1 Vgl. zur Begriffsbestimmung siehe: Glossar, in IG Metall 2014a.
Bernd Kaßebaum
„Erweiterte moderne Beruflichkeit“
- ein Kompass für Berufsbildungs- und Hochschulpolitik
In allgemeinster Form sind Berufe komplexe Bündelun- gen von Arbeitsfähigkeiten, die Erwerbstätige in die Lage versetzen, anspruchsvolle Aufgaben in spezifischen Arbeitsbereichen selbstständig zu bewältigen. Berufe setzen einen gesellschaftlichen Konsens voraus. Sie sind durch Gesetze, Berufsbilder oder Studienprogramme geregelt. Sie werden auf besonderen, beruflichen Arbeits- märkten angeboten und nachgefragt. Sie basieren auf der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und sind veränderbar. Heute unterscheidet man für die Bundesrepublik Aus- und Fortbildungsberufe nach dem Berufsbildungsge- setz, vollzeitschulische Berufe nach den Landesgesetzen oder professionelle bzw. akademische Berufe im Bereich der Hochschulen. Für die Beschäftigten sind Berufe eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung von Beschäftigung und Einkommen.
Mit „Beruflichkeit“ meint man übergreifende Prinzi- pien und Qualitätsmaßstäbe für Berufe, Berufsbildung und Arbeit. Beruflichkeit von Bildung zielt auf Quali- tätsmaßstäbe beruflichen Lernens und die zur Sicherung dieser Qualität notwendigen gesellschaftlichen und poli- tischen Regelungen und Verfahren. Beruflichkeit von Arbeit bezeichnet Qualitätsmaßstäbe für die lernförder- liche Gestaltung von Arbeit und zielt auf qualifizierte, berufsbezogene Beschäftigungsverhältnisse. Wie die Be- rufe selbst unterliegt auch das Verständnis von Beruf- lichkeit einem stetigen, von sozialen Interessen und technisch-organisatorischen Prozessen bestimmten, Wandel. In der jüngeren Geschichte lässt sich z.B. die Entwicklung der „modernen“ aus der „traditionellen“ Beruflichkeit ableiten.1
Die IG Metall hat mit ihrem Diskussionspapier „Er- weiterte moderne Beruflichkeit. Ein gemeinsames Leit- bild für die betrieblich-duale und die hochschulische Be- rufsbildung“ Überlegungen zur notwendigen und sinn- vollen Weiterentwicklung von Beruflichkeit angestellt und verbindet sie mit weitreichenden Vorschlägen für die Verbesserung der Qualität von Bildungs- und Ar- beitsprozessen. Im Kern erweitert die IG Metall ihr Ver- ständnis von Beruflichkeit in einem zweifachen Sinn: sie „erweitert“ ihr Verständnis von Beruflichkeit in Rich- tung Studium und Lehre und stellt gemeinsame, aus der
2 Vgl. stellvertretend: Blankertz 1992, Friedeburg 1989. Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
Berufsbildung gewonnene Prinzipien für die Gestaltung beruflicher Lernprozesse in der betrieblich-dualen und der hochschulischen Berufsbildung zur Diskussion. Vor dem Hintergrund zentraler gesellschafts- und arbeitspo- litischer Herausforderungen gibt das Leitbild ebenso der Weiterentwicklung von Beruflichkeit bereichsübergrei- fend wichtige Impulse.
Politisch legt die IG Metall damit einen wichtigen Grundstein für eine übergreifende und an einheitlichen Maßstäben ausgerichtete Berufsbildungspolitik. In Zu- kunft soll nicht mehr danach gefragt werden, was allge- meine und berufliche Bildung trennt, sondern wie eine stärkere Integration beider Bereiche vonstattengehen kann.
In diesem Beitrag sollen folgende Fragen beantwortet werden:
Was waren die Auslöser für diesen Diskurs und wie werden die Herausforderungen benannt? Was sind die Kernaussagen des Leitbilds? Was ist das „Neue“ in Bezug auf das Verständnis von Beruflichkeit? Welche bildungs‑, arbeits- und gesellschaftspolitischen Schlussfolgerungen lassen sich in Bezug auf die genannten Herausforderun- gen ziehen? Welche Schlüsse sind in Richtung Hoch- schule, Studium und wissenschaftliche Weiterbildung zu ziehen? Was sind die weiteren Perspektiven?
I. Zentrale berufsbildungspolitische Herausforderungen
Bildungs- und Erwerbschancen sind abhängig von der sozialen Herkunft. Das Ringen um Bildung auch für die sozial benachteiligten Gruppen und die Diskussion um das Verhältnis von Ausbildung und Studium oder grund- sätzlich zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung durchzieht die Geschichte der deutschen Gewerkschaf- ten von Anbeginn. Es ist eine Auseinandersetzung um die Verteilung von Bildungs- und Erwerbschancen, gegen ein ausgrenzendes und gegliedertes Schul- und Bildungssystem, gegen die starre Trennung zwischen all- gemeiner und beruflicher Bildung und für mehr Chan- cengleichheit, Durchlässigkeit und für die Gleichwertig- keit von allgemeiner und beruflicher Bildung.2
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Ein Ergebnis der nur in Teilen erfolgreichen Bil- dungsreform der sechziger und siebziger Jahre des letz- ten Jahrhunderts war im Kern die sog. Bildungsexpansi- on. Eine Reihe von Maßnahmen wie die Einführung der Schüler- und Studienausbildungsförderung „haben im Durchschnitt die Bildungsniveaus aller Schichten ver- bessert, ohne gleichzeitig gravierende herkunftsbedingte Ungleichheiten beseitigt“ (Kutscha 2016, S. 5) zu haben. Daran haben die auch die schulpolitischen Strukturent- scheidungen der Bundesländer in den letzten Jahren we- nig geändert (vgl. Klemm 2014). Der Erwerb der Hoch- schulzugangsberechtigung und die Möglichkeit, ein Stu- dium aufzunehmen, sind nach wie vor stark von der so- zialen Herkunft abhängig. Die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks liefert dazu regelmäßig die Daten. Von 100 Akademiker-Kindern studieren 77. Von 100 Kindern aus Familien ohne akademischen Hinter- grund schaffen hingegen nur 23 den Sprung an die Hoch- schule (vgl. Middendorf 2012). Und um ans andere Ende zu gehen: Nach wie vor verlassen knapp 6 Prozent der Schülerinnen und Schüler das Schulsystem ohne Ab- schluss. Der Anteil von Jugendlichen ohne Berufsausbil- dung zwischen 20 und 29 Jahren beträgt noch immer 13,1 Prozent (Berufsbildungsbericht 2015).
Der demografische Wandel, der von vielen gesell- schaftlichen Akteuren konstatierte Fachkräftemangel und der scheinbar unaufhaltsame Anstieg der Studien- anfängerzahlen haben in den letzten Jahren zu einer breiten Debatte über die Notwendigkeit einer neuen Jus- tierung von beruflicher und hochschulischer Bildung ge- führt. So fordert der Wissenschaftsrat auf der Basis des Erfolges dualer Studiengänge bei Studierenden und Be- trieben zusätzliche „hybride“, dh. an der Schnittstelle von Berufsbildung und Hochschule angesiedelter Studi- enmodelle und eine weit über die gegenwärtigen Rege- lungen des Dritten Bildungsweges hinausreichende Öff- nung der Hochschulen für berufserfahrene Studierende ohne formale Hochschulzugangsberechtigung.3 Unter der Überschrift: „Wir brauchen alle!“ setzen sich die Ar- beitgeber für weitreichende Reformen und eine stärkere Verzahnung von Berufsbildung und hochschulischer Bildung ein.4 Ein von den Arbeitgebern, der Hochschul- rektorenkonferenz und dem Stifterverband der deut- schen Wissenschaften eingesetzter Expertenkreis „Durchlässigkeit“ schlägt eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der gegenseitigen Durchlässigkeit zwi- schen Berufsbildung und Hochschulen vor.5
- 3 Vgl. Wissenschaftsrat 2014.
- 4 BDA/BDI 2014.
- 5 Vgl. BDA/HRK/Stifterverband 2015.
Auch die Gewerkschaften haben sich mit einer Reihe von Stellungnahmen geäußert.6
Das Leitbild der IG Metall ist in diesen Kontext ein- zuordnen. Die Arbeit nahm ihren Ausgang in der Ausei- nandersetzung mit drei zentralen Entwicklungslinien von Arbeit und Bildung. Dies sind a. die sog. Akademi- sierungsdebatte, b. die unter den Schlagworten der De- regulierung, Prekarisierung und Subjektivierung zu fas- senden Prozesse der Veränderung von Arbeit sowie c. das Vordringen eines Bildungstypus, der im Leitbild als angelsächsisch geprägter Bildungstyp bezeichnet wird. Hinzugekommen ist d. in den letzten Monaten die Frage, was die zunehmende Digitalisierung der Arbeit für Bil- dungsinhalte, ‑strukturen und Prozesse bedeutet.
In allen diesen Bereichen lassen sich Risiken der „Entberuflichung“, aber auch neue Chancen und Pers- pektiven für Beruflichkeit identifizieren. In dieser Ambi- valenz sollen die genannten Felder in ihrer Bedeutung für das neue Verständnis von Beruflichkeit diskutiert werden.
1. Akademisierung
Die Akademisierungsdebatte ist vielschichtig und wird bis heute mit vielen Emotionen geführt. In der Regel meint man, wenn man von Akademisierung spricht, den wachsenden Anteil von Studierenden im Bildungssys- tem und von HochschulabsolventInnen im Beschäfti- gungssystem. Die Zunahme von HochschulabsolventIn- nen im Betrieb kann Ausdruck einer stärkeren Verwis- senschaftlichung der Produktion sein. Sie kann ebenso gut Teil eines Substitutionsprozesses sein, der dadurch bestimmt ist, dass duale Ausbildung und Fortbildung entwertet und betrieblich-duale Ausbildungskapazitäten zugunsten von dual Studierenden reduziert werden und Arbeitsplätze, die bis dato den AbsolventInnen dualer Ausbildungsgängen vorbehalten waren, für Hochschul- absolventInnen geöffnet werden.
Diese Prozesse – sollten sie sich bewahrheiten – wer- den nicht nur zu Lasten von betrieblich-dual ausgebilde- ten Beschäftigten und gering Qualifizierten gehen, son- dern möglicherweise auch Folgen für die Hochschulab- solventInnen, deren Einkommens- und Beschäftigungs- situation heute noch relativ gut ist, selbst haben, da das Risiko unterwertigen Arbeitseinsatzes und damit auch Risiken des Einkommensverlustes mit der Anzahl der HochschulabsolventInnen zunehmen kann.7
6 Vgl. neben vielen anderen: Hoffmann 2015, Urban 2015b, IG Metall 2014b.
7 Vgl. Drexel 2012.
Die Debatte bewegt sich zwischen zwei Polen. Nida- Rümelin als einer der Protagonisten weist auf ein Miss- verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung hin: „Wenn diese (gemeint ist die Studienanfängerquote) sich wieder von derzeit über 50% auf ca. ein Drittel pro Jahrgang wie noch im Jahr 2000 reduzieren würde, täte dies sowohl der akademischen als auch der beruflichen Bildung gut und trüge zur Stabilisierung des akademi- schen und des nichtakademischen Arbeitsmarktes glei- chermaßen bei.“ (Nida-Rümelin, 2014, S. 128). Folgerich- tig setzt er sich nicht nur für die Beschränkung der uni- versitären Bildung, sondern auch für die Stärkung der beruflichen Bildung ein. In der Debatte wurde daraus die Forderung nach einer „Hochschule der Wenigen“ und nach dem Wiederlangen einer für verloren gehaltenen Exklusivität der Universität.
Die andere Position wird beispielhaft von Martin Ba- etghe und Markus Wieck bestimmt. Sie sprechen für das Jahr 2013 von dem „Wendepunkt in der deutschen Bil- dungsgeschichte“, weil die Neuzugänge in der dualen Ausbildung mit 497.427 erstmals unter der Zahl der Stu- dienanfänger (510.672) lagen. „Der Wandel zu einem neuen, stark wissensbasierten Ausbildungssystem er- scheint unumkehrbar. In ihm werden die Institutionen und Governance-Formen der dualen Ausbildung allen- falls eine nachgeordnete Bedeutung haben“ (Baethge/ Wieck, 2015, S. 5). Allerdings: Ein weiteres Drittel von ca. 500.000 Personen befindet sich im Schulberufssystem und im sog. Übergangssystem.
Nach Auffassung der IG Metall wird es kein „entwe- der – oder“ geben. Während einerseits die Nachfrage nach Abitur und Studium ungebrochen scheint, was Günter Kutscha mit den „Paradoxien der Bildungsre- form“ (Kutscha 2015, S. 2) erklärt, die u.a. die zentrale Rolle des Abiturs als Berechtigung zum Studium nicht infrage gestellt haben, deuten andererseits Prognosen über den zukünftigen Arbeitskräftebedarf darauf hin, dass dieser unbestritten zu Lasten gering Qualifizierter gehen wird, aber Fachkräfte – wie oft kolportiert – trotz geringer Zuwächse nicht im Akademikerbereich, son- dern vor allem in der mittleren Qualifikationsebene be- nötigt werden (vgl. Zika 2012; Bosch 2015).
Im Rahmen des Leitbilds der IG Metall stehen drei Aspekte dieser Debatte im Vordergrund: Erstens wird danach gefragt, wie betrieblich-duale Aus- und Fortbil- dung gestärkt, die soziale und berufliche Durchlässigkeit erhöht und Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung hergestellt werden kann. Zweitens wird angesichts der unbestrittenen, wenngleich zu relati- vierenden Feststellung, dass der Anteil von Hochschul- absolventInnen im Beschäftigungssystem weiterhin zu- nehmen wird, gefragt, wie Studierende besser als heute
auf das Erwerbsleben vorbereitet werden können und drittens wird vor dem Hintergrund der notwendigen stärkeren Integration von Berufsbildung und Hochschu- le gefragt, wie denn die erforderlichen und zusätzlichen Brücken zu bauen sind und aus welchem Material sie sein könnten.
2. Deregulierung, Prekarisierung und Subjektivierung
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Arbeits- kraft- und Qualifikationstypus. Ein Beschäftigungssys- tem, das auf dem Prinzip von „hire und fire“ beruht, hat prinzipiell ein anderes – ökonomisches – Interesse an beruflichen und fachlichen Standards wie eine Ökono- mie, die auf die Stabilität des Beschäftigungssystems und auf langjährig beschäftigte Stammbelegschaften setzt. Zurzeit erleben wir widersprüchliche Prozesse. Einer- seits bemüht sich die Wirtschaft um Fachkräfte, anderer- seits nehmen die Zahl der angebotenen Ausbildungs- plätze und auch die Zahl der Ausbildungsbetriebe stetig ab. Die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse hat ein hohes Niveau erreicht.
Die Segmentierungen der Arbeitsmärkte, die Dere- gulierung und die Prekarisierung der Beschäftigungs- verhältnisse sind unbestritten global, aber auch inner- halb des europäischen Wirtschaftsraums und in Deutschland auf dem Vormarsch und dies quer zu allen Qualifikationsebenen. Stammbelegschaften arbeiten ne- ben LeiharbeiterInnen und WerkvertragsnehmerInnen in denselben Prozessen in einer Werkshalle oder einem Büro. Marktförmige Prozesse in den Unternehmen und der Zwang zur Selbstvermarktung für die Beschäftigten in den Unternehmen oder für die als „Freelancer“ agie- renden Erwerbstätigen nehmen zu. Ganze Beschäftig- tengruppen sind als Contract- oder Crowd-Worker oder als Erwerbstätige der Sharing Economy weitgehend von geregelter und abgesicherter Erwerbsarbeit ausgeschlos- sen; sie müssen auf Mitbestimmungsrechte verzichten und haben oft nur minimalen sozialen Schutz.
Unsere These lautet: Eine Wirtschaft, die auf prekäre und fragmentierte Beschäftigungsverhältnisse baut, verliert auf Dauer nicht nur ihre durch Berufsbildung geschaffene Qualifikationsbasis, sondern im gleichen Zug auch das In- teresse an geordneter und strukturierter Berufsbildung. Ar- beits‑, Arbeitsmarkt- und Qualifikationspolitik werden komplementär: der Zerfaserung von Beschäftigung folgt die Zerfaserung von Qualifikation. Beispiele für diese Ent- wicklungen sind die Debatten um die Verkürzung von Lernzeiten, die Aufsplitterung von Lernprozessen in klein- teilige Lerneinheiten, die Reduktion von Bildung auf „An- passungsqualifizierung“, die ungleichen Weiterbildungs- chancen in den Betrieben, der „unterwertige“ Einsatz von Arbeitskräften nach Ausbildung und Studium u.a.m.
Kaßebaum · „Erweiterte moderne Beruflichkeit“ 2 0 1
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Im Rahmen des Leitbilds der IG Metall stehen drei Aspekte im Vordergrund. Erstens werden Wege vorge- schlagen, um Beruflichkeit zu sichern und zu stärken. Berufsbildung wird dabei als Teil der indirekt wirkenden Regulierung von Beschäftigung verstanden. Zweitens wirkt Beruflichkeit auf die Inhalte von Arbeit, weil sie nicht nur Folge, sondern auch Voraussetzung von lern- förderlicher Arbeit ist. Drittens muss sich Berufsbildung mit den diesen Beschäftigungsverhältnissen innewoh- nenden Tendenzen der Selbstvermarktung auseinander- setzen. Berufsbiografische Kompetenzen werden wichti- ger, um Beschäftigte zu befähigen, angesichts erzwunge- ner oder freiwilliger Wechsel der Beschäftigungsverhält- nisse Möglichkeiten der Mitgestaltung von Arbeits- und Lernwegen zu geben.
3. Qualifizierung für Beschäftigungsfähigkeit
Auf der einen Seite erhält die duale Ausbildung inner- halb Europas, in den USA und anderen Teilen der Welt aufgrund ihrer spezifischen Kombination von Theorie und Praxis und der daraus resultierenden Zusammenar- beit unterschiedlicher Lernorte ein großes Augenmerk. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass innerhalb der OECD und innerhalb der europäischen Institutionen ein „angelsächsischer“ Bildungstyp um sich greift, der zum Prototypen der Herausbildung des europäischen Bil- dungsraums wurde und der sich u.a. durch die Domi- nanz vollzeitschulischer und hochschulischer Lernpro- zesse, durch die Modularisierung, durch Standardisie- rung, Lernergebnis- und Kompetenzorientierung ausdrückt.8
Obwohl die europäische Bildungspolitik auch Impul- se für mehr Chancengleichheit, für mehr Mobilität und für die Vergleichbarkeit der Abschlüsse im europäischen Kontext gibt, bleibt festzuhalten, dass die Ursprünge die- ser Prozesse im Kontext einer Politik stehen, mit der die europäischen Institutionen die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums steigern wollen, in der berufliche Qualifizierung in Ausbildung und Studi- um sich auf die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit („employability“) fokussiert und am Ende nur auf kurz- fristige Arbeitsmarktanforderungen beziehen soll. Das sich hier ausdrückende Konzept der Beschäftigungsfä- higkeit steht im Widerspruch zu einem Konzept der auf Beruflichkeit basierenden Beschäftigungsfähigkeit. Das „angelsächsische“ Konzept beruht auf der Risikoüber- antwortung auf den einzelnen Beschäftigten und „ent- spricht der Deregulierung der europäischen Arbeits- märkte“ (wiss. Beraterkreis 2014, S. 14). Dahinter ver- birgt sich ein Konzept zur Ökonomisierung von Bil-
8 Vgl. Kuda/Kaßebaum 2012.
dung. Beruflichkeit leugnet die Schnittstelle zu Ökonomie und Beschäftigungssystem nicht. Das duale Ausbildungssystem mit den zwei Lernorten Betrieb und Berufsschule basiert auf einem im wirtschaftlichen Kon- text vertraglich abgeschlossenem Ausbildungsverhält- nis. Aber so wie das Ausbildungsverhältnis an Mindest- standards gebunden ist, geht das Bildungskonzept weit über die unmittelbare Verwertung beruflicher Qualifika- tionen hinaus. Beruflichkeit orientiert sich an Erwerbs- biografien und an umfassender beruflicher Handlungsfähigkeit.
Im Rahmen des Leitbildes stehen folgende Aspekte im Vordergrund: Berufliches Lernen ist Bildung. Beruf- lichkeit zielt auf die Entwicklung von Persönlichkeit. Das Konzept der Beruflichkeit basiert auf „geordneten“ be- ruflichen Lernwegen. Es versteht sich als Angebot der Gestaltung von beruflichen Aus‑, Fort- und Weiterbil- dungsprozessen in transnationalen Unternehmen und gibt Impulse für die europäische Bildungsdebatte, weil seine Qualitätskriterien auch auf andere Berufsbildungs- systeme übertragbar sind. Beruflichkeit ist Teil einer nachhaltigen Innovations- und Beschäftigungsstrategie.
4. Digitalisierung der Arbeit
Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist in vollem Gange und beileibe kein neues Phänomen. Neu ist die durch das sog. „Internet der Dinge“ und seine Umsetzung in Forschungs- und Entwicklungsprojekten erwartete Qua- lität der flexiblen Automatisierung und die damit ver- bundene Neugestaltung der Schnittstelle von Mensch und Maschine. Wie andere Rationalisierungs- und Inno- vationsprozesse auch, ist der Weg in die weitere Digitali- sierung der Arbeitswelt nicht nur ein technischer, son- dern auch ein sozialer Prozess. Die digitale Arbeitswelt wird maßgeblich von technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen bestimmt. Demzufolge wird die Debatte auch sehr stark in Form möglicher Sze- narien geführt.9
Zusammenfassend folgen die entworfenen Szenarien mehrheitlich zwei Denkmustern: „eine Richtung, die auf Nach- und Weiterqualifizierung von Facharbeitern setzt, damit sie als Partner auch bei veränderten technologi- schen und arbeitsorganisatorischen Strukturen agieren können; eine andere Diskussionsrichtung versucht, der selbstständigen Steuerung durch Maschinen vorrangige Priorität einzuräumen, um auf das Know-how der Fach- arbeiter verzichten zu können.“ (Ahrens/Spöttl, 2015, S. 190). Während also der eine Weg eher in die Polarisie- rung von Qualifikationsanforderungen und der Hierar- chisierung der Arbeitsorganisation zwischen Werkstatt
9 Vgl. Hirsch-Kreinsen 2015; Kaßebaum u.a. 2015.
und Prozessüberwachung mündet, zielt der andere auf kooperative Arbeitsformen, flache Hierarchien und eine enge Zusammenarbeit von FacharbeiterInnen und Inge- nieurInnen.10 Verlierer werden unbestritten die gering Qualifizierten sein und ältere Beschäftigte, Gruppen, welche ohne Qualifizierungsangebote wenig Chancen haben werden.
Bildung und Qualifizierung kommt in der Debatte eine Schlüsselrolle zu. Soweit besteht Einigkeit unter WissenschaftlerInnen und Praktikern. Die Diskussion über die Inhalte von Berufen sowohl im betrieblich-dua- len Kontext wie im Studium haben erst begonnen. Die Spannweite ist hierbei groß: Während der von der Deut- schen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) eingesetzte Expertenkreis zu dem Schluss kommt, das das „klassische Konzept des Berufs (.…) auf den Prüf- stand gestellt werden (muss)“ (acatech 2013, S. 97) fragen sich andere, wie Facharbeit in den bestehenden berufli- chen Strukturen erhalten und weiter entwickelt werden kann. Notwendig erscheint dabei ein „neuer Profilzu- schnitt künftiger Berufe“ (Zinke/Schenk, 2014) und die Weiterentwicklung vorhandener Berufsbilder, die im Zuge der Technisierungs- und Automatisierungsprozes- se der vergangenen Jahre bereits zu einer systematischen Verankerung von Prozesskompetenz in den Ausbil- dungsordnungen geführt haben (vgl. Ahrens/Spöttl 2015).
Die verschiedenen Stellungnahmen der Institute se- hen die zunehmend wichtigere IT-Kompetenz in Ferti- gung, Montage und Instandhaltung, in Produktionssteu- erung und Prozessüberwachung. Prozesskompetenz wird wichtiger ebenso wie interdisziplinäres Denken und Problemlösefähigkeit. Systemische Kompetenzen sowohl im Umgang mit Computeranwendungen wie in Bezug auf komplexe Arbeitsabläufe nehmen zu. Zu- gleich bedarf es auch in Zukunft hoher Produktions- kompetenz, das Fachwissen über Bearbeitungsmetho- den und die Erfahrungen mit realen Produktionsabläu- fen. Tendenziell – so Ittermann/Niehaus – „wachsen qualifizierte Wissensarbeit und traditionelle Produktions- arbeitimmerweiterzusammen.“(Ittermann/Niehaus2015). Daraus folgt neben Anderem, dass eine rein wissensba- sierte Ausbildung nicht taugt. Der spezifische Mix von Wissens- und Erfahrungsorientierung wird auch in Zu- kunft berufliches Lernen bestimmen müssen.11
Auch im Bereich der Ingenieurausbildung und Inge- nieurbeschäftigung führt die Entwicklung von cyber- physischen Systemen zu einer stärkeren Integration von verschiedenen ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen. Aufgabenstellungen der Automationstechnik, Prozess- und Unternehmenssteuerung müssen ganzheitlich ge-
10 Vgl. Hirsch-Kreinsen 2014.
löst werden. Dafür müssen auch Wissensbestände aus Anlagen- und Maschinenbau, Elektro- und Automatisie- rungstechnik und Informatik zusammengeführt wer- den. Auch, wenn nicht zwangsläufig neue Studiengänge entstehen werden, so müssen doch „Maschinenbauer in Informatik und Informatiker in Maschinenbau“ (vgl. VDI-Nachrichten vom 24.10.2014) qualifiziert wer- den. Überdies haben IngenieurInnen und Informatike- rInnen im Prozess der Digitalisierung eine Schlüsselrol- le. Ihr Berufsstand stellt zugleich Entwickler und An- wender. Ob sie sich an kooperativen oder hierarchischen Arbeitsformen orientieren, hängt von auch ihrem Be- rufsbild und ihrer Ausbildung ab.
Im Rahmen des Leitbildes „erweiterte moderne Be- ruflichkeit“ stehen hierbei folgende Aspekte zur Diskus- sion. Erstens wird die Konzeption der Beruflichkeit mit den ihr innewohnenden Qualitätsdimensionen für un- abdingbar für die Weiterentwicklung von Qualifikati- onsangeboten erachtet. Betrieblich-duale Berufe bein- halten schon heute eine Reihe der für die digitalisierte Arbeitswelt für notwendigen befundenen Kompetenzen. Studienprogramme sind entlang dieser Qualitätsmaß- stäbe beruflichen Lernens weiter zu entwickeln. Zwei- tens ist die Beruflichkeit von Bildung die Voraussetzung einer an der Beruflichkeit von Arbeit orientierten, ko- operativen Arbeitsorganisation.
II. Erweiterte moderne Beruflichkeit
Ein „Meilenstein“ auf dem Weg zu einem zeitgemäßen Berufsverständnis war die Entwicklung des „Konzepts der modernen Beruflichkeit“ in den achtziger und neun- ziger Jahren. Dieses Verständnis von Beruflichkeit ging angesichts der Anforderungen an mehr Flexibilität und der Gestaltungskompetenzen der Beschäftigten davon aus, spezialisierte Einzelberufe zu bündeln und neue Berufe auf der Basis einer breiten fachlichen Qualifikati- on zu schaffen. In den Mittelpunkt des beruflichen Lern- prozesses rückte die Arbeits- und Geschäftsprozessori- entierung. Selbstständigkeit im beruflichen Lernen wächst durch die Ausrichtung der Lernprozesse an umfassenden beruflichen und reflexiven Handlungs- kompetenzen. Dieses Verständnis von Beruflichkeit floss in eine Reihe neuer Metall- und Elektroberufe ein.
Die „erweiterte moderne Beruflichkeit“ baut auf die- sem Verständnis auf. Es respektiert einerseits die Beson- derheiten von dualer Ausbildung und Studium, aber an- dererseits fußt es auf dem Gedanken, dass die Entwick- lung einer umfassenden und reflexiven beruflichen Handlungskompetenz sowohl in der Ausbildung wie im
11 Vgl. Pfeiffer/Suphan 2015.
Kaßebaum · „Erweiterte moderne Beruflichkeit“ 2 0 3
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Studium sinnvoll und notwendig ist. Dabei baut es bezo- gen auf das Studium auf einer langjährigen, auch von den Gewerkschaften getragenen Diskussion über die Verbesserung der Qualität von Studium und Lehre auf.12 Das Leitbild stellt damit gemeinsame Prinzipien für die Gestaltung der Lernprozesse in der betrieblich-dualen und in der hochschulischen Berufsbildung zur Diskussi- on. Damit wird ein weiterer Grundstein für eine über- greifende und an einheitlichen Maßstäben ausgerichtete Berufsbildungspolitik gelegt.
Beruflichkeit hat drei Dimensionen. Es geht erstens um definierte Qualitätsansprüche an berufliches Lernen in Ausbildung und Studium und zweitens um Ansprü- che an die Gestaltung von Arbeit, drittens um die Betei- ligung der Sozialparteien bei der curricularen Entwick- lung von Berufsbildern und Studiengängen entlang die- ser Qualitätsansprüche. „Erweiterte moderne Beruflich- keit“ ist Bildungskonzept wie es als Politikkonzept auch Vorschläge für die Berufsbildungspolitik, für Arbeits‑, Betriebs- und Gesellschaftspolitik macht. In diesem Bei- trag sollen diese Schlussfolgerungen im Kern auf die Frage zugespitzt werden, was berufliches Lernen im Stu- dium bedeuten und wie es umgesetzt werden kann.
III. Beruflichkeit als Bildungskonzept
Beruflichkeit zielt auf eine breite fachliche Qualifizie- rung und den Erwerb einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz. Für Beschäftigte ergibt sich dar- aus eine größere Sicherheit bei der Wahl ihres Arbeits- platzes, für ihre Erwerbsbiografie und ihr Einkommen. Beruflichkeit in dem von der IG Metall beschriebenen Sinn ist Teil eines emanzipatorischen Bildungsverständ- nisses, das die Menschen befähigt, soziale, technisch- organisatorische und ökonomische Zusammenhänge zu erkennen sowie individuelle und kollektive Interessen zu vertreten. Beruflichkeit in diesem Verständnis ist damit auch Teil eines Gegenkonzepts gegen die zunehmende Ökonomisierung von Bildung.
Das dem Leitbild innewohnende Verständnis von be- ruflichem Lernen wird in 15 Dimensionen beschrieben (Erläuterungen siehe IG Metall 2014):
Berufliches Lernen
- erfordert eine breite fachliche Qualifikation
- vermittelt Wissen, Handlungsfähigkeit undermöglicht praktische Erfahrung
- orientiert sich an Arbeits- und Geschäftsprozessen
- geschieht durch die Bewältigung von(berufstypischen) Aufgaben
12 Vgl. stellvertretend Gutachternetzwerk 2009.
• ist entdeckendes und forschendes Lernen
• ist Bildung
• ist soziales Lernen
• zielt auf die Reflexion und die Gestaltung von
Arbeit
• umfasst die Reflexion und die Gestaltung von
Lern- und Berufswegen
• bereitet auf die Berufsrolle vor • fördert und entwickelt Identität • verknüpft Erfahrungs- und
Wissenschaftsorientierung
• zielt auf ein anderes Theorie-Praxis-verhältnis • hat unterschiedliche Lernort
• schließt niemanden aus.
Vier Aspekte sollen herausgegriffen werden13:
1. Das Verhältnis von Erfahrungs- und Wissenschaftsorientierung
Insbesondere durch die Digitalisierung ist das Verhältnis von Erfahrungs- und Wissenschaftsorientierung im beruflichen Handeln neu zu bestimmen. Die These, dass auch in den künftigen Arbeitsstrukturen „Qualitäten eines dynamischen Erfahrungswissens eine besonders große Rolle“ (Pfeiffer/Suphan 2015, S. 212) spielen wer- den, wird unterstützt. Andererseits werden Anteile eines wissenschaftsorientierten Arbeitshandelns zunehmen. Dieses Verhältnis von Erfahrungs- und Wissenschafts- orientierung gilt im Prinzip, aber in unterschiedlichen Ausprägungen, für Ausbildung und Studium.
Angesichts der beschriebenen Akademisierungspro- zesse muss das Studium junge Menschen auf außerhoch- schulische Arbeitsmärkte vorbereiten und sie befähigen, berufliche Anforderungen zu erkennen und eigene Er- werbsbiografien mitzugestalten. Wissenschaftliche und berufliche Kompetenzen sind aufeinander abzustim- men. Zur Wissenschaftlichkeit gehören ein kritisch-re- flexives Verständnis von Wissenschaften, dh. die Aneig- nung und der kritische Umgang mit Wissensbeständen, Systematiken und Methoden. Aber ebenso gilt, dass ein rein kognitiver oder wissensbasierter Zugang nicht reicht. Eigene (berufsbezogene) Erfahrungen an unter- schiedlichen Lernorten sind wichtig, um berufliche Handlungskompetenzen und eine eigene berufliche Identität herauszubilden. Duale Studiengänge sind dafür ein Beispiel ebenso wie an beruflichem Handeln orien- tierte Praxisphasen im Studium.
In Richtung Ausbildung ist festzustellen, dass eine in der Dualität von (praxisorientierter) Theorie und (re- flektierter) Praxis beruhende berufliche Ausbildung den
13 Vgl. Kaßebaum u.a. 2015.
Anteil wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Bewälti- gung beruflicher Aufgaben erhöhen muss, um den kom- petenten Umgang mit vernetzten Systemen und komple- xen Arbeitsabläufen zu erlernen. Wissenschaftsorientie- rung heißt hier, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Lösung berufstypischer Aufgaben einzubeziehen und auch, berufliche Erfahrungen für Fragen an die Wissen- schaft zu nutzen.
2. Die Bedeutung von arbeits- und geschäftsprozessorientiertem Lernen
Berufliches Lernen umfasst fachliches und soziales Wis- sen, den Erwerb von Handlungsfähigkeit und die im Lernprozess ermöglichten praktischen Erfahrungen. Es muss daher prozess- und problemorientiert sein. Es zielt auf Selbstständigkeit. Methodisch orientiert es sich an den Konzepten des „entdeckenden“ und des „forschen- den“ Lernens“. Es geschieht am besten in der Bewälti- gung von berufstypischen Aufgaben und orientiert sich an realen und für den Beruf zentralen Arbeits- und Geschäftsprozessen. Horizontal sind vor- und nachgela- gerte Bereiche ebenso einzubeziehen wie die systemi- schen Prozesse einer – digitalisierten – Produktionssteu- erung und der flexiblen Automatisierung. Auch vertikal, dh. z.B. im Verhältnis von Werkstatt und Produktions- steuerung, zielt Beruflichkeit auf kooperatives Arbeits- handeln. Die für die digitale Arbeitswelt typischen Arbeitsaufgaben an den Schnittstellen von Mechanik, Elektrotechnik und Informatik sind sowohl für die Aus- bildungsberufe wie für die Studiengänge noch zu identi- fizieren. Ausbildungsordnungen und Studienprogram- me sind entsprechend weiter zu entwickeln. Für das Stu- dium ist der Bezug auf berufstypische Aufgaben zum Teil noch Neuland.
3. Berufliches Lernen zielt auf die Reflexion und Gestaltung von Arbeit und Bildung
Im realen Prozess des Arbeitens finden auf unterschied- lichen Ebenen arbeitspolitische Aushandlungsprozesse statt. Beschäftigte sind Teil dieser Prozesse. Daher muss die Entwicklung ihrer Gestaltungskompetenz in ver- schiedenen Dimensionen Inhalt der beruflichen Lern- prozesse sein. Im Kontext neuer Arbeits- und Beschäfti- gungsformen mit den Risiken und Möglichkeiten erzwungener und freiwilliger Arbeitswechsel bekommt die Fähigkeit, Lern- und Berufswege und damit auch die biografische Entwicklung mitzugestalten, deutlich mehr Gewicht. Bildungsbiografische und arbeitspolitische Interessen müssen erkannt und Wege der Umsetzung identifiziert werden. Berufliches Lernen zielt darauf, sich mit den eigenen und den sozialen Bedürfnissen und
Interessen auseinander zu setzen, individuelle und kol- lektive Rechte kennen zu lernen, sich mit KollegInnen über Alternativen in Bezug auf Arbeitsorganisation, Technikeinsatz und Produktion zu verständigen und sich im Rahmen der betrieblichen und gewerkschaftli- chen Interessenvertretung für sie einzusetzen.
4. Berufliches Lernen ist Bildung
Die Diskussion über mögliche und sinnvolle Arbeits- und Beschäftigungsformen auch und gerade in der digi- talisierten Arbeitswelt, die Debatte über mögliche Frei- heitsgrade in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und auch bildungspolitische Entwicklungen wie die Anerkennung informal und informell erworbener Kom- petenzen werden überlagert von weitreichenden Prozes- sen der Ökonomisierung von Bildung, Arbeit und Gesellschaft. Berufliche Qualifikation wird vielfach auf Anpassqualifizierung reduziert und ihr Erwerb wird Teil der „Selbstvermarktung“ der Beschäftigten in der neoli- beralen Ökonomie.
Um diese Widersprüche zu reflektieren, soziale Inte- ressen zu erkennen und um Handlungsoptionen für die Einzelnen und die Belegschaften sichtbar werden zu las- sen, bedarf es der Fähigkeiten zur Reflexion beruflicher, gesellschaftlicher und ökonomischer Erfahrungen. Be- rufliches Lernen zielt daher immer auch auf Persönlich- keitsentwicklung. Berufliches Lernen ist soziales Lernen, es fördert und entwickelt berufliche und soziale Identi- tät. Notwendig sind „ganzheitliche“ Bildungsprozesse, welche die Reflexion der Erfahrungen ermöglichen. Erst in der Reflexion dieser Erfahrungen in den Spannungs- feldern und Widersprüchen zwischen subjektiven Be- dürfnissen und sozialen Interessen, zwischen Ökonomie und Ökologie und zwischen Kapital und Arbeit formen sich Interessen und soziale Identität heraus.
Beruflichkeit steht für ein flexibles, an den Anforde- rungen des Arbeitsmarktes sowie an den Ansprüchen ei- ner subjektbezogenen Berufsbildung ausgerichtetes emanzipatorisches Bildungskonzept. Es ist die Alternati- ve zu Qualifizierungskonzepten, deren Reichweite durch das marktkonforme Konzept der Employability begrenzt wird.
IV. Rückschlüsse für Hochschule, Studium und wis- senschaftliche Weiterbildung
Mit dem Leitbild „erweiterte moderne Beruflichkeit“ möchte die IG Metall einer Bildungspolitik zusätzliche Kraft geben, welche dazu beiträgt, „die Chancen der Individuen zu erweitern und zu verbessern“, „die Quali- tät der Arbeit zu sichern und zu befördern“ und „den sozialen Zusammenhalt zu sichern und den gesellschaft-
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lichen Fortschritt zu unterstützen“ (alle Zitate IG Metall 2014, S. 32 ff.). Beruflichkeit dient damit auch als Vorlage für politisches Handeln.
Auf diesen allgemeinen Zielen aufbauend werden eine Reihe von Vorschlägen für die Bildungs- und Be- rufsbildungspolitik, für Arbeits‑, Arbeitsmarkt- und Be- schäftigungspolitik, für Betriebs- und Tarifpolitik und zuletzt für die Gesellschaftspolitik der IG Metall ge- macht. Diese Vorschläge wurden in einer Reihe von Bei- trägen konkretisiert und differenziert.14 Im Folgenden sollen die Schlussfolgerungen der Erweiterung des Kon- zepts der Beruflichkeit auf Studium und wissenschaftli- che Weiterbildung und damit der zweifelsohne schwieri- gen und auch im Leitbild der IG Metall bisher nur be- gonnenen, aber nicht beendeten Debatte um das Ver- hältnis von Wissenschaftlichkeit und Beruflichkeit nachgegangen werden.
In der deutschen Bildungsgeschichte geht die Tren- nung von allgemeiner und beruflicher Bildung in ihren pädagogischen Dimensionen auf den Einfluss des Neu- humanismus insbesondere auf die preußischen Schul- und Hochschulreformen zurück. Herwig Blankertz schreibt dazu15:
Die Neuhumanisten verhielten sich gegenüber den alten Universitäten zwar genauso kritisch wie Merkanti- listen und Philantropen, aber ihre Therapie war (…) die entgegengesetzte, nämlich nicht Wendung zum unmit- telbaren Verwertungsinteresse an Wissenschaft, son- dern gerade umgekehrt Bindung an das Ideal reiner Er- kenntnis, Bindung an Wahrheit und Wert um ihrer selbst willen.“ (Blankertz 1982, S. 130).
Dass dahinter verborgene, trotz aller Brechungen bis heute in weiten Bereichen der Wissenschaften akzeptier- te Selbstverständnis ist, dass ein wissenschaftliches Stu- dium – indirekt – auf den Arbeitsmarkt vorbereitet, weil es den AbsolventInnen wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden zur Verfügung stellt, die diesen den Transfer in den beruflichen Alltag ermöglicht. Dieses Verständnis soll für sich genommen nicht infrage gestellt werden. Aber spätestens in der Phase der Bildungsex- pansion, mit der Entwicklung der Hochschulen für an- gewandte Wissenschaften, der Berufsakademien und der Dualen Hochschule in Baden-Württemberg und der Orientierung der überwiegenden Zahl der Studierenden
- 14 Vgl. Urban 2015a und b, auch: Kuda/Strauß 2013.
- 15 Das Gegenkonzept wird in einem ebenfalls bei Blankertz gefun- denen und von ihm eingeführten Zitat Pestalozzis sichtbar: „DerMensch müsse Mensch sein, ehe er Kannengießer werden könne, während er in Wahrheit muss Kannengießer werden, weil eben seine Menschheit unabhängig von seiner Kannengießerarbeit
auf die außerhochschulische Arbeitsmärkte stellt sich die Frage, ob dieser Ansatz reicht oder er nicht durch eine Systematik der Praxis- und Berufsorientierung ergänzt werden muss.
Das Konzept der Beruflichkeit kann dabei auf die lange Liste und breite Diskussion der spätestens mit dem Beginn der Studienreformprojekte in den siebziger Jah- ren einsetzenden Initiativen zur Praxisorientierung von Studium und der Diskussion über das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Wissenschaft anknüpfen. Der Praxisbezug wird dabei immer als „reflektierte“ Praxis verstanden. Das Studium benötigt „einen kritisch-re- flektierten Praxisbezug (…), der fachliche und methodi- sche Qualifikation in den Kontext gesellschaftlicher Pro- zesse stellt und auf die Entwicklung umfassender Hand- lungskompetenzen ausgerichtet ist.“ (DGB 2012, S. 14).
Der sog. Bologna-Prozess hat den Bezug des Studi- ums auf den Arbeitsmarkt verstärkt. Die ländergemein- samen Strukturvorgaben fordern die Hochschulen auf, den Bachelor als „ersten berufsqualifizierenden“ Ab- schluss, den Master als „weiteren berufsqualifizierenden“ Abschluss zu konzipieren.16 In diesem Zusammenhang hat nicht nur in einzelnen Fachkulturen, sondern auch auf der Ebene der Hochschulrektorenkonferenz eine in- tensive Diskussion begonnen. „Akademischer Bildungs- anspruch und Arbeitsmarktrelevanz des Studiums schließen sich nicht aus“, wird dabei in einer Handrei- chung des HRK-Nexus Projektes festgestellt (HRK Ne- xus 2014, S. 3). In der Broschüre wie in der HRK selbst bezieht sich man sich in der Argumentation auf den Be- griff der „Employability“, der im Unterschied zum Be- rufsbegriff (!) – so die Argumentation – dem Arbeits- marktbezug von Studium ausreichend Flexibilität gebe, um das Studium von einem unmittelbaren und engen Bezug auf Tätigkeitsanforderungen zu schützen.
Folgende Feststellungen in dieser Diskussion sind bemerkenswert. Erstens wird die Notwendigkeit einer breiten Ausbildung betont. Es sei „nicht Aufgabe der Hochschulen, auf ein spezielles Berufsbild vorzuberei- ten, sondern diese müssen die Absolventinnen und Ab- solventen wissenschaftlich vielseitig für die wechselnden Anforderungen der Arbeitswelt breit qualifizieren.“(ebd.) Zweitens kann der für notwendig erachtete Arbeits- marktbezug nicht ohne Reflexions- und Aushandlungs- prozesse stattfinden, an denen nicht nur Akteure inner- halb, sondern auch außerhalb der Hochschulen zu betei-
ihn zum Unmenschen in der Gesellschaft machen würde.“ (nach
Blankertz 1982, S. 136).
16 Vgl. KMK, Ländergemeinsame Strukturvorgaben für die Akkre-
ditierung von Bachelor und Masterstudiengängen (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 10.10.2003 i.d.F. vom 4.2.2010).
ligen sind. Und drittens wird konstatiert, dass die Debat- te über die „Beschäftigungsrelevanz eines Studiums nach Fächern differenziert erfolgen (muss).“ (ebd.) Eine ähn- liche Argumentation ist auch beim Akkreditierungsrat festzustellen. Eine auf Initiative der Studierenden, der Gewerkschafts- und der Arbeitgebervertreter im Akkre- ditierungsrat eingerichtete Arbeitsgruppe kommt auf der Basis einer Differenzierung zwischen den Fächern zu dem Ergebnis, dass zu klären ist, „auf welche Weise die Verantwortlichen (Hochschule/Fakultät) die Anforde- rungen an Fachlichkeit und Beruflichkeit im Studien- gang sicherstellen wollen. Das Ergebnis dieser Vergewis- serung ist im Verfahren zu dokumentieren und seine Umsetzung bei der Reakkreditierung zu überprüfen.“ Und darauf aufbauend: „Lernzielorientierte Referenz- systeme sollten im Akkreditierungsverfahren genutzt werden können, wenn die zuständigen Fachbereiche oder Fakultäten an den Hochschulen dies verlangen.“ (Akkreditierungsrat 2015; S. 2) Der Akkreditierungsrat hat diese Vorschläge angenommen und in den soeben angelaufenen Prozess zur Überarbeitung der Akkreditie- rungsverfahren überführt.
Berufe entstehen nach einem Aushandlungsprozess im gesellschaftlichen Konsens. Das Berufsverständnis zielt nicht mehr auf Spezialberufe, sondern auf ein brei- tes berufliches und fachliches Fundament, das einen fle- xiblen Arbeitseinsatz innerhalb eines weiten Berufsfel- des ermöglicht und die Beschäftigten vor den Unwäg- barkeiten gegenwärtiger Arbeitsmärkte schützt und sie befähigt Lern- und Erwerbsbiografien mitzugestalten. Während die Zahl der Berufe (ohne Fortbildungsberufe und ohne vollschulische Berufe) auf der Basis der Be- rufsbildungsgesetzes und der Handwerksordnung in den letzten 40 Jahren quasi halbiert und auf ca. 350 redu- ziert wurde, sind Studierenden und Lehrende auf der Ba- sis eines zunehmend ausdifferenzierten Hochschulsys- tems gegenwärtig mit ca. 16.000 Bachelor- und Master- studiengängen konfrontiert. Diese werden als singulare Studiengänge konzipiert und akkreditiert. Obwohl Fach- gesellschaften, Berufsverbände, Fakultäten- und Fachbe- reichstage in einer Reihe von Fächern bemüht sind, ge- meinsame Standards und gemeinsame berufliche und fach- liche Kerne zu identifizieren, bleibt ein Bild der Unüber- sichtlichkeit.LernzielorientierteReferenzsysteme,anderen Erarbeitung neben den Studierenden auch die Sozialpart- ner zu beteiligen sind, könnten hier eine mögliche Form der Zusammenführung und Verdichtung bewerkstelligen. Die Aushandlungs- und Konsenskultur des dualen Berufs- bildungssystems könnte hier Vorbild sein.
Einen eigenen Diskurs zum Thema Praxis- und Be- rufsorientierung gibt es in den für die IG Metall nicht unwichtigen Ingenieurwissenschaften. Praxisorientie-
rung leitet sich hier aus der Bestimmung von Kompe- tenzbegriffen und Lernergebnissen ab. Die aktuelle Dis- kussion wird maßgeblich um das von den europäischen Ingenieurverbänden ausgehende internationale Fachsie- gel „Eur-Ace“ herum geführt. Dieses Siegel verlangt die Beschreibung der Studienprogramme und Lernergeb- nisse in Bezug auf folgende Kriterien: „Knowledge and Understanding; Engineering Analysis; Engineering De- sign; Investigations; Engineering Practice; Making Jud- gements; Communication and Team-working; Lifelong Learning“ (http://www.enaee.eu/eur-ace-system/eur- ace-framework-standards ). Ob und inwieweit der in diesen und anderen Kontexten entwickelte Kompetenz- begriff an das Konzept der beruflichen Handlungskom- petenz heranreicht, kann an dieser Stelle nicht nachver- folgt werden, dass er jedoch auf einem umfassenden Verständnis von Handlungsfähigkeit beruht, ist unbestritten.
Das dazu notwendige Verhältnis von Theorie und Praxis stellt sich im besten Fall in der Integration und nicht in der Addition von Methoden dar, dh. nicht das Auslagern des Erwerbs von „Schlüsselqualifikationen“ in eigenständige Einrichtungen oder das Verdrängen der Praxis in das Praxissemester, sondern ein „Wechselspiel von praktischem Handeln und theoriegeleitetem Wis- sen“ (IG Metall 2014a, S. 28) macht die neue Qualität aus. Dieses Wechselspiel von Theorie und Praxis kann auf unterschiedlichen Wegen geschehen: dazu gehören pra- xisorientierte Aufgabenstellungen, Studien- und Projek- tarbeiten, Lerngruppen, Exkursionen, Betriebserkun- dungen, Planspiele, Praktika und Praxisphasen. Alle Praxisanteile – so eine Handlungshilfe der Gewerkschaf- ten für die Akkreditierung und Studienganggestaltung von Ingenieurstudiengängen, „erfordern die explizite Formulierung von Kompetenzzielen oder ‑anforderun- gen im Hinblick auf das Erreichen beruflicher Hand- lungskompetenz.“ (Gewerkschaftliches. Gutachternetz- werk 2009, S. 34). Berufliches und wissenschaftliches Lernen können im Studium spannungsreich aufeinan- der bezogen sein, sie müssen nicht zwangsläufig einen Widerspruch bilden. Ihr Verhältnis wird sich auch spezi- fisch in den jeweiligen Fächerkulturen ausbilden. Aktuell wurde eine Lernmatrix als Methode der Integration bei- der Lernprinzipien vorgeschlagen (Elsholz 2015). Ein weiterer Ansatz ist die Lernfabrik, die praktisch fachli- che und berufliche Aufgabenstellungen simuliert (vgl. Prinz u.a. 2014). Das Konzept der Beruflichkeit zielt – wie genannt – auf ein Wechselspiel von (praxisbezoge- ner) Theorie und (theoriegeleiteter) Praxis. Es schlägt den Bezug der Lehre auf berufliche Aufgabenstellungen vor und bietet dafür die Methode der Arbeits- und Ge- schäftsprozessorientierung an. Berufliches Lernen geht
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in diesem Konzept von den Bedürfnissen und Interessen der Lernenden aus und bietet dafür methodisch das „entdeckende“ und/oder „forschende Lernen“ an. Es schlägt die Kooperation unterschiedlicher Lernorte an. Diese Methoden sind vor dem Hintergrund weitreichen- der Studienreforminitiativen in vielen Fachkulturen an- schlussfähig an einen Diskurs guter Lehre.
Ein größeres Thema bleibt die Bestimmung des Ver- hältnisses von Erfahrungs- und Wissenschaftsorientie- rung. In allgemeiner Weise ist die Formulierung im Leit- bild unstrittig, dass „ein bloß kognitiver und/oder wis- sensbasierter Zugang (…) nicht aus(reicht), um berufli- che Handlungskompetenzen zu entwickeln.“ (IG Metall 2014a, S. 26) Ob es als gleiches, gleichwohl die Differen- zen beider Bildungstypen akzeptierendes, Prinzip für die betrieblich-duale Ausbildung wie für das Studium gelten kann, wird von WissenschaftlerInnen, die beratend an der Entstehung des Leitbildes beteiligt waren, kontrovers diskutiert. Rita Meyer wirft die Frage der Hierarchisie- rung beruflicher Abschlüsse auf.17 Georg Spöttl weist da- rauf hin, dass die „wissenschaftliche Ausbildung an Hochschulen (…) völlig anderen Handlungslogiken (folgt) als eine betrieblich-duale Ausbildung. In Hoch- schulen dominiert abstrakt-systematisches, wissen- schaftliches Fachwissen, das mit wissenschaftlichen Me- thoden zu erschließen ist.“ (Spöttl 2014, ohne Seitenan- gabe). Entscheidend seien nicht die Methoden, sondern das Erkenntnisinteresse und die Unterschiedlichkeit der beruflichen Aufgaben. Jürgen Strauß – in derselben Ver- öffentlichung – leugnet die Unterschiede wie weiterhin notwendige Klärungen nicht. Für ihn steht auch nicht die Beschreibung des Status Quo im Vordergrund, son- dern ein Prozess des voneinander Lernens. „Das Leitbild kann eine Orientierung für die Reform hochschulischer und betrieblich-dualer beruflicher Bildung sein“ (Strauß 2014, ohne Seitenangabe).
IV. Ausblick
Das Konzept der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ ist ein Kompass für die Berufsbildungs- und Hochschul- politik der IG Metall, weil sich aus ihm im Interesse der Auszubildenden, der Studierenden und der Beschäftig- ten eine Reihe von bildungs- und arbeitspolitischen Vor- schlägen ableiten lassen. Daraus resultieren kleine und große Projekte. Sie knüpfen zum großen Teil auch an die bildungspolitischen Forderungen der IG Metall an. Ziele
17 Vgl. Meyer, Rita 2013.
wie mehr Durchlässigkeit zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung, der Ruf nach mehr Gleichwertig- keit, das Erstreiten von mehr Chancengleichheit – all diese Forderungen müssen nicht neu geschrieben wer- den. Aber sie erhalten durch ein gemeinsames Leitbild für die betrieblich-duale und die hochschulische Berufs- bildung zusätzliche Anregungen und Begründungszu- sammenhänge.
Die neue und durchaus noch zu untermauernde Qualität resultiert aus einem nach gleichen Prinzipen entwickelten Bildungskonzept von Beruflichkeit. Aus ihm lassen sich Anforderungen an die Weiterentwick- lung betrieblich-dualer und hochschulischer Bildung ebenso ableiten wie Ansprüche eines neuen Verhältnis- ses der beiden Bereiche zueinander. Wie weit dieser Im- puls reicht, wird noch zu erkunden sein. Ob er dazu füh- ren wird, Bildung aus der Umklammerung der Ökono- misierung zu befreien, ob er Beruflichkeit von Bildung und Arbeit angesichts zunehmender Prekarisierung eine Perspektive gibt, ob er ein Beitrag zur Verbesserung der Qualität von Studium und Lehre sein wird, gar einen Beitrag dazu leisten wird, das Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung neu zu bestimmen, ob er zu ei- nem stärkeren Miteinander der beiden Bildungssysteme führen wird und eine aufeinander abgestimmte Politik von Berufsbildungs- und Hochschulsystem, von Bil- dungs- und Beschäftigungssystem und von Bund und Ländern befördert, das steht heute noch dahin. Der wis- senschaftliche Beraterkreis schließt sein jüngstes Gut- achten hoffnungsvoll:
„Perspektiven eines neuen wissenschaftsbasierten Berufsbildungssystems zu entwickeln, heißt weder die herkömmliche Hochschulbildung noch die bestehende Berufsausbildung fortzuschreiben. Die Zielperspektive legt vielmehr nahe, Elemente beider Lernwege auf der Grundlage wissenschaftlich begründeten Erfahrungs- wissens in ‚erweiterter Beruflichkeit‘ zu kombinieren.“ (Beraterkreis 2014, S. 62)
Bernd Kaßebaum ist Gewerkschaftssekretär beim Vor- stand der IG Metall im Ressort Bildungs- und Qualifi- zierungspolitik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Hoch- schulpolitik, Schule und Arbeitswelt sowie Berufsbil- dungsforschung.
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