- Einleitung und Überblick
Es mag unangemessen erscheinen, wenn eine Buchbesprechung mit Angaben zur Person des Rezensenten beginnt. Im vorliegenden Fall ist es unumgänglich.
Der als Jurist ausgebildete Rezensent blickt auf eine lange Zeit zurück, in der er für verschiedene Wissenschaftsorganisationen, vor allem für Universitäten, zum Schluss für eine wissenschaftsfördernde Organisation als Verwalter, als Organisator und abschließend in hochschulpolitischer Funktion Verantwortung getragen hat. Entsprechend vertraut sind ihm die inneren Wirkungsprozesse von wissenschaftlichen Institutionen, ebenso die Interaktion der Wissenschaft mit staatlichen Institutionen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Organisationen. Bezogen auf das Handbuch Wissenschaftsgeschichte ist er ein fachfremder Leser, der aber immer als Laie historisch-anthropologische und kulturphilosophische Fragen mit großer Neugier reflektiert.
Diese Vorbemerkung ist deshalb von Bedeutung, weil eine umfassende und zuverlässige Beurteilung des „Handbuch Wissenschaftsgeschichte“ nur mit einer hochspezialisierten Ausbildung in Kulturwissenschaft, Kultursoziologie und in Geschichtsphilosophie möglich ist. Auch ist der fachdisziplinäre Kosmos, den das Handbuch auf 351 eng bedruckten Seiten beleuchtet, für die Zwecke einer Buchbesprechung nur unter begrenzter Schwerpunktbildung möglich. Auf gewisse Weise wird dieser Zugang dem Leser mit anderem akademischen Hintergrund durch die Gliederung des Handbuchs erschwert, da man eine traditionelle Anordnung aufgeteilt nach Disziplinen und deren Methoden erwarten würde. Das Handbuch ist nach disziplinenübergreifenden Kategorien geordnet, die offenbar der wissenschaftlichen Zielsetzung der Autorinnen und Autoren entsprechen, siehe dazu unten. Möglicherweise wird die gewählte Architektur dem Charakter eines Handbuchs gerecht, das auf problem-fokussierte und methodische Erschließung angelegt ist. Das ist Herausforderung und Reiz für einen Hochschulpraktiker zugleich, nämlich seine Erfahrungen aus dem wissenschaftlichen Betrieb mit den ideengeschichtlichen Quellen des Forschens und der Wissensvermittlung in Verbindung zu bringen. Und in der Tat öffnet das Handbuch dem Hochschulpraktiker völlig neue Perspektiven der gesamtgesellschaftlichen Verwobenheit der Wissenschaft mit praktisch allen Einflussfaktoren, die sich sowohl auf innere Tendenzen des Erkundens und Erforschen beziehen, als auch auf die materiellen, geistesgeschichtlichen und religiösen Wirkkräfte. Wenn man als wissenschaftsaffiner Hochschuladministrator und Hochschulpolitiker bereit ist, von der Oberfläche des Wissenschaftsbetriebs aus sich vom Handbuch in eine tiefere Schicht der historischen Produktionsfaktoren, der Wissensgewinnung, der Wissenssystematisierung und der wissenschaftlichen Theoriebildung führen zu lassen, dann scheint sich eine neue historisch-anthropologische Dimension aufzutun, die sowohl die Kultur der Wissensgenerierung als auch deren Wandel unter verschiedenen geschichtlichen Rahmenbedingungen sichtbar macht. Freilich wäre dieses Eindringen in das Handbuch ganz wesentlich durch ein Schlagwortregister oder zumindest ein Sachregister erleichtert worden. Dieses Desiderat ist gerade bei einem Werk, das auch als Nachschlagwerk benutzt wird, einigermaßen unverständlich.
Von einem solchen Handhabungsmangel abgesehen ist das Handbuch auf gewisse Weise ein Röntgengerät, mit dem vom äußeren Escheinungsbild der Forschung oder Wissensvermittlung in die tieferen Muster des Forschens und Sammelns von Erkenntnissen, der analytischen Deutung und der Theoriebildung eingedrungen werden kann. Das ist freilich ein extrem forderndes und beanspruchendes Unterfangen und verlangt, dass der Hochschulpraktiker seine Praktikerbrille ablegt und mit Hilfe des Handbuchs dem Problem nachgeht, dass Wissen nicht die vermutete und systematisch belegte Objektivität ist, sondern eine Gemengelage aus Befunden, die von den sozioökonomischen, kulturellen und geistesgeschichtlichen Einflüssen der jeweiligen Zeit nicht getrennt werden können. Wenn man diesen Abstieg in eine tiefere Schicht sehr sorgfältig und behutsam leistet, dann ist das Handbuch, das auf den ersten Blick so undurchdringlich erscheint, ein wahrer Schatzfund. Freilich, das wurde deutlich, diese Schatzsuche erfordert wie bei allen Schatzsuchen viel Geduld und die Bereitschaft, einzelne Beobachtungen und Befunde immer wieder mit den
Jürgen Heß
Besprechung des „Handbuch Wissenschaftsgeschichte“, hrsg. von Marianne Sommer/Steffan Müller-Wille/Carsten Reinhardt, Metzler/Springer, 2017
Ordnung der Wissenschaft 2020, ISSN 2197–9197
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übergreifenden Linien der Wissenschaftsgeschichte, die
für sich selbst einen geschichtlichen Prozess darstellt, abzugleichen.
Und bei der Vergegenwärtigung dieses sich
über Zeiträume erstreckenden Prozesses müssen hier
auch die Bezüge zum gesellschaftlichen und politischen
Umfeld in den Blick genommen werden. Dann wird
auch deutlich, dass es Wissenschaftsgeschichte als geschlossene
Einheit nicht gibt, sondern wissenschaftliches
Geschehen ein ungemein komplexes Zusammenwirken
von Personen, Institutionen, äußeren Rahmenbedingungen,
dem geistesgeschichtlichen Umfeld und
nicht zuletzt den politischen Erwartungen ist. Das Handbuch
versucht diese Komplexität durch großformatige
Strukturelemente zugänglich zu machen, indem es sich
in fünf übergreifende Themenkreise gliedert, nämlich
nach dem Einleitungskapitel Kapitel II: Forschungsansätze,
Kapitel III: Räume und Epochen, Kapitel IV: Orte
der Wissensproduktion und Kapitel V: Wissenschaft der
Geschichte der modernen Welt. Hier soll freilich nicht
verschwiegen werden, dass diese Gliederung einem mit
der inneren Systematik des Buches nicht vertrauten Leser
nicht ohne weiteres einsichtig ist. Zum einen scheint
es eine kategoriale Differenz oder Inhomogenität zu geben.
So signalisiert der Kapitelbegriff „Forschungsansätze“
eine völlig andere methodische Herangehensweise
als das Kapitel „Räume und Epochen“ ebenso wie das
Kapitel „Orte der Wissensproduktion“. Und schließlich
scheint wiederum das letzte Kapitel “Wissenschaft und
Geschichte der modernen Welt“ einen andersartigen kategorialen
Blick anzudeuten. Der Wechsel von großformatigen
Betrachtungen mit kleinteiligen irritiert. Zum
Beispiel spräche die Systematik eher dafür, dass das Kapitel
über die Wissenschaftsgeschichte der Moderne am
Besten in unmittelbarem Zusammenhang mit den stark
geschichtsphilosophischen Beiträgen des 1. Kapitels stehen
würde und davon abgesetzt die räumlichen und örtlichen
Themen im zweiten Teil des Handbuchs besser
aufgehoben wären. Man kann sich nicht ganz des Eindrucks
erwehren, dass sehr unterschiedliche Forschungsleistungen
zahlreicher Autoren und Autorinnen
in diesem Handbuch mit dem Anspruch eines schlüssigen
Gesamtkonzeptes zusammengefasst wurden. Das
muss den Wert des Handbuchs keineswegs schmälern.
Denn niemand wird die Vorstellung haben, dass man
dieses ebenso umfangreiche wie inhaltlich extrem dichte
Werk wie ein Lehrbuch durchliest. Ein Handbuch wird
seiner Art nach selektiv benutzt. Wer seinen speziellen
Interessenbereich findet, wird mit exzellenter fachlicher
Qualifikation belohnt.
Eine weitere kritische Frage stellt sich, wenn man bestimmte
Sachverhalte, die der Leser für geschichtswissenschaftlich
relevant hält, zumindest mit dem Blick auf
das Inhaltsverzeichnis nicht findet. Da das Handbuch ja
sehr stark kultur- und geschichtsphilosophisch ausgerichtet
ist, würde man vermuten, dass die Wissenschaftstheorie
einen bedeutenden Raum einnehmen müsste.
Im Handbuch hat sie aber keine Aufnahme gefunden.
Nun mag es sein, dass die Wissenschaftstheorie bei adäquater
Behandlung einen so großen Raum beanspruchen
würde, der den vermutlich vorgegebenen Umfang
des Handbuchs gesprengt hätte. Es ist auch zu konzedieren,
dass die Wissenschaftstheorie ein großes und eigenständiges
Forschungsgebiet geworden ist, das in zahlreichen
Publikationen zugänglich und erschließbar und
der Verzicht insofern akzeptabel ist. Ein anderes Fragezeichen
möge man dem Juristen nachsehen, wenn er ein
Gewichtungsmissverhältnis zwischen der größeren Berücksichtigung
der wissenschaftsgeschichtlichen Bereiche
der Naturwissenschaften gegenüber einer schwächeren
bezogen auf die Geistes- und Sozialwissenschaften
beklagt.
Auf eine schmerzliche Lücke ganz anderer Art stößt
man im Kapitel Räume und Epochen. Das Kapitel 11.1
„Mittelalter“ beginnt mit dem 14. Jahrhundert. Es mag
sein, dass die beachtlichen wissenschaftlichen Leistungen
des frühen und hohen Mittelalters lange Zeit nur geringe
Beachtung fanden und insbesondere im Vergleich
zur Moderne, der offenkundig das Hauptaugenmerk des
Handbuchs gilt, wenig ins Gewicht fallen. Aber an der
Tatsache, dass etwa die frühmittelalterliche
Wissenstransferleistung des Islams, der wesentliche Teile
des großartigen Wissenschaftsfundaments der Antike
nach Europa brachte und damit erst den wissenschaftlichen
Schub in Europa möglich gemacht hat, führt doch
kein Weg vorbei.
Schließlich verwundert den fachfremden Leser, dass
im Rahmen der oben aufgeführten Clusterbildung des
Handbuchs nicht auch ein eigenständiges Cluster „Wissenschaft
und Religion“ erarbeitet wurde. Selbstverständlich
wird das Spannungsverhältnis zwischen Religion,
wobei hier vor allem die Macht der Religion gemeint
ist, und dem Prozess der Wissensfindung und Erkenntnis
in zahlreichen Zusammenhängen an
verschiedenen Stellen des Handbuchs thematisiert. Es ist
Heß · Besprechung des „Handbuch Wissenschaftsgeschichte“ 2 0 3
aber sicher nicht verfehlt, wenn man in diesem Spannungsverhältnis
einen Fundamentalkonflikt sieht, der
zumindest in historischer Perspektive wie kaum eine andere
Einflussmacht auf die Personen und auf die Existenz
von Wissenschaftler/Innen eingewirkt hat. Diese
Einflussintensität hat gewiss in der Moderne eine geringere
Rolle gespielt als zuvor. Da erlaubt sich aber der
Hochschulpraktiker aus eigener Erfahrung zu berichten,
dass solche Einflusstendenzen noch bis in die jüngere
Vergangenheit nachweisbar waren. In diesen Kontext
kann man auch die Tatsache einordnen, dass in Deutschland
zumindest in den Universitäten der alten Bundesländer
die große Mehrzahl der religionsphilosophischen
Professuren in konfessionellen Fakultäten eingerichtet
sind. Alle diese Gründe sprächen dafür, dass dieses klassische
Konfliktfeld im Rahmen eines Handbuchs für
Wissenschaftsgeschichte eine eigenständige Bearbeitung
verdient hätte. Aber auch hier sei der Hinweis wiederholt,
dass es sich dabei um die Wahrnehmung eines fachfremden
Lesers handelt. Die speziellen akademischen
Fachkollegen/Innen der Autorinnen und Autoren mögen
das anders sehen.
Gehen wir zurück in die Mission des Handbuchs und
tauchen dazu in seine Einleitung ein. Sie ist kein „summary“
im Sinne einer vorangestellten Zusammenfassung.
Gleichwohl wirft sie ausgehend vom Selbstverständnis
der Wissenschaftsgeschichte den übergreifenden
Blick auf die obengenannten Kapitel. Es ist eine Gesamtschau,
von der naturgemäß an dieser Stelle nur
einzelne prominente Gesichtspunkte herausgegriffen
werden können. Die beabsichtigte (aber nicht immer
konsequent verwirklichte) Architektur des Handbuchs
wird mit dem ersten Satz der Einleitung deutlich. Danach
ist Wissenschaftsgeschichte als akademische Disziplin
untrennbar mit der europäischen Moderne verbunden.
Daher ist auch konsequent, dass der größte Teil des
Handbuchs sich dieser Epoche in fast allen Kapiteln
widmet.
Maßgeblich dafür sei ein Leitbegriff der Aufklärung,
nämlich des zivilisatorischen Fortschritts. Aus der Ereignisgeschichte
der Irrtümer, Entdeckungen und Umwälzungen
sei die große Erzählung vom Aufstieg der Wissenschaft
entstanden. Diesem Wissenschaftsbegriff
wohnt offenkundig der Gedanke inne, dass Wissenschaft
nicht einfach durch Anhäufung von Fakten voranschreitet,
sondern sich in Form von Begriffen, Modellen und
Theorien entfaltet. Die Aufklärung hat die Vorstellung
entwickelt, dass Wissenschaftsgeschichte eine von einer
inneren Logik angetriebene disziplinäre Ideengeschichte
ist und daher weitgehend von sozialen, wirtschaftlichen
und religiösen Einwirkungen frei ist. Dieses elitäre und
von Einflüssen unberührte Selbstverständnis konnte insbesondere
in der zweiten industriellen Revolution keinen
ausschließlichen Bestand haben, da sie zunehmend
nach denkkulturellen und sozioökonomischen Bedingungen
der Produktion fragte und die Rolle der Wissenschaften
in den gesellschaftlichen Aushandlungsprozess
über ökonomische, politische oder ethische Weichenstellungen
in den Blick nahm. Damit zusammen hängt
die Austauschbeziehung zu anderen Bereichen der Gesellschaft,
weil sie auf die Ressourcen aus der Gesellschaft
angewiesen ist. Es erscheint konsequent, dass sich
daraus das Verständnis der Wissenschaft als Produkt gesellschaftlicher
und kultureller Konstellationen ableitet.
Auch sind es nicht Individuen, sondern Denkkollektive,
die Wissen stabilisieren und tradieren. Wissenschaftsgeschichte
bezieht ihre Relevanz aus dem Zusammenhang
zwischen Wissen, Kultur und Macht. Im weiteren Verlauf
arbeitet die Einleitung den Weg der Wissenschaftsgeschichte
zur Wissensgeschichte heraus, ebenso wie
den sogenannten „cultural turn“ mit der Auswirkung der
Quellenbasis auf Produkte der Populärkultur und auf
künstlerische und literarische Werke. Nach dem Verständnis
des Handbuchs oder genauer gesagt nach dem
seiner Autoren und Autorinnen behandelt es die integrierende
Pluralität in Geschichte und Gegenwart. - Universität
Es iegt auf der Hand, dass der Hochschulpraktiker, nachdem
er sich mit den Intentionen des Handbuchs in
methodischer, struktureller, kultursoziologischer und
ideengeschichtlicher Hinsicht vertraut gemacht hat, sich
mit besonderer Aufmerksamkeit dem Abschnitt Universität
zuwendet, ein Abschnitt der sich im IV. Kapitel,
„Orte der Wissenschaftsproduktion“, im Abschnitt 17 findet.
In diesem Kapitel IV finden sich neben dem
Abschnitt Universität die weiteren Abschnitte Observatorium,
Hospital und Klinik, Akademie, Werkstatt und
Manufaktur, Gärten und Sammlungen, Laboratorium,
Feld, Bibliothek und Archiv. Vielleicht ist es ein Zeichen
der Befangenheit, dass ein langjähriger Universitätsverantwortlicher
die Einreihung der Universität in die
genannten Orte als problematische Gewichtung empfindet.
Dies erst recht, wenn man feststellt, dass dem „Ort
Universität“ bescheidene acht Seiten eingeräumt werden.
Das ist einem so überragenden Thema im wissenschaftlichen
Geschehen der Neuzeit und vor allem der
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Moderne und erst recht in Ansehung der großen Umwälzungen
des letzten Jahrhunderts nicht angemessen. Freilich
nötigt es auch großen Respekt ab, dass der Autor
diese zentrale Wissenschaftseinrichtung mit einer
bewundernswerten Fähigkeit der inhaltlichen und
sprachlichen Verdichtung durchdringt. Das führt allerdings
dazu, dass etwa bei der Beschreibung des Institutionalisierungsprozesses
des 20. Jahrhunderts bestimmte
Institutionsformen unzulässig vermengt werden, da sie
grundlegend unterschiedliche Aufgaben haben. So ist
etwa am Ende des Unterabschnitts 17.1 (Entstehung und
Entwicklung) zwingend die Unterscheidung zwischen
Einrichtungen der außeruniversitären Forschung und
der wissenschafts-fördernden Organisationen zu treffen.
Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen haben
sich aus dem Gedanken — losgelöst von der Universität -
entwickelt, dass bestimmte Forschungsfragen effizienter
bearbeitet werden können, wenn Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen im engen thematischen Zusammenwirken
und von Lehre weitgehend entlastet und
meist gestützt auf eine sehr große Ausstattung, die über
die Möglichkeiten einer Universität hinausgeht, hocheffizient
forschen können. Dazu gehört u.a. die Max-
Planck-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft deutscher
Forschungszentren und auch die erwähnte Fraunhofer
Gesellschaft, ohne dass dies eine abschließende
Aufzählung wäre. Die leider im gleichen Kontext aufgeführten
wissenschaftsfördernden Institutionen haben
eine grundsätzliche völlig andere Aufgabe. Beispielhaft
seien hier die Deutsche Forschungsgemeinschaft und
der Wissenschaftsrat genannt. In diesen Einrichtungen
wird weder geforscht noch gelehrt. Sie haben auf unterschiedliche
Weise auch im Sinne einer Selbstverwaltung
der Wissenschaft rein fördernde Aufgaben, im Fall der
DFG u.a. die Verteilung von Mitteln (aufgrund einer
Evaluation), die der Staat zur Verfügung stellt, im Falle
des Wissenschaftsrates die Erarbeitung von Empfehlungen
(vor allem struktureller Art) an staatliche Stellen
aber etwa auch an Universitäten. Diese etwas ausführliche
geratene Ausdifferenzierung möge beispielhaft zeigen,
in welche Schwierigkeiten man gerät, wenn komplexe
Sachverhalte in einer hochkomprimierten Form verhandelt
werden. Probleme einer extrem verdichteten
Darstellung werden noch an anderer Stelle angesprochen.
Die überragende Rolle der Geschichte der Universitäten
im Wissenschaftsgeschehen wird vom Autor des
Abschnitts nicht verkannt. Er beschreibt sie als Knotenpunkt
von Geistes‑, Verfassungs- und Wissenschaftsgeschichte
ebenso wie von der Sozial- und Kulturgeschichte
ihrer Mitglieder, deren Praktiken ihrer Wissensvermittlung
und ‑erzeugung und ihrer materiellen Kultur in
Form von Instrumenten, Sammlungen und Gebäuden.
Man kann daran erkennen welche Vielschichtigkeit der
Universitätsgeschichte eigen ist. Dieses Maß an Komplexität
hat freilich auch dazu geführt, dass im Laufe der
Zeit sich die disziplinär orientierte Wissenschaftsgeschichte
und Universitätsgeschichte auseinander entwickelten
und aus der Universitätsgeschichte ein eigenes
Genre wurde. In der deutschsprachigen Forschung hat
sich mittlerweile eine Epochendreiteilung der Universitätsgeschichte
in eine vorklassische Zeit bis etwa 1800, in
eine klassische Zeit des sogenannten Berliner Modells
und in eine nachklassische Zeit seit den späten 1960-Jahren
etabliert.
Im Abschnitt 17.1 „Entstehung und Entwicklung“
durcheilt der Autor im kühnen Zugriff auf zwei Seiten
rund acht Jahrhunderte Universitätsgeschichte (wenn
man die Vorentwicklung einbezieht). Und auch hier ist
große Anerkennung geboten, dass bei diesem Parforceritt
wesentliche Stationen des universitären Geschehens
sowohl hinsichtlich deren äußeren strukturellen Merkmale
als auch hinsichtlich der inneren Wirkkräfte erfasst
oder zumindest angesprochen werden. Vereinfacht ausgedrückt
sind vor allem vier Faktoren interessant, wenn
man das Gebilde Universität in der Entwicklung über die
Jahrhunderte betrachtet. Wer sind die unter der Vorstellung
einer „universitas“ handelnden Akteure, in welcher
Verfasstheit tritt die Universität in den jeweiligen Zeitabschnitten
in Erscheinung, welche Ideengeschichte treibt
das System Universität an und schließlich auf welcher
materiellen bzw. ökonomischen Basis ist universitäres
Geschehen möglich. Der zuletzt genannte Gesichtspunkt
ist maßgeblich mit der Frage verbunden, welche
Rolle die Trägerinstanz spielt (Kirche, Landesherr, Staat)
und welche Wechselwirkungen es zwischen der Universität
und der jeweiligen Trägerinstanz gibt. Ganz konkret
gesprochen, in welchem Spannungsverhältnis steht die
Freiheit des wissenschaftlichen Schaffens zu der Einwirkung
der Trägerinstanz.
Trotz der Kürze des Textes werden die beiden am
Ausgang des Entstehens der Universität stehenden Modelle
sehr klar herausgearbeitet, nämlich einerseits das
sogenannte Bologna-Modell und andererseits das Pariser
Modell. Letzteres war dann typenprägend für die
Entwicklung in Deutschland. Dieses Modell weist zwei
hierarchische Stufen auf, die untere Stufe bestehend aus
den „artes liberales“, also den sieben freien Künsten
Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie,
Astronomie und Musik. Auf diese quasi propädeutische
Heß · Besprechung des „Handbuch Wissenschaftsgeschichte“ 2 0 5
Ebene bauen sich die drei höheren Fakultäten Medizin,
Jurisprudenz und Theologie auf. Die Wechselwirkungen
zwischen diesen frühen Formen der „universitas“ und
dem Papst auf der einen Seite und dem Kaiser auf der
anderen Seite werden leider nur kurz angetippt. So standen,
wenn man so will, auf der positiven Seite bestimmte
Privilegien wie etwa der Schutz der Studenten auf Reisen
und ein eigener Gerichtsstand. Interessant wäre aber
eine gewisse Vertiefung der Frage gewesen, welche übergeordnete
Rolle die Kirche für den Inhalt des wissenschaftlichen
Geschehens gespielt hat. Es ist naheliegend,
dass innerhalb der genannten Hierarchie der Theologie
eine übergeordnete Bedeutung eingeräumt wurde.
Wenn man in der Geschichte einen Schritt weiter
geht, tritt ein Paradigmenwechsel im Gründungsgeschehen
der Universitäten ein. Während die früheren Universitäten
noch von den Magistern und Scholaren gegründet
wurden, traten im späten Mittelalter die Landesherren
als Gründer auf. Die Motive dieser landesherrlichen
Gründungen waren weniger die Liebe zur
Wissenschaft als handfeste Interessen der territorialen
Stärkung. Zum einen versprach die Gründung einer
Universität Prestigegewinn, zum anderen gab es einen
ständig wachsenden Bedarf an Verwaltungseliten. Einen
solchen Bedarf verspürte aber nicht nur der Landesherr,
sondern auch die Kirche, die für die Ausbildung des
geistlichen Personals konfessionelle Hochschulen gründete.
Lange Zeit hatte man bei einem Vergleich der landesherrlichen
Gründungen einerseits und der katholischen
Hochschulen andererseits die Überzeugung propagiert,
dass die letzteren als rückständig zu betrachten
seien. Die neuere Forschung hat das korrigiert und herausgearbeitet,
dass namentlich die Jesuitenuniversitäten
in Fragen der Organisation, Kommunikation und Verwaltung
durchaus innovative Leistungen erbracht
haben.
Wieder einen zeitlich größeren Schritt weiter: Die
häufig als universitäts-geschichtlicher Höhepunkt in
Deutschland angesehene Humboldtsche Universitätsreform
Anfang des 19. Jahrhunderts, die vor allem mit der
Gründung der Berliner Universität 1809 verbunden
wird, hätte eine breitere und differenzierte Betrachtung
verdient (die Berliner Universität stand im Übrigen nicht
an der Spitze der Reformbewegung, als Leitbilder der
Reformuniversität sind die zuvor gegründeten Universitäten
Halle und Göttingen zu nennen). Der Beitrag weist
zurecht darauf hin, dass das zentrale Elemente dieser Reform
für die weitere Entwicklung nicht nur in Deutschland
bedeutsam wurde. Im Mittelpunkt dieser Gründungsidee
steht die Forderung nach völliger Freiheit der
Wissenschaft sowie der Einheit von Forschung und Lehre.
Bis in die neueste Zeit hat das Reformwerk von Wilhelm
von Humboldt ikonografischen Charakter und es
kann nicht bezweifelt werden, dass der spätere weltweite
Erfolg der deutschen Universität auf die Kernideen dieser
Reform zurückzuführen ist. Gleichwohl würde es
dem Handbuch einer Wissenschaftsgeschichte gut anstehen,
den alles beherrschenden Gründungsmythos, der
mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verbunden ist,
mit etwas Tiefenschärfe zu betrachten. Lassen wir mal
den Gesichtspunkt außen vor, dass jenes Papier, das man
gleichsam als Gründungsmanifest der neuen deutschen
Universität herausstellt, mit seinen vier Leitideen, nämlich
„keine berufsspezifische Ausbildung“, eine „Bildung
als Selbst-bewußt-werden-durch-tätiges Dasein“, „kein
Einfluß des Staates auf Lehre und Forschung“, „Einheit
von Forschung und Lehre als forschendes Lehren in der
Gemeinschaft der Professoren und Studiereden“, erst
knapp hundert Jahre nach der Gründung der Berliner
Universität veröffentlicht wurde. Die Humboldtsche
Gründungsidee ist in dieser Form ein nachgeschobener
Mythos. Sie wurden in reiner Form weder zur Gründungszeit
der Berliner Universität noch später umgesetzt.
Richtig ist aber, dass ein Kreis von Reformern, zu
denen auch Humboldt zählte, der aber wesentlich von
Leuten wie Wolff, Schleiermacher, Fichte, Schelling und
Steffens gebildet wurde, die Lehre von dem scholastischen
Bildungskanon befreite. Die Forschung, die zuvor
eher bei den Akademien angesiedelt, konnte sich im
Geist einer von Rationalismus getragenen individualistischen
Weltaneignung und frei von staatlichen Einflüssen
entfalten. Das waren wichtige Antriebskräfte für den Siegeszug
der deutschen Universität des 19. und des beginnenden - Jahrhunderts.
Der zentrale Gedanke der Freiheit der Forschung,
das wird nicht nur vom Autor dieses Beitrages übersehen,
bedarf insofern einer Differenzierung, als im Zuge
der hier beschriebenen Universitätsreform eine besondere
Universitätsverfassung entstand, die man mit der
Kurzform „janusförmige Universitätsverfassung“ bezeichnet.
Janusköpfig deshalb, weil unter dem Dach der
Universität zwei voneinander abgegrenzte Wirkungsund
Steuerungsfelder entstanden. Der eine Kopf ist die
gesicherte wissenschaftliche Freiheit im akademischen
Geschehen der Universität. Der andere Kopf ist die staatliche
Kompetenz in allen Dingen des Wirtschaft- und
Verwaltungswesens. Lange Zeit sah man darin einen
konzeptionellen Geniestreich, denn der Staat übernahm
nun eine dauerhafte und nachhaltige Alimentierungspflicht,
da er ja im wirtschaftlichen Bereich und in der
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Verwaltung zu der maßgeblichen universitären Verantwortlichkeitsinstanz
wurde. Es ist unverkennbar, dass
durch die starke Wirtschafts- und Verwaltungsstellung
des States ein hohes Maß an Einflusspotential geschaffen
wurde. Dieser berühmte Dualismus verfolgt die Diskussion
um ein adäquates Universitätsmodell bis in die
jüngste Zeit, siehe dazu unten.
Der Konzeption des Abschnitts „Universitäten“ folgend,
in dem bei der Skizzierung der Universitätsgeschichte
kein chronologisches Narrativ verfolgt wird, sondern die
schlaglichtartige Beleuchtung von Umbrüchen und
Paradigmenwechsel, wird auch hier nur auf zwei der
knapp angedeuteten grundlegenden Reformprozesse des - Jahrhunderts eingegangen, die jeweils nicht nur tiefe
Spuren im Inneren des wissenschaftlichen Geschehens
der Universitäten hinterlassen haben, sondern auch
jeweils über die Grenzen der Wissenschaftseinrichtungen
hinaus äußerst emotionale Diskussionen verursacht
haben.
Die Universitäten waren ab Ende der 1960er-Jahre
mit zwei Problemen konfrontiert, die zwar einen völlig
unterschiedlichen Ausgang hatten, aber in ihren wechselseitigen
Verbindungen zu starken Impulsen der Veränderung
wurden. Es war zum einen der stark ansteigende
Zugang zu den Universitäten, getragen von der
berechtigten Vorstellung, dass bisher unterprivilegierte
Teile der Gesellschaft durch eine universitäre Ausbildung
Aufstiegschancen erhalten sollten. Der daraus abgeleitete
Begriff der Massenuniversität ist, neben dem
positiven Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit, aber
auch mit negativer Konnotation verbunden, da eine
Massenuniversität offenkundig mit den Humboldtschen
Idealen endgültig nicht mehr zu vereinbaren ist und damit
Qualitätsstandards gefährdet erschienen (auch wegen
einer permanenten Unterfinanzierung). Die andere
Strömung hat ihre Quelle in der studentischen 68er Bewegung,
die u.a. dem Typus der Ordinarienuniversität
(stark dominierende Rolle der Lehrstuhlinhaber) den
Kampf angesagt hat und sich als Konsequenz die Forderung
nach inneruniversitärer Mitbestimmung entwickelte.
In der Gruppenuniversität sollten alle unter dem
Dach der Universität arbeitenden Gruppen an den zentralen
Entscheidungen einer Universität teilhaben. Die
Rechtsprechung hat diese Entwicklung insofern eingehegt,
dass alle Universitätsgruppen in Gremien vertreten
sind, aber in wissenschaftlichen Fragen die maßgebliche
Entscheidung bei den Wissenschaftlern/Innen verbleibt.
Nicht weniger tiefgreifend war der Umbruchsprozess ab
etwa Ende der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die
Formulierungen des Handbuchbeitrags, wonach die
Ökonomisierungsdebatte mit einem Autonomieverlust
der Universitäten im Sinne der Verdrängung wissenschaftlicher
Rationalitäten durch ökonomische Imperative
verbunden sei, ist offen gestanden ein Satz, der hundert
Fragen aufwirft, aber dem Leser keine beantwortet.
Unklar ist, was ein Leser ohne Kenntnis der Hintergründe
aus einer solchen thesenartigen Zuspitzung gewinnt.
Diese offenen Fragen können gewiss nicht im Rahmen
einer Buchbesprechung beantwortet werden. Das abwertende
Schlagwort der Ökonomisierung, das sicher auch
durch Auswüchse Nahrung bekam ( u.a. „Vorstand“ als
Universitätsleitungsorgan statt Rektorat), verdeckt den
Kern des Umbruchs, nämlich das oben unter anderen
zeitlichen Vorzeichen schon angesprochene Verhältnis
der Universität zum Staat. Wesentliche Entscheidungsbefugnisse
sind vom Staat, also in Deutschland von den
Bundesländern, auf die Universitäten übertragen worden,
angefangen von den internen Strukturfragen bis hin
zur Besoldung der Professoren/Innen. Es hat sich dabei
die naheliegende Vorstellung durchgesetzt, dass die Universität
besser als der Staat weiß, wie die Wissenschaft
unter ihrem Dach zu organisieren ist. Verbunden damit
war auch die Effizienzfrage, die vordergründig als ökonomische
betrachtet wurde (von manchen externen
Beratern der Universität auch so gesehen wird). Im Kern
ging es aber um die Frage, mit welchen Steuerungsmitteln
man es gewährleisten kann, dass die notwendigerweise
beschränkten Mittel so eingesetzt werden, dass der
bestmögliche wissenschaftliche Erfolg erzielt wird.
Im letzten Satz des Beitrags „Universität“ wird auf die
zunehmende Ausdifferenzierung des Hochschulwesens
hingewiesen. Es ist verständlich, dass dieses sehr große
Feld im Rahmen eines Handbuchs nicht umfänglich behandelt
werden kann. Aber in historischer Perspektive
bemerkenswert ist doch die leider nicht erwähnte Gründung
zahlreicher privater Hochschulen, die, wenn auch
kleiner als die staatlich getragenen Hochschulen, inzwischen
ihren Platz in der Wissenschaftslandschaft in
Deutschland gefunden haben. Der Wechsel der Trägerschaft
von staatlichen in private Hände wirft naturgemäß
das Thema Wissenschaftsfreiheit unter anderen Vorzeichen
wieder auf.
Zu den großen Strukturfragen des Deutschen Hochschulwesens
gehört nach Auffassung des Rezensenten
auch das Verhältnis der Universitäten zu den leider nicht
erwähnten Fachhochschulen und ihres jeweiligen spezifischen
Auftrags in Forschung und Lehre, um damit wieder
an den vom Autor des Beitrages angesprochen Prozess
der Ausdifferenzierung anzuknüpfen.
Bei der notwendigerweise fragmentarischen BefasHeß
· Besprechung des „Handbuch Wissenschaftsgeschichte“ 2 0 7
sung mit dem Handbuch Wissenschaftsgeschichte zum
Zwecke einer Rezension sei – wie bereits ausgeführt — an
folgender Wahrnehmung festgehalten: Für Wissenschaftler/
Innen, die in den tieferen philosophischen und
kultursoziologischen Schichten der Wissenschaftsgeschichte
forschen und deren hochkomplexe Rahmenbedingungen
im Blick haben, ist das Handbuch eine äußerst
wertvolle Quelle. Für fachfremde Leser leistet das
Handbuch eine übergreifende Orientierung, die aber
gleichzeitig eine Aufforderung zur weiteren Vertiefung
mit anderen Quellen ist.
Jürgen Heß war von 1988 bis 1994 Kanzler der Universität
Konstanz, von 1994 bis 2000 Kanzler der Universität
Freiburg und von 2000 bis 2003 Generalsekretär
der Hochschulrektorenkonferenz.
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