intelligence oder AI) definiert man heute als Teilgebiet der Informa- tik, das sich mit der Automatisierung intelligenten Ver- haltens und dem maschinellen Lernen befasst. Der Be- griff, ist schwierig zu definieren, da es bereits an einer ge- nauen Definition von „Intelligenz“ mangelt. Dennoch wird er in Forschung und Entwicklung verwendet.2
Im Allgemeinen bezeichnet Künstliche Intelligenz (KI) den Versuch, bestimmte Entscheidungsstrukturen des Menschen nachzubilden, indem z. B. ein Computer so gebaut und programmiert wird, dass er von Daten ler- nen und relativ eigenständig Probleme bearbeiten kann. Künstliche Intelligenz gilt als die wichtigste Basistechno- logie unserer Zeit, verbunden mit der Aussicht auf subs- tanzielle Produktivitäts- und Wachstumseffekte quer durch alle Branchen. Nach vielen Misserfolgen dauerte es über 55 Jahre bis die KI leistungsfähige Ergebnisse vorweisen konnte. Vor etwa 10–12 Jahren hatte die KI letztendlich ihren Durchbruch.
1 2021 Study Panel Report der Stanford University „The One Hundred Year Study on Artificial Intelligence (AI100)”, umfasst 82 Seiten.
II. Paradigmenwechsel: vom modellbasierten Ansatz zum Lernen
Die frühen Jahre der Künstlichen Intelligenz (erste Ansätze schon 1956) waren ein ziemlicher Misserfolg (syntaxorientierte, graph- und regelbasierte Ansätze).
Der klassische Ansatz der KI zur Lösung von Proble- men, wie auch in vielen anderen Bereichen sieht folgen- dermaßen aus: Man macht sich ein deterministisches oder auch stochastisches mathematisches Modell von ei- ner Problemstellung und mit numerischen Optimie- rungsmethoden ermittelt man die Parameter des Mo- dells, welche eine Zielfunktion oder ein Gütekriterium optimal erfüllen. Dabei sind i. Allg. sehr schwierige ma- thematische Gleichungen zu bewältigen.
Mit diesem Ansatz war die KI jedoch über einige Jahrzehnte sehr wenig erfolgreich.
1. Künstliche Neuronale Netze
Mit dem Einsatz von künstlichen Neuronalen Netzen (KNN) vollzog man einen radikalen Paradigmenwech- sel.
Anstatt für ein Problem ein Modell zu entwickeln, die Parameter eines Lösungsansatzes zu optimieren und einen Algorithmus zu schreiben (prozedurale schritt- weise Anweisungen) trainiert man ganz einfach ein Neu- ronales Netz mit Daten oder Ergebnissen von einem Ex- periment, um eine optimale Lösung durch systematische Suche über dem gesamten Ereignisraum zu finden.
In Anlehnung an das menschliche Gehirn schuf man ein mathematisches Modell von einem NN. Solch ein Netz lernt, ohne dass man auch nur eine einzige Zeile Programmcode schreiben muss. Den Code für ein Netz schreibt man nur einmal für die Netzoptimierung und dann kann es für unterschiedliche Aufgaben i. Allg. un- verändert übernommen werden.
Hans Burkhardt
Ein Beitrag zur Künstlichen Intelligenz
2 Wikipedia: „Künstliche Intelligenz“. Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
72 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 71–78
Für ein einzelnes natürliches Neuron (Abb. 1) wurde 1943 ein mathematisches Modell veröffentlich, welches heute noch Verwendung findet (Abb. 2).
Die neuronale Aktivität wird durch ein Skalarpro- dukt zwischen dem Gewichtsvektor w und den Ein- gangskanälen xi mit einer sich anschließenden nichtli- nearen Aktivierungs-Funktion f(s) beschrieben. Die Eingangskanäle werden gespeist von Sensoren wie das Auge oder das Ohr. Dabei können die Erregungen xi ver- stärkend oder hemmend wirken, was zu positiven oder negativen Gewichtswerten wi korrespondiert. Ein hoher Gewichtswert bedeutet, dass ein Neuron seine Informa- tion mit hohem Einfluss an ein Neuron der nächsten Schicht weitergibt, ein niedriger Gewichtswert bedeutet, dass das Vorgängerneuron keinen großen Einfluss auf das nachfolgende Neuron besitzt.
Ein einzelnes Neuron kann bis zu 10.000 Synapsen besitzen und damit von so vielen Neuronen der vorher- gehenden Schicht beeinflusst werden.
Das gesamte Gehirn besteht nun aus sehr vielen La- gen solcher Neuronen, wobei ein Neuron einer Schicht
seine Information an die Neuronen der nachfolgenden Schichten weitergibt. Damit erhält man das Modell des Multilagen-Perceptrons.
Die Ein-Ausgangsabbildung oder die Funktion des Netzes wird allein durch die Gewichte der Synapsen in Abb. 2 festgelegt. Lernen bedeutet diese Gewichte opti- mal an die Bedürfnisse des Netzes anzupassen. Stark ver- einfacht geschieht dies, indem man die Gewichte gering- fügig verändert und den Wert beibehält, falls das Ergeb- nis sich dadurch verbessert hat. Das Netz wird durch das Ergebnis einer Zielfunktion belohnt oder bestraft, falls man eine richtige oder falsche Anpassung eines Gewich- tes durchgeführt hat. Dieses verstärkende Lernen („Re- inforcement Learning“) nutzt ein ähnliches Prinzip wie das menschliche Gehirn. Eine Zielfunktion ist z. B. beim Schachspielen die Anzahl der gewonnenen Partien.
Genauer gesagt beinhaltet Lernen den Einsatz von numerischen Optimierungsverfahren für die Berech- nung der Gewichte. Beliebt sind Gradientenalgorithmen (z.B. Backpropagation-Algorithmus) zur Maximierung einer Zielfunktion. Wenn man auf den höchsten Berg im
Abb. 2: Mathematisches Modell eines Neu- rons mit seinen Verbindungen von 19433
Abb. 1: Natürliches Neuron
Abb. 3: Das Multilagen-Perceptron mit 3 Schichten4
3 W. S. McCulloch and W. Pitts: “A logical calculus of the ideas imma– 4 Rosenblatt, in: The perceptron: a probalistic model for information nent in neurons activity”, Bull. Math. Biophys., vol. 5, pp. 115–133, storage and organization in the brain“, Psychological Review, 1958. 1943.
Burkhardt · Ein Beitrag zur Künstlichen Intelligenz 7 3
Schwarzwald möchte, so erreicht man das, indem man immer den Weg des steilsten Anstiegs folgt (Gradien- tenalgorithmus). Sucht man die xy-Koordinaten des Feldbergs und startet man mit den Koordinaten von Bä- renthal, so wird man damit aller Voraussicht nach am Feldberg rauskommen. Der Feldberg ist das globale Ma- ximum im ganzen Schwarzwald mit 1493 m. Startet man hingegen in Menzenschwand und folgt immer dem Weg des steilsten Anstiegs, so wird man voraussichtlich am Herzogenhorn rauskommen. Dies ist nur ein lokales Maximum mit nur 1414 m Höhe und damit lediglich eine suboptimale Lösung.
Universalität eines KNNs: Es gibt einen schönen Be- weis, dass man mit nur 3 Lagen eines Perceptrons jede beliebige mathematische Abbildung realisieren kann. Aber mit immer mehr Lagen erhöht man die Flexibilität und damit die Leistungsfähigkeit eines KNNs.
Generalisierungsfähigkeit eines NN: Wichtig zu wissen ist, wie sich das Netz in nicht gelernten Situatio- nen verhält. KNNs sind im Allgemeinen in der Lage zu
interpolieren oder auch zu extrapolieren und damit auch auf nicht gelernte Situationen zu reagieren.
Dieser Lernansatz mit Künstlichen Neuronalen Net- zen war revolutionär in der KI, aber die Netze waren für die Praxis weitgehend untauglich. KNNs erfüllten vor 20 Jahren noch nicht die an sie gesetzten Hoffnungen und wurden ad acta gelegt. Man konnte lediglich relativ klei- ne Netze bis etwa 1.000 — 10.000 Neuronen numerisch stabil beherrschen. Dies reichte wegen der geringen Va- riabilität nicht aus, um reale große Probleme zu lösen. Wählte man größere Netze, so erzielte die Optimierung i. Allg. nur suboptimale und weitgehend unbrauchbare Ergebnisse und man hat deshalb den KNNs keine Zu- kunft gegeben.
Sie waren zu diesem Zeitpunkt lediglich eine akade- mische Spielwiese, aber kein reales Instrument für harte Anwendungen. Andere mathematische Methoden wa- ren wesentlich leistungsfähiger (z.B. Support Vector Machines).
Abb. 4: Ein künstliches Neuronales Netz mit mehreren Lagen zur Musteerkennung von handgeschriebenen Ziffern
Abb. 5a: Überkopfpendel Abb. 5b: Überkopfpendel mit einem zweiten Gelenk
74 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 71–78
III. Überkopfpendel
Ein sehr frühes Experiment in der KI war das Überkopf- pendel, wobei damit insbesondere der Paradigmenwech- sel verdeutlicht werden kann.
Ein kleiner Wagen muss so bewegt werde, dass ein Stab mit einem Gelenk auf dem Wagen nicht umfällt (Abb. 5). Selbst wenn man den Stab antippt (Störung), muss er wieder ausgeregelt werden und darf nicht umfallen.
Dieses Problem wurde schon vor längerer Zeit analy- tisch gelöst. Man hat eine Differentialgleichung für die Bewegung und die Dynamik des Stabes aufgestellt und dann mit Methoden der Regelungstheorie einen Regler entwickelt. Dies gelingt auch für den schwierigeren Fall, dass der Stab noch ein zweites Gelenk hat (theoretisch wurde auch der Fall mit n Gelenken gelöst); auch dieser Stab wird senkrecht gehalten.
Die gleiche Regelung wird z.B. beim Start einer Rake- te benötigt. Ohne Regelung würde die Rakete nach kur- zer Zeit umkippen.
Man kann nun aber einwenden, dass es auch einem Kind nach einiger Zeit Übung gelingt, einen Stab auf der Hand zu balancieren, ohne etwas von Differentialglei- chungen und Reglerentwurf zu verstehen. Das Kind lernt die Lösung durch Experimentieren.
Dies hat KI-Wissenschaftler motiviert, das Problem des Überkopfpendels mit einem KNN zu lösen, was mit großem Erfolg gelang und mit einem wesentlich gerin- gerem Entwicklungsaufwand verbunden war als die ana- lytische Lösung. Ein schönes Video für die Regelung ei- nes Überkopfpendels mit einem zweiten Gelenk findet man unter der Internet-Adresse.5
Ein sehr ähnliches Beispiel, aber noch wesentlich komplexer, ist die Aufgabe, einem humanoiden Roboter den aufrechten Gang oder Treppen steigen beizubrin- gen. Die Robotik hat erstaunlich lange gebraucht, um wirklich funktionierende humanoide Zweibeiner zu ent- wickeln. Denn Gehen ist keine einfache Aufgabe, vor al- lem auf zwei Beinen. Man muss die Vorwärtsbewegung kontrollieren und sich gleichzeitig aufrecht halten. Es ge- lang mit Hilfe eines Neuronales Netzes und Reinforce- ment Lernen erfolgreich eine recht flüssig aussehende humanoide Gehbewegung nachzuahmen.6 Ein ein- drucksvolles Video findet man unter.7
5 Video Überkopfpendel: https://blog.otoro.net/2015/02/11/cne-algorithm-to-train-self- balancing-double-inverted-pendulum/ (letzter Zugriff am 08.03.2023)
https://otoro.net/ml/pendulum-cne/ (letzter Zugriff am 08.03.2023)
IV. Deep Blue
Ein erster Durchbruch der KI gelang 1996 als mit dem von IBM entwickelten System Deep Blue, mit der Schach-Weltmeister Garri Kasparov in sechs Partien geschlagen wurde. Die Software dazu war klassisch regel- basiert geschrieben und der Entwicklungsaufwand dafür war erheblich. Schachcomputer im Stil von Deep Blue verrichten ihre Arbeit mithilfe des sogenannten Alpha- Beta-Algorithmus. Dahinter steckt im wesentlichen bru- tale Rechengewalt („brute force“-Ansatz), wobei alle möglichen Züge bis zu einer gewissen Spieltiefe durchge- rechnet werden. Außerdem war der Ansatz zwar adaptiv, aber nicht lernend.
Das Projekt Deep-Blue kostete IBM insgesamt etwa 5 Millionen US-Dollar. Zudem musste ein sehr leistungs- fähiger großer Rechner verwendet werden.
Im Vorgriff auf die nächsten Kapitel: Alpha Zero lernte Schach in nur 4 Stunden und erreichte einen Elo- Wert von ca. 3300. Der Elo-Wert ist eine Maßzahl für die Spielstärke einer Person oder einer Maschine. Der am- tierende Weltmeister Magnus Carlsen hat einen Elo- Wert von etwa 2.850. Ein Mensch braucht in der Regel mindestens 15 Jahre um auf Weltniveau Schach zu spielen.
V. Der Durchbruch: Deep Learning mit Faltungsnet- zen.
Es gab einen historischen Durchbruch der künstlichen Intelligenz in den Jahren 2008–2016 mit Hilfe sehr gro- ßer künstlicher Neuronaler Faltungsnetze (convolutio- nal networks) mit vielen Lagen (Deep Learning). Damit ist man in der Lage sehr große Datenmengen zu verar- beiten. Wir können Maschinen entwickeln, welche intel- ligentes Handeln direkt aus den vorliegenden Daten ler- nen können, anstatt programmiert zu werden.
Heute beherrscht man durchaus Netze mit 108 – 1011 Neuronen mit stabilen numerischen Ergebnissen. Das menschliche Gehirn zum Vergleich, besitzt 1011 = 100 Milliarden Neuronen.
Bei Faltungsnetzen (convolutional networks, CNN) sind lokal benachbarte Neuronen miteinander gekop- pelt. Dies kann als mathematische Regularisierung des KNNs interpretiert werden und deshalb konvergieren
6 Haarnoja, Tuomas, et al. „Learning to walk via deep reinforcement learning.“ arXiv preprint arXiv:1812.11103 (2018).
7 Video zum Thema Laufen lernen: https://youtu.be/WmN7zq-D3cg (letzter Zugriff am 08.03.2023)
Burkhardt · Ein Beitrag zur Künstlichen Intelligenz 7 5
damit auch sehr große und tiefe Netze mit vielen Lagen, wie sie in realen Anwendungen benötigt werden.
Es gab glücklicherweise ein paar wenige Wissen- schaftler, welche den Glauben an das Potential der KNNs trotz der frühen Misserfolge nicht verloren. Ihnen ist es zu verdanken, dass KNNs heute auch für sehr große Net- ze in realen Anwendungen eingesetzt werden können. Yoshua Bengio, Geoffrey Hinton und Yann LeCun, wurde 2018 der Turing Award verliehen; diese Auszeichnung gilt als der Nobelpreis der Informatik. Alle drei werden durch ihre zum Teil gemeinsamen Arbeiten als „Väter der Deep-Learning-Revolution“ angesehen (siehe dazu auch8,9). Yan LeCun gilt als Schöpfer der Convolutional Neural Networks.
VI. AlphaGo Zero und Alpha Zero von Deep Mind (Google)
1. AlphaGo Zero (Okt 2017)10
Das Chinesische Brettspiel Go besteht aus nur vier Grundregeln, gilt aber als eines der komplexesten Brett- spiele der Welt, wesentlich komplexer als Schach.
Vier Versionen von AlphaGo zählt DeepMind mitt- lerweile. Sie alle beruhen auf einer Kombination von neuronalen Netzen und der Baumsuchtechnik Monte Carlo Tree Search (MCTS).
Die ursprüngliche AlphaGo-Version, besiegte 2016 den 18-fachen Go-Weltmeister Lee Sedol mit 4:1. Alpha Go trainierte ein KNN zunächst mit allen je internatio- nal aufgezeichneten Go-Wettbewerben. Danach spielten zwei AlphaGo-Maschinen gegeneinander und verbes- serten ihre Spielstärke noch einmal um einen deutlichen Prozentsatz.
Der Nachfolger AlphaGo Zero, lernt durch Millionen von Partien gegen sich selbst, vorgegeben werden ledig- lich die Spielregeln.
Ein neues Paradigma: Lernen ohne jegliches Vorwissen und Verzicht auf menschliches Wissen! Vorhergehende Versionen lernten zunächst tausende von Menschen auf Turnieren gespielte Partien. Der Lernvorgang funktio- niert alleine nach dem Prinzip des „Reinforcement-Lear- ning”, indem das Programm gegen sich selbst spielte und ohne das menschliche Vorwissen über Eröffnungen und Endspiele zu verwenden und ohne die komplexe Theorie der Spiele zu studieren. Es stellte sich heraus, dass die Verwendung von menschlichem Wissen eher hinderlich war und zu einer schlechteren Konvergenz des Lernvor- gangs führte.
Ein menschlicher Spieler hätte inzwischen keine Chance mehr gegen die Maschine zu gewinnen (Abb. 6). Sehr interessant ist auch, dass die KI vollkommen neue Spielstrategien herausfand, welch zuvor noch von
keinem menschlichen Spieler gespielt wurden.
2. Alpha Zero von DeepMind (Dez 2017)11
Alpha Zero zeigt eine völlig neue Entwicklung auf, näm- lich hin zur universellen Lernmaschine.
AlphaZero ist ebenfalls eine Software der Google- Tochter DeepMind. Der Nachfolger von AlphaGo lernt durch Millionen von Partien gegen sich selbst, vorgege- ben werden lediglich die Spielregeln.
Ein selbstlernender Algorithmus hat 3 komplexe stra- tegische Spiele gelernt, ohne die komplizierte Theorie, welche sich dahinter verbirgt, zu studieren. AlphaZero war in der Lage, mit einem einzigen KNN gleichzeitig Go, Schach und Shogi (Japanisches Schach) zu lernen.
Abb. 6: Fortschritt in der
- 8 Sze, Y. H. Chen, T. J. Yang and J. S. Emer: „Efficient Processing of Deep Neural Networks: A Tutorial and Survey“, In Proceedings of the IEEE, vol. 105, no. 12, pp. 2295–2329, Dec. 2017
- 9 Jason Mayes: „Machine Learning 101“, https://docs.google.com/ presentation/d/1kSuQyW5DTnkVaZEjGYCkfOxvzCqGEFzWB y4e9Uedd9k/edit#slide=id.g168a3288f7_0_58 (letzter Zugriff am
Spielstärke von AlphaG0
(08.03.2023).
10 David Silver et al.: „Mastering the game of Go without human know-
ledge”, Nature 550, 354–359 (19. October 2017).
11 David Silver et al.: „Mastering Chess and Shogi by Self-Play with a
General Reinforcement Learning Algorithm”, arXiv:1712.01815 [cs. AI], Cornell University.
76 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 71–78
Ohne jegliches Vorwissen, außer den Spielregeln, er- reichte das System nach 24 Stunden übermenschliche Spielstärke in allen drei Spielen.
Das System lernte:
– Shogun in nur 2 Stunden – Schach in 4 Stunden
– Go in 8 Stunden
Die ursprüngliche AlphaGo-Version, musste noch meh- rere Monate lang trainiert werden!
Bei der hohen Überlegenheit des Ansatzes gegenüber Menschen macht es keinen Sinn mehr KI-Lösungen durch Testspiele gegen die besten Spieler der Welt zu be- weisen. „Computerschachprogramme sind mittlerweile so gut, dass es illusorisch ist, dagegen zu spielen“, sagt der Weltklassespieler Johannes Zwanzger.
Deshalb hat man Alpha Zero gegen die bisher besten klassisch entworfenen Brettspielprogramme antreten lassen. Es spielte stärker als Stockfish (Schach) und Elmo (Shogi) und bewies damit eindrucksvoll die Überlegen- heit des selbstlernenden Ansatzes der KI, bei gleichzeitig wesentlich geringerem Entwicklungsaufwand. Außer- dem war es stärker als das zuvor nur für Go entwickelte AlphaGo Zero.
In 100 Spielen hat AlphaZero kein einziges Spiel in Schach verloren, es verlor 8 bei Shogi und 40 bei Go. Der Algorithmus lief auf einem einzigen PC mit 4 TPUs. Stockfish und Elmo verwendeten 64 CPU-Kerne.
3. Fortschritte bei der Hardware und dem Energiever- brauch beim Spielen
Die Fortschritte beim Energieverbrauch und bei der Komplexität der verwendeten Hardware sind enorm. Nur noch eine Maschine mit 4 TPUs braucht AlphaGo Zero; bei der ersten Version war es noch ein Cluster mit
über 1000 CPU-Kernen und 176 GPUs. Tensor Proces- sing Units (TPUs), auch Tensor-Prozessoren, sind von Google entwickelte anwendungsspezifische Chips um Anwendungen im Rahmen des maschinellen Lernens zu beschleunigen.
Es wird voraussichtlich nicht lange dauern, bis diese Spielleistung auch auf Mobiltelefonen verfügbar sein wird.
VII. Besser als der Mensch
Der Gradmesser für Leistungsmessungen bei Künstli- cher Intelligenz war immer der Mensch
Inzwischen sind viele KI-Lösungen in unterschied- lichsten Anwendungen wesentlich besser geworden als der Mensch und sie lernen auch wesentlich schneller. Man darf gespannt sein, was von dieser Entwicklung noch zu erwarten ist. Neurochips lernen 10.000-mal schneller als unser Gehirn und sie finden häufig neue Lösungen für Probleme, welche Menschen zuvor noch nie entdeckt haben.
Weitere Anwendungsbeispiele der KI:
– Klarer Sieg für die künstliche Intelligenz: Beim
US-Gameshow-Klassiker „Jeopardy“ hat der IBM- Computer „Watson“ (semantische Suchmaschine) zwei menschliche Champions besiegt (2011).
– Lernen von Atari-Spielen mit KI basierend alleine auf Videoaufnahmen des Computer-Bildschirms. Ersten Ansätzen mit Reinforcement Lernen gelang es sehr erfolgreich eine Anzahl von Atari-Spielen zu lernen. Man scheiterte jedoch bei bestimmten Spie- len. Die Autoren von „Go-Explore“12 erzielten erheb- liche Fortschritte durch eine Kombination von CNNs mit strategischen Entscheidungsstrategien
Abb. 7: Fortschritte bei der Hardware und dem Energieverbrauch beim Spielen
12 Ecoffet, A., Huizinga, J., Lehman, J., Stanley, K. O., & Clune, J. (2021). „First return, then explore“, Nature, 590(7847), 580–586.
Burkhardt · Ein Beitrag zur Künstlichen Intelligenz 7 7
und Domänenwissen. Go-Explore merkt sich kon- krete Zustände der Lösungsdomäne und geht immer wieder zum letzten erfolgreichen Punkt zurück, um von dort aus erneut alles zu erkunden. In allen 55 getesteten Titeln spielte Go-Explore insgesamt über- menschlich, selbst im Erkundungsspiel „Pitfall!“, in dem ältere KIs bislang überhaupt keine Punkte erzielen konnten. Das Programm setzte einen Rekord indem es den menschlichen Weltrekord brach.
– Handschrifterkennung:
Handschrifterkennung war schon immer eine Domäne des Menschen, welche man von Kind auf trainiert hat. Maschinelle Lösungen taten sich zunächst schwer, vergleichbare Lösungen zu finden. Klassische Ansätze der Mustererkennung erreichten dann doch bemerkenswerte Ergebnisse mit einer Fehlerrate von nur 0,6%. Getestet wurden die Lösun- gen anhand der MNIST-Datenbank, welche tausen- de von handgeschriebenen Buchstaben und Ziffern enthält. Menschen erreichen bei dieser Datenbank eine Fehlerrate von 1,4%. Die besten Ergebnisse mit Deep Learning liegen inzwischen bei einer Fehlerra- te von 0,21% und damit fast 7‑mal besser als der Mensch.13
– Ankündigung von DeepMind Health durch Goog- le (24. Febr. 2016)
– Google: DeepMind reduzierte mit maschinellem Lernen den Energieverbrauch der Kühlsysteme in ihren Forschungszentren um erstaunliche 40%.
– Google trainiert ein einziges Neuronales Netz welches 100 Sprachen übersetzen kann.
– Luftkampf (Dog Fight) gegen einen der erfahrens- ten Piloten der US-Air Force. Der Pilot hatte keine Chance gegen die KI.
– Sieg beim Pokerspiel: Die siegreiche KI-Software mit Namen Libratus wurde von zwei Forschern der
Carnegie Mellon-Universität entwickelt und strich bei dem Match gegen vier der weltbesten Pokerspie- ler mit deutlichem Vorsprung den angeblichen Mil- lionen-Pot ein. Dies ist insofern bemerkenswert, weil man der KI keinen so großen Erfolg prophezeit hat, wo die menschliche Intuition oder das „Bauch- gefühl“ benötigt wird.
– ImageNet ist ein jährlicher Bilderkennungswettbe- werb, also z.B. die Frage ist in einem Bild eine Katze zu finden. 2015 unterbot ein Deep-Learning-System von Microsoft in einer Kategorie mit 4,9 Prozent die menschliche Fehlerrate von 5,1 Prozent.
– Google Musiksuche; die Musikerkennungssoftware von Google erkennt in wenigen Sekunden, welches Musikstück gerade zu hören ist; vielmehr ist das Programm jetzt auch in der Lage, Musikstücke durch bloßes Vorsummen, Pfeifen oder Singen zu erkennen.
VIII. Computer-Hardware
Der Erfolg beim Maschinellen Lernen ist nur möglich mit enormer Rechenleistung. Eine zentrale Rolle spielen dabei GPUs. Eine „GPU“ ist die Graphic Processing Unit, also der Prozessor der Grafikkarte eines PCs. Mit sol- chen Graphikkarten lassen sich Lernvorgänge bei gro- ßen KNNs erheblich beschleunigen.
Leistungsdaten der Grafikkarte NVIDIA GeForce GTX 1080:
– 2.560 Kerne, Takt: 2 GHz
– 7,2 Milliarden Transistoren
– 10 TeraFLOPS = 1013 FLOPS = 10.000.000.000.000
FLOPS
– (1 FLOP ist eine Floating-Point-Operation wie z.B.
eine Addition oder eine Multiplikation zweier Gleit- kommazahlen)
13
Abb. 8: Grafikkarte NVIDIA GeForce GTX 1080
A. Baldominos, Y. Saez, P. Isasi: “A survey of handwritten character recognition with MNIST and EMNIST” Applied Sciences, 2019 — mdpi.com (letzter Zugriff am 08.03.2023).
78 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 71–78
- – Etwa 100-mal schneller als ein PC
- – Energieverbrauch: ca. 150 Watt
- – Kosten: ca. 800,-€Zum Vergleich:
- – 2002 erreichte der weltweit schnellste Supercompu- ter 10 TFLOPS,
- – Energieverbrauch: 3,2 MWatt
- – Kosten: 50 Mio$ –Dass man heute alles auf einem PC rechnen kann und keinen Supercomputer für 50 Millionen braucht, hat ganz wichtig dazu beigetragen, dass viele tausend Wis- senschaftler und Entwickler auf der ganzen Welt heute an solchen Problemen arbeiten und die Systeme weiter- entwickeln können.XI. AusblickIn den letzten 5 Jahren hat die KI große Fortschritte ins- besondere auf folgenden Gebieten gemacht: Computer Vision, Spracherkennung und Sprachsynthese, natürli- ches Sprachverstehen, Bild- und Video Generierung, Multiagentensysteme, Planungsstrategien, Robotik, Spiele, medizinische Diagnose, Logistik, autonomes Fahren, Übersetzer, Arzneimittelsynthese. Fortschritte wurden erzielt in Bezug auf: Lernen, Leistungsfähigkeit, Hardware und Energieverbrauch.Es ist zu erwarten, dass in naher Zukunft viele weite- re Anwendungsgebiete hinzukommen. Z.B. werden Suchmaschinen in der Lage sein, wesentlich präzisere se- mantische Anfragen zu beantworten und nicht nur eine Ansammlung von Stichwörtern auszuwerten. Auf Mo- biltelefonen wird die KI bereits intensiv eingesetzt.Google ist überzeugt vom großen Potential von Deep Learning und hat deshalb mit einer Erstinvestition von
600 Mio US$ die Tochterfirma Deep Mind gegründet. Apple, IBM und Microsoft ziehen nach und stellen viele neue Mitarbeiter für dieses Gebiet ein.
China strebt nach weltweiter Dominanz bei Künstli- cher Intelligenz. Der Staatsrat der Volksrepublik China hat im Juli 2017 die Künstliche Intelligenz zur wichtigs- ten Schlüsseltechnologie erklärt und einen Plan zu deren Weiterentwicklung beschlossen mit enormen Investitio- nen. Schon 2030 soll die chinesische KI-Industrie min- destens 150 Milliarden US$ auf diesem Gebiet umsetzen.
Trotz der großartigen Erfolge der KI im letzten Jahr- zehnt, müssen die Ergebnisse jedoch auch etwas relati- viert werden, da alle damit gelösten Probleme wie etwa typischerweise das Schachspiel, einer gewissen Klasse von Intelligenz zuzuordnen sind, welche man als „me- chanistische Intelligenz“ bezeichnen könnte und welche alle eine klar formulierbare Ein-/Ausgangsfunktionalität aufweisen. Wenn es hingegen um Gebiete der Intelligenz geht, wo Eigenschaften wie etwa Kreativität, Intuition oder Assoziativität gefragt sind, dann kann die KI noch keine so großen Erfolge im Vergleich zum Menschen vorweisen. Hier ist der Mensch der Maschine noch deut- lich überlegen; aber es wird daran gearbeitet.
Man kann jedoch feststellen, dass der Traum der In- formatiker, menschliche Intelligenz mit Computern nachzubilden, in den letzten 10 Jahren zu einem bemer- kenswerten Teil in Erfüllung gegangen ist.
Der Autor ist Professor am Institut für Informatik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine For- schungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Com- puter Vision, Künstliche Intelligenz und Mustererken- nung.
Übersicht*
I. Verbot der Psychotherapeutenausbildung an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften durch § 9 Abs. 1 Psychotherapeu- tengesetz – PsychThG
1. Zugang zum Psychotherapiestudium
2. Zielsetzungen der reformierten Psychotherapeutenausbildung
II. Zum Schutz der Lehrfreiheit von Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften
1. Zum Eingriff in die Lehrfreiheit
2. Zur Verfassungswidrigkeit der Prämissen des Psychothera- peutengesetzes
a) Lenkung und Begrenzung der Ausbildungskapazität
b) Zur Fähigkeit der Hochschulen für Angewandte Wissenschaf- ten zur Organisation der Ausbildung von Psychotherapeuten
3. Keine Rechtfertigungsmöglichkeit des Ausschlusses der Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften aus der Psychothera- peutenausbildung
a) Zu den Grundrechten Dritter als verfassungsimmanente Schranke des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
aa) Schutz der Studierenden
bb) Schutz der Gesundheit der psychotherapeutisch zu behan- delnden Personen
b) Ausschluss der Psychotherapeutenausbildung an Hochschu- len für Angewandte Wissenschaften verfassungswidrig
aa) Verkennung des Profils der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften
bb) Psychotherapeutenausbildung auch ohne Grundlagenfor- schung
c) Insbesondere zur Gleichwertigkeit des Psychotherapie-Bache- lors an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften mit einem entsprechenden universitären Bachelor
III. Ergebnis
Nach dem „Artikelgesetz zur Reform der Psychotherapeu- tenausbildung vom 15.11.2019“1 findet die Psychothera- peutenausbildung mit einem dreijährigen Bachelor- und zweijährigen Master-Studium nur an Universitäten statt.
* Die Ausführungen beruhen zum Teil auf einem Rechtsgutachten.
1 BGBl 2019 I, S. 1604.
2 §§ 5, 6 Psychotherapeutengesetz vom 16. 6. 1998, BGBl. I, S. 1311
Der zuvor mögliche Ausbildungsweg unter Beteiligung der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften2 wur- de verschlossen. Der folgende Beitrag befasst sich mit der Frage: Ist dieser vollständige Ausschluss der Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften von der Psy- chotherapeutenausbildung mit ihrer von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützten Lehrfreiheit vereinbar?
I. Verbot der Psychotherapeutenausbildung an Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften durch
§ 9 Abs. 1 Psychotherapeutengesetz – PsychThG
Die Psychotherapie befasst sich mit der Behandlung von psychischen Erkrankungen mit interaktiven psychologi- schen Mitteln. Im Psychologie-Studium, dessen beson- dere Spezialisierung sich der Ausbildung zum Psycho- therapeuten widmet, werden Methoden und Praxis der Verfahren psychologischer Krankenbehandlung vermit- telt.
1. Zugang zum Psychotherapiestudium
Nach § 9 Abs. 1 PsychThG ist für Studierende, die nach dem 1. 9. 2020 eine Psychotherapeutenausbildung absol- vieren wollen, nur das Studium an einer Universität oder an einer vergleichbaren Hochschule möglich. Als ver- gleichbar wird eine Hochschule erachtet, der das Promo- tionsrecht verliehen ist.3 Soweit Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften kein Promotionsrecht haben, was in der Regel der Fall ist, sind sie nicht berechtigt, ein Studium der Psychotherapie anzubieten.
Damit ist ein universitäres Studium Voraussetzung für die Erteilung der für die Berufsaufnahme erforderli- chen Approbation (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 S. 1 PsychThG). Das Psychotherapiestudium er- folgt in einem Bachelorstudiengang, der polyvalent aus- gestaltet sein kann, sowie in einem darauf aufbauenden Masterstudiengang(§9Abs.3S.1PsychThG).DieStudi- engänge müssen nach dem Hochschulrecht der Länder akkreditiert sein (§ 9 Abs. 4 S. 1 PsychThG).
3 Hierzu Sandberger, Abschlüsse, Promotion, Habilitation, in Haug (Hg.), Das Hochschulrecht in Baden- Württemberg, 3. Aufl. 2020, Teil 3, Rn. 728 f.
Thomas Würtenberger
Studium der Psychotherapie – auch an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften?
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
80 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88
Diese Anforderungen an eine universitäre Psycho- therapeutenausbildung haben zur Folge, dass Hochschu- len für Angewandte Wissenschaften ab dem Studienbe- ginn zum 1. 9. 2020 nicht mehr an einem Studium, das zur Approbation in Psychotherapie führt, beteiligt sein können. Dieses Verbot einer Psychotherapeutenausbil- dung an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften wird mit den Zielsetzungen der Ausbildung nach dem neuen Psychotherapeutengesetz begründet:
2. Zielsetzungen der reformierten Psychotherapeuten- ausbildung
Die Zielsetzungen der reformierten Psychotherapieaus- bildung sind in der Gesetzesbegründung aufgelistet. Zu den wichtigsten Reformanliegen gehören:4
- – eine qualifizierte, patientenorientierte, bedarfsge- rechte und flächendeckende psychotherapeutische Versorgung auf dem „aktuellen Stand wissenschaftli- cher Erkenntnisse“ (S. 1, 70, 74)
- – Berücksichtigung der veränderten Strukturen in der Hochschulausbildung (S. 78, 92)
- – wissenschaftliches Masterstudium an einer Univer- sität als Voraussetzung für die Approbation
- – universitäre Ausbildung, um „wissenschaftliche Qua- lifikation auf höchstem wissenschaftlichen Niveau zu ermöglichen“ (S. 52)
- – Gleichstellung des psychotherapeutischen Heilbe- rufs mit dem medizinischen oder pharmazeutischen Heilberuf (S. 52)
- – Fähigkeit zur Weiterentwicklung des Berufs und Berufsfeldes (S. 52)
- – „Ausweitung der Studienkapazitäten und eine Ein- bindung der Fachhochschulen zur Sicherung des Fachkräftebedarfs … nicht erforderlich“ (S. 53)Bei den folgenden Überlegungen zum Schutz der Lehrfreiheit geht es in der Sache um die Frage, ob der Gesetzgeber das Profil der Hochschulen für Angewand- te Wissenschaften zutreffend gewürdigt hat und ob sie, ebenso wie Universitäten, eine Psychotherapeutenaus-
- 4 BT-Drs. 19/9770, S. 1 ff.
- 5 BVerfGE 126, 1 Rn. 40 ff.; Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, 7.Aufl. 2018, § 34 Rn. 595.
- 6 Heidtmann, Grundlagen der Privathochschulfreiheit, 1980, S. 285ff.; Steinkemper, Verfassungsrechtliche Stellung der Privathoch- schule und ihre staatliche Förderung, 2002, S. 110; BeckOK GG/ Kempen, 50. Ed. 15.2.2022, GG Art. 5 Rn. 185; Fehling, in: Bonner Kommentar, 2004, Art. 5 Abs. 3 GG Rn. 129; Von Münch/Kunig/ Wendt, 7. Aufl. 2021, GG Art. 5 Rn. 164; Mager, Freiheit von Forschung und Lehre, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch
bildung anbieten können, die den Zielsetzungen des Psy- chotherapeutengesetzes entspricht.
II. Zum Schutz der Lehrfreiheit von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften
Der Schutzbereich der durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Lehrfreiheit umfasst auch die Lehre an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften.5 Die ver- fassungsrechtlich geschützte Lehrfreiheit der Hochschu- len für Angewandte Wissenschaften umfasst das Recht, wie noch zu begründen ist, einen Studiengang der Psy- chotherapie anzubieten. Auf diesen Schutz können sich nicht nur die öffentlichen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, sondern auch diese Hochschulen in pri- vater Trägerschaft und deren Trägergesellschaften beru- fen.6 Art. 5 Abs. 3 GG schützt mit der Privathochschul- freiheit nicht nur die einzelne Hochschule, sondern ergänzend auch die wissenschaftsaffine und an besonde- ren Lehrkonzepten orientierte Gründungs- und Betäti- gungsfreiheit ihrer Trägergesellschaften.
1. Zum Eingriff in die Lehrfreiheit
In diesen Bereich grundrechtlich geschützter Lehrfrei- heit greift § 9 Abs. 1 PsychThG ein. Er verhindert mit sei- nem Universitätsvorbehalt, dass Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften in der Lage sind, Studiengänge für die Ausbildung von Psychotherapeuten anzubieten. Dies ist ein schwerer und tiefer Eingriff in die Lehrfreiheit der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Der Gesetzgeber unterbindet die Einrichtung entsprechen- der Bachelor- und Masterstudiengänge. Er verdrängt die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften aus einer Psychotherapeutenausbildung, an der sie bis zum Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes erfolgreich beteiligt waren.
2. Zur Verfassungswidrigkeit der Prämissen des Psycho- therapeutengesetzes
Bevor die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung näher erörtert wird, seien die Beratungen im Gesetzgebungs-
des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. VII, 2009, § 166 Rn. 16; Kempen, Grundfragen des institutionellen Hochschulrechts, in Hartmer/ Detmer (Hg.), Hochschulrecht, 4. Aufl. 2022, 1. Kap. Rn. 20, 21 mit Nachw.; v. Mangoldt/Klein/Starck/Starck/Paulus, 7. Aufl. 2018, GG Art. 5 Rn. 488; Dreier/Britz, 3. Aufl. 2013, GG Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaft) Rn. 24; Würtenberger, Privathochschulfrei- heit – auch bei der Organisation der Leitungsebene?, OdW 2019, 15, 16 f.; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 120.
verfahren aufgegriffen. Im Referentenentwurf und sodann in der Gesetzesbegründung wurden Gründe für eine allein universitäre Psychotherapeutenausbildung angeführt, denen die Verfassungswidrigkeit auf die Stir- ne geschrieben war. Über diese zu berichten, besteht Anlass. Denn sie zeigen, dass die Gesetzesnovellierung mit nicht verfassungskonformen Zielsetzungen vorbe- reitet wurde.
a) Lenkung und Begrenzung der Ausbildungskapazität
Der Referentenentwurf vom 3. 1. 20197 legt offen, dass die
universitäre Ausbildung von Psychotherapeuten auch daher eingeführt wurde, um den Zugang zum Beruf des Psychotherapeuten zu begrenzen:
„Weiterhin dient die Ansiedlung des Studiums der Psy- chotherapie an Universitäten aber auch der kapazitä- ren Beschränkung von Ausbildungsplätzen. Schon heu- te streben die Studierenden im Bereich der Psychologie in hoher Zahl einen Abschluss des Studiums mit dem akademischen Grad des Masters an. Der Anteil derje- nigen, die danach eine Tätigkeit in der klinischen Psy- chologie oder eine Ausbildung zum Beruf des Psycholo- gischen Psychotherapeuten oder des Kinder- und Ju- gendlichenpsychotherapeuten anstreben, liegt nach Aussagen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie bei etwa 70 Prozent. Den schriftlichen Teil der staatli- chen Prüfung nach dem PsychThG 1998 haben nach den statistischen Erhebungen des Instituts für medizi- nische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) im Jahr 2014 etwa 2300 und im Jahr 2016 bereits 2700 Personen abgelegt. Damit setzt sich der langjährige Prozess unbegrenzt steigender Ausbildungszahlen wei- ter fort. Umgekehrt geht mit den steigenden Absolven- tenzahlen aber kein unbegrenzt steigender Bedarf an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten einher. Derzeitige Berechnungen zeigen vielmehr, dass eine Zahl von etwa 2300 bis 2500 Personen, die jährlich die Ausbildung und in Zukunft das Studium abschließen, mehr als ausreichen wird, um gemeinsam mit den psy- chotherapeutisch tätigen Ärztinnen und Ärzten die psychotherapeutische Versorgung dauerhaft zu si-
- 7 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/ Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/P/ PsychThG-RefE.pdf (letzter Zugriff am 10.03.2023).
- 8 BT-Drs. 19/9770, S. 53; Linden, Das neue Psychotherapeutenge- setz: Gewinner und Verlierer, in: Psychotherapeut, 2021, S. 42, 45: „Verabschiedet wurde ein Zugangs- und Mengenbegrenzungsge- setz“.
- 9 BVerfG NJW 1972, 1561, 1564 mit Verweis auf BVerwG JZ 1963, 675.
- 10 Inwieweit der Staat die Berufschancen der Ausbildungswilligen
chern. Schon heute gibt es kapazitäre Überhänge bei der Verteilung von Kassensitzen“ (S. 58).
Diese in der Gesetzesbegründung ebenfalls offen ge- legte Orientierung der Ausbildungskapazitäten an einer (bereits damals fehlerhaften) Schätzung des Bedarfs und an der Zahl von Kassensitzen und damit verbunden der Ausschluss der Hochschulen für Angewandte Wissen- schaften von der Psychotherapeutenausbildung8 ist eine verfassungswidrige Zielsetzung des neuen Psychothera- peutengesetzes. In einem freiheitlichen Staat, der mit Art. 12 Abs. 1 GG die Berufsfreiheit vor staatlichen Ein- griffen schützt, ist eine Berufslenkung durch gezielte Ver- knappung und Kontingentierung der Ausbildungsplätze durch eine Regelung der Pflicht der Ausbildung an Uni- versitäten verfassungswidrig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 12 Abs. 1 GG gehören zur rechtlichen Ordnung der beruflichen Betätigung auch Vorschriften über die Ausbildung und den Zugang zu einem Beruf. Aus dieser engen Verknüpfung folgt, dass Beschränkun- gen bei der Zulassung zur Ausbildung nicht einer am ge- sellschaftlichen Bedarf orientierten Berufslenkung die- nen dürfen.9 Es überrascht, dass derartige Grenzen ge- setzgeberischer Gestaltungsfreiheit bei den Beratungen des neuen Psychotherapeutengesetzes übersehen wer- den konnten.10
Der Hinweis im Referentenentwurf, es gäbe kapazitä- re Überhänge bei der Verteilung von Kassensitzen, ist deplatziert. Das Ministerium verhält sich hier nicht bzw. äußerst einseitig zum gesellschaftlichen Bedarf an Psy- chotherapeuten und zu den heftigen Auseinanderset- zungen um die dringend nötige Erhöhung von Kassen- sitzen.11 Bei dem derzeitigen Mangel an Kassensitz-Psy- chotherapeuten mit monatelangen Wartezeiten auf Be- ratungsmöglichkeiten ist es nicht nachvollziehbar, die Planung der Ausbildungskapazität an einer Festschrei- bung der Zahl an Kassensitzen zu orientieren und damit das Ausbildungspotential der Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften zu negieren. Davon abgesehen fordert der Gesundheitsschutz der Bevölkerung keine Psychotherapeuten, die wissenschaftlich zu forschen in der Lage sind, wie die Gesetzesbegründung verlangt.12
Würtenberger · Studium der Psychotherapie 8 1
11 12
zu berücksichtigen berechtigt ist (Zippelius/Würtenberger, Deut- sches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 37 Rn. 43), muss nicht weiter geprüft werden. Es ist jedenfalls verfassungswidrig, die Zahl der Studierenden an den Kassenarztsitzen zu orientieren und damit den gesellschaftlichen Bedarf einseitig limitierend festzulegen. Vgl. etwa die Pressemitteilung der Bundespsychotherapeuten- kammer https://www.bptk.de/bptk-auswertung-monatelange- wartezeiten-bei-psychotherapeutinnen/ (letzter Zugriff am 10.03.2023).
BT-Drs. 19/9770, S. 52.
82 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88
Gefordert sind Therapeuten, worauf zurückzukommen ist, die die wissenschaftlich fundierten Therapieangebote anzuwenden in der Lage sind.
b) Zur Fähigkeit der Hochschulen für Angewandte Wis- senschaften zur Organisation der Ausbildung von Psy- chotherapeuten
Außerdem soll nach Ansicht des Referentenentwurfs sowie der Gesetzesbegründung13 gegen ein Studium der Psychotherapie an Hochschulen für Angewandte Wis- senschaften sprechen, dass sie nicht fähig seien, die neu- en gesetzlich geregelten Anforderungen an ein Psycho- therapeutenstudium umsetzen zu können:
„Die Entscheidung, das Studium an Universitäten oder ihnen gleichgestellten Hochschulen anzusiedeln, be- ruht neben den qualitativen Erwägungen auch auf Überlegungen zur Machbarkeit. Die an den Universi- täten und ihnen gleichgestellten Hochschulen angesie- delten psychologischen Fakultäten werden am schnells- ten in der Lage sein, das in diesem Gesetz und der Ap- probationsordnung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten geregelte Studium der Psychothera- pie anzubieten. Sie verfügen bereits heute über Struk- turen, die für die Umsetzung des Ausbildungsziels be- nötigt werden. So sind an den universitären psycholo- gischen Instituten Hochschulambulanzen angesiedelt, die bei den berufspraktischen Einsätzen mitwirken können“ (S. 57 des Referentenentwurfs).
Ein derartiges Machbarkeitsargument kann bei der Bestimmung der immanenten Schranken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG durchaus zu berücksichtigen sein. Vorliegend kann es jedoch keine Rolle spielen. Es ver- kennt, dass Hochschulen für Angewandte Wissenschaf- ten sich in gleicher Weise wie Universitäten auf eine neu geregelte Psychotherapeutenausbildung einstellen kön- nen. Davon abgesehen gab und gibt es im Bereich der Psychotherapeutenausbildung Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften, die umgehend in der Lage ge- wesen wären, die neuen Vorgaben des Psychotherapeu-
- 13 BT-Drs. 19/9770, S. 52 f.
- 14 Die postgraduale Psychotherapeutenausbildung gehört zurAgenda der „Heidelberger Akademie für Psychotherapie“, einem staatlich anerkannten Ausbildungsinstitut für Verhaltensthera- pie für Kinder und Jugendliche (https://www.srh-hochschule- heidelberg.de/hochschule/institute/heidelberger-akademie-fuer- psychotherapie/ letzter Zugriff am 10.3.2023). Diese „Heidelberger Akademie für Psychotherapie“, errichtet als gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Heidelberg, ist ein Ausbildungsinstitut, das in die Organisation der SRH Hochschule Heidelberg integriert ist.
tengesetzes umzusetzen. Genannt sei nur die SRH Hoch- schule Heidelberg, die Teilbereiche der Psychotherapeu- tenausbildung mit einem eigens eingerichteten Forschungs- und Ausbildungsinstitut über viele Jahre hinweg erfolgreich angeboten hat.14 Insofern geht der Referentenentwurf zum neuen Psychotherapeutengesetz ganz offensichtlich von Annahmen aus, die nicht der Re- alität entsprechen. Dieses Ermittlungsdefizit des Gesetz- gebers kann zur Verfassungswidrigkeit des neuen Psy- chotherapeutengesetzes führen, wenn zu überprüfen ist, ob sich die Grundlagen gesetzgeberischer Entscheidun- gen auf Fakten und Daten stützen lassen, die zutreffend ermittelt worden sind.15
3. Keine Rechtfertigungsmöglichkeit des Ausschlusses der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften aus der Psychotherapeutenausbildung
Eingriffe in die durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ohne einen Gesetzesvorbehalt geschützte Hochschulfreiheit der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften müssen durch Gesetz, wie vorliegend durch das Psychotherapeu- tengesetz, erfolgen. Diese gesetzlichen Eingriffsmöglich- keiten sind begrenzt. Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG sind lediglich insoweit gestattet, als sie die verfassungsimmanenten Schranken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG konkretisieren. Dies bedeutet: In die Lehrfrei- heit der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften kann vom Gesetzgeber nur mit Rücksicht auf kollidie- rendes Verfassungsrecht eingegriffen werden. Zum kolli- dierenden Verfassungsrecht zählen entweder Grund- rechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestat- tete Rechtswerte.16 Bestehen also verfassungsimmanente Schranken ihrer Lehrfreiheit, die es rechtfertigen, dass Hochschulen für Angewandte Wissenschaften von der Psychotherapeutenausbildung ausgeschlossen werden können?
a) Zu den Grundrechten Dritter als verfassungsimma- nente Schranke des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
Zu den Grundrechten Dritter, die mit der durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geschützten Lehrfreiheit kollidieren
Dieses Institut ist nach seinem Selbstverständnis ein metho- denübergreifendes, integratives Ausbildungsinstitut mit einem verhaltenstherapeutischen Schwerpunkt. An ihm sind weit über 80 approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ausgebildet worden, 50 Auszubildende waren zu Ende 2020 dort immatrikuliert.
15 BVerfGE 106, 62, 144, 150; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 48 Rn. 43
16 BVerfG NVwZ 2010, 1285 Rn. 54 f. mit zahlreichen Rückverwei- sen; Würtenberger, OdW 2019, 15, 17 f.
und diese einschränken können, gehören der den Stu- dierenden durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Grund- rechtsschutz sowie der von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gefor- derte Gesundheitsschutz der künftig zu behandelnden Patienten.
aa) Schutz der Studierenden?
Blicken wir zunächst auf den durch Art. 12 Abs. 1 GG verbürgten Grundrechtsschutz der Studierenden. Ihre von Art. 12 Abs. 1 GG geschützte freie Wahl von Ausbildung und Ausbildungsstätte schützt ihr Recht auf eine Ausbil- dung, deren erfolgreicher Abschluss zur Aufnahme des gewählten Berufes befähigt.17 Zur Realisierung dieser Ausbildungsfreiheit haben die Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften den Studierenden eine „anwen- dungsbezogene Lehre und Weiterbildung“ zu bieten, „die zu selbstständiger Anwendung wissenschaftlicher Erkennt- nisse und Methoden … in der Berufspraxis“ befähigt.18
Das neue Psychotherapeutengesetz dient zwar auch dem Schutz der Studierenden. Denn es bezweckt unter anderem eine Verkürzung der Ausbildungszeit und ei- nen früheren Berufseinstieg. Dies spielt in vorliegendem Zusammenhang aber keine Rolle. Denn derartige Rege- lungen hätte man auch im Rahmen der vormaligen Aus- bildung der Psychotherapeuten treffen können. Sie sind nicht der Grund dafür, dass die Psychotherapeutenaus- bildung nur noch an Universitäten erfolgen darf.
Davon abgesehen fordert der Schutz der Studieren- den, dass das von ihnen gewählte Studium den Stan- dards der Ausbildung entspricht, die eine erfolgreiche berufliche Tätigkeit gestatten und dem Vertrauen ge- recht wird, das Personen mit entsprechender Ausbildung entgegengebracht wird. Auf diese Leistungsfähigkeit der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften ist weiter unten ausführlich einzugehen.
bb) Schutz der Gesundheit der psychotherapeutisch zu behandelnden Patienten
Das Recht auf Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) gehört zu den verfassungsimmanenten Schranken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Es verbietet eine Forschung, die zu gesundheitlichen Schäden führen kann, und gebietet, dass die psychotherapeutische Ausbildung in effektiver Weise dem Gesundheitsschutz dient. Der Schutz der Gesundheit fordert ganz allgemein, dass die Zulassung zu Arzt- oder therapeutischen Berufen nur nach einem
17 Gronemeyer, Sind Studierende verpflichtet an Lehrveranstaltun- gen teilzunehmen?, ODW 2023, 45, 46 ff. mit Nachw.
entsprechenden, erfolgreich absolvierten Studium erfolgt. In dieser Hinsicht ist gegen die Regelung der Approbation nach dem neuen Psychotherapeutengesetz im Prinzip nichts zu erinnern.
Gleichwohl steht folgender vom neuen Psychothera- peutengesetz verfolgter Grundsatz nicht im Einklang mit den Vorgaben des Grundgesetzes: Das neue Psycho- therapeutengesetz lässt nur eine universitäre psychothe- rapeutische Ausbildung zu, um das Ziel zu erreichen, den verfassungsrechtlich gebotenen Gesundheitsschutz psy- chisch Erkrankter zu gewährleisten und auch, soweit möglich, zu verbessern. Die Begründung, dass diese Grundsatzentscheidung einen Ausschluss der Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften aus der Psycho- therapeutenausbildung fordere, hält einer am Maßstab des Grundgesetzes orientierten Kritik nicht Stand:
b) Ausschluss der Psychotherapeutenausbildung an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften verfas- sungswidrig
Der Ausschluss der Psychotherapeutenausbildung an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften wäre ver- fassungsrechtlich statthaft, wenn nach einer belastbaren Prognose des Gesetzgebers die Psychotherapeutenausbil- dung an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften mit Gefährdungen der Gesundheit der nach solcher Aus- bildung behandelten Patienten verbunden wären, die es rechtfertigen, die Fortführung dieser Ausbildung zu untersagen. Dies aber ist nicht der Fall:
Blicken wir nochmals auf die Zielsetzungen des neu- en Psychotherapeutengesetzes:
„Patientinnen und Patienten, die einer psychothera- peutischen Behandlung bedürfen, eine qualifizierte, patientenorientierte, bedarfsgerechte und flächende- ckende psychotherapeutische Versorgung auf dem ak- tuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Ver- fügung zu stellen. … Dabei sollen die veränderten Strukturen in der Hochschulausbildung und ihre Aus- wirkungen auf die Zugangsvoraussetzungen sowie die steigenden Anforderungen an die psychotherapeuti- sche Tätigkeit berücksichtigt und Verbesserungspoten- ziale, die sich im Zuge der langjährigen Diskussionen über eine Änderung der derzeitigen Rahmenbedingun- gen gezeigt haben, genutzt werden“.19
18 So zum Beispiel § 2 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 LHG BW. 19 BT Drs. 19/9770 vom 30. 4. 2019, S. 1.
Würtenberger · Studium der Psychotherapie 8 3
84 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88
aa) Verkennung des Profils der Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften
Nach dem Willen des Gesetzgebers soll das neue Psycho- therapeutengesetz „die veränderten Strukturen in der Hochschulausbildung“ berücksichtigen. Diesem sich selbst auferlegtem Gebot genügt der Gesetzgeber jedoch nicht. Er verkennt gründlich den „Aufstieg“ der Fach- hochschulen bzw. der Hochschulen für Angewandte Wis- senschaften. Das BVerfG hat eine gewisse Angleichung von Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften bereits vor einem Jahrzehnt klar formu- liert:
„Schließlich haben sich Annäherungen zwischen Uni- versitäten und Fachhochschulen im Zuge des so ge- nannten Bologna-Prozesses ergeben, die erkennen las- sen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers auch Fach- hochschulen als wissenschaftliche Ausbildungsstätten angesehen werden sollen“.20
Vor allem hat der Bologna-Prozess dazu geführt, dass sich die beiden Hochschultypen Hochschule für Ange- wandte Wissenschaften und Universität mit jetzt gleich- rangigen Abschlüssen einen Wettbewerb „oft auf gleicher Augenhöhe“ um die besten Studierenden liefern konn- ten.21 Es verstößt gegen Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, wenn der Gesetzgeber beim Ausschluss der Hochschulen für An- gewandte Wissenschaften von der Psychotherapeuten- ausbildung verkennt, dass an diesen Hochschulen eben- so wie an den Universitäten eine wissenschaftlich fun- dierte Psychotherapeutenausbildung stattgefunden hat undnachwievorstattfindenkann.Dafürstreitetdas hochschulrechtlich normierte Profil von Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften: Uni- versitäten haben unter anderem die Grundlagenfor- schung und ein wissenschaftliches Studium, Hochschu- len für Angewandte Wissenschaften eine anwendungs- bezogene Forschung und ein anwendungsbezogenes wissenschaftliches Studium zur Aufgabe.22 Eine instituti- onelle Rang- oder Stufenfolge oder Aufteilung zwischen dem Bachelor an einer Universität oder an einer Hoch- schule für Angewandte Wissenschaften gibt es nicht;
- 20 BVerfGE 126, 1, Rn. 48.
- 21 So von Grünberg/Sonntag, 50 Jahre Fachhochschule. Über daslangsame Entstehen eines neuen Hochschultyps, Ordnung derWissenschaft, 2016, S. 157, 162.
- 22 So zum Beispiel § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 4 LHG BW.
„von einer klaren Trennung der Profile, von Trenn- schärfe oder Typentreue, kann insoweit kaum noch die Rede sein“.23
Der Gesetzgeber hat bei Erlass des neuen Psychothe- rapeutengesetzes nicht nur das rechtliche Profil der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften verkannt, sondern auch, dass sich der alte Rechtszustand bewährt hatte und es weniger einschneidender Maßnahmen be- durft hätte, um das Psychotherapeutenrecht zu reformie- ren. So hat der Gesetzgeber der alten Psychotherapeute- nausbildung auch durch die Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften bescheinigt:
„Grundsätzlich konnte schnell festgestellt werden, dass sich die Schaffung der eigenständigen Heilberufe in der Psychologischen Psychotherapie und in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sowie die Einbindung der nichtärztlichen Psychotherapie in die Versorgung der Patientinnen und Patienten bewährt hat. Die Be- rufsangehörigen haben eine wichtige Funktion im Sys- tem der Heilberufe und im Gesundheitswesen Deutsch- lands inne. Sie genießen hohes Ansehen bei den Patien- tinnen und Patienten, die sie als kompetente Ansprech- partner bei der Behandlung psychischer Störungen mit Krankheitswert ansehen“.24
An sich war zu erwarten, dass der Gesetzgeber den zentralen Perspektivenwechsel von einer Psychothera- peutenausbildung an Universitäten und an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften zu einer nunmehr allein möglichen Psychotherapeutenausbildung an Universitäten mit Argumenten begründet, die den von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gebotenen Freiheitsschutz der Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften einzuschrän- ken in der Lage sind. Hieran fehlt es. So wird nur pau- schal darauf verwiesen, es gäbe „zahlreiche Neuentwick- lungen“, die sich bei der Therapie von Patienten als wirk- sam erwiesen haben, aber vom früheren Recht nicht erfasst würden, so dass zusätzliche Qualifikationen er- forderlich würden.25 Die Neufassung des Psychothera- peutengesetzes lässt allerdings nicht ersehen, welche Neuentwicklungen im Bereich der Psychotherapie zu
23 Lynen/Bernice-Warnke, in: Hartmer/Detmer (Hg.), Hochschul- recht, 4. Aufl. 2022, 3. Kap. Rn. 22.
24 BT Drs. 19/9770 vom 30. 4. 2019, S. 32. 25 BT Drs. 19/9770 vom 30. 4. 2019, S. 33.
welchen Zusatzqualifikationen geführt haben oder füh- ren müssen.
bb) Psychotherapeutenausbildung auch ohne Grundla- genforschung zielführend
Aber selbst unter dieser Prämisse hat der Gesetzgeber bei seinem Eingriff in die Lehrfreiheit der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften nicht geklärt: Können diese Neuentwicklungen in der Psychotherapie nicht ebenfalls in den Studiengängen der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften aufgegriffen, gelehrt und in der Umsetzung eingeübt werden?
Nach der Begründung zum Gesetzentwurf des Psy- chotherapeutengesetzes würden nur an Universitäten jene Forschungsleistungen erbracht, derer es als Grund- lage einer modernen und wissenschaftsgestützten Psy- chotherapeutenausbildung bedarf. Denn
„Qualität und Wirksamkeit der jeweiligen medizini- schen und therapeutischen Leistungen haben dem all- gemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu be- rücksichtigen (so auch § 2 Absatz 1 Satz 2 SGB V). Um diesen Anforderungen zu entsprechen, bedarf es einer Ausbildung, die wissenschaftliche Qualifikationen auf höchstem wissenschaftlichem Niveau ermöglicht“.26
Allerdings wird dies sofort dahin relativiert, dass für
„das Erreichen des in § 7 festgelegten Ausbildungsziels … es der Entwicklung von Handlungskompetenzen, die auf gesichertem theoretischem Wissen aufbauen“, bedarf.27
Dabei wird vom Gesetzgeber betont,
„es sei den Fortschritten der heilkundlichen Psychothe- rapie als anwendungsorientierter Wissenschaft Rech- nung zu tragen“.28
Der Gesetzgeber verlangt also, die Psychotherapeu- tenausbildung müsse vom anerkannten wissenschaftli- chen Stand der Psychotherapie ausgehen und den An- forderungen an eine anwendungsorientierte Wissen- schaft Rechnung tragen.
- 26 BT Drs. 19/9770, S. 52.
- 27 BT Drs. 19/9770, S. 52.
- 28 BT Drs. 19/9770, S. 49.
- 29 BeckOK HochschulR BW/Gerber/Krausnick, 17. Ed. 1.11.2019,
Die hier geforderte Verwissenschaftlichung der Psy- chotherapeutenausbildung kann von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften geleistet werden. Die Psy- chotherapeutenausbildung an Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften orientiert sich ihrem Auftrag ent- sprechend am fortschreitenden Stand der Wissenschaft. Hierfür steht zunächst das gesetzliche Profil der Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften. Sie
„vermitteln durch anwendungsbezogene Lehre und Weiterbildung eine Ausbildung, die zu selbstständiger Anwendung und Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden … in der Berufspraxis be- fähigt; sie betreiben anwendungsbezogene Forschung und Entwicklung“.
Nach dem Konzept des Gesetzgebers soll der Praxis- bzw. Anwendungsbezug bei den Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften in Lehre und Forschung stärker sein als derjenige bei den Universitäten.
„An beiden Hochschulen wird jedoch gleichwohl eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung vermittelt und die Einheit von Forschung und Lehre (trotz unter- schiedlicher Schwerpunktsetzung) garantiert“.29
Die lange Zeit beträchtlichen Unterschiede zwischen Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wis- senschaften haben deutlich abgenommen. Der Gesetz- geber hat ebenso wie die Rechtsprechung den Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften einen umfas- senden Freiraum zur Forschung eröffnet. Für die gegen- seitige Annäherung der Hochschultypen Universität und Hochschule für Angewandte Wissenschaften spricht auch, dass letzteren nach und nach das Promotionsrecht zugebilligt wird.30
Im Ergebnis bestehen nicht derart gravierende Unter- schiede zwischen dem Studium der Psychotherapie an Universitäten und an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, dass letztere vom Angebot dieses Studi- ums ausgeschlossen werden dürfen. Dass die medizini- sche Ausbildung an Universitäten erfolgt, ist kein Argu- ment, dass dies auch für eine Ausbildung zum Psycho- therapeuten erforderlich ist. Dies zeigt der unterschiedli- che Zugang zur Therapie: Der Psychotherapeut studiert
§ 2 LHG Rn. 25.
30 BeckOK HochschulR BW/Gerber/Krausnick, 17. Ed. 1.11.2019,
§ 2 LHG Rn. 26 ff.; BVerfGE 126, 1, 19 ff.
Würtenberger · Studium der Psychotherapie 8 5
86 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88
an einer psychologischen, nicht aber an einer medizini- schen Fakultät. Grund für diese Differenz ist, dass die Wissenschaft von der Psychotherapie grundverschieden von der medizinischen Wissenschaft ist. Während die Psychotherapie allein Beschwerden der geistigen Situati- on des Menschen heilen möchte, befasst sich die Medi- zin mit der Heilung körperlicher Leiden. Zielsetzungen und Methoden beider Studiengänge sind derart ver- schieden, dass sich nicht für beide ein universitäres Aus- bildungsniveau fordern lässt.
Vor allem ist nicht ersichtlich, wie die universitäre psychotherapeutische Grundlagenforschung zu einer Op- timierung der Psychotherapeutenausbildung beitragen kann. Denn wie bei jeder Grundlagenforschung gilt auch hier der Grundsatz: Ob therapeutische Grundlagenfor- schung ausbildungsrelevant wird, ergibt sich erst aus ih- rem Transfer in die Praxis. Solange diese Translation nicht wissenschaftlich abgesichert ist, taugt sie nicht zur Behandlung von Patienten und auch nicht zur psycho- therapeutischen Ausbildung. Dies gilt sowohl für die Translation medizinischer Forschung als auch für die Translation psychotherapeutischer Grundlagenfor- schung.
Die Translation medizinischer oder psychotherapeu- tischer Grundlagenforschung ist ein eigenes Forschungs- gebiet, hat aber mit einem praxisbezogenen Studium nichts zu tun. Auch insoweit kann das an Universitäten bestehende Forschungspotential im Bereich der Psycho- therapie nicht als Argument dienen, die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften von der Psychothera- peutenausbildung auszuschließen.
Die Psychotherapeutenausbildung der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften ist forschungsbasiert, weil sie in vielen Bereichen an den Stand der Forschung anknüpft und anleitet, wie der Forschungsstand in die psychotherapeutische Praxis umgesetzt werden kann. Dies entspricht dem Profil von Forschung und Lehre an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Ihre For- schung zielt auf eine „bessere“ psychotherapeutische Pra- xis, ihre Lehre vermittelt die erforderlichen Kenntnisse, um den Stand der Forschung in die Praxis umzusetzen. Neue Felder, wie etwa genetische Faktoren für psychi- sche Störungen, werden an Universitäten erforscht und sind Gegenstand der universitären Psychiatrie-Ausbil- dung. Diese baut eben auf einem Medizinstudium auf,
31 Vom 4. 3. 2020, BGBl I, S. 469 ff.
während die psychotherapeutische Ausbildung auf ein Psychologiestudium aufsetzt. Um etwaige noch nicht auf Praxistauglichkeit geprüfte Forschungsansätze geht es also nicht in der Psychotherapeutenausbildung.
c) Insbesondere zur Gleichwertigkeit des Psychothera- pie-Bachelors an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften mit einem entsprechenden universitä- ren Bachelor
Wenn an einer Hochschule für Angewandte Wissen- schaften ein Psychologie-Bachelor angeboten wird, der mit einem universitären Psychologie-Bachelor als Zugangsvoraussetzung für ein entsprechendes Master- studium gleichwertig ist, verlangt die von Art. 5 Abs. 3 S. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG geschützte Gleichheit bei der Ausübung der Lehrfreiheit die Zulas- sung des Psychotherapie-Bachelors an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Den Anforderungen an die Gleichwertigkeit eines Studienganges wird genügt, wenn hinsichtlich des Studi- enprofils und der geprüften Studienleistungen kein we- sentlicher Unterschied zwischen einem Studiengang an einer Universität und an einer Hochschule für Ange- wandte Wissenschaften besteht. Maßstab für diese Gleichwertigkeitsprüfung sind allein die nachgewiese- nermaßen erworbenen Kompetenzen, die nach der Studi- en- und Prüfungsordnung erworben worden sind. Kon- krete Inhalte oder formale Elemente (zum Beispiel Dau- er oder Art der Lehrveranstaltungen) sind ernst zu neh- mende Indizien für die Gleichwertigkeit. Jenseits dessen kommt es zudem darauf an, dass die erworbenen Fertig- keiten und Fähigkeiten eines Uni-Bachelors sich nicht we- sentlich von denen eines Bachelors an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften unterscheiden.
Ob ein von einer Hochschule für Angewandte Wis- senschaften angebotener Bachelor in Psychotherapie gleichwertig mit einem entsprechenden universitären Bachelor sein kann, entscheidet sich danach, ob sie die rechtlich geregelte Lehre erbringen können:
Die Inhalte, die im Psychotherapie-Bachelor im Rah- men der hochschulischen Lehre zu vermitteln und bei dem Antrag auf Zulassung zur psychotherapeutischen Prüfung nachzuweisen sind, werden in der Anlage 1 zur Approbationsordnung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (PsychThApprO),31 die die Vorgaben
des § 7 PsychThG konkretisiert, geregelt. Diese Regelun- gen können von Hochschulen für Angewandte Wissen- schaften vollumfänglich in die Regelung ihres Psycholo- gie- sowie Psychotherapie-Bachelors übernommen wor- den. Dies ergibt sich aus dem Modulhandbuch, aus dem Studienverlaufsplan und aus der Gegenüberstellung der Kriterien der Approbationsordnung und der Ausgestal- tung des Studiengangs Bachelor in Psychologie mit Psychotherapie:
– Die zu vermittelnde wissenschaftliche Methoden- lehre im Umfang von 15 ECTS-Punkten umfasst so heterogene Aspekte wie historische Grundlagen, statistische Methoden, EDV-gestützte Datenverar- beitung und wissenschaftliche Methoden für die Erforschung menschlichen Verhaltens – alles Lehrinhalte, die zum Profil von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften gehören.
– Berufsethik und Berufsrecht mit lediglich 2 ECTS- Punkten vermitteln lediglich anerkannte Standards. Auch hier handelt es sich um Lehrinhalte, die von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften auch in anderen Studiengängen seit jeher erfolgreich ver- mittelt werden.
Hochschulen für Angewandte Wissenschaften sind damit fähig, ein Psychotherapie-Lehrangebot auf Bache- lor-Niveauzuerbringen.Dennsievermitteln,wieallseits anerkannt und zum Beispiel in § 2 Abs. 1 Nr. 4 LHG BW geregelt ist, durch ihre anwendungsbezogene Lehre eine Ausbildung, die zu selbstständiger Anwendung und Wei- terentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Me- thoden in der Berufspraxis befähigt; die Professoren der Psychologischen Fakultät betreiben zudem anwendungs- bezogene Forschung. Ihr Lehr- und Forschungsprofil deckt damit alle Fächer und jene praktische Ausbildung ab, die von der Psychotherapeutenapprobationsordnung gefordert sind. Dabei bleibt zuberücksichtigen, dass die von der Psychotherapeutenapprobationsordnung ange- gebene Mindestzahl von ECTS-Punkten eine weiter ge- hende Vertiefung der Lehrinhalte ohnehin nicht gestattet. Hochschulen für angewandte Wissenschaften sind also in der Lage, alle Lehrinhalte anzubieten, die von der Approbationsordnung für den Psychotherapie-Bachelor vorausgesetzt werden.32
III. Ergebnis
Als Ergebnis lässt sich festhalten: Der in § 9 Abs. 1 Psy- chotherapeutengesetz geregelte Ausschluss der Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften von der Psy- chotherapeutenausbildung verletzt diese und ihre Träger in der von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gewährleisteten Lehrfrei- heit. Denn es ist kein Grund ersichtlich, der rechtferti- gen könnte, zum Schutz der Grundrechte der Patienten
32
–
–
–
– –
– –
–
Die Grundlagen der Psychotherapie im Umfang von mindestens 25 ECTS-Punkten betreffen jenen Bereich, der im polyvalenten Psychologiestudium von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften traditionell angeboten wurde.
Die Grundlagen der Pädagogik mit nur 4 ECTS- Punkten entsprechen dem Standard-Programm der Pädagogik-Veranstaltungen an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften.
Die psychotherapeutisch relevanten Grundlagen der Medizin im Umfang von nur 4 ECTS werden von den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in vergleichbarer Weise auch bei anderen Studien- gängen im Bereich der Gesundheitsberufe erfolg- reich vermittelt.
Gleiches gilt für die Grundlagen der Pharmakologie im Umfang von 2 ECTS.
Die Störungslehre im Umfang von 8 ECTS-Punkten ist von den Hochschulen für Angewandte Wissen- schaften in ihrem Psychotherapeutenstudium ver- mittelt worden. Auch hier geht es lediglich um die Vermittlung gesicherter Erkenntnisse, was zum Auf- gabenprofil von Hochschulen für Angewandte Wis- senschaften gehört.
Gleiches gilt für die psychologische Diagnostik im Umfang von 12 ECTS.
Bei der Vermittlung der allgemeinen Verfahrensleh- re der Psychotherapie geht es allein um Kenntnisse, die dem derzeitigen Stand der Psychotherapie ent- sprechen. Gerade diese Vermittlung des Standes der Wissenschaft gehört zum zentralen Aufgabenprofil von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Gleiches gilt für die Vermittlung präventiver und rehabilitativer Konzepte im Bereich der Psychothe- rapie im Umfang von 2 ECTS-Punkten.
Für einen Psychotherapie-Master würde gleiches gelten, was hier nicht weiter vertieft werden soll.
Würtenberger · Studium der Psychotherapie 8 7
88 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 79–88
oder der Studierenden in die Lehrfreiheit der Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaften einzugreifen. Nach der Bologna-Reform sind Hochschulen für Ange- wandte Wissenschaften in der Lage, die Psychothera- peutenausbildung nach den Regeln des neuen Psycho- therapeutengesetzes anzubieten. Dass Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, anders als Universitäten, keinen Auftrag zur psychotherapeutischen Grundlagen- forschung haben, ändert nichts an diesem Ergebnis.
Denn auch ohne Grundlagenforschung zu betreiben, ist es möglich, auf der Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis ein wissenschaftsaffines Psychotherapeuten- studium durchzuführen.
Thomas Würtenberger ist Professor an der Universität Freiburg und Leiter der Forschungsstelle für Hoch- schulrecht.
I. Einleitung
Im Heft 01/23 der OdW befasste sich Tiziana Chiusi mit „Themen und Perspektiven der juristischen Ausbildung“. Dabei thematisierte sie unter der Überschrift „Digitali- sierung in der Lehre“ auch den Computereinsatz in der staatlichen Pflichtfachprüfung. Wenngleich sie eingangs auf die bundesrechtliche Ermächtigung zur sog. E‑Klau- sur durch § 5d Abs. 6 Satz 2 DRiG1 hinweist, steht sie die- ser Entwicklung doch skeptisch gegenüber. Nach ihrer Auffassung stehen dem
„praktischen Nutzen (etwa bessere Lesbarkeit der Klausuren, Einfachheit und Sicherheit der Übermitt- lung der Klausuren an die Landesprüfungsämter, Um- gang mit elektronischen Medien), … die technischen und ökonomischen Herausforderungen sowie die mög- lichen Konsequenzen für die Denkstrukturen der Stu- dierenden beim Verzicht auf handgeschriebene Klau- suren und Lösungsskizzen gegenüber.“2
Der Deutsche Juristen-Fakultätentag (dessen Vorsitzen- de sie seit 2020 ist) stünde
„diesbezüglich in engem Austausch mit Vertretern der Politik, den Studierendenvertretern und den Landes-
- 1 § 5d Abs. 6 DRiG lautet in seiner Fassung vom 25.06.2021 (BGBl. I S. 2154): „Das Nähere regelt das Landesrecht. Es kann auch be- stimmen, dass in den staatlichen Prüfungen schriftliche Leistungen elektronisch erbracht werden dürfen.“
- 2 Chiusi, OdW 1 (2023), S. 8.
- 3 Chiusi, OdW 1 (2023), S. 8.
- 4 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung.Rechtsfragen der Umstellung von Hochschulprüfungen auf zeitgemäße, digitale Prüfungsformate, Duncker & Humblot, Berlin 2023. Das Buch kann als eBook unter https://elibrary. duncker-humblot.com/book/62518/e‑klausur-und-elektronische- fernprufung / https://elibrary.duncker-humblot.com/978–3‑428- 55508–6 (letzter Zugriff am 09.02.2023) kostenfrei heruntergela- den werden.
justizprüfungsämtern, um eine bestmögliche Lösung zu garantieren.“3
Eine Entscheidungshilfe könnte hierbei das Buch „E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung“4 bieten, das ich gemeinsam mit Dirk Heckmann verfassen und Ende 2022 veröffentlichen durfte5 und das in dem vorliegen- den Beitrag vorgestellt werden soll. Es beruht in seinem ersten Teil auf einer juristischen Machbarkeitsstudie, die wir 2017/2018 im Auftrag des Bayerischen Staatsministe- riums der Justiz erstellt hatten. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine breite Diskussion um die Digitalisierung der Justiz („elektronischer Rechtsverkehr“),6 aber kaum konkrete Überlegungen zu einer echten Digitalisierung von Lehre und Prüfung.7 Das änderte sich schlagartig mit Ausbruch der Sars-Cov-2-Pandemie („Coronapande- mie“). Die hierdurch veranlassten Kontaktbeschränkun- gen zwangen kurzfristig zu Distanzunterricht und war- fen auch die Frage auf, wie man den Prüfungsanspruch der Studierenden erfüllen und dabei gleichermaßen Ge- sundheitsschutz, Datenschutz und Chancengleichheit einhalten könne.8 Das war die Geburtsstunde flächende- ckender elektronischer Fernprüfungen, mit denen sich unser Buch im zweiten Teil ausführlich befasst. Mittler- weile gibt es in fast jedem Bundesland Rechtsgrundlagen – in Form eines Gesetzes, einer Rechtsverordnung oder
Lehre und elektronische Fernprüfungen, in: Schmidt (Hrsg.): COVID-19. Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl., 2021, § 21, S. 751 ff.; dies., Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser — Paradig- menwechsel durch die Bayerische Fernprüfungserprobungsver- ordnung. COVuR 2021, S. 194 ff.
6 Hierzu ausführlich Bernhardt/Leeb, Elektronischer Rechtsverkehr, in: Heckmann/Paschke, juris Praxiskommentar Internetrecht, 7. Aufl. 2021, Kap. 6 Rn. 178 ff.
7 Hierzu bereits Kergel/Heidkamp, Digitalisierung der Lehre
– Chance für eBologna, in: Hericks (Hrsg.), Hochschulen im Spannungsfeld der Bologna-Reform, 2018, S. 145 ff.
8 Diese Grundrechtskollision und die damit erforderliche Abwä- gung war Ausgangspunkt zu den Überlegungen für die Schaffung einer Rechtsgrundlage für elektronische Fernprüfungen.
5 Vgl. aber bereits zuvor Heckmann/Rachut, Hochschulen — Digitale
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
Sarah Rachut
E‑Klausur und elektronische Fernprüfung: Technolo- gischer Fortschritt und Prüfungskulturwandel im Spiegel des Rechts — Ein Werkstattbericht
90 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
auch durch Satzungsrecht der Hochschulen.9 Die bun- desweit erste Rechtsgrundlage, die Bayerische Fernprü- fungserprobungsverordnung (BayFEV),10 entstand im Sommer 2020 und wurde bereits am 16. September 2020 verkündet. Nur wenige Tage, nachdem Dirk Heckmann und ich das TUM Center for Digital Public Services (www.tum-cdps.de) zum 1. Juni 2020 mit Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für Digitales errich- tet haben, erhielten wir vom Bayerischen Staatsministe- rium für Wissenschaft und Kunst den Auftrag, den Ver- ordnungstext zur rechtssicheren Regulierung elektroni- scher Fernprüfungen zu entwerfen. Hintergrund waren die Eilbedürftigkeit angesichts bevorstehender Ab- schlussprüfungen im ersten „Pandemiesemester“ und unsere Erfahrung aus der oben genannten Machbar- keitsstudie. Das Konzept, das wir der BayFEV als Ergeb- nis der komplexen Grundrechtsprüfung zugrunde gelegt hatten („Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“), wurde von zahlreichen Bundesländern übernommen und prägt heute das deutsche Fernprüfungsrecht. Es soll in diesem Beitrag später erläutert werden.
II. E‑Klausur
Die E‑Klausur, die hier den Mittelpunkt der digitalisier- ten, also mit Hilfe digitaler Medien und Technologien abgenommenen Prüfungsleistung darstellt, hebt sich dadurch hervor, dass eine Aufsichtsklausur am Compu- ter angefertigt wird – was bei außerhalb von Prüfungs- räumen geschriebenen Hausarbeiten oder Referaten schon lange üblich ist und kaum problematisiert wird.11 Das Prüfungsformat einer solchen E‑Klausur wurde schon vor der Pandemie kontrovers diskutiert,12 mit allem Für (u.a. schnellere Korrekturen, Praxisnähe, Integration in E‑Prüfungen) und Wider (z.B. Kosten, Aufwand, Chancengleichheit).13 Für die Machbarkeitsstudie haben wir uns, nachdem wir erhebliche Chancen in digitalen
- 9 Einen Überblick auf dem Stand von März 2022 bietet Heckmann/ Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 186 ff. (203).
- 10 Verordnung zur Erprobung elektronischer Fernprüfungen an den Hochschulen in Bayern (Bayerische Fernprüfungserprobungsver- ordnung – BayFEV) vom 16. September 2020, GVBl. S. 570.
- 11 Dass es daneben auch noch zahlreiche andere Prüfungsformate, wie insbesondere mündliche und praktische Prüfungsformate gibt, sei hier nur ergänzend erwähnt. § 2 Abs. 1 BayFEV formu- liert: „Elektronische Fernprüfungen können in Form schriftlicher Aufsichtsarbeiten (Fernklausur) oder als mündliche oder praktische Fernprüfung angeboten werden.“ „Elektronisch“ sind Fernklau- suren schon aufgrund der digital vermittelten Videoaufsicht (§6 BayFEV), eine „E‑Klausur“ (im engeren Sinne, also als mit Computereinsatz angefertigter Klausurtext) ist insoweit vielleicht
Prüfungsformaten sehen, schwerpunktmäßig mit den (vermeintlichen) Risiken und Hürden auseinanderge- setzt. Dies geschah unter der Überschrift: Die „Show- Stopper“ – Rechtliche Gegenargumente zur E‑Klausur und ihre Widerlegung.14 Dabei wurden jene Fragen beantwortet, die bei praktisch jeder Diskussion zu diesem Thema im Vorfeld aufgeworfen wurden:
• Ist die E‑Klausur unsicher?
• Ist die E‑Klausur ungerecht?
• Ist die E‑Klausur unbezahlbar?
Diese durchaus auch praktischen Fragen, die Heraus- forderungen in technischer und ökonomischer Hinsicht widerspiegeln, berühren verschiedene Rechtsgebiete, die für die „juristische Machbarkeit“ einer Umstellung der Prüfungsformate von entscheidender Bedeutung sind.
1. Aspekte des IT-Sicherheitsrechts
Was passiert, wenn der Bildschirminhalt bei einer Klau- sur plötzlich verschwindet? Oder das System nicht die letzte Fassung der Klausur speichert? Wenn es Übertra- gungsfehler oder gar einen Hackerangriff auf die Prü- fungsumgebung gibt? Wenn ein Systemausfall die ganze Prüfung scheitern lässt oder eine Prüfungsaufgabe mani- puliert wird?
Solche und ähnliche Fragen tauchen immer wieder auf, wenn es um Digitalisierung im Prüfungswesen geht – der Fantasie, was hier alles schief gehen könnte, sind keine Grenzen gesetzt. Zuweilen sind solche Szenarien gleichsam „Totschlagsargumente“ – oder weniger martia- lisch: Show-Stopper – mit denen jegliche Innovation von vorneherein abgelehnt wird: zu unsicher, geht nicht, wir bleiben beim alten und bewährten Verfahren.
Wollte man solche Einwände ungeprüft und nicht ab- wägend gelten lassen, wäre allerdings nicht nur die E- Klausur (und in der Folge die gesamte elektronische
naheliegend, aber nicht zwingend. Denkbar sind auch handge- schriebene Klausurlösungen, die am Ende abfotografiert oder eingescannt an die Hochschule übermittelt werden. Zu diesen Feinheiten ausführlich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elekt- ronische Fernprüfung, S. 24, 44 ff.
12 Vgl. exemplarisch Bernhardt/Leeb: IT in der Juristenausbildung: E‑Justice-Kompetenz, in: Kramer/Kuhn/Putzke (Hrsg.), Tagungs- band zur dritten Fachtagung des Instituts für Rechtsdidaktik an der Universität Passau zum Thema „Was muss Juristenausbildung heute leisten?“, 2019, S. 84 ff.
13 Näher hierzu Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 29 ff. sowie die grafischen Übersichten auf den Seiten 137 und 138.
14 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 71 ff.
Fernprüfung) in Frage gestellt, sondern ebenso alles, was mit E‑Government, E‑Health,15 Smart City, autonomen Fahren16 etc. zusammenhängt. Digitalisierte Prozesse in Verwaltung und Justiz, im Gesundheitswesen, bei Ener- gie oder Mobilität bergen nicht unerhebliche Risiken und sind dennoch politisch und vielfach auch gesetzlich längst beschlossene Sache. Ausgerechnet die Entscheidung ge- gen E‑Klausuren, die rein faktisch ein geringeres (IT-Si- cherheits-)Risiko mit sich bringen dürften als etwa die elektronische Patientenakte17 oder eine elektronische Ge- richtsakte, soll sinnbildlich die Digitalisierung als un- überwindbares Risiko darstellen, die längst in fast allen Lebensbereichen etabliert oder zumindest auf dem Vor- marsch ist? Tatsächlich darf auch hier das Recht nicht als Hürde gesehen werden, sondern muss Gestaltungsfaktor bei der Digitalisierung neuer Lebensbereiche sein.18 Die gestalterischen Anforderungen sollen hier nur kurz skiz- ziert werden:19
Die Einführung einer E‑Klausur geht einher mit der Etablierung einer technischen Prüfungsumgebung, in der das Prüfungsprogramm läuft und die Klausurdateien sicher gespeichert werden, um sie anschließend an die verantwortliche Stelle (etwa das Prüfungsamt) zu über- mitteln oder auch innerhalb des Systems zum Abruf be- reitzustellen. Den Rechtsträger (etwa das Bundesland bei staatlichen Prüfungen oder die Hochschule), für den die verantwortliche Stelle die E‑Klausur organisiert, trifft die staatliche Schutzpflicht zur Gewährleistung der Vertrau- lichkeit und Integrität informationstechnischer Syste- me.20 Dementsprechend muss er das technisch Mögliche und wirtschaftlich Zumutbare unternehmen, um die Ri- siken, die mit dieser Prüfungsform insbesondere zu Las- ten der Prüfungsteilnehmenden bestehen, zu minimie- ren. Hierzu zählen Maßnahmen zur Datensicherheit wie die Echtzeitsicherung der Klausurdatei (permanente Backups), aber auch angemessene Maßnahmen gegen Manipulationen und Täuschungsversuche sowie gegen Zugriffe von außen, die die Pseudonymität der Klausur- teilnehmer offenlegen.
Berücksichtigt man diese Vorgaben in einem ange- messenen Umfang, sprechen Anforderungen des IT-Si-
- 15 Heckmann, Praktische Konkordanz von Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten, in: Heinemann/Matusiewicz (Hrsg.), Rethink Healthcare, 2021, 299 ff.
- 16 Fellenberg/Paschke, Die Mobilitätswende im Livebetrieb, jurisPR ITR 1/2023 Anm. 3.
- 17 Heckmann/Rachut, Elektronische Patientenakte und Elektronische Gesundheitsakte, in: Rehmann/Tillmanns (Hrsg.), E‑Health / Digital Health, 2022, 282 ff.
- 18 So auch das Motto des TUM Center for Digital Public Services auf der Startseite von www.tum-cdps.de (letzter Zugriff am
cherheitsrechts nicht prinzipiell gegen die Umstellung von Klausuren auf E‑Klausuren. Zum einen sollten die Bundesländer bzw. jede Hochschule ohnehin über eine sichere, funktionierende IT-Infrastruktur verfügen (etwa für die Verwaltungsdigitalisierung, den elektronischen Rechtsverkehr bzw. die digitale Lehre und auch für die Digitalisierung der Hochschulverwaltung, der sie ange- sichts zunehmender Anforderungen im internationalen Wettbewerb um Studierende, aber auch der gesetzlichen Vorgaben zur Verwaltungsdigitalisierung nicht entgehen kann). Zum anderen stehen die Anforderungen des IT- Sicherheitsrechts ohnehin unter dem Vorbehalt einer ver- hältnismäßigen, insbesondere wirtschaftlichen Aufga- benerfüllung. Letztlich wird also nichts Unmögliches verlangt.
Wenn demgegenüber doch noch die (technische) Unsicherheit von E‑Klausuren ins Feld geführt wird, liegt der Verdacht nahe, die verantwortlichen Stellen hät- ten sich nicht ausreichend mit den hier aufgeworfenen Fragen befasst. Die Gründe hierfür sind vielfältig: so wurde das Thema „Digitalisierung“ im öffentlichen Sek- tor vielfach verschlafen, fehlt es an ausreichenden Anrei- zen für Veränderungen (lediglich die Pandemie war hier ein Treiber) und fehlen auch Fachkräfte sowie das Be- wusstsein für die notwendigen Veränderungen.
2. Aspekte von Gleichbehandlung und Prüfungsgerech- tigkeit
Als weitere Hürde wird oft genannt, dass die E‑Klausur zu ungerechten Prüfungen beitrüge. Tatsächlich muss gewährleistet werden, dass die Prüfungsteilnehmenden eines Jahrgangs (einer Prüfungskohorte) die gleichen Prüfungsbedingungen haben.21 Dies betrifft auch die technischen Bedingungen einer bestimmten Prüfungs- form, wie eben der E‑Klausur. Deshalb ist grundsätzlich sicherzustellen, dass für alle eine vergleichbare techni- sche Ausstattung des Arbeitsplatzes gegeben ist und eine Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Prüflinge bei der Nutzung eigener Rechner ausgeschlossen wird (etwa durch gleiche Prüfungsprogramme und Vorgaben zur Kompatibilität der Hardware). Ebenso muss das
09.02.2023).
19 Ausführlich im Hinblick auf Fragen der IT-Sicherheit Heckmann/
Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 77 ff. 20 Zu dieser Schutzpflicht Heckmann, Staatliche Schutz- und
Förderpflichten zur Gewährleistung von IT- Sicherheit – Erste Folgerungen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur „Online-Durchsuchung“ in: FS Käfer, S. 138 ff.
21 Jeremias in: Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 402 ff.
Rachut · E‑Klausur und elektronische Fernprüfung 9 1
92 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
Risiko einer Ungleichbehandlung durch Manipulations- möglichkeiten einkalkuliert und so gut wie möglich minimiert werden.22 Dass dies nie ganz ausgeschlossen werden kann, liegt in der Natur der Sache und unter- scheidet sich bei konventionellen Klausuren und Haus- arbeiten ebenso wenig. Täuschungsmöglichkeiten gibt es in jedem Prüfungsformat. Spezifischen Risiken bei der Nutzung von Computern in der Prüfung (Zugang zum Internet, Zugriff auf lokal gespeicherte Informationen) kann man durch technische Vorkehrungen und Anpas- sung der Prüfungsaufsicht begegnen. Die entsprechende Gestaltung der Prüfungsumgebung ist nicht trivial. Inzwischen gibt es hierfür aber bereits gut funktionie- rende Lösungen und Standards.
Ungleiche Bedingungen durch eine unterschiedliche Prüfungsform sind hingegen im Verhältnis unterschied- licher Prüfungskohorten (sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch zwischen den Bundesländern bei ungleichem Reformtempo) unschädlich, solange dies sachlich be- gründet werden kann. Die chancengleiche Prüfungsge- staltung widerlegt den Vorwurf, die E‑Klausur sei „unge- recht“ und deshalb nicht empfehlenswert.
3. Rechtliche Bindungen der Refinanzierung staatlicher Leistungen
Die Einführung einer E‑Klausur bedeutet einen nicht unwesentlichen finanziellen Aufwand, insbesondere durch Entwicklung und Erwerb/Lizenzierung einer spe- ziellen Prüfungssoftware, ggf. auch von Prüfungscom- putern sowie der Bereithaltung einer effizienten und sicheren IT-Infrastruktur und entsprechenden IT- Dienstleistungen. Soweit diese Kosten nicht durch allge- meine Mittel aus dem Staatshaushalt gedeckt werden können oder sollen, sind alternative Finanzierungswege zu bedenken. Die Einführung von Prüfungsgebühren, die die Mehrkosten ganz oder teilweise abdecken, ist rechtlich mit entsprechender gesetzlicher Rechtsgrund- lage im Ergebnis zulässig.23 Alternativ ist an ein Sponso- ringmodell zu denken, das allerdings durch gesetzliche Regelungen oder restriktive Verwaltungsvorschriften
- 22 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 90 ff.
- 23 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 98 ff. (102).
- 24 Richtlinie zum Umgang mit Sponsoring, Werbung, Spenden und mäzenatischen Schenkungen in der staatlichen Verwaltung vom 14.10.2010 (AllMBl. S. 239), allgemein zu rechtlichen Grenzen eines Sponsorings von Prüfungen sowie zur Anwendung der Sponsoring-Richtlinie auf verschiedene SponsoringmodelleHeckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung,S. 103 ff.
wie die Sponsoringrichtlinie im Freistaat Bayern24 begrenzt sein kann.
Ein Kostenfaktor – nämlich die Bereitstellung von Computern zur Anfertigung der E‑Klausur – könnte wegfallen oder erheblich reduziert werden, wenn die Studierenden ihre eigenen Geräte verwenden (sog. Bring-your-own-device-Format, BYOD). Dies wäre auch insofern vorteilhaft, weil man so die Prüfung auf ei- ner gewohnten elektronischen Umgebung ablegen kann. Gleichwohl wurde BYOD im Hinblick auf E‑Klausuren lange Zeit sehr kritisch gesehen, nicht zuletzt wegen des erhöhten Risikos der Manipulation der Geräte zu Täu- schungszwecken.25 Mehr als bemerkenswert ist aber, dass all diese Bedenken wie ausgelöscht erschienen, als die Pandemie im Kontext plötzlich notwendiger elektroni- scher Fernprüfungen zum Einsatz eigener Geräte zwang26 – es war schlicht nicht zu bewerkstelligen, allen Studierenden von Seiten der Hochschulen Geräte durch das Prüfungsamt zur Verfügung zu stellen. Kritik oder gar Protest seitens der Studierenden gab es – soweit er- sichtlich – nicht; ebenso wenig wird von größeren Täu- schungsversuchen berichtet. Irgendwie ähnelt dies dem Thema „Home Office“:27 früher ein rotes Tuch für Behör- den und Unternehmen, erwies sich die Pandemie als Treiber einer solchen Entwicklung; ein Rückschritt zum status quo ante ist weder ersichtlich noch – offenbar – erwünscht.
Die Möglichkeiten der Finanzierung oder Subventio- nierung sowie der langfristigen Amortisierung von In- vestitionen in diesem Bereich widerlegen den Vorwurf, die E- Klausur sei „unbezahlbar“. Was allemal zu konze- dieren ist: Digitalisierung kostet Geld und lässt sich (ent- gegen mancher Beteuerungen von Unternehmensbera- tungen) nicht alleine durch Papierersparnis amortisie- ren. Langfristig kommt man hieran allerdings ohnehin nicht vorbei. Wie sehr die Defizite in der Digitalisierung nicht nur hohe wirtschaftliche Einbußen und gesell- schaftliche Verwerfungen zur Folge haben, sondern auch regelrecht Menschenleben gekostet haben mögen, hat die Pandemie vielfach gezeigt.28
25 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung, S. 33.
26 Hierzu unter dem Aspekt Missbrauchsanfälligkeit elektronischer Fernprüfungen Heckmann/Rachut, E- Klausur und elektronische Fernprüfung, S. 222 ff.
27 Hierzu Heckmann, Die Wohnung als Hörsaal: Hochschulen im Home-Office, in: Nachtwei/Sureth (Hrsg.), Sonderband Zukunft der Arbeit, 2020, S. 149 ff.
28 Vgl. Heckmann, Praktische Konkordanz von Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten, in: Heinemann/Matusiewicz (Hrsg.): Rethink Healthcare, 2021, 299 ff.
4. Parlamentsvorbehalt
Sieht man die erheblichen Chancen und Vorteile der Einführung einer E‑Klausur und auch die Widerlegung der hiergegen geäußerten Bedenken (was hier nur ange- deutet werden konnte, in unserem Buch aber ausführlich dargestellt wird), stellt sich noch die Frage, ob es hierfür einer expliziten Rechtsgrundlage bedarf. Während die dem Buch zugrundeliegende Machbarkeitsstudie 2017/2018 hierzu argumentativ noch weiter ausholen musste, hat der Bundesgesetzgeber diese Frage 2021 mit der Neuregelung in § 5d Abs. 6 Satz 2 DRiG ansatzweise beantwortet. Danach kann das Landesrecht auch „bestimmen, dass in den staatlichen Prüfungen schriftliche Leistungen elektronisch erbracht werden dürfen.“ Damit sollte – politisch – der Weg zur E‑Klausur in den juristi- schen Staatsexamina freigemacht werden. Strenggenom- men ist – rechtlich – damit nichts geklärt: Wenn das Landesrecht dies „bestimmen“ kann, bleibt durchaus offen, ob es hierzu einer expliziten parlamentarischen Ermächtigungsgrundlage bedarf oder ob man Regelun- gen in den Justizausbildungs- und Prüfungsordnungen (JAPO), die „schriftliche“ Aufsichtsarbeiten normieren, zugleich die E‑Klausur wie einen im E‑Government bereits obligatorischen Schriftformersatz ansehen könn- te. Dass dies im Ergebnis rechtsdogmatisch eher zweifel- haft ist, haben wir in unserem Abschnitt zum Parla- mentsvorbehalt und zur Wesentlichkeitstheorie darge- legt:29 Nach unserer Auffassung ist es Sache des Gesetzgebers,
„die Weichen zu stellen und ein Konzept vorzustellen, das einen sicheren, chancengerechten und sinnvollen Übergang gewährleistet. Es ist damit die durch grund- rechtliche Wertungen in Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs.1 GG veranlasste Ordnungsfunktion, die die E‑Klausur in ihrem Kontext der Digitalisierung des Prüfungswesens zu einer auch für die Grundrechtsver- wirklichung „wesentlichen“ Angelegenheit macht.“30
5. Übergangsrecht
Wenn wir nach alldem kaum rückkehrbar auf dem Weg in die E‑Klausur (und elektronische Fernprüfung) sind –
- 29 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung, S. 63 ff.
- 30 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung, S. 68.
- 31 Siehe https://www.justiz.bayern.de/presse-und-medien/pressemit- teilungen/archiv/2020/107.php. (letzter Zugriff am 09.02.2023).
- 32 Überblick bei https://www.lto.de/karriere/jura-referendariat/sto-
sei es wie in Sachsen-Anhalt schon angekommen, wie im Freistaat Bayern ab 2023/202431 oder auch erst in den nächsten Jahren32 – stellt sich noch die Frage, wie man das Übergangsrecht gestaltet. Ausgangspunkt ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot, gerade im Prü- fungsrecht, um Willkür und unsachliche Ungleichbe- handlung zu vermeiden.33 Dabei steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, den er allerdings – auch und insbesondere entsprechend der technisch-organisa- torischen Rahmenbedingungen – auszufüllen hat. Hier- zu zählt, die Änderung der Prüfungsmodalitäten trans- parent zu machen, auf ausreichende Übungsmöglichkei- ten schon während des Studiums bzw. Referendariats zu achten und ein Wahlrecht zwischen E‑Klausur und kon- ventioneller handgeschriebener Klausur einzuräumen. Eine Pflicht zur Einräumung eines dauerhaften Wahl- rechts besteht genauso wenig wie das Verbot der Einräu- mung eines zeitweiligen Wahlrechts.34
III. Elektronische Fernprüfungen
Als wir 2017/2018 die Machbarkeitsstudie zur E‑Klausur schrieben, dachte noch niemand, dass gut zwei Jahre später eine Pandemie die ganze Welt in Atem hält, mit Konsequenzen bis in den Alltag aller Menschen. Um so bemerkenswerter mag es sein, dass wir die E‑Klausur bereits in der Machbarkeitsstudie in eine komplett digi- talisierte Prüfungsumgebung eingebettet haben.35 Zwar lag der Fokus des Gutachtenauftrags klar auf der E‑Klau- sur. Berücksichtigte man unterdessen den Kontext einer E‑Klausur, konnte deren technologisches Konzept nicht sinnvoll entwickelt werden ohne Blick auf die zukünftige Digitalisierung von Lehre und Prüfung, Forschung und Verwaltung an Hochschulen. So entstand bereits eine Art Vorprüfung für elektronische Fernprüfungen, an die wir im Frühsommer 2020 unmittelbar anknüpfen konn- ten, als uns die Anfrage aus dem Bayerischen Staatsmi- nisterium für Wissenschaft und Kunst erreichte, kurz- fristig einen Verordnungstext zu entwerfen. Dass wir damit gleichsam die „Blaupause“ für das deutsche Fern- prüfungsrecht anfertigen würden und die BayFEV viel- fach kopiert würde, kam uns da noch nicht in den Sinn.
ries/detail/welche-bundeslaender-fuehren-e-examen-ein-jura-refe-
rendariat-studium-digitalisierung (letzter Zugriff am 09.02.2023). 33 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 1989, 645.
34 Zum Wahlrecht ausführlich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und
elektronische Fernprüfung, S. 117 ff.
35 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und elektronische Fernprüfung,
S. 24 ff.
Rachut · E‑Klausur und elektronische Fernprüfung 9 3
94 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
Es war schlicht Eile geboten, war das Sommersemester 2020, das erste „Pandemiesemester“, doch schon fortge- schritten und drängte die Zeit, eine rechtssichere Grund- lage für Fernprüfungen zu schaffen. Nicht unbedeutend hierfür war die verfassungsrechtliche Ausgangslage.
1. Grundrechtskollisionen – Das Trilemma der Hoch- schulen
Versetzt man sich zurück in das Sommersemester 2020, ergab sich eine ganz besondere Herausforderung für den Grundrechtsschutz, ein klassisches Trilemma:
So mussten die Hochschulen gegenüber ihren einge- schriebenen Studierenden alle im jeweiligen Studien- gang vorgesehenen Prüfungen anbieten, um dem auch durch Art. 12 GG als Teilhabegrundrecht36 gestützten Prüfungsanspruch zu genügen.
Diese Prüfungen wiederum konnten nicht wie bisher im Hörsaal als Präsenzprüfung stattfinden, weil dies der staatlichen Schutzpflicht zum Schutz von Leben und Ge- sundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) widersprochen hätte: Aufgrund der Pandemielage waren zu diesem Zeitpunkt aus Gründen des Infektionsschutzes erhebliche Kontakt- beschränkungen vorgesehen, die ein Aufeinandertreffen vieler Menschen (zumal solcher mit Risikofaktoren wie Immunerkrankungen) untersagte; hinzukamen etliche unverschuldete Infektionen, die eine Quarantänepflicht nach sich zogen oder geltende Ein- und Ausreisebe- schränkungen, die ein Erreichen des Hochschulortes un- möglich machten.
Wollte man hier ausweichen und die Klausuren in „sicherer Umgebung“, nämlich der häuslichen Umge- bung (quasi der Quarantäne) schreiben lassen, standen weitere Grundrechtseinschränkungen im Raum: zum ei- nen eine Gefährdung des Persönlichkeitsschutzes gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG (Recht auf informa- tionelle Selbstbestimmung, Gewährleistung der Vertrau- lichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme) sowie ein möglicher Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG durch die kaum vermeidbare Videoaufsicht innerhalb der Wohnung und ggf. die Installation von Software mit Ein- griffen in die Funktionalität des häuslichen Rechners; zum anderen eine mögliche Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG), soweit die konkrete Prüfungssituation zu einer signifikanten Erhö- hung von Täuschungsmöglichkeiten führt.
- 36 Hierzu Ruffert, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 50. Ed., Stand 15.2.2022, Art. 12 Rn. 25; Jeremias, in: Fischer/Jeremias/ Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, C., Rn. 135.
- 37 Hierzu grundlegend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl. 1999,
Alles in allem konnte man als Hochschule in solch ei- ner Situation nur falsch handeln: egal welches Vorgehen man favorisierte, es würde zu Grundrechtseinschrän- kungen führen. Die Herausforderung für das Konzept einer diesbezüglichen Rechtsgrundlage war also, im Wege praktischer Konkordanz37 die kollidierenden Grundrechte in einen solchen Ausgleich zu bringen, dass kein Grundrecht unnötig stark beeinträchtigt wird.
Vor diesem Hintergrund entstand eine „Architektur“ für die BayFEV mit vier Säulen: Transparenz, Wahlrecht, Vertrauen, Verhältnismäßigkeit.
2. Erste Säule des BayFEV-Modells: Transparenz
Dass Transparenz quasi über allem stehen müsse, leuch- tet ein, wenn man versucht, das diffuse Gesamtbild staat- licher Prüfungen in einer Pandemiesituation zu zeich- nen. So müssen die Hochschulen bzw. Prüfungsämter zunächst einmal aufklären: über die aktuelle Sach- und Rechtslage, die denkbaren Prüfungsformate und ihre jeweiligen Rahmenbedingungen sowie die Konsequen- zen, wenn man den einen oder anderen Weg geht (hier- zu § 3 BayFEV und passim). Der Staat hat hier gleichsam eine Bringschuld. Hierzu zählt auch das Angebot von Probeklausuren unter Fernprüfungsbedingungen, um die Hinweise besser nachvollziehen zu können (§ 3 Abs. 3 BayFEV).
3. Zweite Säule des BayFEV-Modells: Wahlrecht
Auf dieser Transparenzoffensive aufbauend bildet das Wahlrecht der Studierenden (§ 8 BayFEV) die zweite Säu- le.38 Sie dürfen sich frei entscheiden, ob sie an der elektro- nischen Fernprüfung oder einer alternativ angebotenen Präsenzprüfung teilnehmen oder – während der Pande- mie – die Prüfung in das nächste Semester verschieben (ohne Nachteil im Studienverlauf, § 8 Abs. 2 Satz 3 Bay- FEV). Auf dieses Wahlrecht muss ausdrücklich hingewie- sen werden. Erst durch das Wahlrecht entsteht eine Situa- tion der Freiwilligkeit, durch die der Grundrechtsein- schränkungdieSchwere(oderggf.sogardieGrundlage) entzogen wird. Dass die Hochschulen mit der Einräu- mung eines solchen Wahlrechts einen erheblichen Orga- nisationsaufwand haben, ist unbestritten. Dieser ist aber erforderlich, um der spezifischen Grundrechtskollision gerecht zu werden. Auch wenn den Staat keine Verant- wortung für den Ausbruch der Pandemie trifft (ggf. aber
Rn. 72, 317 ff.
38 Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung,
S. 190 (auch mit dem Hinweis, dass die Ausübung des Wahlrechts nicht gleichgesetzt werden darf mit einer datenschutzrechtlichen Einwilligung in die Datenverarbeitung).
eine Verantwortung für den Verlauf und manche Auswir- kungen), so spricht doch der Teilhabe‑, Schutzpflicht- und Gewährleistungscharakter der betroffenen Grund- rechte für dieses Optimierungsgebot, das der Einräu- mung des Wahlrechts innewohnt: Eingriffsminimierung durch Optimierung der eingriffsvermeidenden Umstän- de.
4. Dritte Säule des BayFEV-Modells: Vertrauen
DiesleitetüberzurdrittenSäule.Geradezuparadigma- tisch für das Konzept der BayFEV ist das Prinzip „Kont- rolle ist gut, Vertrauen ist besser“, das Dirk Heckmann in den Mittelpunkt seiner Begründung auf der Pressekonfe- renz zur Vorstellung der BayFEV am 19.9.2020 gestellt hat.39 Das Vertrauensprinzip findet sich an mehreren Stellen der Verordnung wieder und ist letztlich auch ein Ausfluss des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (hier- zu direkt im Anschluss). Es bedeutet letztlich, dass der Verordnungsgeber bei der Ausgestaltung der elektroni- schen Fernprüfung dezidierte Schranken einbaut, was die Kontroll- und Aufsichtsmöglichkeiten durch das Per- sonal der Klausuraufsicht betrifft. So findet etwa keine Raumüberwachung statt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 BayFEV), der Einsatz einer zweiten Kamera ist genauso untersagt wie ein „360-Grad- Schwenk“ durch den Raum oder gar die Räume in der Wohnung. Ebenso untersagt ist die Erstel- lung von Persönlichkeitsprofilen durch die Prüfungs- und Kontrollsoftware („Abweichung vom Standardver- halten“40), was ein faktisches „Aus“ für den Einsatz beson- dersrisikobehafteterKI-Systemebeieinerelektronischen Fernprüfung bedeutet (§ 6 Abs. 4 Satz 5 BayFEV).41
Insgesamt beruht die elektronische Fernprüfung, so wie sie die BayFEV regelt, auf einem großen Vertrauens- vorschuss gegenüber den Studierenden. Wir gehen da- von aus, dass die meisten Studierenden die faktisch ver- bleibenden Möglichkeiten zur Täuschung nicht nutzen werden, wobei wir zwischen redlichen, verführbaren und rücksichtslosen Kandidaten unterscheiden.42
Die redlichen Studierenden täuschen ohnehin nicht, weil sie sich auf das Bewältigen der Klausuraufgabe kon- zentrieren, statt ihre Energie für aufwändige und aufrei- bende Täuschungsmanöver zu vergeuden. Dass Täu- schung wiederum nicht zu leicht gemacht wird, ist auch eine Frage der Prüfungsdidaktik: je weniger die Wieder-
- 39 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Hbj8t9ogM3M (letzter Zugriff am 09.02.2023); vgl. auch Heckmann/Rachut, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, COVuR 2021, 194 ff.
- 40 Hierzu ausführlich Rachut/Besner, MMR 2021, 851, 853, 855 f.
- 41 Zur möglichen Verwendung einfacher Algorithmen vgl.§ 6 Abs. 4 BayFEV sowie Rachut/Besner, MMR 2021, 851 ff.
- 42 Heckmann/Rachut, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, COVuR2021, 194 (199).
gabe von erlernten Tatsachen verlangt wird, je mehr es um Transferwissen und Methode geht, um so schwieri- ger ist es, auf unzulässige Quellen zurückzugreifen, weil dies bei der Korrektur eher auffallen würde.
Die verführbaren Studierenden werden dann auf un- zulässige Quellen zurückgreifen, wenn sie sich bei die- sem Verhalten „im Recht sehen“: etwa, weil der Prüfungs- stoff zu schwer ist oder von kommunizierten Eingren- zungen abweicht. Das lässt sich durch einen zielführen- den Unterricht und eine faire Prüfungsgestaltung verhindern. Hinzu kommt die abschreckende Wirkung des Aufsichtsdrucks durch die Kontrolle mittels einfa- cher Videoaufsicht.
Das ist anders bei den rücksichtslosen Studierenden, die jede Gelegenheit nutzen, sich einen – auch unzuläs- sigen – Vorteil zu verschaffen. Solche Personen verhalten sich ähnlich wie die Raser im Straßenverkehr, deren Ver- kehrsverstöße nur bei einer flächendeckenden Verkehrs- überwachung unterbunden werden könnten. Genau das ist aber weder im Straßenverkehrsrecht noch den bishe- rigen Präsenzklausuren vorgesehen, im Gegenteil: Das Bundesverfassungsgericht hat sich mehrfach kritisch schon zum „Gefühl“ des „permanenten Überwachtseins“43 geäußert und erteilt einer „Totalüberwachung“ eine klare Absage.
5. Vierte Säule des BayFEV-Modells: Verhältnismäßig- keit
Genau hier knüpft auch die vierte Säule unseres Modells an: die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns ist auch ein Gebot im Rahmen der Klausuraufsicht. Wollte man bei elektronischen Fernprüfungen jegliche Kontrol- len vornehmen, die technisch möglich sind, wäre schon fraglich, ob diese überhaupt erforderlich sind. Allemal wären sie nicht angemessen.44 In keinem Lebensbereich ist „Totalüberwachung“ (Überwachung um jeden Preis) zulässig: weder im Straßenverkehr noch bei Leistungs- kontrollen am Arbeitsplatz.45 In der Grundrechtsabwä- gung spielt die Chancengerechtigkeit eine wichtige Rol- le. Sie ist aber – wie gesehen – in praktische Konkordanz zum Schutz der Privatsphäre, der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Vertraulichkeit und Integrität infor- mationstechnischer Systeme zu bringen. Unsere Rechts- ordnung nimmt in vielen Bereichen Risiken in Kauf,
43 BVerfGE 120, 378.
44 Ausführlich zu den hohen verfassungsrechtlichen Anforderungen
Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S.
171 ff.
45 Beispielhaft BAG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 –,
BAGE 159, 380 ff. zur Unzulässigkeit des Einsatzes von Keylog- gern im Rahmen einer anlasslosen Überwachung des Arbeitsplat- zes.
Rachut · E‑Klausur und elektronische Fernprüfung 9 5
96 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
eine Null-Risiko-Strategie wird nicht einmal beim Betrieb gefährlicher Anlagen gefordert.46 Warum also sollten ausgerechnet Risiken von Täuschungshandlun- gen in Klausuren erhebliche Eingriffe in die genannten Schutzgüter durch stärkere Kontrollen rechtfertigen?47
6. Moderate Prüfungsaufsicht
Legt man die genannten vier Säulen der Architektur des Fernprüfungssystems zugrunde, kommt man zu einem auf Vertrauen, moderater Kontrolle und didaktischer Anpassung beruhenden Prüfungssystem. Die Klausur wird beaufsichtigt, jedoch erfasst die standardmäßige Videoaufsicht nur die Prüfung des Verbleibs der Kandi- daten vor dem Bildschirm (statisches Kamerabild) und das Unterbleiben von Gesprächen im Raum (offenes Mikrofon). Dies bildet praktisch die Kontrolle im realen Prüfungsraum ab. Gegebenenfalls kann eine Prüfungs- software zur Anwendung gelangen, die für den Klausur- zeitraum bestimmte Funktionen (z.B. das Nutzen der Zwischenablage oder eine Internetrecherche) unterbin- det. Weitere Täuschungsmöglichkeiten mögen auch dadurch vermieden werden, indem man die Verwen- dung von Hilfsmitteln wie Studienunterlagen ausdrück- lich erlaubt (sog. Open Books Klausuren).
IV. Prüfungskulturwandel
Dies alles soll eine Prüfungssituation schaffen, in der sich Prüfende und Studierende mit Respekt, Fairness, Vertrauen und Zuversicht begegnen. Würde eine Hoch- schule demgegenüber durch die Prüfungsmodalitäten dezidiert eine Atmosphäre des Misstrauens erzeugen, müsste sie sich fragen, welches Menschenbild sie ausge- rechnet bei jenen Menschen zugrunde legen will, die als ihre Absolventen künftig die Hoffnungs- und Leistungs- träger der Gesellschaft darstellen sollen. Oder anders ausgedrückt:
„Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt von Vorausset- zungen, die er selbst nicht garantieren kann: Mit die- sem Satz sprach Ernst-Wolfgang Böckenförde auch die
- 46 Zum Risikobegriff im Technikrecht Debus, Strategien zum Um- gang mit sagenhaften Risikotypen, insbesondere am Beispiel der Kernenergie, in: Scharrer et. al. (Hrsg.), Risiko im Recht — Recht im Risiko, 2011, S. 11 ff.
- 47 Vgl. zum Umgang mit Täuschungsversuchen im Rahmen von elektronischen Fernprüfungen Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische Fernprüfung, S. 222 ff.
- 48 Heckmann/Rachut, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, COVuR 2021, 194 (200).
- 49 Ausführlich Heckmann/Rachut, E‑Klausur und Elektronische
gewollte Unvollkommenheit der Rechtsdurchsetzung und die hohe Bedeutung der Akzeptanzstiftung in ei- ner freien Gesellschaft an. Wo könnte dieses Prinzip besser gelernt und gelehrt werden als an den Hochschulen?“48
Letztlich zwingt die Pandemie mit der Notwendig- keit elektronischer Fernprüfungen zum Umdenken in Prüfungsdidaktik und Prüfungskultur.49 Schon länger wird diskutiert, ob bestimmte Prüfungsformate über- haupt noch zeitgemäß sind.50 Wie wichtig ist das Aus- wendiglernen eines Prüfungsstoffs? Sind die Klausurin- halte und ihre Methodik überhaupt noch angemessen, passen sie zu den Anforderungen der Berufspraxis, auf die sie vorbereiten sollen? Gerade bei juristischen Prü- fungen ist der Unterschied zwischen Prüfung und Praxis besonders stark: Während man im 1. Staatsexamen noch als Einzelkämpfer mit Gesetzestext komplexe Fälle lösen soll, arbeitet man später in Teams mit juristischen Da- tenbanken. Wenn man dann noch hinzunimmt, dass künftig Legal-3Tech-Anwendungen51 und KI-Systeme wie ChatGPT oder you.com zumindest eine teilautoma- tisierte Rechtsdurchsetzung52 ermöglichen, entfernt sich die konventionelle Juristenausbildung immer mehr von der Rechtspraxis. Hier gilt es gegenzusteuern. Gefragt sind Kreativität, kritische Reflexion, Technikverständnis und Zielorientierung. All das lässt sich (ein Stück weit) erlernen, üben und anwenden, mit wenig Aufsichtsdruck.
Das zeigt auch der Umgang mit ChatGPT, einer KI- Anwendung des Text- und Dataminings des Unterneh- mens OpenAI, um die ein regelrechter Hype entstanden ist.53 Mit deren Hilfe lassen sich mehr oder weniger fun- dierte Antworten auf bestimmte (Fach-) Fragen finden. Dabei muss indes die Funktionsweise dieser Systeme be- rücksichtigt werden, sodass diese Anwendung nicht wie ein großes Lexikon oder eine Suchmaschine genutzt werden kann, sondern anhand seiner Trainingsdaten le- diglich aufgrund von Wahrscheinlichkeiten möglichst korrekte bzw. erwünschte Textvervollständigung ausgibt. Die daraus ermittelten Aussagen können, müssen aber
Fernprüfung, S. 218 ff.
50 Hierzu auch die Initiative www.iurreform.de (letzter Zugriff am
09.02.2022).
51 Hierzu statt Vieler Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal
Tech, 2. Aufl. 2021.
52 Zu Grenzen automatisierter Rechtsverwirklichung Paschke, MMR
2019, 563 ff.
53 Zum Einstieg siehe Braegelmann, Der ChatGPTorische Imperativ,
Blogbeitrag vom 12.12.2022, https://www.legal-tech.de/chatgpt/ (letzter Zugriff am 09.02.2023).
nicht fachlich fundiert sein und der Intention des Fragen- den entsprechen.
Der Reflex unter den Prüfenden ließ nicht lange auf sich warten: vielfach wurde ein Verbot dieser Anwen- dung diskutiert, manche (Hoch-)Schulen in den USA haben die Anwendung bereits auf ihren Rechnern unter- bunden.54 Nur langsam entfaltet sich (auch in Deutsch- land) die Erkenntnis, solche Innovationen in den Unter- richt einzubauen oder gar in Prüfungen zuzulassen: nicht etwa, um dem System die Lösung der Klausurauf- gabe zu überlassen, sondern vielmehr, um dessen Funk- tionalität als Teil eines Erkenntnisprozesses zu begreifen. Dies wiederum setzt natürlich neuartige Prüfungen vor- aus, die mehr auf Methode und Erkenntnis als auf rei- nes Wissen setzen. Dass damit die früher wiederver- wendbaren Klausuraufgaben zur Makulatur werden, ist vielleicht der Preis für eine sich audrängende Moderni- sierung des Prüfungswesens.
E‑Klausur und elektronische Fernprüfung sind so gesehen auch nur die Vorboten für eine (weltweite)
Umwälzung im Bildungswesen, eine digitale Transfor- mation, bei der Deutschland vor der Wahl steht: Entwe- der man gestaltet den Umbruch selbst und integriert technische Innovationen so, dass sie unseren Werten und Standards entsprechend optimalen Nutzen entfal- ten. Oder man hinkt ein weiteres Mal so weit hinterher, dass die Gestaltungshoheit bei jenen Unternehmen liegt, die ein eigenes Werteverständnis gleich mit ein- bauen: Code is law.55 Ob man das durch Regulierung je eingefangen bekommt, ist fraglich, wie man an den Be- mühungen um den Persönlichkeitsschutz in sozialen Netzwerken56 (Digital Services Act) sieht.57
Sarah Rachut ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Recht und Sicherheit der Digitalisierung (Prof. Dr. Dirk Heckmann) an der Technischen Univer- sität München und Geschäftsführerin der Forschungs- stelle TUM Center for Digital Public Services. Sie forscht und lehrt zu verfassungsrechtlichen Fragen der Digitalisierung, schwerpunktmäßig in den Bereichen E‑Government, E‑Health und E‑Education.
54 Zum Verbot von ChatGPT an New Yorker Schulen: https:// ny.chalkbeat.org/2023/1/3/23537987/nyc-schools-ban-chatgpt- writing-artificial-intelligence. Vgl. auch den Blogbeitrag von Donath vom 6.1.2023: https://www.golem.de/news/schule- und-wissenschaft-nutzungsverbote-gegen-chatgpt-ausgespro- chen-2301–171004.html (letzter Zugriff am 09.02.2023).
55 Lawrence Lessig, Code is law, 1999.
56 Ein Gesetz zur Verbesserung des Persönlichkeitsrechtsschutzes
im Internet schlagen Anne Paschke und Dirk Heckmann vor, siehe
Heckmann/Paschke, DRiZ 2018, 144 ff.
57 Peukert, Zu Risiken und Nebenwirkungen des Gesetzes über
digitale Dienste (Digital Services Act), KritV 2022, 57 ff.
Rachut · E‑Klausur und elektronische Fernprüfung 9 7
98 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 89–98
I. Entscheidung des BAG
In einem aufsehenerregenden Beschluss vom 13.9.2022 hat sich das BAG auf den Standpunkt gestellt, dass der Arbeitgeber bereits nach geltendem Recht verpflichtet ist, ein System zur Erfassung der von seinen Arbeitneh- mern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeits- zeit einschließlich der Überstunden umfasst. Dies soll eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gebieten, nach welchem der Arbeitgeber zur Planung und Durchführung der Maß- nahmen nach § 3 Abs. 1 ArbSchG unter Berücksichti- gung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäf- tigten für eine geordnete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen hat.1
Nach § 3 Abs. 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber ver- pflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeits- schutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu tref- fen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen.
In dem vom BAG entschiedenen Rechtsstreit ging es um die Frage, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Systems zur Arbeits- zeiterfassung zusteht. Dies hat das BAG mit Blick auf § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG verneint, je- doch ausgeführt, dass die bei der Erfüllung der Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bestehenden Spielräume von den Betriebsparteien oder einer Einigungsstelle im Rah- men der betrieblichen Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG durch entsprechende Regelun- gen auszugestalten sind, was dann auch ein entsprechen- des Initiativrecht zu einer Regelung des „Wie“ der Ar- beitszeiterfassung umfasst. Dieses kann der Betriebsrat
- 1 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 42 ff.
- 2 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 59 ff., 66 ff.
- 3 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestal- tung, Abl. 2003 L 299/9.
- 4 Richtlinie 89/391/EWG des Rates v. 12.6.1989 über die Durchfüh-
aber nicht auf eine Zeiterfassung in elektronischer Form beschränken.2
Grundlage der im Wege unionsrechtskonformer Auslegung auf die Rahmenvorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gestützten Arbeitszeiterfas- sungspflicht durch das BAG ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache CCOO. Mit Urteil vom 14.5.2019 hat der EuGH auf Vorlage der Audiencia Naci- onal (Nationaler Gerichtshof, Spanien) bekanntlich ent- schieden, dass es mit den Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeit- richtlinie 2003/88/EG,3 die im Lichte von Art. 31 Abs. 2 GRCh und von Art. 4 Abs. 1, 11 Abs. 3 und 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391/EWG4 auszulegen sind, unvereinbar ist, wenn die arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen eines Mitgliedstaates die Arbeitgeber nicht verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Ar- beitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen wer- den kann.5 Da die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit der Richtlinie 2003/88/EG alle erforderlichen Maßnahmen treffen müssten, um die Be- achtung der Mindestruhezeiten zu gewährleisten und jede Überschreitung der wöchentlichen Arbeitszeit zu verhindern, sei eine nationale Regelung, die keine Ver- pflichtung vorsehe, von einem Instrument Gebrauch zu machen, mit dem die Zahl der täglichen und wöchentli- chen Arbeitsstunden objektiv und verlässlich festgestellt werden könne, nicht geeignet, die praktische Wirksam- keit der von Art. 31 Abs. 2 GRCh und der durch die Ar- beitszeitrichtlinie verliehenen Rechte sicherzustellen. Dabei gesteht der Gerichtshof den Mitgliedstaaten einen Spielraum bei der Festlegung der konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems zu.6
Weil der deutsche Gesetzgeber bislang untätig geblie- ben ist, hat sich das BAG zu der Annahme des Bestehens einer allgemeinen Arbeitszeiterfassungspflicht bereits de
rung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit, Abl. 1989 L 183/1.
5 EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C‑55/18 – CCOO, NZA 2019, 683, insbes. Rn. 60.
6 EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C‑55/18 – CCOO, NZA 2019, 683 Rn. 50, 63.
Georg Caspers
Arbeitszeiterfassung an Hochschulen
– Anmerkung zum Beschluss des BAG vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21 –
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
100 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 99–106
lege lata berufen gefühlt. Danach sind die Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit derjenigen Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht auf der Grund- lage von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG eine von den Vor- gaben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b) dieser Richtlinie ab- weichende Regelung getroffen hat.7 Dabei anerkennt das BAG, dass die Zeiterfassung nicht zwingend auf elektro- nischem Wege erfolgen muss, sondern auch Aufzeich- nungen in Papierform den Anforderungen genügen. Ebenso besteht die Möglichkeit, die Aufzeichnung der betreffenden Arbeitszeiten an die Arbeitnehmer zu delegieren.8
Dass aus dem ArbSchG eine allgemeine Pflicht zur Er- fassung der täglichen Arbeitszeit folgen soll, war so nicht erwartet worden. Denn bislang sieht § 16 Abs. 2 ArbZG lediglich eine Verpflichtung der Arbeitgeber vor, die über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausge- hende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen und ein Verzeichnis der Arbeitnehmer zu führen, die in eine Verlängerung der Arbeitszeit gem. § 7 Abs. 7 ArbZG ein- gewilligt haben. Daneben existieren einige spezialgesetz- liche Pflichten zur Aufzeichnung der Arbeitszeit, etwa nach § 21a Abs. 7 ArbZG sowie § 17 Abs. 1 MiLoG, § 17c Abs.1AÜG,§19Abs.1AEntGund§6Abs.1GSA Fleisch.9 Dies spricht dafür, dass es eine allgemeine Pflicht, den Beginn und das Ende der gesamten täglichen Arbeitszeit sämtlicher Arbeitnehmer aufzuzeichnen, im deutschen Arbeitsrecht nicht gibt, und von einer solchen wurde ja auch bislang gerade nicht ausgegangen. Von ei- nem „Erfurter Kunstgriff“ ist deshalb die Rede,10 oder auch davon, das BAG habe sich „methodisch außeror- dentlich weit vorgewagt“.11 Vereinzelt wird sogar von ei- ner unzulässigen Rechtsfortbildung durch das BAG und damit von einem Verfassungsverstoß ausgegangen.12
Gänzlich fernliegend ist das Auslegungsergebnis des BAG indessen nicht, sieht doch Art. 1 Abs. 4 iVm. Abs. 2 der RL 2003/88/EG ausdrücklich vor, dass die Bestim- mungen der RL 89/391/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und
- 7 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Leit- satz 1 und Rn. 56.
- 8 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 65.
- 9 Zu den Aufzeichnungspflichten des ArbZG sowie weitererAufzeichnungspflichten ausführlich Bayreuther, NZA 2020, 1 ff.; Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeitszeitgesetz, 4. Aufl. 2020, § 16 ArbZG Rn. 21 ff., § 21a ArbZG Rn. 33 ff.
- 10 Lipinski, BB 2022, Heft 40, I.
- 11 Bayreuther, NZA 2023, 193, 198.
- 12 Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1 ff., wonach es sich um ein„Musterbeispiel unzulässiger Rechtsfortbildung“ handeln soll; a.A.
des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Ar- beit unbeschadet strengerer und/oder spezifischer Vor- schriften in der Arbeitszeitrichtlinie auf die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten sowie die wö- chentliche Höchstarbeitszeit voll Anwendung finden. Dementsprechend hat bereits der EuGH dargelegt, dass sich die von ihm angenommene Verpflichtung zur Ein- richtung eines objektiven, verlässlichen und zugängli- chen Systems, mit dem die von einem jeden Arbeitneh- mer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, auch aus der allgemeinen Verpflichtung der Mit- gliedstaaten und der Arbeitgeber nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG ergibt, eine Or- ganisation und die erforderlichen Mittel zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer bereit- zustellen.13 Diese Vorgabe des Art. 6 Abs. 1 RL 89/391/ EWG wird mit dem vom BAG herangezogenen § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG umgesetzt. Der rechtsmethodische Streit um die Frage, ob die vom BAG gewählte Annahme einer Arbeitszeiterfassungspflicht im Wege der unions- rechtskonformen Auslegung zulässig war oder eine un- zulässige Rechtsfortbildung darstellt, kreist deshalb ins- besondere um die Frage, inwieweit die vom nationalen Gesetzgeber in § 16 Abs. 2 ArbZG sowie den spezialge- setzlichen Bestimmungen vorgesehenen Arbeitszeiter- fassungspflichten als abschließende Regelung gewollt waren.
Solange die Rechtsprechung des BAG nicht vom BVerfG kassiert wird, ist davon auszugehen, dass eine allgemeine Pflicht der Arbeitgeber existiert, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit derjenigen Arbeitnehmer aufzuzeichnen, für die der Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG eine von den Vorgaben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b) der Richtlinie abweichende Regelung getroffen hat. Zwar bindet der Beschluss des BAG allein die Beteiligten des Rechtstreits. Jedoch liegt es auf der Hand, dass die ganz überwiegen- de Zahl der Gerichte für Arbeitssachen und auch die Aufsichtsbehörden der Auslegung des BAG folgen wer- den.14 Nicht von der Aufzeichnungspflicht erfasst sind
Bayreuther, NZA 2023, 193, 198.
13 EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C‑55/18 – CCOO, NZA 2019, 683 Rn.
62.
14 Nach Kenntnis des Verfassers hat das Arbeitsministerium NRW
unmittelbar nach dem Beschluss des BAG angekündigt, den Arbeitsschutzbehörden Durchführungsanweisungen dazu an die Hand zu geben, um für eine möglichst einheitliche Linie und Rechtssicherheit zu sorgen. Die Sozialpartner wurden bereits angehört. Einschränkend zu den Befugnissen der Arbeitsschutz- behörden Bayreuther, NZA 2023, 193, 198 f.
nach § 18 Abs. 1 ArbZG die Arbeitszeiten von leitenden Angestellten im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG15 und Chef- ärzten sowie der Leiter von öffentlichen Dienststellen und deren Vertretern sowie von Arbeitnehmern im öf- fentlichen Dienst, die zu selbständigen Entscheidungen in Personalangelegenheiten befugt sind. Denn diese sind im Sinne von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG aus dem An- wendungsbereich des durch das ArbZG gewährleisteten Arbeitszeitschutzes ausgenommen.
II. Auswirkungen auf die Hochschulen
1. Erfasster Personenkreis
Das Arbeitszeitrecht und damit zusammenhängend die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit gilt auch an Hoch- schulen. Für wissenschaftliche Mitarbeiter und das nichtwissenschaftliche Personal greifen grundsätzlich die Schranken des ArbZG.16 Damit gilt gem. § 3 ArbZG eine werktägliche Arbeitszeit von höchstens acht Stun- den, die auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden kann, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Von der in § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) ArbZG den Tarifvertragspar- teien eingeräumten Möglichkeit, einen anderen Aus- gleichszeitraum festzulegen, wurde für den Bereich der Wissenschaft in § 40 Nr. 3 TV‑L Gebrauch gemacht. Dort ist der Ausgleichszeitraum abweichend von § 3 Satz 2 ArbZG auf ein Jahr festgelegt worden. Art. 19 Abs. 2 RL 2003/88/EG lässt dies grundsätzlich zu. Neben dieser Begrenzung des zulässigen Umfangs der tägli- chen und wöchentlichen Arbeitszeit sind die Vorgaben des § 5 ArbZG zur ununterbrochenen Ruhezeit von mindestens elf Stunden sowie die in § 4 ArbZG geregel- ten Ruhepausen einzuhalten.
Eine Erfassung der Arbeitszeit an Hochschulen ist bislangtypischerweisenurfüreinenTeilderBeschäftig- ten vorgesehen. Entsprechende mit den Personalräten abgeschlossene Dienstvereinbarungen bestehen jeden-
- 15 Ebenso Bayreuther, NZA 2023, 193 f.; zweifelnd Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1, 5; a.A. Löwisch, https://page.fachmedien.de/word- press/rechtsboard/2022/12/09/umsetzung-der-arbeitszeiterfas- sungspflicht-bleibt-aufgabe-des-gesetzgebers/ (letzter Zugriff am 8.3.2023).
- 16 Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschul- recht, 4. Aufl. 2022, Kapitel 11 Rn. 74.
- 17 In Hochschulen und Forschungseinrichtungen in privater Träger- schaft findet das BetrVG Anwendung, so dass dort Betriebsver- einbarungen zu schließen sind.
- 18 Ein Bußgeld setzt nach § 25 Abs. 1 Nr. 2 ArbSchG zumindest eine behördliche Anordnung sowie eine Zuwiderhandlung voraus, vgl. hierzu Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1, 5; die Grundlage für ein
falls in der Regel für die in der Hochschulverwaltung beschäftigten Mitarbeiter.17 In Bereichen, in denen die Arbeitszeit bisher nicht erfasst wird, hat dies nunmehr zu geschehen, sofern man den Beschluss des BAG nicht weiter ignoriert.18 Denn Ausnahmen von den genann- ten Vorgaben des ArbZG und der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Arbeitszeiterfassungspflicht bestehen auch im Bereich der Hochschulen nur in engen Grenzen. Lei- tende Angestellte im Sinne von § 5 Abs. 3 BetrVG an pri- vaten Hochschulen und Forschungseinrichtungen in pri- vater Trägerschaft sowie die Leiter der Dienststellen und deren Vertreter sowie Arbeitnehmer, die zu selbständigen Entscheidungen in Personalangelegenheiten befugt sind,19 an den staatlichen Hochschulen, sind nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ArbZG aus dem Anwendungsbe- reich des ArbZG ausgenommen. Mit dieser Bestim- mung macht der Gesetzgeber von der unionsrechtli- chen Ausnahmebestimmung des Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG Gebrauch, nach dem für leitende Ange- stellte und sonstige Personen mit selbständiger Ent- scheidungsbefugnis jedenfalls von den Art. 3 bis 6, 8 und 16 der Richtlinie, also insbesondere von den Be- stimmungen über die elfstündige Ruhezeit, die Ruhe- pausen, die wöchentliche Mindestruhezeit von 24 Stun- den sowie die wöchentliche durchschnittliche Höchstar- beitszeit von 48 Stunden, abgewichen werden darf. Ar- beitnehmer, für die der Gesetzgeber auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG eine von den Vorgaben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b) der Richtlinie abweichende Regelung getroffen hat, hat das BAG ausdrücklich von der Arbeitszeiterfassungspflicht ausgenommen.20
Gleiches gilt für Professoren, unabhängig davon, ob diese im Beamtenverhältnis oder auf der Grundlage ei- nes Arbeitsvertrags tätig sind.21 Denn für diese sehen die Hochschulgesetze regelmäßig vor, dass die Vor- schriften über die Arbeitszeit nicht anzuwenden sind.22 Im Beamtenverhältnis tätige Professoren werden da- durch von den einschlägigen Arbeitszeitregelungen für Beamte ausgenommen. Die für Beamte vorgesehenen
Bußgeld gänzlich ablehnend Bayreuther, NZA 2023, 193, 199. 19 Dazu näher Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.),
Hochschulrecht, 4. Aufl. 2022, Kapitel 11 Rn. 78 f.
20 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Leit-
satz 1 und Rn. 56.
21 Adam, Forschung & Lehre 2023, 118, 119; Wertheimer/Meißner,
in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschulrecht, 4. Aufl. 2022, Kapi-
tel 11 Rn. 72.
22 Vgl. z.B. § 45 Abs. 2 Satz 2 LHG BaWü; Art. 60 Abs. 1 Satz 1
BayHIG; § 102 Abs. 3 Satz 1 BerlHG; s. für den Bund auch § 50 Abs. 1 Satz 3 HRG, nach dem die Vorschriften des BRRG über die Arbeitszeit mit Ausnahme der §§ 44a und 44b auf Hochschulleh- rerinnen und Hochschullehrer nicht anzuwenden sind.
Caspers · Arbeitszeiterfassung an Hochschulen 1 0 1
102 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 99–106
Bestimmungen über die tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie die Ruhezeiten23 gelten für diese nicht. Es ist auch nicht vorgeschrieben, für wie viele Stunden ein Professor und wann er zu arbeiten hat.24 Für angestellte Professoren machen die einschlägigen Hoch- schulgesetze von der Öffnung des § 19 ArbZG Ge- brauch,25 nach dem bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben im öffentlichen Dienst, soweit keine tarifver- tragliche Regelung besteht, durch die zuständige Dienst- behörde die für Beamte geltenden Bestimmungen über die Arbeitszeit auf die Arbeitnehmer übertragen werden können. Gem. § 1 Abs. 3 Buchst. a) TV‑L sind Hoch- schullehrer aus dem Geltungsbereich des TV‑L ausge- nommen. Die §§ 3–13 ArbZG finden insoweit keine Anwendung.
Mit dem Recht der Professoren, die Zeit der Erfül- lung ihrer Dienstaufgaben im Rahmen der selbständigen Aufgabenwahrnehmung selbst bestimmen zu können, tragen die Hochschulgesetze dem Umstand Rechnung, dass Zeitsouveränität eine wesentliche Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten ist. Es geht darum, die für das wissenschaftliche Arbeiten erforderliche Kreati- vität zu wahren und zu fördern.26 Insoweit spricht viel dafür, dass eine detaillierte Regelung der Arbeitszeit von Professoren – unbeschadet der Lehrverpflichtung – ge- gen Art. 5 Abs. 3 GG verstoßen würde.27
Die Herausnahme der Professoren aus dem Arbeits- zeitschutz ist auch nach dem Unionsrecht zulässig. So ist bereits zweifelhaft, ob sie dem für die RL 2003/88/EG maßgeblichen28 unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff überhaupt unterfallen, welcher als wesentliches Merk- mal voraussetzt, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung er- hält.29 Selbst wenn man dies aber annimmt, so ist die He- rausnahme durch Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG ge- deckt,30 da Professoren im Sinne der Vorschrift ihre Ar- beitszeit selbst festlegen können. Zwar erlaubt
- 23 Vgl. z.B. § 67 LBG BaWü iVm. § 4 und §§ 7–11 der Arbeitszeit- und Urlaubsverordnung (AzUVO) BaWü; Art. 87 Abs. 1 BayBG iVm. Art. 2 und 3 der Verordnung über die Arbeitszeit für den bayerischen öffentlichen Dienst (BayAzV).
- 24 Grzeszick, in: Geis (Hrsg.), Hochschulrecht im Freistaat Bayern, 2. Aufl. 2017, Kapitel 3 Rn. 234.
- 25 Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschul- recht, 4. Aufl. 2022, Kapitel 11 Rn. 72.
- 26 Detmer, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschulrecht, 4. Aufl. 2022, Kapitel 4 Rn. 209; Grzeszick, in: Geis (Hrsg.), Hochschul- recht im Freistaat Bayern, 2. Aufl. 2017, Kapitel 3 Rn. 234 f.
- 27 Grzeszick, in: Geis (Hrsg.), Hochschulrecht im Freistaat Bayern,
2. Aufl. 2017, Kapitel 3 Rn. 235; Lecheler, PersV 1990, 299, 300 ff.; Waldeyer, in: Geis (Hrsg.), Hochschulrecht in Bund und Ländern, Stand 12/2016, § 50 HRG Rn. 8; vgl. auch Epping, ZBR 1997, 383,
Art. 17 Abs. 3 Buchst. c) vi) RL 2003/88/EG für For- schungs- und Entwicklungstätigkeiten Abweichungen von den Art. 3 bis 5 sowie 8 und 16 der Richtlinie nur un- ter der Voraussetzung, dass die Tätigkeiten dadurch ge- kennzeichnet sind, dass die Kontinuität des Dienstes oder der Produktion gewährleistet sein muss, und auch nur dann, wenn die betroffenen Arbeitnehmer gleich- wertige Ausgleichsruhezeiten oder in Ausnahmefällen, in denen die Gewährung solcher gleichwertiger Aus- gleichsruhezeiten aus objektiven Gründen nicht möglich ist, einen angemessenen Schutz erhalten (Art. 17 Abs. 2 RL 2003/88/EG). Auch wird durch Art. 17 Abs. 3 Buchst. c) vi) RL 2003/88/EG nicht von der Einhaltung der durch- schnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden gem. Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG dispen- siert. Eine Sperre, im Bereich von Wissenschaft und For- schung weitergehende Abweichungen nach Maßgabe des Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG vorzusehen, ist damit aber nicht verbunden. Indem der EuGH – wenn auch in ei- nem anderen Kontext – Art. 17 Abs. 1 und 3 RL 2003/88/ EG in derselben Entscheidung nacheinander prüft,31 macht er deutlich, dass ein Exklusivitätsverhältnis nicht besteht. Zudem muss auch Art. 17 RL 2003/88/EG im Lichte der Wissenschaftsfreiheit ausgelegt werden, die das Unionsrecht mit Art. 13 GRCh schützt. Infolge der wirksamen Herausnahme von Professoren aus dem Ar- beitszeitrecht durch die Hochschulgesetze besteht nach alledem keine Pflicht, deren Arbeitszeit zu erfassen. Dies alles ist auch sachgerecht, da Professoren im Rahmen der selbständigen Aufgabenwahrnehmung auf den Schutz ihrer Gesundheit bei der individuellen Gestal- tung ihrer Arbeitszeit selbst achtgeben können.
Für das übrige wissenschaftliche Personal ist eine ge- nerelle Abweichung vom Arbeitszeitrecht nicht vorgese- hen. Wissenschaftliche Angestellte werden als Arbeit- nehmer von § 2 Abs. 2 ArbZG und damit von dem in den §§ 3 ff. ArbZG geregelten Arbeitszeitschutz erfasst. Die Sonderregelung des § 14 Abs. 2 Nr. 2 ArbZG, nach der
389; a.A. Wiedmann, in: Haug (Hrsg.), Das Hochschulrecht in
Baden-Württemberg, 2001, Rn. 1063.
28 Vgl. insoweit EuGH, Urt. v. 14.10.2010 – C‑428/09 – Union
syndicale Solidaires Isère, Slg. 2010, I‑9963 Rn. 28; Gallner, in: Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeits- recht, 4. Aufl. 2022, Art. 1 RL 2003/88/EG Rn. 49 ff.
29 EuGH, Urt. v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 – Lawrie Blum, Slg. 1986, 2121, 2139 Rn. 17; Steinmeyer, in: Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2022, Art. 45 AEUV Rn. 10 ff. m.w.N.
30 Ebenso Adam, Forschung & Lehre 2023, 118, 119.
31 EuGH, Urt. v. 14.10.2010 – C‑428/09 – Union syndicale So-
lidaires Isère, Slg. 2010, I‑9963 Rn. 39 ff. zum Ausschluss des Anspruchs auf eine tägliche Mindestruhezeit.
von den §§ 3 bis 5, 6 Abs. 2, 7, 11 Abs. 1 bis 3 und § 12 ArbZG bei Forschung und Lehre, bei unaufschieb- baren Vor- und Abschlussarbeiten sowie bei unauf- schiebbaren Arbeiten zur Behandlung, Pflege und Be- treuung von Personen oder zur Behandlung und Pflege von Tieren an einzelnen Tagen abgewichen werden darf, wenn dem Arbeitgeber andere Vorkehrungen nicht zu- gemutet werden können, erfasst nur Ausnahmefälle. Es wird eine besondere Situation verlangt, die beispielswei- se dann gegeben ist, wenn längerdauernde Versuchsrei- hen zu betreuen sind, Experimente wegen besonders günstiger Bedingungen nur zu bestimmten Zeiten durchgeführt werden können oder über einen ver- gleichsweise kurzen Zeitraum einen erhöhten Arbeits- anfall erfordern, der nur von bestimmten qualifizierten Arbeitnehmern geleistet werden kann.32 Mit der Bestim- mung des § 14 Abs. 2 Nr. 2 ArbZG verfolgt der Gesetzge- ber das Ziel, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den spezifischen Belangen der Forschung und dem Gesund- heitsschutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten.33 Eine pauschale Freistellung von den Anforderungen des Ar- beitszeitschutzes im Bereich von Forschung und Lehre wird durch sie nicht bewirkt.34 Von der auf die unions- rechtskonforme Auslegung der Rahmenvorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gestützten Arbeitszeiterfas- sungspflicht befreit § 14 Abs. 2 ArbZG den Arbeitgeber nicht, weil der Arbeitszeitschutz im Normalfall zu beach- ten ist und § 14 Abs. 3 ArbZG zudem verlangt, dass die Arbeitszeit 48 Stunden wöchentlich im Durchschnitt von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen nicht über- schreitet, wenn von den Befugnissen des § 14 Abs. 2 ArbZG Gebrauch gemacht wird. Dies setzt voraus, dass die An- zahl der von dem jeweiligen Arbeitnehmer geleisteten Arbeitsstunden bekannt ist.
Für Beamte, z.B. akademische Räte, gelten die jewei- ligen Bestimmungen zur Arbeitszeit von Beamten. In- wieweit für diese aufgrund unionsrechtskonformer Aus- legung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bereits de lege lata eine Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit durch den Dienstherrn besteht, ist offen, da noch nicht feststeht, ob die Verwaltungsgerichtsbarkeit dem BAG folgt.
- 32 Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeitszeitgesetz, 4. Aufl. 2020, § 14 ArbZG Rn. 32; Neumann/Biebl, Arbeitszeitgesetz, 16. Aufl. 2013, § 14 ArbZG Rn. 16.
- 33 Vgl. BT-Drucks. 12/5888, 31 und BT-Drucks. 12/6990, 44.
- 34 Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeitszeitgesetz, 4. Aufl. 2020, § 14ArbZG Rn. 31.
- 35 EuGH, Urt. v. 14.5.2019 – C‑55/18 – CCOO, NZA 2019, 683
2. Umsetzung
Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache CCOO müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber nur ver- pflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von den Arbeitneh- mern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.35 Solange der Gesetzgeber keine konkretisierenden Regelungen getroffen hat, besteht auch nach Auffassung des BAG ein erheblicher Umsetzungsspielraum. So ist es nicht ausgeschlossen, die tatsächlich geleisteten Arbeits- stunden im Rahmen eines vom Arbeitgeber eingeführ- ten Systems vom Arbeitnehmer selbst dokumentieren zu lassen, also an diesen zu delegieren.36 Auch bedarf es nicht zwingend einer elektronischen Zeiterfassung, viel- mehr können – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen.37 Die Aufzeich- nung der Arbeitszeit kann demnach auch in einem handschriftlichen Vermerk des Arbeitnehmers bestehen, der es dem Arbeitgeber und den Arbeitsbehörden ermöglicht, die Einhaltung der Ruhe- und Höchstar- beitszeiten stichprobenartig zu kontrollieren und der auch den Arbeitnehmer in die Lage versetzt, sein Recht auf Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Höchst- arbeitszeit sowie der Ruhezeiten gegenüber dem Arbeit- geber geltend zu machen.38 Eine Weisung des Arbeitge- bers gegenüber dem Arbeitnehmer, seine Arbeitszeiten zu dokumentieren, kommt z.B. bei Arbeiten im Außen- dienst, aber auch bei flexiblen Arbeitszeitmodellen wie der Vertrauensarbeitszeit in Betracht, bei denen eine Dokumentation durch den Arbeitgeber häufig gar nicht praktikabel ist.39 Darüber hinaus kann wirksam im Arbeitsvertrag vereinbart werden, dass der Arbeitneh- mer über seine tägliche Arbeitszeit Aufzeichnungen zu führen und diese bei dem Arbeitgeber einzureichen hat.40
Vertrauensarbeitszeit wird gerade an den Hochschu- len vielfach praktiziert. Beim Einsatz des wissenschaftli- chen Personals bietet sie sich geradezu an. Bei der Ver- trauensarbeitszeit hat der Mitarbeiter die Möglichkeit, die vertraglich geschuldete Arbeitsmenge innerhalb der
Rn. 60.
36 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 65. 37 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 65. 38 Thüsing/Flink/Jänsch, ZFA 2019, 456, 472.
39 Reinhard, NZA 2019, 1313, 1315 f., 1318; Thüsing/Flink/Jänsch,
ZFA 2019, 456, 472.
40 BAG, Urt. v. 18.4.2012 – 5 AZR 248/11, NZA 2012, 998 Rn. 17.
Caspers · Arbeitszeiterfassung an Hochschulen 1 0 3
104 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 99–106
durch das Arbeitszeitrecht gezogenen Grenzen nach sei- nen Präferenzen selbst zu organisieren. Der Arbeitgeber verzichtet auf die Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und vertraut darauf, dass der be- treffende Arbeitnehmer seine Arbeitspflicht unter Ein- haltung der Arbeitszeitvorgaben auch ohne Kontrolle er- füllt.41 Die Verpflichtung des Arbeitnehmers, Arbeitszeit in einem nach Stunden bemessenen Umfang abzuleis- ten, entfällt durch eine solche Vereinbarung nicht.42 Auch entbindet sie den Arbeitgeber nicht von der Ein- haltung des ArbZG.43 Unter diesen Voraussetzungen bleibt Vertrauensarbeitszeit nach dem Beschluss des BAG zur Arbeitszeiterfassung weiterhin möglich.44 Wird die Dokumentation der eigenen Arbeitszeit an den Ar- beitnehmer delegiert, darf davon ausgegangen werden, dass sich der Arbeitnehmer an eine entsprechende Wei- sung des Arbeitgebers hält. Bestehen im Einzelfall An- haltspunkte, dass der Arbeitnehmer die zulässige Höchstarbeitszeit überschreitet, die Mindestruhezeit nicht beachtet oder bei der Arbeitszeitdokumentation manipuliert, muss der Arbeitgeber einschreiten.45
Die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung unter- liegt für die Personalkategorien, die an den staatlichen Hochschulen vom jeweils einschlägigen Personalvertre- tungsrecht und im Bereich der Hochschulen in privater Trägerschaft vom BetrVG erfasst werden, der Mitbe- stimmung der Personal- bzw. Betriebsräte.46 Für von der Arbeitszeiterfassungspflicht erfasste Arbeitsverhältnisse im Anwendungsbereich des BetrVG hat dies das BAG für das Mitbestimmungsrecht gem. § 87 Abs. 1 Nr. 7 Be- trVG über den Arbeits- und Gesundheitsschutz klar aus- gesprochen. Solange und soweit der Gesetzgeber den ihm zustehenden Spielraum bei der Ausgestaltung der unionsrechtlichen Arbeitszeiterfassungspflicht nicht ausgeübt habe, könnten die Betriebsparteien und – im Fall ihrer fehlenden Einigung – die Einigungsstelle nach Maßgabe des § 87 Abs. 2 BetrVG entsprechende Rege- lungen treffen. Ihnen komme insbesondere ein Gestal- tungsspielraum dahingehend zu, in welcher Art und
- 41 Zum Begriff der Vertrauensarbeitszeit BAG, Urt. v. 24.5.2012 – 2 AZR 124/11, NZA 2012, 1223 Rn. 34; BAG, Urt. v. 23.9.2015 – 5 AZR 767/13, NZA 2016, 295 Rn. 31; BAG, Urt. v. 26.6.2019 – 5 AZR 452/18, NZA 2019, 1361 Rn. 30; Schüren, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Individualarbeitsrecht I, 5. Aufl. 2021, § 47 Rn. 23 ff.; Vogelsang, in: Schaub (Begr.), Arbeitsrechts- Handbuch, 19. Aufl. 2021, § 160 Rn. 33 ff.
- 42 BAG, Urt. v. 15.5.2013 – 10 AZR 325/12, NZA-RR 2014, 519
Rn. 26; Höpfner/Daum, RdA 2019, 270, 279; Vogelsang, in: Schaub (Begr.), Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Aufl. 2021, § 160 Rn. 34. - 43 Höpfner/Daum, RdA 2019, 270, 279; Reinhard, NZA 2019, 1313, 1318.
- 44 Bayreuther, NZA 2023, 193, 195; Kleinebrink/Schomburg,
Weise – ggfs. differenziert nach der Art der von den Ar- beitnehmern ausgeübten Tätigkeiten – die Erfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit im Betrieb zu er- folgen habe.47
Im Personalvertretungsrecht kommt es darauf an, in welchem Umfang das einschlägige Personalvertre- tungsgesetz das wissenschaftliche Personal der Mitbe- stimmung unterstellt. Während beispielsweise Art. 4 Abs. 4 Buchst. a) BayPVG akademische Räte und Oberräte nach Art. 73 Abs. 3 BayHIG schon nicht zu denBeschäftigtenimSinnedesBayPVGzählt,weshalb der Personalrat für sie auch keine Mitbestimmungs- rechte ausüben kann, sind sonstige Beschäftigte mit vorwiegend wissenschaftlicher oder künstlerischer Tä- tigkeit sowie wissenschaftliche und künstlerische Mit- arbeiter und Lehrkräfte für besondere Aufgaben gem. Art. 78 Abs. 1 Nr. 6 BayPVG lediglich von bestimm- ten,ausdrücklichgenanntenBeteiligungsrechtender Personalvertretung ausgenommen. Der in Art. 75 Abs. 4 Satz 1 Nr. 8 BayPVG geregelte Mitbestim- mungstatbestand über Maßnahmen zur Verhütung von Dienst- und Arbeitsunfällen und sonstigen Gesund- heitsschädigungen zählt nicht dazu.48 Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Freiheit von Forschung und Lehre zu Einschränkungen der Mitbestimmung bei der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung führt. Zwar sind Einschränkungen von Beteiligungsrechten durchaus anerkannt, wenn eine Entscheidung oder Maßnahme unmittelbar Fragen der Forschung und Lehre berührt, wie dies z.B. bei der Anordnung von Überstunden zum Abschluss einer Versuchsreihe in Betracht kommen kann. Das Mitbestimmungsrecht wird dann auf eine bloße Anhörung und Erörterung redu- ziert.49 Dass eine Erfassung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden, mit der die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften über die tägliche und wöchentliche Höchst- arbeitszeit sowie die Ruhezeiten zum Schutz der Gesund- heit der Arbeitnehmer sichergestellt werden soll, unmit- telbar Fragen von Forschung und Lehre berührt,
DB 2023, 77; Schreiner/Stephan, DB 2023, 197, 199.
45 Caspers, ZFA 2022, 488, 508; Thüsing/Flink/Jänsch, ZFA 2019,
456, 472.
46 Allgemein zur Vertretung der in der Wissenschaft Beschäftigten
durch Personalräte Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer
(Hrsg.), Hochschulrecht, 4. Aufl. 2022, Kapitel 11 Rn. 364 ff., 373. 47 BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rn. 66. 48 Vgl. z.B. für Baden-Württemberg §§ 99 Abs. 2 Nr. 1, 74 Abs. 2 Nr.
7 PVG BaWü.
49 Wertheimer/Meißner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschul-
recht, 4. Aufl. 2022, Kapitel 11 Rn. 378 und Rn. 389 ff. zum Tendenzschutz in der Betriebsverfassung.
erscheint mir aber fernliegend zu sein. Auf der anderen Seite ist – wie schon ausgeführt – offen, ob die Verwal- tungsgerichte der Rechtsprechung des BAG zur Arbeits- zeiterfassungspflicht überhaupt folgen werden.
III. Ausblick
Die Umsetzung der aus dem Unionsrecht abgeleiteten Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist Aufgabe des Gesetz- gebers. Daran hat der Beschluss des BAG vom 13.9.2022 nichts geändert.50 Im Koalitionsvertrag vom 7.12.2021 hat sich die „Ampelkoalition“ zum Thema Arbeitszeit u.a. vorgenommen, im Dialog mit den Sozialpartnern zu prüfen, welchen Anpassungsbedarf sie angesichts der Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitszeitrecht sieht.„Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrau- ensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“51 Die „Ampelkoa- lition“ sollte dies zum Anlass einer umfassenden Überar- beitung des ArbZG nehmen, die den Anforderungen der digitalen Arbeitswelt, die auch an Hochschulen in erheb- lichem und zunehmendem Maße existiert, sowie den unionsrechtlichen Vorgaben und Spielräumen, die die
Arbeitszeitrichtlinie für eine Flexibilisierung der Arbeitszeit lässt, besser Rechnung trägt. Beispielsweise sollte die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit nach § 3 ArbZG zu Gunsten einer Regelung über die wöchent- liche Höchstarbeitszeit aufgegeben werden.52 Für Arbeit- nehmer ist die Arbeitszeiterfassungspflicht richtigerwei- se im ArbZG und nicht im ArbSchG zu regeln. Zur Umsetzung der Vorgaben des EuGH zur Erfassung der Arbeitszeit von Beamten sind schließlich neben dem Bund vor allem die Länder aufgerufen. Eine Dokumen- tation der geleisteten Arbeitszeit durch die Beschäftigten selbst sollte auch weiterhin möglich sein. Auch sollte auf die gesetzgeberische Vorgabe einer elektronischen Arbeitszeiterfassung verzichtet werden, um eine mög- lichst einheitliche, einfache und praktikable Lösung für sämtliche Arbeitsverhältnisse sicherzustellen.
Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht am Fachbereich Rechtswissen- schaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen- Nürnberg (FAU).
- 50 Löwisch, https://page.fachmedien.de/wordpress/rechts- board/2022/12/09/umsetzung-der-arbeitszeiterfassungspflicht- bleibt-aufgabe-des-gesetzgebers/ (letzter Zugriff am 8.3.2023).
- 51 Koalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP v. 7.12.2021, https://www.bundesregierung.de/breg-de/
service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-2021–1990800, S. 68
(letzter Zugriff am 8.3.2023).
52 Statt vieler Günther/Böglmüller, NZA 2015, 1025, 1028; Jacobs,
in: FS Plagemann, 2020, 651, 655 ff.; ders., NZA 2016, 733, 736; Steffan, NZA 2015, 1409, 1415.
Caspers · Arbeitszeiterfassung an Hochschulen 1 0 5
106 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 99–106
Übersicht
A. Einleitung
B. Der zu beurteilende Sachverhalt
C. Die rechtliche Ausgangslage nach dem Landeshochschulgesetz
I. Hochschulrechtliche Lehrverpflichtung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG
II. Die zeitliche Konkretisierung der Lehrverpflichtung D. Die Entscheidungsgründe
I. Richtiger Klagegegner im Streit um beamtenrechtliche Dienst- pflichten
II. Erforderlichkeit einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage III. Fehlen einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage
1. Hochschulinterne Hinweise oder Verwaltungsvorschriften 2. Begriff der Semesterwochenstunde und Zweck des
§ 44 Abs. 4 Satz 1 LHG
3. Weitere Bestimmungen der Lehrverpflichtungsverordnung 4. Lehrverpflichtungsverordnung und Landeshochschulgesetz
E. Schluss und Ausblick
A. Einleitung
Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer sind in der Wahrnehmung ihrer Dienstaufgaben weitgehend frei. Zugleich sind die ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufga- ben vielfältig und betreffen neben der Selbstverwaltung der Hochschule sowohl die wissenschaftliche Forschung als auch die Lehre. Naturgemäß stehen diese Aufgaben hinsichtlich ihres zeitlichen Umfangs miteinander im Konflikt. Je mehr Zeit von den Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern etwa für die Lehre aufzubringen ist, desto weniger Kapazität besteht für selbstbestimmte wissenschaftliche Forschung. Anders als die Aufgaben
- 1 VG Freiburg, Urteil vom 08.10.2021 — 1 K 2327/19 -, juris; vgl. auch die Besprechung von Witznick, OdW 2023, 39 ff.
- 2 VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.12.2022 — 9 S 3751/21 -, juris.
aus dem Bereich der Hochschulselbstverwaltung und der wissenschaftlichen Forschung ist die Verpflichtung zur Lehre in besonderer Weise zeitlich konkretisiert. Sie ver- pflichtet nämlich zum Abhalten von Lehrveranstaltun- gen, die im jeweiligen Semester zu bestimmten Zeit- punkten stattfinden sollen. Dies wirft die Frage auf, wel- che Folgen es für die Erfüllung der Lehrverpflichtung hat, wenn der oder die betreffende Hochschullehrer/in unver- schuldet an der Erbringung der zeitlich konkretisierten Lehrverpflichtung gehindert ist. Diese Frage hat zuletzt immer wieder die Verwaltungsgerichtsbarkeit beschäf- tigt. So hatte etwa das Verwaltungsgericht Freiburg über die Anrechnung einer Lehrveranstaltung auf die Lehr- verpflichtung zu entscheiden, wenn die Veranstaltung in Ermangelung des Interesses der Studierenden nach weni- gen Terminen nicht mehr besucht wurde und hat der Klage des Hochschullehrers auf Feststellung der Erfül- lung der Lehrverpflichtung stattgegeben.1 Die vom Ver- waltungsgericht Freiburg zugelassene und vom beklagten Land eingelegte Berufung hat der Verwaltungsgerichts- hof Baden-Württemberg zurückgewiesen.2 Bereits zuvor hatte das Verwaltungsgericht Karlsruhe darüber zu ent- scheiden, ob ein krankheitsbedingt dienstunfähiger Hochschullehrer die aufgrund dessen nicht von ihm abgehaltenen Lehrveranstaltungen im folgenden Semes- ter zusätzlich zu seiner regulären Lehrverpflichtung „nachzuarbeiten“ hat.3 Es hat in seiner Entscheidung zen- trale Grundsätze zur Erfüllung der Lehrverpflichtung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG BW herausgearbeitet, die über den konkreten Fall hinaus erhebliche Bedeutung für den Umgang mit Fragen der Erfüllung der Lehrverpflich- tung in der hochschulrechtlichen Praxis haben werden.
3 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020 — 11 K 1503/19 -, juris; vgl. auch Besprechung von Linke, NVwZ 2021, 1834.
Felix Hornfischer
Zur Reichweite der Lehrverpflichtung nach
§ 46 Abs. 2 Satz 1 LHG BW i.V.m. der Lehrverpflichtungsverordnung.
Zugleich Besprechung des Urteils des Verwaltungsge- richts Karlsruhe vom 14.12.2020 — 11 K 1503/19 -
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
108 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023),107–114
B. Der zu beurteilende Sachverhalt
Der Kläger, ein verbeamteter Hochschullehrer mit einem Lehrdeputat von 18 Semesterwochenstunden, war in der Zeit vom 05.10.2015 bis zum 31.01.2016 dienstunfähig erkrankt. Die Vorlesungszeit im betreffenden Winterse- mester 2015/2016 fiel in den Zeitraum vom 28.09.2015 bis zum 22.01.2016. Der Dekan des Fachbereichs teilte dem Kläger im Sommersemester 2016 nach dessen Genesung zunächst mit, er sei aus dem Wintersemester 2015/2016 mit einem nicht erfüllten Lehrdeputat von 11,5 Stunden belastet, das er in den nächsten Jahren abbauen müsse. Später wurde der Ausstand aufgrund der Krankmeldung auf 7,3 Semesterwochenstunden reduziert. In der Folge- zeit entstand zwischen dem Kläger und dem Rektorat der Hochschule Streit über das ausstehende Lehrdeputat, in dessen weiteren Verlauf das Rektorat die Lehrver- pflichtungsabrechnungsbögen des Klägers im Wege der Selbstvornahme ausfüllte bzw. korrigierte und u.a. einen Ausstand von sechs Semesterwochenstunden aufgrund der krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit im Winter- semester 2015/2016 vermerkte. Nach einem nur teilweise erfolglosen Widerspruchsverfahren — der Ausstand auf- grund der krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit wur- de von sechs auf zwei Semesterwochenstunden herun- tergesetzt — erhob der Kläger Anfechtungsklage, der das Verwaltungsgericht Karlsruhe stattgab und den Aus- gangs- und den Widerspruchsbescheid aufhob, soweit darin für den Kläger ein unerfülltes Lehrdeputat von zwei Semesterwochenstunden aus dem Wintersemester 2015/2016 festgesetzt worden waren.
C. Die rechtliche Ausgangslage nach dem Landeshoch- schulgesetz Baden-Württemberg
Bevor die Entscheidungsgründe näher betrachtet wer- den sollen, ist zunächst die landesrechtliche Ausgangsla- ge zu beleuchten.
I. Hochschulrechtliche Lehrverpflichtung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG
Die Dienstaufgaben der Hochschullehrerinnen und
Hochschullehrer bestimmen sich nachschullehrernachnähererAusgestaltungihresDienstver- § 46 Abs. 1 Satz 1 LHG i.V.m. § 2 LHG. Neben den in hältnisses selbständig wahr, § 44 Abs. 1 Satz 1 LHG. § 46 Abs. 1 Satz 2 LHG aufgeführten hauptberuflichen Beschlüsse der zuständigen Hochschulorgane in Fragen
Aufgaben, sind sie nach § 46 Abs. 2 Satz 1 LHG im Rah- men der für ihr Dienstverhältnis geltenden Regelungen verpflichtet, Lehrveranstaltungen ihrer Fächer in allen Studiengängen abzuhalten. § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG ent- hält eine Verordnungsermächtigung des Wissenschafts- ministeriums, im Einvernehmen mit dem Innenministe- rium und dem Finanzministerium den Umfang der Lehrverpflichtung des hauptberuflichen wissenschaftli- chen Personals unter Berücksichtigung der unterschied- lichen Aufgabenstellung der Hochschularten und Dienstverhältnisse, die Gewichtung der Lehrveranstal- tungsarten sowie besondere Betreuungspflichten durch Rechtsverordnung zu regeln. Hiervon ist mit Erlass der Verordnung des Wissenschaftsministeriums über die Lehrverpflichtungen an Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, Hochschulen für angewandte Wissen- schaften und der Dualen Hochschule (Lehrverpflich- tungsverordnung — LVVO) vom 03.09.2016 (GBl. S. 552), zuletzt geändert durch Verordnung vom 30.03.2021 (GBl. S. 378) Gebrauch gemacht geworden. An den Uni- versitäten, den Pädagogischen Hochschulen und den Hochschulen für angewandte Wissenschaften wird der Umfang der Lehrverpflichtung in Semesterwochenstun- den bestimmt; eine Lehrveranstaltungsstunde umfasst ein Lehrangebot von einer Lehrstunde je Woche der Vorlesungszeit des Semesters (Semesterwochenstunden; vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1 und 2 LVVO). Für Professorinnen und Professoren an Hochschulen für angewandte Wis- senschaften sowie Beamtinnen, Beamte, Richterinnen und Richter als hauptamtliche Lehrkräfte an Hochschu- len für angewandte Wissenschaften gilt nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 LVVO eine Lehrverpflichtung von 18 Semesterwochenstunden. Die von den einzelnen Lehr- personen erbrachten Lehrleistungen und die gewährten Ausnahmen sind in geeigneter Weise zu dokumentieren und nach § 24 Absatz 2 Satz 1 LHG von der Dekanin oder dem Dekan, an der DHBW vom Präsidium, zu überwa- chen, § 2 Abs. 10 LVVO.
II. Die zeitliche Konkretisierung der Lehrverpflichtung
Die ihrem zeitlichen Umfang nach vorgegebene Lehrver-
pflichtungnehmendieHochschullehrerinnenundHoch-
Hornfischer · Zur Reichweite der Lehrverpflichtung 1 0 9
der Lehre sind insoweit zulässig, als sie sich auf die Orga- nisation des Lehrbetriebs und auf die Aufstellung und Einhaltung von Studien- und Prüfungsordnungen bezie- hen, § 3 Abs. 3 Satz 2 LHG.4 Sie haben im Rahmen der für ihr Dienstverhältnis geltenden Regelungen die zur Sicherstellung des Lehrangebots getroffenen Entschei- dungen der Hochschulorgane zu verwirklichen, § 46 Abs. 2 Satz 2 LHG. Entsprechende Entscheidungen über die inhaltliche, zeitliche und örtliche Koordination der von der Hochschule anzubietenden Lehre und über die Verteilung und Übernahme von Lehrverpflichtun- gen sind grundsätzlich zulässig, weil die Lehre zu den dienstlichen Pflichten der Hochschullehrer gehört.5 Um eine solche Entscheidung handelt es sich, wenn die sich aus der Lehrverpflichtungsverordnung ergebende Lehr- verpflichtung in Abstimmung zwischen Hochschulleh- rer und Hochschulverwaltung auf die in einem Semester zu bestimmten Terminen anzubietenden Lehrveranstal- tungen konkretisiert wird, die gegebenenfalls im Vorle- sungsverzeichnis angekündigt werden.6 Die Festlegun- gen dieser Lehrverpflichtungen führen zugleich zu einer Reglementierung der Arbeitszeit und Arbeitsweise des wissenschaftlichen Personals im Rahmen des Ausbil- dungsbetriebs der Hochschulen.7 Das Verwaltungsge- richt Karlsruhe leitet hieraus ab, dass der Hochschulleh- rer dann hinsichtlich der Erfüllung seiner Lehrverpflich- tung als Teil seiner Dienstpflicht für das betreffende Semester sowohl zeitlich als auch inhaltlich gebunden ist und sich hieraus Präsenzpflichten in den Zeiträumen der konkreten Lehrveranstaltungen ergeben.8 Im Übrigen bleibt er in zeitlicher Hinsicht bei der Erfüllung seiner sonstigen Dienstpflichten nach § 46 Abs. 1 Satz 2 LHG einschließlich der Vor- und Nachbereitung der jeweili- gen Lehrveranstaltungen frei.
D. Die Entscheidungsgründe
I. Richtiger Klagegegner im Streit um beamtenrechtli- che Dienstpflichten
Unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit thematisiert das Verwaltungsgericht unter anderem, gegen welchen
- 4 Vgl. auch Sandberger, Landeshochschulgesetz Baden-Württem- berg, 3. Auflage 2022, § 46 Rn. 7.
- 5 BVerfG, Beschluss vom 13.04.2010, 1 BvR 216/07 -,
BVerfGE 126, 1; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21.11.2017 — 9 S 1145/16 -, juris Rn. 44; vgl. auch § 3 Abs. 3 Satz 2 LHG sowie Sandberger (Fn. 4), § 3 Rn. 4. - 6 Vgl. BVerwG, Urteil vom 26.09.2012 — 6 CN 1.11 -, juris Rn. 26.
- 7 BVerfG, Beschluss vom 03.06.1980 — 1 BvR 967/78 -, BVerfGE74, 173, 192; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.05.2006 — 4 S 1957/04 -, juris Rn. 26.
Rechtsträger die vorliegend statthafte Anfechtungsklage nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zu richten ist. Obgleich der Widerspruchsbescheid (einen Ausgangsbescheid gab es nach dem Tatbestand des Urteils wohl nicht) vom Rekto- rat der Hochschule erlassen worden war, war die Klage gegen das beklagte Land zu richten:
„In den Fällen, in denen eine Behörde eine Doppel- funktion wahrnimmt bzw. ihr Doppelcharakter in der Weise zukommt, dass hinter ihr mehrere Rechtsträger stehen, die Behörde mithin Organ mehrerer juristi- scher Personen ist, richtet sich die Beantwortung der Frage, gegen welchen Rechtsträger die Klage zu erhe- ben ist, danach, welchem der hinter der Behörde ste- henden Rechtsträger der erlassene Verwaltungsakt zu- zurechnen ist […]. Dies ist hier das beklagte Land, da vorliegend der Umfang bzw. die Erfüllung der einem verbeamteten Hochschullehrer des Landes obliegenden Dienstpflicht in Streit steht und die Hochschule auch nicht im Bereich der ihr zustehenden Selbstverwaltung gehandelt hat.“9
II. Erforderlichkeit einer tauglichen Ermächtigungs- grundlage
Die Hochschule hatte ihre Feststellung auf eine Berech- nung gestützt, deren Grundlagen in einer Handreichung zum Ausfüllen des Lehrverpflichtungsabrechnungs- bogens der Hochschule festgehalten sind. Hiernach wird bei einem Ausfall eines Professors für mehr als vier Wochen ohne Unterbrechung aus berechtigten Grün- den (Elternzeit, Krankheit) „die zu erbringende Lehrver- pflichtung anteilig reduziert“, ungeachtet dessen ob die Fehlzeiten innerhalb oder außerhalb der Vorlesungszeit liegen.
Das Verwaltungsgericht sieht indes eine förmliche Ermächtigungsgrundlage für diese Feststellung als erfor- derlich an und führt hierzu aus:
„Voraussetzung für die Anordnung belastender Maß- nahmen ist — auch soweit diese wie hier im Rahmen ei- nes Beamtenverhältnisses ergehen — eine entsprechende
8 Vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020 — 11 K 1503/19 -,
juris Rn. 34; ferner VG Bayreuth, Urteil vom 06.05.2011 — B 5 K 10.1105 -, juris Rn. 56; Kathke in: Schwegmann/Summer, Besol- dungsrecht des Bundes und der Länder, 90. Update September 2020, 6.1.2 Besonderheiten bei Beamten ohne feste Arbeitszeiten und Richtern, Rn. 35; vgl. ferner Sandberger, in: Haug, Das Hoch- schulrecht in Baden-Württemberg, 3. Auflage 2020, 5. Kap. D. Rn. 1585.
9 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 17.
110 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023),107–114
Ermächtigungsgrundlage. Dies gilt auch dann, wenn die Hochschule in Ausführung dienst- und beamten- rechtlicher Vorgaben für das beklagte Land tätig wird und in Bezug auf die einem Hochschullehrer gegenüber dem Land obliegende Dienstverpflichtung Regelungen trifft. Aus diesem Grund bedarf auch die vorliegend er- folgte Feststellung eines unerfüllten Lehrdeputats zu ih- rer Rechtmäßigkeit einer normativen Grundlage, der sich hinreichend bestimmt Umfang und Grenzen der sich ihr ergebenden Befugnis entnehmen lassen.“10
Diesen Ausführungen ist uneingeschränkt zuzustim- men. Insbesondere lenken sie den Blick darauf, dass die Erfüllung der Lehrverpflichtung zunächst eine beamten- rechtliche Frage der Erfüllung von gesetzlichen Dienst- pflichten gegenüber dem Dienstherrn ist und nicht nur eine bloße Frage der internen Verwaltungsorganisation der Hochschule. Ergänzend ist anzumerken, dass sich Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer als wissen- schaftliche Beamte gegenüber ihrem Dienstherrn grund- sätzlich auch auf die Forschungsfreiheit berufen können. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG11 gewährt jedem, der in Wissen- schaft, Forschung und Lehre tätig ist, ein Grundrecht auf freie wissenschaftliche Betätigung. Wissenschaft ist grundsätzlich ein von Fremdbestimmung freier Bereich autonomer Verantwortung. Dabei schützt die Wissen- schaftsfreiheit nicht vor Beschränkungen, die für den einzelnen Grundrechtsträger auf Grund des Zusammen- wirkens mit anderen Grundrechtsträgern im Wissen- schaftsbetrieb unvermeidbar sind.12
Eine Verpflichtung zur Nacharbeit krankheitsbe- dingt nicht abgehaltener Lehrveranstaltungen lässt den zeitlichenUmfangderLehrverpflichtungindennach- folgenden Semestern über den vom Landeshochschulge- setz vorgesehenen Umfang weiter ansteigen und redu- ziert faktisch die dann zur Verfügung stehende Zeit für die Forschung. Dies kann den Schutzbereich der For- schungsfreiheit berühren,13 führt aber nicht ohne Weite- res zu einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Forschungsfreiheit. Denn ein Eingriff in den Schutzbe- reich des Grundrechts dürfte erst vorliegen, wenn kein nennenswerter zeitlicher Freiraum für Forschung mehr
- 10 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 21.
- 11 Vgl. auch Art. 20 Abs. 1 LV und dazu VerfGH Bad.-Württ., Urteilvom 14.11.2016 — 1 VB 16/15 -, VBlBW 2017, 61.
- 12 Vgl. dazu BVerfG, Beschlüsse vom 31.05.1995 — 1 BvR 1379/94,1413/94 -, BVerfGE 93, 85, vom 26.10.2004 — 1 BvR 911/00 u.a. -, BVerfGE 111, 333, vom 28.10.2008 — 1 BvR 462/06 -, BVerfGE 122, 89, vom 13.04.2010 — 1 BvR 216/07 -, BVerfGE 126, 1, und vom 20.07.2010 — 1 BvR 748/06 -, BVerfGE 127, 87; BVerwG, Beschlüsse vom 22.08.2005 — 6 BN 1.05 -, Buchholz 11 Art. 12 GG
verbleibt.14 Diese Betrachtungsweise zeigt aber auf, dass eine formalgesetzliche Regelung auch unter dem grund- rechtlichen Aspekt geboten erscheint.
III. Fehlen einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage
Das Verwaltungsgericht Karlsruhe prüft im Folgenden erschöpfend, ob sich aus der von der Hochschule heran- gezogenen Handreichung zum Ausfüllen des Lehrver- pflichtungsabrechnungsbogens, der Lehrverpflichtungs- verordnung oder deren Zusammenspiel mit dem Lan- deshochschulgesetz sowie dem Landeshochschulgesetz selbst die erforderliche Ermächtigungsgrundlage erse- hen lässt und verneint dies.
1. Hochschulinterne Hinweise oder Verwaltungsvor- schriften
In Bezug auf die Handreichung zum Ausfüllen des Lehr- verpflichtungsabrechnungsbogens folgt dies bereits aus deren fehlender Rechts(satz)qualität, weil es sich hierbei allein um hochschulinterne Hinweise handelt. Diese sind jedoch nicht geeignet, den Umfang und die Erfül- lung beamtenrechtlicher Dienstpflichten gegenüber dem Dienstherrn, dem Land, zu bestimmen. Weder § 2 Abs. 10 LVVO (Erhebung der erbrachten Lehrveran- staltungen) noch § 24 Abs. 2 Satz 1 LHG (Überwachungs- befugnis des Dekans) ermächtigen die Hochschule zum Erlass einer solchen Regelung.15
2. Begriff der Semesterwochenstunde und Zweck des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG
Auch aus der verordnungsrechtlichen Definition des Begriffs der Semesterwochenstunde nach § 1 Abs. 2 und 3 LVVO lässt sich nach dem Verwaltungs- gericht Karlsruhe keine Ermächtigung zur Regelung der Folgen einer krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit für die Lehrverpflichtung ersehen. Es deutet zudem Zweifel an, ob Zweck und Umfang der Verordnungsermächti- gung nach § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG — nämlich die nähere Regelung des Umfangs der Lehrverpflichtung verschie- dener Lehrpersonen und insbesondere Hochschulpro- fessoren — überhaupt eine Ermächtigung zur Regelung
Nr. 263 und vom 16.03.2011 — 6 B 47.10 — Buchholz 421.2 Hoch- schulrecht Nr. 174, sowie Urteil vom 26.09.2012 — 6 CN 1.11 -, BVerwGE 144, 195
13 VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.05.2006, a.a.O., juris Rn. 26. 14 Vgl. BVerwG, Urteil vom 03.11.1988 — 7 C 84.86 -, juris Rn. 16;
vgl auch Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 145; Epping, in: Leuze/Epping, Gesetz über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen, § 35 Rn. 99.
15 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 24 f.
Hornfischer · Zur Reichweite der Lehrverpflichtung 1 1 1
der krankheitsbedingten Folgen für die Erfüllung der Lehrverpflichtung umfasst und damit im Rahmen der Lehrverpflichtungsverordnung auf der Grundlage des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG ermöglichen würde.16 Ob diese Zweifel durchgreifen, ist fraglich. Jedenfalls hat der Ver- ordnungsgeber auf der Grundlage des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG in der Lehrverpflichtungsverord- nung im 2. Abschnitt die Erfüllung der Lehrverpflich- tung und im 3. Abschnitt Abweichungen von der Lehr- verpflichtung geregelt. Diese Regelungen dürften von der Zwecksetzung des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG, den Umfang der Lehrverpflichtung — allgemein und in Son- derfällen — zu bestimmen, gedeckt sein. Die Folgen einer krankheitsbedingten Verhinderung an der Erfüllung der Lehrverpflichtung für deren Umfang ließen sich dem- nach wohl ebenfalls noch unter den Zweck des § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG fassen.
3. Weitere Bestimmungen der Lehrverpflichtungsver- ordnung
Im Weiteren beleuchten die Entscheidungsgründe die in den Abschnitten 2 und 3 der Lehrverpflichtungsverord- nung stehenden Vorschriften über Modifikationen des Lehrbedarfs im Hinblick auf einen etwaigen Regelungs- gehalt bezüglich der Folgen einer krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit.
„Die §§ 4 bis 8 LVVO sehen zwar Modifikationen des Lehrdeputats in besonderen Fällen vor, indes betrifft keiner hiervon den Fall der Dienstunfähigkeit infolge von Krankheit. Nach § 4 LVVO kann die Fakultät bei wechselndem Lehrbedarf in einem Fach, den Umfang der Lehrtätigkeit im Einzelfall so festlegen, dass die Lehrverpflichtung im Durchschnitt von drei aufeinan- derfolgenden Studienjahren erfüllt wird. § 5 LVVO sieht Ausgleichsmöglichkeiten für den Fall vor, dass das in einem Semester vorgesehene Studienangebot in ei- nem Fach gewährleistet ist, wobei eine Lehrperson bei- spielsweise ihre Lehrverpflichtung im Durchschnitt dreier aufeinanderfolgender Studienjahre erfüllen kann. Ferner ist vorgesehen, dass Lehrpersonen einer Lehreinheit ihre Lehrverpflichtungen innerhalb des je- weiligen Semesters ausgleichen können, was einer Ver- tretungsregelung für kurzzeitige Verhinderungen ent- spricht. Kann eine Lehrperson in ihrem Aufgabenbe- reich wegen eines Überangebots in der Lehre ihre Lehr-
- 16 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 28.
- 17 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 30.
- 18 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 31.
verpflichtung nicht erfüllen, verringert sich nach § 6 Abs. 1 LVVO die Lehrverpflichtung nach Feststel- lung durch die Fakultät. Gemäß § 6 Abs. 2 LVVO kann die Hochschule die Lehrverpflichtung von Lehrperso- nen zeitlich befristet erhöhen, wenn in einem Fach be- sondere Gründe vorliegen. Eine zur Dienstunfähigkeit führende Erkrankung ist indes kein besonderer Grund im Sinne dieser Vorschrift. §§ 7 und 8 LVVO sehen Er- mäßigungen und Freistellungspauschalen von der Lehrverpflichtung für die Ausübung von Leitungsfunk- tionen vor, mit der Folge, dass sich das in § 2 Abs. 1 LVVO allgemein festgelegte Lehrdeputat für die betroffenen Personen entsprechend reduziert.“17
Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass in der Lehrverpflichtungsverordnung „mit den dortigen Rege- lungen die Auswirkung einer Erkrankung auf den Umfang der Lehrverpflichtung nicht normiert wurde.“18 Dieser Be- fund ist jüngst um die Feststellung des Verwaltungsge- richtshofs Baden-Württemberg ergänzt worden, dass die Lehrverpflichtungsverordnung auch keine Regelungen dazu enthält, unter welchen Voraussetzungen eine kon- krete Lehrveranstaltung (z.B. mit Blick auf eine nur ge- ringe Teilnehmerzahl oder ein endgültiges Ausbleiben der Studierenden im Laufe der Vorlesungszeit) als Erfül- lung der Lehrverpflichtung anzuerkennen ist.19
4. Lehrverpflichtungsverordnung und Landeshoch- schulgesetz
a) Schließlich erklärt das Verwaltungsgericht Karlsruhe der Auffassung der Hochschule eine Absage, der Lehr- verpflichtungsverordnung liege ein — im Wortlaut wohl unausgesprochenes — Konzept zugrunde, wonach die Arbeitszeit der Hochschullehrer vergleichbar mit Arbeitszeitkonten geregelt sei.
„Der Lehrverpflichtungsverordnung liegt in Bezug auf Erkrankungen kein Regelungskonzept zugrunde, nach dem sich eine länger andauernde krankheitsbedingte Dienstunfähigkeit im Hinblick auf deswegen nicht er- brachte Lehrveranstaltungen dergestalt auf das für ei- nen Hochschullehrer allgemein geltende Lehrdeputat auswirkt, dass sich dieses anteilig reduziert und ein ge- gebenenfalls danach noch verbleibendes Restdeputat als in dem betroffenen Semester als unerfüllt anzuse- hen ist.“20
19 VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.12.2022, a.a.O., Rn. 33 ff. 20 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 33.
112 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023),107–114
In diesem Zusammenhang arbeiten die Entschei- dungsgründe die bereits oben21 umrissene zeitliche Fi- xierung der Lehrverpflichtung aufgrund der Konkreti- sierung auf eine zu bestimmten Zeitpunkten (und an be- stimmten Orten) abzuhaltende Lehrverpflichtung her- aus. Diese Fixierung hat unmittelbare Folgen für die Erfüllung der Lehrverpflichtung nach Ablauf der betref- fenden Zeitpunkte bzw. Zeiträume:
„Daher ist die Situation einer bereits festgesetzten und zeitlich fixierten Lehrveranstaltung, die infolge krank- heitsbedingter Dienstunfähigkeit nicht erbracht wurde — jedenfalls dann, wenn wie hier der fragliche Zeit- punkt bereits verstrichen ist -, nicht anders zu beurtei- len, als die Situation gemeiner Beamten, die ihre Dienstpflicht zu einem bestimmten Zeitpunkt zu er- bringen haben. Denn mit Ablauf des für die Lehrver- anstaltung bestimmten Zeitpunkts — zumindest aber nach Ende des Semesters — kann die insoweit fixierte Dienstpflicht in Bezug auf die konkret festgesetzte Lehrveranstaltung nicht mehr erbracht werden. Dar- aus folgt aber auch, dass — wovon im Grunde der Be- klagte ebenfalls ausgeht — die betroffenen Lehrveran- staltungen als erbracht und das Lehrdeputat insoweit als erfüllt anzusehen sind.“22
Konsequent weist das Verwaltungsgericht anschlie- ßend darauf hin, dass die Regelung von Nr. 41.6 der Ver- waltungsvorschrift des Innenministeriums des Landes- Baden-Württemberg zur Durchführung beamtenrechtli- cher Vorschriften (GABl. 2016, 281) vom 19.04.2016 — Be- amtVwV — auch für Hochschullehrer entsprechend gelte. Folge sei, dass krankheitsbedingt nicht geleisteter Dienst in der Regel nicht nachgeholt werden müsse.23 Etwas an- deres ergebe sich auch nicht aus § 45 Abs. 1 und Abs.2Satz1LHG.DennderdortgeregelteVorrangspe- zieller hochschulrechtlicher Regelungen gegenüber den für Beamte allgemein geltenden Vorschriften, insbeson- dere in Bezug auf die beamtenrechtlichen Vorschriften über die Arbeitszeit, werde weder durch das Lan- deshochschulgesetz noch durch die Lehrverpflich-
- 21 Vgl. Fn. 8.
- 22 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 34; vgl.nunmehr auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.12.2022, a.a.O., Rn. 42 f.
tungsverordnung ausgefüllt.24
Soweit die Hochschule wohl der Auffassung war, der
während des größten Teils der Vorlesungszeit dienstun- fähig erkrankte Hochschullehrer habe wenigstens an- teilig die nicht angefallene Vor- und Nachbereitungszeit der angebotenen, dann aber nicht abgehaltenen Lehrver- anstaltungen nachzuholen, stellt das Verwaltungsgericht mit begrüßenswerter Deutlichkeit klar:
„Es mag zwar möglich sein – wie die Prozessbevoll- mächtigte in der Klageerwiderung im Einzelnen darge- legt hat –, die Lehrdeputatsstunden unter Berücksichti- gung von Vor- und Nachbereitungszeit in einen kon- kret in Zeitstunden bemessenen Arbeitsaufwand um- zurechnen, womit sich auch die für die Nachbereitung angesetzte Zeit, die der Kläger aus Sicht der Hochschu- le in Erfüllung seiner Verpflichtung zur Lehre noch er- bringen müsse, ermitteln ließe. Die Annahme einer noch unerfüllten Lehrverpflichtung für den Kläger in Bezug auf die Nachbereitung überzeugt jedoch nicht, weil der Kläger tatsächlich im Wintersemester 2015/2016 selbst keine Lehrveranstaltungen erbracht hat, die nachzubereiten gewesen wären. Nicht erbrach- te Lehrveranstaltungen bedürfen keiner Nachberei- tung. Eine solche Nachbereitung wäre ebenso obsolet, wie sich die bereits erfolgte Vorbereitung dieser Lehr- veranstaltungen im Nachhinein als vergeblich erweist.“25
b) Auch aus den Bestimmungen des Landeshochschul- gesetzes lässt sich nach den überzeugenden Ausführun- gen des Verwaltungsgerichts keine Ermächtigungs- grundlage für den Bescheid und das Vorgehen der Hoch- schule entnehmen. Eine solche lasse sich insbesondere nicht aus dem Organisationsrecht bzw. Weisungsrecht der Hochschulen hinsichtlich Lehrveranstaltungen ableiten, das etwa in §§ 17 Abs. 6, 24 Abs. 2 LHG oder § 46 Abs. 2 LHG zum Ausdruck kommt.26 Diese Ausfüh- rungen lassen sich noch um den Hinweis ergänzen, dass es im konkreten Fall um die Erfüllung einer gegenüber dem Dienstherrn, also dem Land, bestehenden Dienst-
23 VG Karslruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 34 a.E. 24 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 36.
25 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 39.
26 VG Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2020, a.a.O., Rn. 40.
Hornfischer · Zur Reichweite der Lehrverpflichtung 1 1 3
pflicht geht. Auch aus diesem Grund dürfte das Organi- sations- bzw. Weisungsrecht der Hochschule eine ent- sprechende Regelung nicht rechtfertigen.
E. Schluss und Ausblick
Die vorliegende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe zu den Folgen einer krankheitsbedingten Dienstunfähigkeit für den Umfang der Lehrverpflich- tung sowie die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Freiburg27 und des Verwaltungsgerichtshofs Baden- Württemberg28 zur Frage der Anrechnung einer angebo- tenen, aber von den Studierenden letztlich nicht besuch- ten Lehrveranstaltung auf die Lehrverpflichtung zeigen ein landesrechtliches Regelungsdefizit auf. Die gerichtli- chen Entscheidungen führen die durch die zu entschei- denden Sachverhalte aufgeworfenen Probleme unter Anwendung allgemeiner beamtenrechtlicher Grundsät- ze konsequenten Lösungen zu. Will man sich mit diesen von Seiten des Wissenschaftsministeriums und der Hochschulen nicht begnügen, besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. § 44 Abs. 4 Satz 1 LHG dürfte hierfür
als Verordnungsermächtigung voraussichtlich ausrei- chend sein. Entsprechende Regelungen könnten dem- nach auf dieser Grundlage in die Lehrverpflichtungsver- ordnung integriert werden. Angesichts der eigentlich nicht fernliegenden Fallgestaltungen (Erkrankung in der Vorlesungszeit, Ausbleiben der Studierenden bei einer angebotenen Lehrveranstaltung) mag es beinahe ver- wundern, dass die hieraus folgenden Fragen bislang nicht geregelt worden sind. Dahingegen haben die oben aufgeführten gerichtlichen Entscheidungen einer hoch- schulinternen, „freihändigen“ Lösung der Probleme eine klare Absage erteilt. Damit ist insbesondere für die Lehr- verpflichteten eine zu begrüßende Rechtssicherheit geschaffen worden.
Dr. Felix Hornfischer ist Richter am Verwaltungsgericht und derzeit an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgeordnet und dort im 9. Senat u.a. für Verfahren aus dem Hochschulrecht zuständig. Der Beitrag gibt allein seine persönliche Auffassung wieder.
27 VG Freiburg, Urteil vom 08.10.2021, a.a.O.
28 VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.12.2022, a.a.O.
114 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023),107–114
Der Freiburger Verfassungsrechtler Prof. Dr. Thomas Würtenberger hat dem Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin anlässlich seines 80. Geburtstages den letzten Teil seiner über 3.000 Gedenkmünzen- und Medaillen umfassenden Sammlung zu „Ius in nummis“ geschenkt. Die lateinische Vokabel Ius wird je nach Bedeutungszusammenhang mit Recht, Gesetz, Gericht, aber auch mit Anspruch, Berechtigung, Vorrecht, Privi- leg, Gewalt und Macht übersetzt. In Bezug auf den Sammlungstitel sind hier die Begriffe Verfassung, Recht, Gerechtigkeit und Rechtskultur gemeint. Es geht um die Vermittlung dieser Themen in den Gattungen (Gedenk) münze und Medaille.
Die Wurzeln der Sammlung ‚Thomas Würtenberger‘ reichen bis in die späten 1960er Jahre zurück. Damals begann Würtenbergers gleichnamiger Vater, der eben- falls in Freiburg im Breisgau lehrende Strafrechtslehrer, Rechtsphilosoph und Kriminologe Prof. Dr. Thomas Würtenberger (1907–1989), Medaillen mit rechtshistori- schen Bezügen zu erwerben.
Die frühesten Exemplare der Sammlung stammen aus der Renaissance und dem 15. Jahrhundert, die gegen- wärtig jüngste Kunstmedaille entstand im Jahr 2022. Die Sammlung konzentriert sich räumlich auf Westeuropa und den transatlantischen Raum Amerikas, hat in den letzten Jahren aber auch eine globale Perspektive hinzu- bekommen. Gefragt nach dem Sammelkonzept, gibt Thomas Würtenberger rückblickend die Antwort:
„Sammelwürdig war alles, was im internationalen, eu- ropäischen, nationalen und lokalen Bereich einen Be- zug zu Recht, Verfassung und Gerechtigkeit hat. Im Zentrum steht dabei der Staat, der durch Recht geord- net ist und Recht durchsetzt. Ebenfalls im Zentrum der Sammlung steht der Bürger, der vom Recht betroffen ist und an der Gestaltung der Rechtsordnung teilnimmt.“
Die Sammlung ist in verschiedene Bereiche geglie- dert: Medaillen, die allgemein den Juristen und seine
spezifischen Arbeitsstätten zum Inhalt haben oder die Rechtssymbolik (wie die Personifikation Iustitia, die Sta- tuen des Roland und die Waage als Attribut der Iustitia). Darüber hinaus geht es um ganz verschiedene Formen von Rechtskultur (Abb. 1), etwa um Verfassung und Ver- fassungsgebung, Grundrechte, Parlamentarismus, Völ- kerrecht und internationale Zusammenarbeit, aber auch um Recht und Revolution, wobei hier die Französische Revolution von 1789 (Abb. 2) als Ausgangspunkt diente.
Die Medaille ist ein Denkmal in handlichem Format. Die Würtenbergers interessierte die Frage, welche Dar- stellungsformen gewählt wurden, um die Rechtskultur einer Gesellschaft zu vermitteln. Medaillen können ex- klusive Gaben für eine juristische Elite sein. Als serielle Objekte sind sie aber häufiger kunsthandwerkliche Zeugnisse für die Bevölkerung. Im Münzkabinett hat die Familie den Partner gefunden, der die objektkundliche Expertise einbringt und nach den mit den Artefakten verbundenen Menschen fragt: den Auftraggebern mit ihren Absichten, den Künstlern und Herstellern, dem beabsichtigen Nutzerkreis und der Weiter- und Nach- verwendung. Sammler wie Münzkabinett eint die Über- zeugung, dass Münzen und Medaillen mit ihren Text- und Bildbotschaften zur Bewusstseins- und Kulturprä- gung beitragen.
Die in mehreren Partien erfolgte Schenkung der Sammlung Würtenberger an das Münzkabinett erfolgte in der Absicht, sie der Forschung zugänglich zu machen. Hierfür wird sie im Interaktiven Katalog des Münzkabi- netts (https://ikmk.smb.museum) erfasst und, mit nu- mismatischen Beschreibungen versehen und mit Norm- daten qualifiziert, nach und nach online veröffentlicht.
Die rechtsikonographische Forschung kann mit der fortschreitenden digitalen Veröffentlichung der Samm- lung auf einen international einmaligen Fundus von Me- daillen zugreifen, die die westliche Rechtskultur reprä- sentieren. Mit dem Konzept der longue durée der fran- zösischen Annales-Schule lassen sich Entwicklungen der Rechtskultur der westlichen Welt erkennen. Diese wird
Bernhard Weisser
Zur Ausstellung der Medaillensammlung
Ius in nummis im Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
116 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 115–118
hier anhand der Primärquelle Medaille bis zum Entste- hen des modernen Staates nachverfolgt. Zu den Propria westlicher Rechtskultur gehört die Justitia-Symbolik. Ihr ist seit der Antike und länderübergreifend eine Vielzahl von Medaillen und Münzen gewidmet, die im Dienste der Vergewisserung von Gerechtigkeit stehen, aber auch Position im Kampf um gerechtes Recht beziehen. Die be- sondere Form einer Inszenierung von Recht und Ge- rechtigkeit durch Medaillen kann dazu genutzt werden,1 eine sich in einem langen Zeitraum entwickelnde beson- dere Rechtsmentalität in der westlichen Welt auszuma- chen. Mit Blick auf den Iconic Turn lässt sich der Fundus von Rechts- und Gerechtigkeitsmedaillen darauf sichten, inwiefern die Medaillenbilder in Verbindung mit ihren kurzen Texten auf das Rechtsbewusstsein einwirken und in Bildern transportieren, was für gerecht und rechtlich richtig gehalten werden konnte und sollte. In der Rechts- und Verfassungsgeschichte können Rechts- und Gerech- tigkeitsmedaillen den Zugriff auf das Rechtsverständnis vergangener Epochen und auf eine bislang zu wenig be- achtete Form der Rechtskommunikation ermöglichen.
Rechts- und Gerechtigkeitsmedaillen sind nicht nur Top-down das serielle Produkt staatlicher Inszenierung. Neben den Arbeiten in Gold und Silber für eine exklusi- ve Oberschicht überwiegen Medaillen, die in unedlem Metall und gelegentlich hohen Auflagen produziert wur- den. Diese Arte Plebeia entwickelte ihre Wirkmacht auch Bottom-up im gesellschaftlichen Zusammenwirken von Medailleuren und Auftraggebern auf der einen und dem Zielpublikum und Rezipienten auf der anderen Seite.
Ab dem 26. Mai 2023 wird im Bode-Museum auf der Museumsinsel in Berlin die Sammlung erstmals in einer eigenen Ausstellung zu sehen sein.2 Es erscheint eine Pu- blikation in der Reihe des Münzkabinetts, in der diese Sammlung und ihr Sammlungskonzept ausführlich vor- gestellt werden.
Professor Dr. Bernhard Weisser ist Direktor des Münz- kabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin und Hono- rarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin.
Abb. 1: „Der Friede ruft die Gerechtigkeit wieder auf den Plan“ – Abraham Abramsons Medaille auf den Frieden von Amiens im Jahr 1802 befindet sich inhaltlich und chronologisch in medias res der Sammlung Ius in nummis. Ein Berliner Medailleur bearbeitet Europäische Themen in einer Zeit, kurz bevor der Code civil erlassen wurde. Die Antike lebt auch auf diesem Glanzstück der Medaillenkunst weiter, während die Welt wie stets im Wandel ist. Silber, 12,59 g, 35 mm, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18280293, ex Slg. Thomas Würtenberger. Aufnahmen durch Johannes Eberhardt.
1 Vergleichbar der Freiheitsmentalität vermittelt durch die Freiheits- symbolik, hierzu Thomas Würtenberger, Symbole der Freiheit, 2017.
2
Ausstellungseröffnung am 25. Mai 2023 in der Basilika des Bode- Museums. Die Ausstellung wird bis 7. April 2024 im Bode-Museum gezeigt und steht dann für weitere Ausstellungsorte zur Verfügung.
Weisser · Zur Ausstellung der Medaillensammlung Ius in nummis 1 1 7
Abb. 2: Die Silbermedaille von Daniel und Friedrich Loos auf die Hinrichtung Marie Antoinettes im Jahre 1793 zeigt die Justitia von einer anderen Seite. Der in sich ruhenden, der Vergewisserung dienenden Personifikation tritt nun die revolutionäre Furie gegenüber, die jene revolutionären Rechtsbrüche begleitet, aus denen neues Recht erwachsen kann, wofür die Zeit der Terreur in Frankreich ein prägnantes Beispiel ist. Die in Berlin gefertigte Prägung klagt an. Die Justitia-Furie mit der Brandfackel und dem Brutus-Dolch in einer der Waagschalen steht hier für Ungerechtig- keit und Willkür. Silber, 9,43 g, 30 mm, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18300003, ex Slg. Thomas Würtenberger. Aufnahmen durch Johannes Eberhardt.
118 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 115–118
Übersicht
I. Einleitung
1. Das kanadische Rechtssystem
2. Rechtstraditionen
II. Die Juristenausbildung
1. Zulassung
2. Studium an den law schools
3. Migration in das kanadische Rechtssystem 4. Zulassung zur Berufspraxis
III. Berufseinstieg
V. Erkenntnisse
I. Einleitung
Rechtstraditionen und Erfahrungen mit dem eigenen Rechtssystem bestimmen die Juristenausbildung eines Landes maßgeblich. Erwartungen an juristische Berufe beeinflussen etwaige Reformen. Die aktuellen Diskussio- nen über die deutsche Juristenausbildung, insbesondere um die Einführung eines studienintegrierten Bachelors,1 verdeutlichen, dass sich die Erwartungshaltungen an juristische Berufe verändern. Derartige Veränderungen mahnen, auch rechtsvergleichend auf andere Länder und ihre Juristenausbildung zu schauen. Rechtsverglei- chend wird oft der anglo-amerikanische Rechtsraum herangezogen. Insbesondere das US-Amerikanische Rechtssystem wird dabei synonym mit dem anglo-ameri- kanischen Rechtsraum betrachtet. Allerdings verkürzt diese Betrachtung die wesentlichen Unterschiede in anderen anglo-amerikanischen Rechtskulturen, wie Kanada, erheblich.2 Die kürzliche Ratifizierung des EU-
- 1 Vgl. Chiusi, OdW 2023, 4 ff.; ebd., Ein Jodeldiplom?, FAZ vom 30.6.2022, S. 6; Schimmel, Der ‘Loser Bachelor‘.Warum die Debatte uns Juristen schadet. https://www.lto.de/karriere/jura-studium/ stories/detail/loser-bachelor-debatte-schadet-uns-juristen (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 2 Vgl. hierzu etwa Reydon, Zur Unvergleichbarkeit akademischer Systeme, OdW 2020, 33, 35, 41: „Dagegen spricht z. B., dass es
das anglo-amerikanische System gar nicht gibt. Die Kategorien […] stammen aus dem US-Amerikanischen System und haben im Kon- text dieses Systems sehr spezifische Bedeutungen. Allerdings werden diese Bezeichnungen auch an einigen (aber nicht allen) Universi- täten in [..], Kanada, […] verwendet, bezeichnen dort allerdings manchmal andere Kategorien als in den USA.“ - 3 Canada-European Union Comprehensive Economic and Trade
Kanada-Handelsabkommens (CETA) verdeutlicht zudem, dass sich Kanada als bedeutsamer Handelspart- ner emanzipiert hat.3 Daher soll dieser Aufsatz zum bes- seren Verständnis des kanadischen Rechtssystems und der kanadischen Juristenausbildung beitragen.
1. Das kanadische Rechtssystem
Kanada ist eine föderale parlamentarische Monarchie nach dem Westminster-System, hat also analog zu Groß- britannien ein Parlament mit zwei Kammern. Stetig wachsend leben nach dem letzten Census etwa 39 Mio. Menschen in Kanada. Als föderaler Bundesstaat gliedert sich Kanada in zehn Provinzen und drei Territorien. Wohingegen die Provinzen sich regelmäßig selbststän- dig organisieren und verwalten, verwaltet die kanadi- sche (Bundes-)Regierung die drei nördlichen Territorien in gewissen Bereichen zentral.4
2. Rechtstraditionen
Ursprünglich von indigenen Stämmen bevölkert, grün- deten Briten und Franzosen im 16. Jahrhundert Koloni- en in Nordamerika. Nach Konflikten zwischen Großbri- tannien und Frankreich ging der französische Teil Kana- das, heute im Wesentlichen Québec, im Frieden von Paris 1763 an Großbritannien als Teil von Lower Canada über.
Mit dem British North America Act vom 1. Juli 1867 wurde die Dominion of Canada gegründet. Zusammen mit dem Canada Act von 1982, in dem das britische Par- lament die Souveränität Kanadas anerkannt hat und dem Westminster-Statut von 1931, das formal die Unabhängig- keitKanadasvomVereinigtenKönigreichbestätigte,bil- den sie die heutige Verfassung von Kanada.5
Agreement (CETA), https://www.international.gc.ca/trade- commerce/trade-agreements-accords-commerciaux/agr-acc/ ceta- aecg/index.aspx?lang=eng; https://policy.trade.ec.europa. eu/eu-trade-relationships-country-and-region/countries-and-re- gions/canada/eu-canada-agreement_en; Handelsabkommen mit Kanada. Grünes Licht für Ceta, https://www.zdf.de/nachrichten/ wirtschaft/ceta-freihandelsabkommen-bundestag-faq-100.html (letzter Zugriff am 17.03.2023).
4 Government of Canada/Gouvernement du Canada, Provinces, https://www.canada.ca/en/intergovernmental-affairs/services/ provinces-territories.html (letzter Zugriff am 17.03.2023).
5 Vertiefend hierzu Handschug, Einführung in das kanadische Recht, 2003, 19 ff.
Johannes M. Deutsch
Juristenausbildung in Kanada
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
120 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 119–126
Das kanadische Rechtssystem hat sich historisch be- dingt maßgeblich aus französischen und englischen Ein- flüssen entwickelt. Insbesondere der im Zuge der Auf- klärung entstandene Wunsch nach Kodifizierungen des Rechts in Kontinentaleuropa hat sich auch in Kanada fortgesetzt.6 Der 1804 in Frankreich geschaffene Code ci- vil hat 1866 auch Québec zu einem eigenen Zivilgesetz- buch verholfen.7 Daher gehört Québec bis heute traditi- onell dem civil law-System an, während der britische Einfluss im Übrigen zur Ausbildung eines common law- Systems geführt hat.8
Diese ambivalente Beziehung zwischen dem briti- schen und französischem Teil Kanadas setzt sich bis heu- te fort. Insbesondere die gescheiterten Referenden in Quebec 1980 und 1995 zeugen von den anhaltenden Spannungen.9 Quebec nimmt daher innerhalb von Ka- nada eine Sonderrolle ein, die sich auch im Rechtssystem und in der Juristenausbildung fortsetzt.10
Kanada wird zudem maßgeblich durch indigene Be- völkerungsgruppen geprägt. Umfassende Aufarbeitun- gen des Umgangs mit den indigenen Bevölkerungsgrup- pen führten und führen zurzeit auch zur Stärkung der Rechte indigener Gruppen. Rechtsprechung und Gesetz- gebung betonen immer wieder, dass indigene Gruppen originäre Gesetze und ein eigenständiges Rechtsystem haben, das weiterhin angewendet werden darf. Aller- dings ist die öffentliche Wahrnehmung und formale Emanzipation noch nicht vollständig erreicht. Insbeson- dere sind beispielsweise indigene Richter in den obers- ten Gerichte noch nicht vertreten.11 Daher werden aktu- ell Diskussionen über eine faire Einbindung von indige- nen Gruppen in das kanadische Rechtssystem geführt.12 Ausgangspunkt ist dabei oft der diskriminierende Indian Act von 1876 und andere Verträge, die von nichtindige- nen Bevölkerungsgruppen über indigene Menschen ge- schlossen worden sind.
- 6 Häcker, JuS 2015, 872, 873.
- 7 Macdonald, Civil Code in The Canadian Encyclopedia, https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/civil- code,6.2.2015/4.3.2015 (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 8 Government of Canada/Gouvernement du Canada, Where our legal system comes from, https://www.justice.gc.ca/eng/csj-sjc/just/03.html (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 9 Bihr, Hoffnungen in Québec auf die Unabhängigkeit, Le Mondediplomatique, https://monde-diplomatique.de/artikel/!1258932,14.7.1995 (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 10 Bothwell, Deux nationalisme, erschienen in Une Histo-ire du Canada, 2009, 399 ; Casagrande, Keine Unabhän-
gigkeit in Sicht; 10.9.2012, https://www.dw.com/de/keine unabh%C3%A4ngigkeit‑f%C3%BCr-quebec-in-sicht/a‑16225930 (letzter Zugriff am 17.03.2023). - 11 Brooks, Indigenous laws are a critical part of Canada’s legal lands- cape in CBA/ABC National, 21.6.2021, https://www.nationalma-
II. Die Juristenausbildung
Analog zur deutschen Juristenausbildung, ist auch das kanadische Recht vom Föderalismus geprägt. Weil den einzelnen Provinzen und Territorien gemäß den Arti- keln 92, 93 der Verfassungsakte von 1867/1982 verschie- dene Gesetzgebungskompetenzen, unter anderem in den Bereichen Schulwesen und Bildung, öffentlicher Einrichtungen, bürgerliches Recht, Gerichtsverfassungs- recht, Zivilprozessrecht, übertragen worden sind, ist die Juristenausbildung innerhalb Kanadas sehr unterschied- lich geregelt.13
1. Zulassung
Die zwei verschiedenen Rechtssysteme beeinflussen die Voraussetzungen an ein Jurastudium. Québec, geprägt durch den französischen Einfluss, unterrichtet Jura im civil law-System. Dagegen baut die common law-Ausbil- dung in den anderen Provinzen und Territorien auf dem englischem Rechtssystem auf.
Zudem hat die US-amerikanische Juristenausbildung insbesondere den Aufbau, die Verwaltung und Finanzie- rung der kanadischen Jurafakultäten beeinflusst.14
a) Undergraduate Degree
Innerhalb des common law ist der Nachweis eines pre- law degree oder undergraduate degree hinreichende Vor- aussetzung für ein aufbauendes Jurastudium an den sogenannten law schools.15 Regelmäßig ist dies ein bereits erworbener Bachelor-Abschluss in einem Hauptfach der eigenen Wahl. Primär soll die akademische Reife damit sichergestellt werden, weshalb ein einschlägiger Jura- Bachelor, LL.B., nicht erforderlich ist. Allerdings variie- ren die Mindestanforderungen an das undergraduate degree zwischen 90 Stunden oder drei Jahren Mindest- studiendauer. Die Universitäten werben jedoch oftmals
gazine.ca/en-ca/articles/law/rule-of-law/2021/indigenous-laws-a-
critical-part-of-canada-s-legal (letzter Zugriff am 17.03.2023). 12 Im Allgemeinen hierzu und vertiefend Brooks, Indigenous laws
are a critical part of Canada’s legal landscape in CBA/ABC Nati- onal, 21.6.2021, https://www.nationalmagazine.ca/en-ca/articles/ law/rule-of-law/2021/indigenous-laws-a-critical-part-of-canada- s‑legal (letzter Zugriff am 17.03.2023).
13 Government of Canada/Gouvernement du Canada, Justice Laws Website, Constitution Act 1867, http://laws-lois.justice.gc.ca/eng/ Const/page‑1.html (letzter Zugriff am 17.03.2023).
14 Vertiefend hierzu Girard, American Influences, Canadian Reali- ties. How ‘American’ Is Canadian Legal Education, erschienen in Bartie, Sandomierski, American Legal Education Abroad, 2021, 67.
15 University of Toronto, Faculty of Law, So, You want to become a lawyer, https://www.law.utoronto.ca/getstarted (letzter Zugriff am 17.03.2023).
mit speziell vorbereitenden 4‑jährigen Jura-Bachelor- Programmen, zum Beispiel in Politikwissenschaften oder Völkerrecht, die einen Vorteil im Auswahlverfah- ren an den law schools bieten sollen.16
b) Diplôme d’études collégiales
Abweichend vom Erfordernis eines undergraduate degrees bietet Québec bereits nach dem erfolgreichen Abschluss der Sekundarstufe ein voruniversitäres Col- lege Programm an, dass bei erfolgreichem Abschluss auch die Zulassung zum Jurastudium in Québec vermit- teln kann.17
c) Law School Admission Test (LSAT)
Im Geltungsbereich des common law wird neben dem undergraduate degree zudem das Ergebnis eines einheit- lichen Studieneignungstests verlangt. Der law school admission test (LSAT) wird dezentral an einem selbstge- wählten Ort abgelegt und gliedert sich in drei Bereiche:18 Reading Comprehension [Leseverständnis], Analytical Reasoning [Analytisches Denken] und Logical Reasoning [logisches Denken].19
Das erzielte Ergebnis entscheidet maßgeblich über die Chancen einer Aufnahme in eine law school. Das Er- gebnis wird einerseits mit einer Punktzahl zwischen 120 und 180 ausgegeben und andererseits in einem Prozent- satz im Vergleich zu den anderen Prüflingen. Den Test kann man zwar jederzeit wiederholen, allerdings verlan-
- 16 University of Waterloo, undergraduate programs, How to become a lawyer in Canada, Zugriff, https://uwaterloo.ca/future-students/ missing-manual/careers/how-become-lawyer-canada (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 17 Accès études Québec, https://accesetudesquebec.ca/fr/les-pro- grammes-de-formation/liste-des-programmes-d-etudes-disponi- bles-duree-couts/5/23 (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 18 LSAC, Getting Ready for Your LSAT Exam, https://www.lsac.org/ lsat/taking-lsat (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 19 LSAC, Types of LSAT Questions, https://www.lsac.org/lsat/about/ types-lsat-questions (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 20 Wilfrid Laurier University, The 7 steps to become a Lawyer in Ca- nada, https://online.wlu.ca/news/steps-becoming-lawyer-canada (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 21 LSAT Prep Courses Oxford Seminars; LSAT Prep Richardson Prep Center; Official LSAT Prep Khan Academy, vgl. hierzu https://www.lsac.org/lsat/prep (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 22 Im Einzelnen: Akitsiraq Law School, Dalhousie University, Lakehead University, McGill University, Queen‘s University, Thompson Rivers University, Toronto Metropolitan University, Université de Moncton, Université de Montréal, Université de Sherbrooke, Université Laval, University of Alberta, Univer-
sity of British Columbia, University of Calgary, University of Manitoba, University of New Brunswick, University of Ottawa, University of Saskatchewan, University of Toronto, University of Victoria, University of Western Ontario, University of Windsor, York University; LSAC, Canadian Law Schools, https://www. lsac.org/choosing-law-school/find-law-school/canadian-law-
gen einige law schools dann auch die Vorlage aller voran- gegangen Ergebnisse.20 Daher haben sich bedingt durch den Ergebnisdruck bereits kommerzielle Übungsange- bote, analog zu den deutschen Repetitorien, entwickelt.21
d) Grundlegender Überlick
Insgesamt gibt es 24 law schools in Kanada, die den deut- schen juristischen Fakultäten entsprechen.22 Die Akkre- ditierung einer kanadischen juristischen Fakultät erfolgt durch die Federation of Law Societies of Canada/Fédéde- ration des orders professionels de jurists du Canada nachConvocation, also dem monatlichen Treffen ihrer jeweili- gen Geschäftsführer.23 Die Studiengebühren variieren zwischen 3.000 CAD (ca. EUR 2.000) und bis zu 34.000 CAD (ca. EUR 23.400 pro Studienjahr).24 Insbe- sonderediehohenStudiengebührenführendabeiimmer wieder zu erheblicher Kritik an der Juristenausbildung, weil dadurch die Juristenausbildung nur Privilegierten möglichist.25AnalogzudenUSA,istesauchinKanada beliebt an einem der vielfältigen Stipendienprogramme (scholarships oder bourses d’études) teilzunehmen. Die kanadische Bundesregierung und die jeweiligen Pro- vinzverwaltungen bieten hierzu übersichtliche Informa- tionen an.26 Im besonderen Maße fällt dabei auf, dass sich viele offizielle Programme explizit an unterreprä- sentierte Minderheiten oder indigene Bevölkerungs- gruppen richten.27 Auch wird teilweise, der erfolgreiche
schools#canadian-legal-ed. Bis Ende 2014 gab es noch zusätzlich die Faculty of Law des Trinity Western Colleges, die aber alsbald aufgrund gesellschaftlicher Kritik an ihrem Werteverständnis ge- schlossen wurde (vertiefend hierzu Mathen, Plaxton, Legal Edu- cation, Religious and Secular: TWU and Beyond, WP 2014 — 6; Craig, The Case for the Federation of Law Societies Rejecting Trinity Western University’s Proposed Law Degree Program, Canadian Journal of Women and the Law, Vol. 25, No. 1, 2013, 148.
23 Law Society of Canada/Barreau de l‘Ontario, Convocation, htt- ps://lso.ca/about-lso/convocation (letzter Zugriff 17.3.2023). 24 Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD), Studie-
ren und Leben in Kanada, https://www.daad.de/de/laende- rinformationen/amerika/kanada/studieren-und-leben-in- kanada/#Unterkunft; Mercer, The cost of becoming a lawywer, in Slaw vom 26.2.2019, https://www.slaw.ca/2019/02/26/the-cost-of- becoming-a-lawyer/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
25 Vgl. etwa Martin, University Legal Education in Canada is Corrupt Beyond Repair, in Canadian Justice Review Board, 25.9.2009.
26 Im Allgemeinen bietet die kanadische Bundesregierung auf ihrer einheitlichen Webseite Canada.ca Informationen und Hinweise zu nahezu allen Lebensbereichen an. Vertiefend zu scholarships: https://www.canada.ca/en/services/benefits/education/student- aid/scholarships.html (letzer Zugriff am 17.03.2022).
27 Für Ontario zum Beispiel: Bourse pour les étudiantes et étudiants autochtones, https://osap.gov.on.ca/OSAPPortal/fr/A‑ZListofAid/ PRDR019232.html (letzter Zugriff am 17.03.2023).
Deutsch · Juristenausbildung in Kanada 1 2 1
122 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 119–126
Abschluss der law school von einer Person mit indigener Abstammung mit einem Stipendium in Höhe von 500 CAD (ca. EUR 340) in Quebec belohnt.28
e) Auswahlverfahren
Aspiranten auf ein Jurastudium sind zu Beginn angehal- ten sich zu entscheiden, ob sie im common law oder im civil law praktizieren möchten. Im Hinblick auf das for- male Auswahlverfahren unterscheidet sich der Bewer- bungsprozess nur noch über die zuvor beschriebenen Voraussetzungen.
Innerhalb des Auswahlverfahrens achten manche law schools auch auf den persönlichen Gesamteindruck und etwaige Engagements, wohingegen andere akademische Leistungen in den Vordergrund stellen.29 Regelmäßig wird zudem ein personal statement, also ein akademi- sches Motivationsschreiben, verlangt. Unterrepräsen- tierte indigene Minderheiten sollen zudem stets beson- ders berücksichtigt werden.30
2. Studium an den law schools
a) Ausbildungsinhalte
Die Regelstudienzeit an den juristischen Fakultäten beträgt drei Jahre.31 Innerhalb des ersten Jahres müssen Kurse mit der Einführung in die Rechtskunde (wohl ver- gleichbar mit deutschen Methodikvorlesungen bzw. Grundlagenvorlesungen), Kurse zum öffentlichen Recht, Kurse zum Verfassungsrecht, Kurse zum Vertragsrecht, Kurse zum Strafrecht, Kurse zum Eigentumsrecht sowie Kurse zum Deliktsrecht belegt werden.32 In den folgen- den Jahren werden wissenschaftliche und fachpraktische Kurse durch umfangreiche Hausarbeiten und in prakti- schen Übungen vertieft.33
- 28 Barreau Québec, Bourse étudiantes autochtones, https ://www. barreau.qc.ca/fr/ressources-avocats/devenir- avocat/bourse- etudiants-autochtones/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 29 University of Toronto, Faculty of Law, So, You want to become a lawyer, https://www.law.utoronto.ca/getstarted (letzter Zugriff am 17.03.2023.
- 30 University of Calgary, https://law.ucalgary.ca/how-to-apply (letz- ter Zugriff am 17.03.2023).
- 31 Mwenda, Doctoral Degree Programs in Law. An Interntional and Comparative Study of the English-Speaking World, 2022, 25.
- 32 Queen’s University Kingston, https://www.queensu.ca/aca- demic-calendar/law/degree-programs/jd/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 33 Queen’s University Kingston, https://www.queensu.ca/aca- demic-calendar/law/degree-programs/jd/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 34 Leckey, McGill University Montréal, Dean‘s Message. Bienvenue à la Faculté de droit de l’Université McGill!, https://www.mcgill.ca/ law/bcl-jd/deans-message (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 35 Mwenda, Doctoral Degree Programs in Law. An Interntional and Comparative Study of the English-Speaking World, 2022, 49 f.;
b) Ausbildungsgrade und Abschlüsse
In Québec wird die law school regelmäßig mit einem Civil Law Bachelor, LL.B. oder B.C.L. abgeschlossen.34
Die common law Fakultäten haben früher ebenfalls noch einen Bachelorgrad, LL.B., verliehen. Mittlerweile bieten sie einheitlich nur noch Studiengänge mit dem Abschlussgrad Juris Doctor (J.D.) an. Dieser akademi- sche Grad darf jedoch nicht mit einem deutschen Dok- torgrad (Dr.) oder einem wissenschschaftlichen Doktor- grad (Ph.D.) verwechselt werden. Die Umstellung er- folgte aus verschiedenen Gründen. Einerseits wollte man die Unterschiede zwischen common law-Abschlüssen und civil law-Abschlüssen hervorheben, insbesondere umzukennzeichnen,dasscommonlaw-Absolventenbe- reits ihren zweiten (Hochschul-)Abschluss erworben ha- ben.35 Außerdem soll dadurch die internationale Ver- gleichbarkeit und Sichtbarkeit gewährleistet werden. Insbesondere in den USA wird der Juris Doctor (J.D.) be- reits seit Jahrzehnten vergeben, daher erhofft man, dass die Abschlüsse auch im US-Arbeitsmarkt anerkannt werden.36 Der Dekan der York University Monahan hat 2008 seine Bedenken dahingegend geäußert, dass nicht jeder Rekruiter oder jede Anwaltskanzlei außerhalb Ka- nadas versteht, dass der kanadische Abschluss eines com- mon law- Jurastudiums ein zweiter Hochschulabschluss sei.37 Daher begrüßte zumindest die Mehrheit der Stu- dierenden an der York University und der Queens Uni- versity auch die Einführung des Juris Doctor (J.D.).38 Die Kanadische Regierung geht hingegen davon aus, dass die akademischen Grade J.D. und LL.B beide ein „Bachelors Degree“ und damit gleichwertig sind.39
Manche Universitäten bieten zudem an, unter ver- schiedenen Voraussetzungen, Abschlüsse in beiden nati-
grams/jd/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
36 Girard, American Influences, Canadian Realities. How ‘American’
Is Canadian Legal Education, erschienen in Bartie, Sandomierski,
American Legal Education Abroad, 2021, 67, 80.
37 Monahan, Canadian law schools begin switching to JDs, York
University, 2008, https://yfile.news.yorku.ca/2008/04/03/ canadian-law-schools-begin-switching-to-jds/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
38 https://lawiscool.com/2007/11/13/to-jd-or-not-to-jd/; Monahan, Canadian law schools begin switching to JDs, York University, 2008, https://yfile.news.yorku.ca/2008/04/03/canadian-law- schools-begin-switching-to-jds/ (letzter Zugriff am17.03.2023).
39 Council of Ministers of Education/Conseil des ministers de l’Éducation, Candada, Ministerial Statement on Quality Assu- rance of Degree Education in Canada, 2007, https://www.cmec. ca/Publications/Lists/Publications/Attachments/95/QA-State- ment-2007.en.pdf; so anders zum Beispiel in Australien, welches von einem Master-Grad ausgeht: Australian Qualifications Framework Council. June 2013 (letzter Zugriff am 17.03.2023).
onalen Rechtssystemen zu erwerben. Oft wird dies durch eine Kooperation zweier Fakultäten sichergestellt, durch die jeweils an der anderen Fakultät im beschleunigten Verfahren ein Abschluss erworben werden kann.
Die University of Ottawa, bietet außerdem herausra- genden Kandidaten einen vorkonzipierten 3‑jährigen Doppelabschluss an.40 Andererseits gibt es auch Fakultä- ten, die Kooperationsprogramme mit US-amerikani- schen Universitäten unterhalten und dadurch einen in- ternationalen Doppelabschluss ermöglichen.41
3. Migration in das kanadische Rechtssystem
Wie gezeigt, ist es sehr aufwendig ein Jurastudium in Kanada zu absolvieren. Daher scheint es auch unter kanadischen Juristen nicht unüblich zu sein, sich außer- halb von Kanada ausbilden zu lassen und anschließend in Kanada beruflich tätig zu werden.42
Für internationale Interessenten gilt, dass die Migra- tion in das kanadische Rechtssystem sowohl den berufs- rechtlichen Regelungen, als auch den aufenthaltsrechtli- chen Bestimmungen unterliegt. Für Letzteres bestimmt sich die Genehmigungsfähigkeit nach der National Oc- cuptional Classification (NOC), hier insbesondere nach NOC 4112 (Lawyers and Quebec notaries), die einzelene Berufsgruppen enumerativ aufzählt.43 Weiterhin gibt es verschiedene Programme, wie das Provincial Nominee Program (PNP) oder das Express Entry System, die eine Migration in das kanadische Rechtssystem ermöglichen können.44
Die Akkreditierung einer ausländisch erworbenen juristischen Qualifikation übernimmt dabei das Natio- nal Commitee on Accreditation (NCA).45 Insbesondere hinsichtlich einschlägiger Ausbildungen an britischen
- 40 University of Ottawa, https://www.uottawa.ca/faculty-law/ common-law/programs/jd-national-program (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 41 University of Ottawa, https://www.uottawa.ca/faculty-law/com- mon-law/programs/combined-programs/canadian-american- dual-jd-program (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 42 So Hamilton, The Distictive Nature of Academic Integrity in Graduate Legal Education, in Eaton, Hughes (Hrsg.), Academic Integrity in Canada. An enduring an essential challenge, 2022, 333, 339.
- 43 NOC 4112, https://www23.statcan.gc.ca/imdb/p3VD.pl?CLV=4 &CPV=4112&CST=01012011&CVD=122376&Function=getV D&MLV=4&TVD=122372: Government of Canada/Gouverne- ment du Canada, Immigrate Canada,https://www.canada.ca/en/ immigration-refugees-citizenship/services/immigrate-canada/ express-entry/eligibility/find-national-occupation-code.html (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 44 Ventor, How to immigrate to Canada as a Lawyer, https://canadi- anvisa.org/blog/jobs/immigrate-to-canada-as-a-lawyer, 14.6.2019 (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 45 Als Teil der Federation of Law Societies of Canada, https://nca.le-
Fakultäten erscheint dies wohl auch unter kanadischen Einheimischen populär und unproblematisch, wohinge- gen deutsche Abschlüsse wohl schwerlich als gleichwer- tig anerkannt werden.46
4. Zulassung zur Berufspraxis
Mit erfolgreichem Abschluss einer kanadischen law school kann man die Zulassung zu einer Rechtsanwalts- kammer, also einer bar oder in Québec dem barreau, erwirken (Bar Admission Course).
a) Experential Training
Alle Ausbildungsordnungen sehen dazu eine Art Rechts- referendariat, im Sinne einer obligatorischen Prakti- kumszeit vor.
aa) Articling Program
Gemeinhin wird im anglo-amerikanischen Rechtsver- ständnis ein Referendariat regelmäßig als clerkship bezeichnet. In Kanada werden allerdings zwei Arten von clerkships unterschieden:
Einerseits das law oder legal clerkship, welches wohl mit der wissenschaftlichen Mitarbeit an deutschen Bun- desgerichten vergleichen werden kann,47 andererseits die sogenannten articling clerkships,48 die von der jeweiligen bar/barreau vorausgesetzt werden, um zur Anwaltschaft zugelassen zu werden.49
Ähnlich wie in Deutschland50 steht auch in Kanada der Gedanke einer praktischen Ausbildung nach dem wissenschaftlichen Hochschulstudium im Vordergrund. Die Einzelheiten der Ausgestaltung obliegen der jeweili- gen bar/barreau einer Provinz oder eines Territoriums. So verlangt die bar in Ontario ein clerkship von 10 Mona-
gal/; Im Allgemeinen hierzu: Anerkennung deutscher Studienab- schlüsse und anderer Qualifikationen in Kanada, https://canada. diplo.de/ca-de/konsularservice/anerkennung-ausbildung-in-ka nada/1148060?openAccordionId=item-1143138–0‑panel (letzter Zugriff am 17.03.2023).
46 Law Society of Ontario/Barreau de l’Ontario, https://lso.ca/ lawyers/lawyers-from-outside-ontario; Kiwi Education, How to become a lawyer in Canada, 1.3.2022, https://kiwieducation.com/ ca/lifehack/how-to-become-a-lawyer-in-canada/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
47 Federal Court/Cour fédérale, Law Clerk Program, https://www. fct-cf.gc.ca/en/pages/about-the-court/careers/law-clerk-program (letzter Zugriff am 17.03.2023).
48 In manchen Provinzen, wie Saskatchewan, heißen die Referenda- re dagegen auch student at law.
49 Bowker, Christian, Legal Education, in The Canadian Encyclo- pedia, https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/legal- education, 5.2.2012/4.3.2015 (letzter Zugriff am 17.03.2023).
50 Vgl. zum Beispiel § 45 II 2 JAPrO BW, dass das Referendariat zuvorderst der Ausbildung dient.
Deutsch · Juristenausbildung in Kanada 1 2 3
124 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 119–126
ten unter Aufsicht eines anleitenden praktizierenden Rechtsanwalts. In British Columbia sind es 12 Monate von denen 9 Monate in einer Anwaltskanzlei oder einer vergleichbaren Stelle verbracht werden sollen. Zugleich muss hier ein 10-wöchiger Professional Legal Training Course belegt werden, um Rechtspraxis und ‑verfahren, juristische Fähigkeiten, Ethik und Praxismanagement zu erlenen.
Von den clerks zu unterschieden sind schließlich so- genannte paralegals. Diese haben einen eigenen Ausbil- dungsweg und können wohl am ehesten mit deutschen Rechtsanwaltsfachangestellten oder Rechtspflegern ver- glichen werden.51
bb) Law Practice Program
In manchen Provinzen, wie zum Beispiel in Ontario, besteht allerdings auch die Möglichkeit anstatt des artic- ling clerkships an einem Law Practice Program für 4 Monate teilzunehmen. Hier wird in einer Trainingsum- gebung der Alltag eines Anwaltsteams simuliert und dadurch trainiert. Die erworbenen Erfahrungen sollen in einem anschließenden 4‑monatigen Praktikum ver- tieft werden.52
cc) Formation professionelle et pratique
Im civil law geprägten Québec ist dagegen zunächst eine praktische Ausbildung an der L’École du Barreau in einem der vier Ausbildungszentren in Québec vorgese- hen.53 An der École du Barreau sollen den Studenten in einem 4‑monatigen Kurs berufliche Fertigkeiten beige- bracht werden. Insbesondere werden sie mit den berufs- ethischen Regeln vertraut gemacht, lernen Schriftsätze zu verfassen, Verhandlungen zu führen, ein Plädoyer zu halten und eine Kanzlei zu verwalten.54 Daraufhin folgt eine 6‑monatige praktische Ausbildung, zum Beispiel in einer Anwaltskanzlei.
- 51 Law Society of Canada/Barreau de l‘Ontario, Paralegals, https:// lso.ca/paralegals (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 52 Toronto Metropolitan University, Law Practice Program, https:// lpp.torontomu.ca/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 53 Barreau du Québec, Ressources pour les avocats. Devenir avoat, https://www.barreau.qc.ca/fr/ressources- avocats/devenir-avocat/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 54 Barreau du Québec, Ressources pour les avocats. Devenir avoat, https://www.barreau.qc.ca/fr/ressources- avocats/devenir-avocat/, Zum neuen Schuljahr hin, wird das Curriculum angepasst, um dem Bedürfnis, den Auszubildenen mehr praktische Erfahrungen zu vermitteln, besser gerecht zu werden, École du Barreau, Le nouveau programme de l’école – entrée en vigueur en 2023–2024, https://www.ecoledubarreau.qc.ca/fr/formation/nouveau-pro- gramme/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
- 55 „Call to the bar”, https://lso.ca/becoming-licensed/lawyer-licen- sing-process/call-to-the-bar (letzter Zugriff am 17.03.2022).
- 56 Law Society Act, R.S.O. 1990, c. L.8, https://www.ontario.ca/laws/statute/90l08; Law Society of Canada/Barreau de l‘Ontario,
b) Bar Exam
Ein wesentlicher Bestandteil für die Zulassung zu einer bar ist das abschließende bar exam. Bestreiten die Anwärter dieses erfolgreich, werden sie „zur Bar beru- fen“.55
Anders als in der britischen Juristenausbildung müs- sen sich Anwärter in Kanada sowohl dem Barrister- als auch dem Solicitor-Examen stellen.56 Die Durchführung ist dabei wiederum in den Einzelnen Provinzen unter- schiedlich, teilweise sogar gegensätzlich, geregelt. In Ontario sind beispielsweise die Prüfungen unter Selbst- aufsicht und als sogenannte open-book exams durchzu- führen,57 während in Nova Scotia eine Präsenzprüfung vorgesehen ist.58 Zeitlich sind auch verschiedene Rege- lungen vorgesehen. In Ontario sind die Prüfungen zum Beispiel auf 7 Stunden konzipiert.59
Das bar exam soll einheitlich in allen Provinzen und Territorien nicht nur das fachliche Wissen, sondern auch die moralische Integrität und ein profundes Allge- meinwissen prüfen.60 Konkret werden verschiedene Prüfungsfächer, wie ethische und berufliche Pflichten; Rechtskenntnisse (also Gesetzgebung und Rechtspre- chung); Aufbau und Pflege der Beziehung zwischen An- walt und Mandant; Identifizierung, Analyse und Bewer- tung von Problemen, alternative Streitbeilegung, Pro- zessführung, Praxismanagement, Zivilprozessrecht, Strafverfahren, Familienrecht, Handelsrecht, Gesell- schaftsrecht, Erbrecht, Immobilienrecht geprüft. In manchen Territorien, wie Nova Scotia wird zudem auch im Recht indigener Stämme geprüft.61
c) Good character requirements
Alle Zulassungsanwärter müssen zudem good character requirements entsprechen. In Ontario wird dies durch einen umfangreichen Selbstfragebogen und einen
Licensing Examinations, https://lso.ca/becoming-licensed/ lawyer-licensing-process/licensing-examinations (letzter Zugriff am 17.03.2023); vgl. Häcker, JuS 2014, 872, 873.
57 Law Society of Canada/Barreau de l‘Ontario, Licensing Examina- tions, https://lso.ca/becoming-licensed/lawyer-licensing-process/ licensing-examinations (letzter Zugriff am 17.03.2023).
58 Wiley, Steps to become a Lawyer/Attorney in Canadian Provinces /Territories, https://www.lawyeredu.org/canada/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
59 Wiley, Steps to become a Lawyer/Attorney in Canadian Provinces / Territories, https://www.lawyeredu.org/canada/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
60 Vgl. Law Society Ontario/Barreau de l’Ontario, Sample Licensing Examination Questions, https://lso.ca/becoming-licensed/lawyer- licensing-process/licensing-examinations (letzter Zugriff am 17.3.2023).
61 Nova Scotia Barristers’ Society, Bar review materials, https://nsbs. org/legal-profession/articled-clerks/bar-exam/ (letzter Zugriff am 17.3.2023).
review process nach dem Law Society Act, Statute 90/8 sichergestellt.62
Einen guten Charakter zu haben zeichnet dabei die Eignung für die Praxis, die Achtung der Rechtsstaatlich- keit und der Rechtspflege, Ehrlichkeit und finanzielle Verantwortung aus.63 Vergleichbare Zulassungsvor- schriften, die auch die Würdigkeit eines Bewerbers erfor- dern, finden sich auch in Deutschland zum Beispiel in § 7 S. 1 Nr. 5 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) oder § 5 II 1, IV Juristenausbildungsgesetz BW (JAG BW) res- pektive § 26 I 2 Juristenausbildungsgesetz Hessen (JAG HE).
III. Berufseinstieg
Die Rechtsanwaltschaft ist auch in Kanada der primäre Einstiegsberuf von Nachwuchsjuristen. Anders als in Großbritannien müssen in Kanada dabei sowohl das Barrister- als auch Soliciter-Examen absolviert werden. Hinreichend für eine Zulassung zur bar ist damit auch das bar exam.64 Das Praktizieren in anderen Provinzen ist, mit abweichenden Regelungen für die Territorien, durch das Territorial Mobility Agreement von 2011 ermöglicht worden.65
Entsprechend dem britischen Vorbild ist die kanadi- sche Richterschaft auch keine eigene Berufsrichterschaft, also auch kein eigener Berufsweg, sondern krönt den er- folgreichen Werdegang vom Anwalt zum Richter.66 In Ontario ist zum Beispiel eine Mindestlaufbahn von 5 Jahren erforderlich. An höheren Instanzgerichten sind regelmäßig mindestens 10 Jahre Berufserfahrung
- 62 Law Society Ontario/Barreau de l’Ontario, Good Character Requirement, https://lso.ca/becoming- licensed/paralegal- licensing-process/good-character-requirement (letzter Zugriff am 17.3.2023).
- 63 Umfasst ist auch ein etwaiges akademisches Fehlverhalten, s. hier- zu mwN Hamilton, The Distictive Nature of Academic Integrity in Graduate Legal Education, in Eaton, Hughes (Hrsg.), Academic Integrity in Canada. An enduring an essential challenge, 2022, 333, 339 f.
- 64 University of Waterloo, https://uwaterloo.ca/future-students/ missing-manual/careers/how-become-lawyer- canada (letzter Zugriff am 17.3.2023).
- 65 Federation of Law Societies of Canada/Féderation des orders professionnels de juristes du Canada, Territorial Mobility Ag- reement, https://www.lawsociety.nu.ca/sites/default/files/public/ TMA%202011.pdf (letzter Zugriff am 17.3.2023).
- 66 Daher auch der geflügelte Ausdruck, dass man von der bar auf die bench wechselt. Vgl. dazu Häcker, JuS 2014, 872, 873.
- 67 Government of Ontario, Judges NOC 4111, https://www.services. labour.gov.on.ca/labourmarket/jobProfile/jobProfileFullView.
vorgesehen.67
Auch ein Einstieg als Staatsanwalt, crown attorney, ist
nach dem bar exam möglich. Aufgrund begrenzter Platz- angebote sind Vorerfahrungen im Rahmen des articling programs oder herausragende akademische Leistungen an der law school für einen Berufseinstieg hilfreich.68
Möglich ist auch eine wissenschaftliche Karriere. Im Allgemeinen wird in diesen Fällen die akademische Aus- bildung an der Universität fortgesetzt und unter ande- rem mit einem Master of Laws, LL.M.69 oder einem re- search doctorate degree, Doctor of Juridical Sciences (SJD/ JSD) abgeschlossen.70 Zu beachten gilt, dass Doktorgrade im anglo-amerikanischen Rechtsraum unterschiedliche Bedeutungen haben. Eine Vergleichbarkeit mit dem Er- werb eines deutschen Doktorgrades (Dr.) oder einem anglo-amerikanischen wissenschaftlichen Doktorgrades (Ph.D.) ist damit nicht immer möglich. Bereits für den Abschluss an der law school wird oft ein Juris Doctor, J.D., also ein akademischer Grad verliehen. Aufbauende Reserach programs können hingegen mit einem wissen- schaftlichem Doktorgrad (SJD/JSD oder Ph.D.) oder ei- nem konsekutiven Master (LL.M) abschließen.
IV. Erkenntnisse
Die Beschäftigung mit dem kanadischen Rechtssystem und der kanadischen Rechtsausbildung führen zu eini- gen Erkenntnissen. Dabei darf allerdings, wie Reydon zurecht mahnt, nicht der Fehler unterlaufen, dass aus- ländische Fachtermini mit deutschen Begriffen inhalt- lich gleichgesetzt werden.
xhtml?nocCode=4111#educati onAndTrainingPathwaysSection; Workstudyvisa, 5 Steps to become a judge in Canada, https:// workstudyvisa.com/become-a-judge-in-canada/ (letzter Zugriff am 17.3.2023).
68 Bendin, Crown Attorney, 5.6.2014, https://www.thecanadia- nencyclopedia.ca/en/article/crown-attorney; How to Become a Prosecutor (With Duties and Skills), https://ca.indeed.com/care- er-advice/finding-a-job/how-to-become- prosecutor, 28.11.2022 (letzter Zugriff am 17.3.2023).
69 Im Überblick für deutsche Absolventen, Greif, LL.M. in Ka- nada – Die Alternative zu den USA, Anwaltsblatt 30.6.2020, https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/studium-und-referen- dariat/ll‑m/details/ll-m-in-kanada-die- alternative-zu-den- usa#collapse_326826; e‑fellows.net, Studieren in Kanada. Studi- um mit Naturerfahrung garantiert, https://www.e‑fellows.net/ Studium/Studienwissen/Auslandsstudium/Studieren-in-Kanada/ (page)/all (letzter Zugriff am 17.03.2023).
70 Vgl. hierzu vertiefend Mwenda, Doctoral Degree Programs in Law. An Interntional and Comparative Study of the English- Speaking World, 2022, 50.
Deutsch · Juristenausbildung in Kanada 1 2 5
126 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 119–126
71
72
73 74
75
• •
•
•
•
Das Erfordernis eines undergraduate degree gleicht dem Sinn und Zweck nach einem obligatorischem Studium Generale.71
Durch den LSAT werden berufsspezifische Fähig- keiten in den Vordergrund der Auswahl gestellt. Dies könnte auch eine Alternative zum in Deutsch- land weithin angewandten Numerus Clausus sein.72 Das Bar Exam in Ontario prüft nicht nur das fachli- che Wissen, sondern will auch hinsichtlich der moralischen Integrität testen und einen besonderen Stand an Allgemeinwissen sichern.73 Wenngleich Allgemeinwissen wohl schwerlich zu prüfen ist, soll damit der Kandidat umfassend auf die Berufsreife geprüft werden.
Hinsichtlich der Probleme um die Ein- und Durch- führung von Open-book-Prüfungen in Deutschland könnte das bar exam in Ontario weiter untersucht werden.74
Der Umgang mit persönlichem oder wissenschaftli- chem Fehlverhalten, das auch hinnreichende Zulas- sungsvoraussetzung zum Referendariat in Deutsch- land ist, könnten die Erfahrungen mit den good cha- racter requirements und insbesondere den good character hearings, in denen auch akademisches Fehlverhalten erörtert und entschieden wird, berücksichtigt werden.75 Insbesondere die Diskussi- on über den Umgang mit politischem Extremismus bei der Einstellung von Rechtsreferendaren verdeut- licht, dass eine tragfähige Lösung deutschlandein- heitlich gefunden werden muss.76
Auch Lebenserfahrung kann eine Auslegungshilfe sein und da-
durch die juristische Arbeit erleichtern. Vgl. auch Pawlik, Welche 76 Chancen ein Studium generale bietet, 23.1.2015, https://www. abendblatt.de/wirtschaft/karriere/article136677511/Welche- Chancen-ein-Studium-generale- bietet.html (letzter Zugriff am 17.03.2023).
Vgl. für die Einführung eines Medizinertests: Brehm, Brehm-
Kaiser, Die Beschlüsse zur Zulassung zum Medizinstudium im Rahmen des Masterplans Medizin 2020, OdW 2017, 215, 216.
Vgl. Law Society Ontario/Barreau de l’Ontario, Sample Licensing Examination Questions (letzter Zugriff am 17.03.2023).
Vgl. hierzu in Deutschland: Morgenroth, Die Behandlung eines 77 Täuschungsverdachts in Zeiten von Open-book-Prüfungen –
Eine Analyse des Beschlusses des Sächsischen Oberverwaltungs- gerichts vom 16. Februar 2022, OdW 2022, 273. 78 Hamilton, The Distictive Nature of Academic Integrity in
Graduate Legal Education, in Eaton, Hughes (Hrsg.), Acade-
mic Integrity in Canada. An enduring an essential challenge,
•
Kanadische und US-Amerikanische law schools ver- geben aufgrund des Erfordernisses eines undergra- duate degree, zur Anerkennung der aufbauenden Studienleistungen einen Juris-Doctor, J.D. Orientiert man sich bei Reformen der deutschen Juristenaus- bildung am Nordamerikanischen System, so würde es sich auch für Deutschland empfehlen, die juristi- sche Ausbildung auch auf ein Grundstudium zu begrenzen (im Sinne eines First Years77) und auf die- sen Bachelorstudiengang aufbauend einen konseku- tiven Staatsexamensstudiengang anzubieten. Ein möglicher Jura-Bachelor sollte dann sinnvollerweise so aufgebaut und inhaltlich umfassend gestaltet sein, dass er auch als undergraduate degree aner- kannt wird, damit eine Juristenausbildung auch im anglo-amerikanischen Rechtsraum möglich wird. So könnte auch eine Diversität von Karrierewegen, wie sie von Befürwortern des studienintegrierten Bachelors in dessen Einführung gesehen wird, erreicht werden.78 Freilich müsste dann aber mit einer längeren Ausbildungsdauer und einer Erwei- terung des Prüfungsstoffs gerechnet werden.
Johannes M. Deutsch ist wissenschaftlicher Mitarbei- ter an der Forschungsstelle für Hochschularbeitsrecht an der Universität Freiburg. Mit diesem Aufsatz erin- nert der Autor an seinen eigenen Aufenthalt in Kana- da und dankt insbesondere für die vielfältigen und bereichernden Diskussionen an der University of Waterloo und im Waterloo Region Courthouse in Kit- chener.
2022, 333, 339 f.
Vertiefend zur Einstellung eines Funktionärs des III. Wegs: Deyda, Nazis im Staatsdienst? Divergierende Rechtsprechungsli- nien zum Ausschluss aus dem juristischen Vorbereitungsdienst, Verfassungsblog vom 4.1.2022, https://verfassungsblog.de/ nazis-im-staatsdienst/; Sehl, Jura-Referendar in Sachsen. „Der III. Weg“-Aktivist darf Volljurist werden, LTO vom 8.12.2021, https://www.lto.de/karriere/jura-referendariat/stories/detail/ verfgh- sachsen-96-iv-21-referendar-iii-weg-aktivist-rechtsex- trem-partei-jura-ausbildung-referendariat (letzter Zugriff am 17.03.2023).
Analog zur Queen’s University, https://www.queensu.ca/ academic-calendar/law/degree-programs/jd/ (letzter Zugriff am 17.03.2023).
Vgl. u.a. Schimmel, Der „Loser-Bachelor“. Warum die Debatte uns Juristen schadet, in LTO, https://www.lto.de/karriere/jura- studium/stories/detail/loser-bachelor-debatte-schadet-uns-juris- ten, 8.7.2022 (letzter Zugriff am 17.03.2023).
Die Absicht einer möglichst guten Ausbildung der Jugend ist vornehmlich auf zwei Dinge zu richten: (1) auf die noch in den Schulen sich befindende Jugend, (2) auf die bereits zu Chargen und Bedienungen2 tüchtigen Per- sonen.
Beim ersten Punkt ist bekannt, was für ein großer Missbrauch bei dem Studieren vorgeht. Ein Jeder, der nur etwas Mittel hat, will seine Kinder studieren lassen; der Sohn ist gewidmet, künftig einen Geistlichen, einen Advokaten oder einen Mediziner abzugeben, obgleich derselbe den Qualitäten nach besser zu einem Hand- werk, zum Ackerbau oder zum Pferdeknecht geschickt ist. Daher geschieht es, dass viele in ihren Studien keinen Fortschritt machen, zu keinen Bedienungen zu gebrau- chen, also dem Vaterland zur Last sind, in Armut geraten und den Eltern vergebliche Kosten verursachen. Man kann zwar diese Freiheit niemandem versagen, es wäre aber sehr dienlich, den Rektoren und den Lehrern der großen und kleinen Schulen überall scharf zu befehlen, dass sie unter dem großen Haufen der studierenden Ju- gend diejenigen, die sich vor Anderen hervorheben, sich durch ihr Gedächtnis und ihren Verstand unterscheiden … der Obrigkeit jeglichen Ortes zu melden. Dabei sollen sie allen Fleiß auf Informationen verwenden, wozu die-
selben am ehesten hinstreben und sie nicht zu solchen Wissenschaften führen, zu denen sie keine Lust haben. Denn in den Schulen ist es ein großer Fehler, dass man Alle auf gleiche Art traktiert, und zuweilen einen jungen Menschen, der einen natürlichen Trieb zur Mathematik oder zu anderen Wissenschaften hat, mit Gewalt … mit der griechischen Sprache oder ihm konträren Dingen plagt.
Die vortrefflichen Ingenia3 könnten den örtlichen Behörden oder gewissen hiermit beauftragten Personen gemeldet werden, damit man Sorge tragen kann, denen (falls sie selbst keine Mittel haben) zu Hilfe zu kommen, sie zu ermuntern und in allem förderlich zu sein. Von diesen sollten auch billig die Stiftungen, Stipendien4 und anderen Wohltaten festgelegt und keinesfalls den Un- würdigen, aus Gunst oder auf besondere Weisung,5 zu- gewendet werden. Und wenn die Stiftungen nicht ausrei- chen, müsste eine proportionierte Beihilfe ex cassa pub- lica6 gereicht werden, damit ein guter Baum die ge- wünschten Früchte tragen kann. Diese würden nicht viel kosten, weil sich außerordentliche Ingenia so häufig sich nicht finden. Die Unfähigen, zum Studieren nicht Tüch- tigen könnten abgewiesen und ihren Eltern … zurückge- schickt werden.
1 Aus Johann Heinrich Gottlob Justi, Deutsche Memoires, oder Sammlung verschiedener Anmerkungen, die Staatsklugheit,
das Kriegswesen, die Justiz, Morale, Oeconomie, Commerci- um, Cammer- und Polizey- auch andere merkwürdige Sachen betreffend, welche im menschlichen Leben vorkommen, Leipzig 1741, S. 543 f. Der Text aus dem Erstlingswerk des seiner Zeit ein- flussreichen Staatswissenschaftlers und Kameralisten ist zwecks
besserer Lesbarkeit sprachlich überarbeitet.
2 Altertümlich für berufliche Arbeit.
3 Altertümlich für Begabungen.
4 Zu Stipendien siehe Heft 1/2023 unter Ausgegraben. 5 Justi verwendet hier den Begriff der „Intercession“. 6 Aus dem öffentlichen Haushalt.
Johann Heinrich Gottlob Justi
Über die studierende Jugend1
Ordnung der Wissenschaft 2023, ISSN 2197–9197
128 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2023), 127–128