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1 Vgl. zur Begriffs­be­stim­mung sie­he: Glos­sar, in IG Metall 2014a.

Bernd Kaßebaum

„Erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit“
- ein Kom­pass für Berufs­bil­dungs- und Hochschulpolitik

In all­ge­meins­ter Form sind Beru­fe kom­ple­xe Bün­de­lun- gen von Arbeits­fä­hig­kei­ten, die Erwerbs­tä­ti­ge in die Lage ver­set­zen, anspruchs­vol­le Auf­ga­ben in spe­zi­fi­schen Arbeits­be­rei­chen selbst­stän­dig zu bewäl­ti­gen. Beru­fe set­zen einen gesell­schaft­li­chen Kon­sens vor­aus. Sie sind durch Geset­ze, Berufs­bil­der oder Stu­di­en­pro­gram­me gere­gelt. Sie wer­den auf beson­de­ren, beruf­li­chen Arbeits- märk­ten ange­bo­ten und nach­ge­fragt. Sie basie­ren auf der gesell­schaft­li­chen Arbeits­tei­lung und sind ver­än­der­bar. Heu­te unter­schei­det man für die Bun­des­re­pu­blik Aus- und Fort­bil­dungs­be­ru­fe nach dem Berufs­bil­dungs­ge- setz, voll­zeit­schu­li­sche Beru­fe nach den Lan­des­ge­set­zen oder pro­fes­sio­nel­le bzw. aka­de­mi­sche Beru­fe im Bereich der Hoch­schu­len. Für die Beschäf­tig­ten sind Beru­fe eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für die Siche­rung von Beschäf­ti­gung und Einkommen.

Mit „Beruf­lich­keit“ meint man über­grei­fen­de Prin­zi- pien und Qua­li­täts­maß­stä­be für Beru­fe, Berufs­bil­dung und Arbeit. Beruf­lich­keit von Bil­dung zielt auf Qua­li- täts­maß­stä­be beruf­li­chen Ler­nens und die zur Siche­rung die­ser Qua­li­tät not­wen­di­gen gesell­schaft­li­chen und poli- tischen Rege­lun­gen und Ver­fah­ren. Beruf­lich­keit von Arbeit bezeich­net Qua­li­täts­maß­stä­be für die lern­för­der- liche Gestal­tung von Arbeit und zielt auf qua­li­fi­zier­te, berufs­be­zo­ge­ne Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se. Wie die Be- rufe selbst unter­liegt auch das Ver­ständ­nis von Beruf- lich­keit einem ste­ti­gen, von sozia­len Inter­es­sen und tech­nisch-orga­ni­sa­to­ri­schen Pro­zes­sen bestimm­ten, Wan­del. In der jün­ge­ren Geschich­te lässt sich z.B. die Ent­wick­lung der „moder­nen“ aus der „tra­di­tio­nel­len“ Beruf­lich­keit ableiten.1

Die IG Metall hat mit ihrem Dis­kus­si­ons­pa­pier „Er- wei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit. Ein gemein­sa­mes Leit- bild für die betrieb­lich-dua­le und die hoch­schu­li­sche Be- rufs­bil­dung“ Über­le­gun­gen zur not­wen­di­gen und sinn- vol­len Wei­ter­ent­wick­lung von Beruf­lich­keit ange­stellt und ver­bin­det sie mit weit­rei­chen­den Vor­schlä­gen für die Ver­bes­se­rung der Qua­li­tät von Bil­dungs- und Ar- beits­pro­zes­sen. Im Kern erwei­tert die IG Metall ihr Ver- ständ­nis von Beruf­lich­keit in einem zwei­fa­chen Sinn: sie „erwei­tert“ ihr Ver­ständ­nis von Beruf­lich­keit in Rich- tung Stu­di­um und Leh­re und stellt gemein­sa­me, aus der

2 Vgl. stell­ver­tre­tend: Blan­kertz 1992, Frie­de­burg 1989. Ord­nung der Wis­sen­schaft 2015, ISSN 2197–9197

Berufs­bil­dung gewon­ne­ne Prin­zi­pi­en für die Gestal­tung beruf­li­cher Lern­pro­zes­se in der betrieb­lich-dua­len und der hoch­schu­li­schen Berufs­bil­dung zur Dis­kus­si­on. Vor dem Hin­ter­grund zen­tra­ler gesell­schafts- und arbeits­po- liti­scher Her­aus­for­de­run­gen gibt das Leit­bild eben­so der Wei­ter­ent­wick­lung von Beruf­lich­keit bereichs­über­grei- fend wich­ti­ge Impulse.

Poli­tisch legt die IG Metall damit einen wich­ti­gen Grund­stein für eine über­grei­fen­de und an ein­heit­li­chen Maß­stä­ben aus­ge­rich­te­te Berufs­bil­dungs­po­li­tik. In Zu- kunft soll nicht mehr danach gefragt wer­den, was all­ge- mei­ne und beruf­li­che Bil­dung trennt, son­dern wie eine stär­ke­re Inte­gra­ti­on bei­der Berei­che von­stat­ten­ge­hen kann.

In die­sem Bei­trag sol­len fol­gen­de Fra­gen beant­wor­tet werden:

Was waren die Aus­lö­ser für die­sen Dis­kurs und wie wer­den die Her­aus­for­de­run­gen benannt? Was sind die Kern­aus­sa­gen des Leit­bilds? Was ist das „Neue“ in Bezug auf das Ver­ständ­nis von Beruf­lich­keit? Wel­che bildungs‑, arbeits- und gesell­schafts­po­li­ti­schen Schluss­fol­ge­run­gen las­sen sich in Bezug auf die genann­ten Her­aus­for­de­run- gen zie­hen? Wel­che Schlüs­se sind in Rich­tung Hoch- schu­le, Stu­di­um und wis­sen­schaft­li­che Wei­ter­bil­dung zu zie­hen? Was sind die wei­te­ren Perspektiven?

I. Zen­tra­le berufs­bil­dungs­po­li­ti­sche Herausforderungen

Bil­dungs- und Erwerbs­chan­cen sind abhän­gig von der sozia­len Her­kunft. Das Rin­gen um Bil­dung auch für die sozi­al benach­tei­lig­ten Grup­pen und die Dis­kus­si­on um das Ver­hält­nis von Aus­bil­dung und Stu­di­um oder grund- sätz­lich zwi­schen all­ge­mei­ner und beruf­li­cher Bil­dung durch­zieht die Geschich­te der deut­schen Gewerk­schaf- ten von Anbe­ginn. Es ist eine Aus­ein­an­der­set­zung um die Ver­tei­lung von Bil­dungs- und Erwerbs­chan­cen, gegen ein aus­gren­zen­des und geglie­der­tes Schul- und Bil­dungs­sys­tem, gegen die star­re Tren­nung zwi­schen all- gemei­ner und beruf­li­cher Bil­dung und für mehr Chan- cen­gleich­heit, Durch­läs­sig­keit und für die Gleich­wer­tig- keit von all­ge­mei­ner und beruf­li­cher Bildung.2

200 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2015), 199–210

Ein Ergeb­nis der nur in Tei­len erfolg­rei­chen Bil- dungs­re­form der sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­re des letz- ten Jahr­hun­derts war im Kern die sog. Bil­dungs­expan­si- on. Eine Rei­he von Maß­nah­men wie die Ein­füh­rung der Schü­ler- und Stu­di­en­aus­bil­dungs­för­de­rung „haben im Durch­schnitt die Bil­dungs­ni­veaus aller Schich­ten ver- bes­sert, ohne gleich­zei­tig gra­vie­ren­de her­kunfts­be­ding­te Ungleich­hei­ten besei­tigt“ (Kut­scha 2016, S. 5) zu haben. Dar­an haben die auch die schul­po­li­ti­schen Struk­tu­rent- schei­dun­gen der Bun­des­län­der in den letz­ten Jah­ren we- nig geän­dert (vgl. Klemm 2014). Der Erwerb der Hoch- schul­zu­gangs­be­rech­ti­gung und die Mög­lich­keit, ein Stu- dium auf­zu­neh­men, sind nach wie vor stark von der so- zia­len Her­kunft abhän­gig. Die Sozi­al­erhe­bung des Deut­schen Stu­den­ten­werks lie­fert dazu regel­mä­ßig die Daten. Von 100 Aka­de­mi­ker-Kin­dern stu­die­ren 77. Von 100 Kin­dern aus Fami­li­en ohne aka­de­mi­schen Hin­ter- grund schaf­fen hin­ge­gen nur 23 den Sprung an die Hoch- schu­le (vgl. Mid­den­dorf 2012). Und um ans ande­re Ende zu gehen: Nach wie vor ver­las­sen knapp 6 Pro­zent der Schü­le­rin­nen und Schü­ler das Schul­sys­tem ohne Ab- schluss. Der Anteil von Jugend­li­chen ohne Berufs­aus­bil- dung zwi­schen 20 und 29 Jah­ren beträgt noch immer 13,1 Pro­zent (Berufs­bil­dungs­be­richt 2015).

Der demo­gra­fi­sche Wan­del, der von vie­len gesell- schaft­li­chen Akteu­ren kon­sta­tier­te Fach­kräf­te­man­gel und der schein­bar unauf­halt­sa­me Anstieg der Stu­di­en- anfän­ger­zah­len haben in den letz­ten Jah­ren zu einer brei­ten Debat­te über die Not­wen­dig­keit einer neu­en Jus- tie­rung von beruf­li­cher und hoch­schu­li­scher Bil­dung ge- führt. So for­dert der Wis­sen­schafts­rat auf der Basis des Erfol­ges dua­ler Stu­di­en­gän­ge bei Stu­die­ren­den und Be- trie­ben zusätz­li­che „hybri­de“, dh. an der Schnitt­stel­le von Berufs­bil­dung und Hoch­schu­le ange­sie­del­ter Stu­di- enmo­del­le und eine weit über die gegen­wär­ti­gen Rege- lun­gen des Drit­ten Bil­dungs­we­ges hin­aus­rei­chen­de Öff- nung der Hoch­schu­len für berufs­er­fah­re­ne Stu­die­ren­de ohne for­ma­le Hochschulzugangsberechtigung.3 Unter der Über­schrift: „Wir brau­chen alle!“ set­zen sich die Ar- beit­ge­ber für weit­rei­chen­de Refor­men und eine stär­ke­re Ver­zah­nung von Berufs­bil­dung und hoch­schu­li­scher Bil­dung ein.4 Ein von den Arbeit­ge­bern, der Hoch­schul- rek­to­ren­kon­fe­renz und dem Stif­ter­ver­band der deut- schen Wis­sen­schaf­ten ein­ge­setz­ter Exper­ten­kreis „Durch­läs­sig­keit“ schlägt eine Rei­he von Maß­nah­men zur Ver­bes­se­rung der gegen­sei­ti­gen Durch­läs­sig­keit zwi- schen Berufs­bil­dung und Hoch­schu­len vor.5

  1. 3  Vgl. Wis­sen­schafts­rat 2014.
  2. 4  BDA/BDI 2014.
  3. 5  Vgl. BDA/HRK/Stifterverband 2015.

Auch die Gewerk­schaf­ten haben sich mit einer Rei­he von Stel­lung­nah­men geäußert.6

Das Leit­bild der IG Metall ist in die­sen Kon­text ein- zuord­nen. Die Arbeit nahm ihren Aus­gang in der Aus­ei- nan­der­set­zung mit drei zen­tra­len Ent­wick­lungs­li­ni­en von Arbeit und Bil­dung. Dies sind a. die sog. Aka­de­mi- sie­rungs­de­bat­te, b. die unter den Schlag­wor­ten der De- regu­lie­rung, Pre­ka­ri­sie­rung und Sub­jek­ti­vie­rung zu fas- sen­den Pro­zes­se der Ver­än­de­rung von Arbeit sowie c. das Vor­drin­gen eines Bil­dungs­ty­pus, der im Leit­bild als angel­säch­sisch gepräg­ter Bil­dungs­typ bezeich­net wird. Hin­zu­ge­kom­men ist d. in den letz­ten Mona­ten die Fra­ge, was die zuneh­men­de Digi­ta­li­sie­rung der Arbeit für Bil- dungs­in­hal­te, ‑struk­tu­ren und Pro­zes­se bedeutet.

In allen die­sen Berei­chen las­sen sich Risi­ken der „Ent­be­ruf­li­chung“, aber auch neue Chan­cen und Pers- pek­ti­ven für Beruf­lich­keit iden­ti­fi­zie­ren. In die­ser Ambi- valenz sol­len die genann­ten Fel­der in ihrer Bedeu­tung für das neue Ver­ständ­nis von Beruf­lich­keit dis­ku­tiert werden.

1. Aka­de­mi­sie­rung

Die Aka­de­mi­sie­rungs­de­bat­te ist viel­schich­tig und wird bis heu­te mit vie­len Emo­tio­nen geführt. In der Regel meint man, wenn man von Aka­de­mi­sie­rung spricht, den wach­sen­den Anteil von Stu­die­ren­den im Bil­dungs­sys- tem und von Hoch­schul­ab­sol­ven­tIn­nen im Beschäf­ti- gungs­sys­tem. Die Zunah­me von Hoch­schul­ab­sol­ven­tIn- nen im Betrieb kann Aus­druck einer stär­ke­ren Ver­wis- sen­schaft­li­chung der Pro­duk­ti­on sein. Sie kann eben­so gut Teil eines Sub­sti­tu­ti­ons­pro­zes­ses sein, der dadurch bestimmt ist, dass dua­le Aus­bil­dung und Fort­bil­dung ent­wer­tet und betrieb­lich-dua­le Aus­bil­dungs­ka­pa­zi­tä­ten zuguns­ten von dual Stu­die­ren­den redu­ziert wer­den und Arbeits­plät­ze, die bis dato den Absol­ven­tIn­nen dua­ler Aus­bil­dungs­gän­gen vor­be­hal­ten waren, für Hoch­schul- absol­ven­tIn­nen geöff­net werden.

Die­se Pro­zes­se – soll­ten sie sich bewahr­hei­ten – wer- den nicht nur zu Las­ten von betrieb­lich-dual aus­ge­bil­de- ten Beschäf­tig­ten und gering Qua­li­fi­zier­ten gehen, son- dern mög­li­cher­wei­se auch Fol­gen für die Hoch­schul­ab- sol­ven­tIn­nen, deren Ein­kom­mens- und Beschäf­ti­gungs- situa­ti­on heu­te noch rela­tiv gut ist, selbst haben, da das Risi­ko unter­wer­ti­gen Arbeits­ein­sat­zes und damit auch Risi­ken des Ein­kom­mens­ver­lus­tes mit der Anzahl der Hoch­schul­ab­sol­ven­tIn­nen zuneh­men kann.7

6 Vgl. neben vie­len ande­ren: Hoff­mann 2015, Urban 2015b, IG Metall 2014b.

7 Vgl. Dre­xel 2012.

Die Debat­te bewegt sich zwi­schen zwei Polen. Nida- Rüme­lin als einer der Prot­ago­nis­ten weist auf ein Miss- ver­hält­nis von beruf­li­cher und aka­de­mi­scher Bil­dung hin: „Wenn die­se (gemeint ist die Stu­di­en­an­fän­ger­quo­te) sich wie­der von der­zeit über 50% auf ca. ein Drit­tel pro Jahr­gang wie noch im Jahr 2000 redu­zie­ren wür­de, täte dies sowohl der aka­de­mi­schen als auch der beruf­li­chen Bil­dung gut und trü­ge zur Sta­bi­li­sie­rung des aka­de­mi- schen und des nicht­aka­de­mi­schen Arbeits­mark­tes glei- cher­ma­ßen bei.“ (Nida-Rüme­lin, 2014, S. 128). Fol­ge­rich- tig setzt er sich nicht nur für die Beschrän­kung der uni- ver­si­tä­ren Bil­dung, son­dern auch für die Stär­kung der beruf­li­chen Bil­dung ein. In der Debat­te wur­de dar­aus die For­de­rung nach einer „Hoch­schu­le der Weni­gen“ und nach dem Wie­der­lan­gen einer für ver­lo­ren gehal­te­nen Exklu­si­vi­tät der Universität.

Die ande­re Posi­ti­on wird bei­spiel­haft von Mar­tin Ba- etghe und Mar­kus Wieck bestimmt. Sie spre­chen für das Jahr 2013 von dem „Wen­de­punkt in der deut­schen Bil- dungs­ge­schich­te“, weil die Neu­zu­gän­ge in der dua­len Aus­bil­dung mit 497.427 erst­mals unter der Zahl der Stu- dien­an­fän­ger (510.672) lagen. „Der Wan­del zu einem neu­en, stark wis­sens­ba­sier­ten Aus­bil­dungs­sys­tem er- scheint unum­kehr­bar. In ihm wer­den die Insti­tu­tio­nen und Gover­nan­ce-For­men der dua­len Aus­bil­dung allen- falls eine nach­ge­ord­ne­te Bedeu­tung haben“ (Baethge/ Wieck, 2015, S. 5). Aller­dings: Ein wei­te­res Drit­tel von ca. 500.000 Per­so­nen befin­det sich im Schul­be­rufs­sys­tem und im sog. Übergangssystem.

Nach Auf­fas­sung der IG Metall wird es kein „ent­we- der – oder“ geben. Wäh­rend einer­seits die Nach­fra­ge nach Abitur und Stu­di­um unge­bro­chen scheint, was Gün­ter Kut­scha mit den „Para­do­xien der Bil­dungs­re- form“ (Kut­scha 2015, S. 2) erklärt, die u.a. die zen­tra­le Rol­le des Abiturs als Berech­ti­gung zum Stu­di­um nicht infra­ge gestellt haben, deu­ten ande­rer­seits Pro­gno­sen über den zukünf­ti­gen Arbeits­kräf­te­be­darf dar­auf hin, dass die­ser unbe­strit­ten zu Las­ten gering Qua­li­fi­zier­ter gehen wird, aber Fach­kräf­te – wie oft kol­por­tiert – trotz gerin­ger Zuwäch­se nicht im Aka­de­mi­ker­bereich, son- dern vor allem in der mitt­le­ren Qua­li­fi­ka­ti­ons­ebe­ne be- nötigt wer­den (vgl. Zika 2012; Bosch 2015).

Im Rah­men des Leit­bilds der IG Metall ste­hen drei Aspek­te die­ser Debat­te im Vor­der­grund: Ers­tens wird danach gefragt, wie betrieb­lich-dua­le Aus- und Fort­bil- dung gestärkt, die sozia­le und beruf­li­che Durch­läs­sig­keit erhöht und Gleich­wer­tig­keit zwi­schen beruf­li­cher und all­ge­mei­ner Bil­dung her­ge­stellt wer­den kann. Zwei­tens wird ange­sichts der unbe­strit­te­nen, wenn­gleich zu rela­ti- vie­ren­den Fest­stel­lung, dass der Anteil von Hoch­schul- absol­ven­tIn­nen im Beschäf­ti­gungs­sys­tem wei­ter­hin zu- neh­men wird, gefragt, wie Stu­die­ren­de bes­ser als heute

auf das Erwerbs­le­ben vor­be­rei­tet wer­den kön­nen und drit­tens wird vor dem Hin­ter­grund der not­wen­di­gen stär­ke­ren Inte­gra­ti­on von Berufs­bil­dung und Hoch­schu- le gefragt, wie denn die erfor­der­li­chen und zusätz­li­chen Brü­cken zu bau­en sind und aus wel­chem Mate­ri­al sie sein könnten.

2. Dere­gu­lie­rung, Pre­ka­ri­sie­rung und Subjektivierung

Es besteht ein enger Zusam­men­hang zwi­schen Arbeits- kraft- und Qua­li­fi­ka­ti­ons­ty­pus. Ein Beschäf­ti­gungs­sys- tem, das auf dem Prin­zip von „hire und fire“ beruht, hat prin­zi­pi­ell ein ande­res – öko­no­mi­sches – Inter­es­se an beruf­li­chen und fach­li­chen Stan­dards wie eine Öko­no- mie, die auf die Sta­bi­li­tät des Beschäf­ti­gungs­sys­tems und auf lang­jäh­rig beschäf­tig­te Stamm­be­leg­schaf­ten setzt. Zur­zeit erle­ben wir wider­sprüch­li­che Pro­zes­se. Einer- seits bemüht sich die Wirt­schaft um Fach­kräf­te, ande­rer- seits neh­men die Zahl der ange­bo­te­nen Aus­bil­dungs- plät­ze und auch die Zahl der Aus­bil­dungs­be­trie­be ste­tig ab. Die Zahl pre­kä­rer Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se hat ein hohes Niveau erreicht.

Die Seg­men­tie­run­gen der Arbeits­märk­te, die Dere- gulie­rung und die Pre­ka­ri­sie­rung der Beschäf­ti­gungs- ver­hält­nis­se sind unbe­strit­ten glo­bal, aber auch inner- halb des euro­päi­schen Wirt­schafts­raums und in Deutsch­land auf dem Vor­marsch und dies quer zu allen Qua­li­fi­ka­ti­ons­ebe­nen. Stamm­be­leg­schaf­ten arbei­ten ne- ben Leih­ar­bei­te­rIn­nen und Werk­ver­trags­neh­me­rIn­nen in den­sel­ben Pro­zes­sen in einer Werks­hal­le oder einem Büro. Markt­för­mi­ge Pro­zes­se in den Unter­neh­men und der Zwang zur Selbst­ver­mark­tung für die Beschäf­tig­ten in den Unter­neh­men oder für die als „Free­lan­cer“ agie- ren­den Erwerbs­tä­ti­gen neh­men zu. Gan­ze Beschäf­tig- ten­grup­pen sind als Con­tract- oder Crowd-Worker oder als Erwerbs­tä­ti­ge der Sha­ring Eco­no­my weit­ge­hend von gere­gel­ter und abge­si­cher­ter Erwerbs­ar­beit aus­ge­schlos- sen; sie müs­sen auf Mit­be­stim­mungs­rech­te ver­zich­ten und haben oft nur mini­ma­len sozia­len Schutz.

Unse­re The­se lau­tet: Eine Wirt­schaft, die auf pre­kä­re und frag­men­tier­te Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se baut, ver­liert auf Dau­er nicht nur ihre durch Berufs­bil­dung geschaf­fe­ne Qua­li­fi­ka­ti­ons­ba­sis, son­dern im glei­chen Zug auch das In- ter­es­se an geord­ne­ter und struk­tu­rier­ter Berufs­bil­dung. Ar- beits‑, Arbeits­markt- und Qua­li­fi­ka­ti­ons­po­li­tik wer­den kom­ple­men­tär: der Zer­fa­se­rung von Beschäf­ti­gung folgt die Zer­fa­se­rung von Qua­li­fi­ka­ti­on. Bei­spie­le für die­se Ent- wick­lun­gen sind die Debat­ten um die Ver­kür­zung von Lern­zei­ten, die Auf­split­te­rung von Lern­pro­zes­sen in klein- teil­i­ge Lern­ein­hei­ten, die Reduk­ti­on von Bil­dung auf „An- pas­sungs­qua­li­fi­zie­rung“, die unglei­chen Wei­ter­bil­dungs- chan­cen in den Betrie­ben, der „unter­wer­ti­ge“ Ein­satz von Arbeits­kräf­ten nach Aus­bil­dung und Stu­di­um u.a.m.

Kaßebaum · „Erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit“ 2 0 1

202 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2015), 199–210

Im Rah­men des Leit­bilds der IG Metall ste­hen drei Aspek­te im Vor­der­grund. Ers­tens wer­den Wege vor­ge- schla­gen, um Beruf­lich­keit zu sichern und zu stär­ken. Berufs­bil­dung wird dabei als Teil der indi­rekt wir­ken­den Regu­lie­rung von Beschäf­ti­gung ver­stan­den. Zwei­tens wirkt Beruf­lich­keit auf die Inhal­te von Arbeit, weil sie nicht nur Fol­ge, son­dern auch Vor­aus­set­zung von lern- för­der­li­cher Arbeit ist. Drit­tens muss sich Berufs­bil­dung mit den die­sen Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen inne­woh- nen­den Ten­den­zen der Selbst­ver­mark­tung aus­ein­an­der- set­zen. Berufs­bio­gra­fi­sche Kom­pe­ten­zen wer­den wich­ti- ger, um Beschäf­tig­te zu befä­hi­gen, ange­sichts erzwun­ge- ner oder frei­wil­li­ger Wech­sel der Beschäf­ti­gungs­ver­hält- nis­se Mög­lich­kei­ten der Mit­ge­stal­tung von Arbeits- und Lern­we­gen zu geben.

3. Qua­li­fi­zie­rung für Beschäftigungsfähigkeit

Auf der einen Sei­te erhält die dua­le Aus­bil­dung inner- halb Euro­pas, in den USA und ande­ren Tei­len der Welt auf­grund ihrer spe­zi­fi­schen Kom­bi­na­ti­on von Theo­rie und Pra­xis und der dar­aus resul­tie­ren­den Zusam­men­ar- beit unter­schied­li­cher Lern­or­te ein gro­ßes Augen­merk. Ande­rer­seits ist nicht zu über­se­hen, dass inner­halb der OECD und inner­halb der euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen ein „angel­säch­si­scher“ Bil­dungs­typ um sich greift, der zum Pro­to­ty­pen der Her­aus­bil­dung des euro­päi­schen Bil- dungs­raums wur­de und der sich u.a. durch die Domi- nanz voll­zeit­schu­li­scher und hoch­schu­li­scher Lern­pro- zes­se, durch die Modu­la­ri­sie­rung, durch Stan­dar­di­sie- rung, Lern­ergeb­nis- und Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung ausdrückt.8

Obwohl die euro­päi­sche Bil­dungs­po­li­tik auch Impul- se für mehr Chan­cen­gleich­heit, für mehr Mobi­li­tät und für die Ver­gleich­bar­keit der Abschlüs­se im euro­päi­schen Kon­text gibt, bleibt fest­zu­hal­ten, dass die Ursprün­ge die- ser Pro­zes­se im Kon­text einer Poli­tik ste­hen, mit der die euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen die Wett­be­werbs­fä­hig­keit des euro­päi­schen Wirt­schafts­raums stei­gern wol­len, in der beruf­li­che Qua­li­fi­zie­rung in Aus­bil­dung und Stu­di- um sich auf die Stei­ge­rung der Beschäf­ti­gungs­fä­hig­keit („employa­bi­li­ty“) fokus­siert und am Ende nur auf kurz- fris­ti­ge Arbeits­markt­an­for­de­run­gen bezie­hen soll. Das sich hier aus­drü­cken­de Kon­zept der Beschäf­ti­gungs­fä- hig­keit steht im Wider­spruch zu einem Kon­zept der auf Beruf­lich­keit basie­ren­den Beschäf­ti­gungs­fä­hig­keit. Das „angel­säch­si­sche“ Kon­zept beruht auf der Risi­ko­über- ant­wor­tung auf den ein­zel­nen Beschäf­tig­ten und „ent- spricht der Dere­gu­lie­rung der euro­päi­schen Arbeits- märk­te“ (wiss. Bera­ter­kreis 2014, S. 14). Dahin­ter ver- birgt sich ein Kon­zept zur Öko­no­mi­sie­rung von Bil-

8 Vgl. Kuda/Kaßebaum 2012.

dung. Beruf­lich­keit leug­net die Schnitt­stel­le zu Öko­no­mie und Beschäf­ti­gungs­sys­tem nicht. Das dua­le Aus­bil­dungs­sys­tem mit den zwei Lern­or­ten Betrieb und Berufs­schu­le basiert auf einem im wirt­schaft­li­chen Kon- text ver­trag­lich abge­schlos­se­nem Aus­bil­dungs­ver­hält- nis. Aber so wie das Aus­bil­dungs­ver­hält­nis an Min­dest- stan­dards gebun­den ist, geht das Bil­dungs­kon­zept weit über die unmit­tel­ba­re Ver­wer­tung beruf­li­cher Qua­li­fi­ka- tio­nen hin­aus. Beruf­lich­keit ori­en­tiert sich an Erwerbs- bio­gra­fien und an umfas­sen­der beruf­li­cher Handlungsfähigkeit.

Im Rah­men des Leit­bil­des ste­hen fol­gen­de Aspek­te im Vor­der­grund: Beruf­li­ches Ler­nen ist Bil­dung. Beruf- lich­keit zielt auf die Ent­wick­lung von Per­sön­lich­keit. Das Kon­zept der Beruf­lich­keit basiert auf „geord­ne­ten“ be- ruf­li­chen Lern­we­gen. Es ver­steht sich als Ange­bot der Gestal­tung von beruf­li­chen Aus‑, Fort- und Wei­ter­bil- dungs­pro­zes­sen in trans­na­tio­na­len Unter­neh­men und gibt Impul­se für die euro­päi­sche Bil­dungs­de­bat­te, weil sei­ne Qua­li­täts­kri­te­ri­en auch auf ande­re Berufs­bil­dungs- sys­te­me über­trag­bar sind. Beruf­lich­keit ist Teil einer nach­hal­ti­gen Inno­va­tions- und Beschäftigungsstrategie.

4. Digi­ta­li­sie­rung der Arbeit

Die Digi­ta­li­sie­rung der Arbeits­welt ist in vol­lem Gan­ge und bei­lei­be kein neu­es Phä­no­men. Neu ist die durch das sog. „Inter­net der Din­ge“ und sei­ne Umset­zung in For­schungs- und Ent­wick­lungs­pro­jek­ten erwar­te­te Qua- lität der fle­xi­blen Auto­ma­ti­sie­rung und die damit ver- bun­de­ne Neu­ge­stal­tung der Schnitt­stel­le von Mensch und Maschi­ne. Wie ande­re Ratio­na­li­sie­rungs- und Inno- vati­ons­pro­zes­se auch, ist der Weg in die wei­te­re Digi­ta­li- sie­rung der Arbeits­welt nicht nur ein tech­ni­scher, son- dern auch ein sozia­ler Pro­zess. Die digi­ta­le Arbeits­welt wird maß­geb­lich von tech­no­lo­gi­schen, öko­no­mi­schen und gesell­schaft­li­chen Inter­es­sen bestimmt. Dem­zu­fol­ge wird die Debat­te auch sehr stark in Form mög­li­cher Sze- nari­en geführt.9

Zusam­men­fas­send fol­gen die ent­wor­fe­nen Sze­na­ri­en mehr­heit­lich zwei Denk­mus­tern: „eine Rich­tung, die auf Nach- und Wei­ter­qua­li­fi­zie­rung von Fach­ar­bei­tern setzt, damit sie als Part­ner auch bei ver­än­der­ten tech­no­lo­gi- schen und arbeits­or­ga­ni­sa­to­ri­schen Struk­tu­ren agie­ren kön­nen; eine ande­re Dis­kus­si­ons­rich­tung ver­sucht, der selbst­stän­di­gen Steue­rung durch Maschi­nen vor­ran­gi­ge Prio­ri­tät ein­zu­räu­men, um auf das Know-how der Fach- arbei­ter ver­zich­ten zu kön­nen.“ (Ahrens/Spöttl, 2015, S. 190). Wäh­rend also der eine Weg eher in die Pola­ri­sie- rung von Qua­li­fi­ka­ti­ons­an­for­de­run­gen und der Hierar- chi­sie­rung der Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on zwi­schen Werkstatt

9 Vgl. Hirsch-Krein­sen 2015; Kaßebaum u.a. 2015.

und Pro­zess­über­wa­chung mün­det, zielt der ande­re auf koope­ra­ti­ve Arbeits­for­men, fla­che Hier­ar­chien und eine enge Zusam­men­ar­beit von Fach­ar­bei­te­rIn­nen und Inge- nieurInnen.10 Ver­lie­rer wer­den unbe­strit­ten die gering Qua­li­fi­zier­ten sein und älte­re Beschäf­tig­te, Grup­pen, wel­che ohne Qua­li­fi­zie­rungs­an­ge­bo­te wenig Chan­cen haben werden.

Bil­dung und Qua­li­fi­zie­rung kommt in der Debat­te eine Schlüs­sel­rol­le zu. Soweit besteht Einig­keit unter Wis­sen­schaft­le­rIn­nen und Prak­ti­kern. Die Dis­kus­si­on über die Inhal­te von Beru­fen sowohl im betrieb­lich-dua- len Kon­text wie im Stu­di­um haben erst begon­nen. Die Spann­wei­te ist hier­bei groß: Wäh­rend der von der Deut- schen Aka­de­mie für Tech­nik­wis­sen­schaf­ten (aca­tech) ein­ge­setz­te Exper­ten­kreis zu dem Schluss kommt, das das „klas­si­sche Kon­zept des Berufs (.…) auf den Prüf- stand gestellt wer­den (muss)“ (aca­tech 2013, S. 97) fra­gen sich ande­re, wie Fach­ar­beit in den bestehen­den beruf­li- chen Struk­tu­ren erhal­ten und wei­ter ent­wi­ckelt wer­den kann. Not­wen­dig erscheint dabei ein „neu­er Pro­fil­zu- schnitt künf­ti­ger Beru­fe“ (Zinke/Schenk, 2014) und die Wei­ter­ent­wick­lung vor­han­de­ner Berufs­bil­der, die im Zuge der Tech­ni­sie­rungs- und Auto­ma­ti­sie­rungs­pro­zes- se der ver­gan­ge­nen Jah­re bereits zu einer sys­te­ma­ti­schen Ver­an­ke­rung von Pro­zess­kom­pe­tenz in den Aus­bil- dungs­ord­nun­gen geführt haben (vgl. Ahrens/Spöttl 2015).

Die ver­schie­de­nen Stel­lung­nah­men der Insti­tu­te se- hen die zuneh­mend wich­ti­ge­re IT-Kom­pe­tenz in Fer­ti- gung, Mon­ta­ge und Instand­hal­tung, in Pro­duk­ti­ons­steu- erung und Pro­zess­über­wa­chung. Pro­zess­kom­pe­tenz wird wich­ti­ger eben­so wie inter­dis­zi­pli­nä­res Den­ken und Pro­blem­lö­se­fä­hig­keit. Sys­te­mi­sche Kom­pe­ten­zen sowohl im Umgang mit Com­pu­ter­an­wen­dun­gen wie in Bezug auf kom­ple­xe Arbeits­ab­läu­fe neh­men zu. Zu- gleich bedarf es auch in Zukunft hoher Pro­duk­ti­ons- kom­pe­tenz, das Fach­wis­sen über Bear­bei­tungs­me­tho- den und die Erfah­run­gen mit rea­len Pro­duk­ti­ons­ab­läu- fen. Ten­den­zi­ell – so Ittermann/Niehaus – „wach­sen qua­li­fi­zier­te Wis­sens­ar­beit und tra­di­tio­nel­le Pro­duk­ti­ons- arbeit­im­merwei­ter­zu­sam­men.“(Ittermann/Niehaus2015). Dar­aus folgt neben Ande­rem, dass eine rein wis­sens­ba- sier­te Aus­bil­dung nicht taugt. Der spe­zi­fi­sche Mix von Wis­sens- und Erfah­rungs­ori­en­tie­rung wird auch in Zu- kunft beruf­li­ches Ler­nen bestim­men müssen.11

Auch im Bereich der Inge­nieur­aus­bil­dung und Inge- nieur­be­schäf­ti­gung führt die Ent­wick­lung von cyber- phy­si­schen Sys­te­men zu einer stär­ke­ren Inte­gra­ti­on von ver­schie­de­nen inge­nieur­wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nen. Auf­ga­ben­stel­lun­gen der Auto­ma­ti­ons­tech­nik, Pro­zess- und Unter­neh­mens­steue­rung müs­sen ganz­heit­lich ge-

10 Vgl. Hirsch-Krein­sen 2014.

löst wer­den. Dafür müs­sen auch Wis­sens­be­stän­de aus Anla­gen- und Maschi­nen­bau, Elek­tro- und Auto­ma­ti­sie- rungs­tech­nik und Infor­ma­tik zusam­men­ge­führt wer- den. Auch, wenn nicht zwangs­läu­fig neue Stu­di­en­gän­ge ent­ste­hen wer­den, so müs­sen doch „Maschi­nen­bau­er in Infor­ma­tik und Infor­ma­ti­ker in Maschi­nen­bau“ (vgl. VDI-Nach­rich­ten vom 24.10.2014) qua­li­fi­ziert wer- den. Über­dies haben Inge­nieu­rIn­nen und Infor­ma­ti­ke- rIn­nen im Pro­zess der Digi­ta­li­sie­rung eine Schlüs­sel­rol- le. Ihr Berufs­stand stellt zugleich Ent­wick­ler und An- wen­der. Ob sie sich an koope­ra­ti­ven oder hier­ar­chi­schen Arbeits­for­men ori­en­tie­ren, hängt von auch ihrem Be- rufs­bild und ihrer Aus­bil­dung ab.

Im Rah­men des Leit­bil­des „erwei­ter­te moder­ne Be- ruf­lich­keit“ ste­hen hier­bei fol­gen­de Aspek­te zur Dis­kus- sion. Ers­tens wird die Kon­zep­ti­on der Beruf­lich­keit mit den ihr inne­woh­nen­den Qua­li­täts­di­men­sio­nen für un- abding­bar für die Wei­ter­ent­wick­lung von Qua­li­fi­ka­ti- ons­an­ge­bo­ten erach­tet. Betrieb­lich-dua­le Beru­fe bein- hal­ten schon heu­te eine Rei­he der für die digi­ta­li­sier­te Arbeits­welt für not­wen­di­gen befun­de­nen Kom­pe­ten­zen. Stu­di­en­pro­gram­me sind ent­lang die­ser Qua­li­täts­maß- stä­be beruf­li­chen Ler­nens wei­ter zu ent­wi­ckeln. Zwei- tens ist die Beruf­lich­keit von Bil­dung die Vor­aus­set­zung einer an der Beruf­lich­keit von Arbeit ori­en­tier­ten, ko- ope­ra­ti­ven Arbeitsorganisation.

II. Erwei­ter­te moder­ne Beruflichkeit

Ein „Mei­len­stein“ auf dem Weg zu einem zeit­ge­mä­ßen Berufs­ver­ständ­nis war die Ent­wick­lung des „Kon­zepts der moder­nen Beruf­lich­keit“ in den acht­zi­ger und neun- ziger Jah­ren. Die­ses Ver­ständ­nis von Beruf­lich­keit ging ange­sichts der Anfor­de­run­gen an mehr Fle­xi­bi­li­tät und der Gestal­tungs­kom­pe­ten­zen der Beschäf­tig­ten davon aus, spe­zia­li­sier­te Ein­zel­be­ru­fe zu bün­deln und neue Beru­fe auf der Basis einer brei­ten fach­li­chen Qua­li­fi­ka­ti- on zu schaf­fen. In den Mit­tel­punkt des beruf­li­chen Lern- pro­zes­ses rück­te die Arbeits- und Geschäfts­pro­zes­so­ri- entie­rung. Selbst­stän­dig­keit im beruf­li­chen Ler­nen wächst durch die Aus­rich­tung der Lern­pro­zes­se an umfas­sen­den beruf­li­chen und refle­xi­ven Hand­lungs- kom­pe­ten­zen. Die­ses Ver­ständ­nis von Beruf­lich­keit floss in eine Rei­he neu­er Metall- und Elek­tro­be­ru­fe ein.

Die „erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit“ baut auf die- sem Ver­ständ­nis auf. Es respek­tiert einer­seits die Beson- der­hei­ten von dua­ler Aus­bil­dung und Stu­di­um, aber an- derer­seits fußt es auf dem Gedan­ken, dass die Ent­wick- lung einer umfas­sen­den und refle­xi­ven beruf­li­chen Hand­lungs­kom­pe­tenz sowohl in der Aus­bil­dung wie im

11 Vgl. Pfeiffer/Suphan 2015.

Kaßebaum · „Erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit“ 2 0 3

204 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2015), 199–210

Stu­di­um sinn­voll und not­wen­dig ist. Dabei baut es bezo- gen auf das Stu­di­um auf einer lang­jäh­ri­gen, auch von den Gewerk­schaf­ten getra­ge­nen Dis­kus­si­on über die Ver­bes­se­rung der Qua­li­tät von Stu­di­um und Leh­re auf.12 Das Leit­bild stellt damit gemein­sa­me Prin­zi­pi­en für die Gestal­tung der Lern­pro­zes­se in der betrieb­lich-dua­len und in der hoch­schu­li­schen Berufs­bil­dung zur Dis­kus­si- on. Damit wird ein wei­te­rer Grund­stein für eine über- grei­fen­de und an ein­heit­li­chen Maß­stä­ben aus­ge­rich­te­te Berufs­bil­dungs­po­li­tik gelegt.

Beruf­lich­keit hat drei Dimen­sio­nen. Es geht ers­tens um defi­nier­te Qua­li­täts­an­sprü­che an beruf­li­ches Ler­nen in Aus­bil­dung und Stu­di­um und zwei­tens um Ansprü- che an die Gestal­tung von Arbeit, drit­tens um die Betei- ligung der Sozi­al­par­tei­en bei der cur­ri­cu­la­ren Ent­wick- lung von Berufs­bil­dern und Stu­di­en­gän­gen ent­lang die- ser Qua­li­täts­an­sprü­che. „Erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich- keit“ ist Bil­dungs­kon­zept wie es als Poli­tik­kon­zept auch Vor­schlä­ge für die Berufs­bil­dungs­po­li­tik, für Arbeits‑, Betriebs- und Gesell­schafts­po­li­tik macht. In die­sem Bei- trag sol­len die­se Schluss­fol­ge­run­gen im Kern auf die Fra­ge zuge­spitzt wer­den, was beruf­li­ches Ler­nen im Stu- dium bedeu­ten und wie es umge­setzt wer­den kann.

III. Beruf­lich­keit als Bildungskonzept

Beruf­lich­keit zielt auf eine brei­te fach­li­che Qua­li­fi­zie- rung und den Erwerb einer umfas­sen­den beruf­li­chen Hand­lungs­kom­pe­tenz. Für Beschäf­tig­te ergibt sich dar- aus eine grö­ße­re Sicher­heit bei der Wahl ihres Arbeits- plat­zes, für ihre Erwerbs­bio­gra­fie und ihr Ein­kom­men. Beruf­lich­keit in dem von der IG Metall beschrie­be­nen Sinn ist Teil eines eman­zi­pa­to­ri­schen Bil­dungs­ver­ständ- nis­ses, das die Men­schen befä­higt, sozia­le, tech­nisch- orga­ni­sa­to­ri­sche und öko­no­mi­sche Zusam­men­hän­ge zu erken­nen sowie indi­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve Inter­es­sen zu ver­tre­ten. Beruf­lich­keit in die­sem Ver­ständ­nis ist damit auch Teil eines Gegen­kon­zepts gegen die zuneh­men­de Öko­no­mi­sie­rung von Bildung.

Das dem Leit­bild inne­woh­nen­de Ver­ständ­nis von be- ruf­li­chem Ler­nen wird in 15 Dimen­sio­nen beschrie­ben (Erläu­te­run­gen sie­he IG Metall 2014):

Beruf­li­ches Lernen

  • erfor­dert eine brei­te fach­li­che Qualifikation
  • ver­mit­telt Wis­sen, Hand­lungs­fä­hig­keit under­mög­licht prak­ti­sche Erfahrung
  • ori­en­tiert sich an Arbeits- und Geschäftsprozessen
  • geschieht durch die Bewäl­ti­gung von(berufstypischen) Aufgaben

12 Vgl. stell­ver­tre­tend Gut­ach­ter­netz­werk 2009.

• ist ent­de­cken­des und for­schen­des Ler­nen
• ist Bil­dung
• ist sozia­les Ler­nen
• zielt auf die Refle­xi­on und die Gestal­tung von

Arbeit
• umfasst die Refle­xi­on und die Gestal­tung von

Lern- und Berufs­we­gen
• berei­tet auf die Berufs­rol­le vor • för­dert und ent­wi­ckelt Iden­ti­tät • ver­knüpft Erfah­rungs- und

Wis­sen­schafts­ori­en­tie­rung
• zielt auf ein ande­res Theo­rie-Pra­xis-ver­hält­nis • hat unter­schied­li­che Lern­ort
• schließt nie­man­den aus.

Vier Aspek­te sol­len her­aus­ge­grif­fen werden13:

1. Das Ver­hält­nis von Erfah­rungs- und Wissenschaftsorientierung

Ins­be­son­de­re durch die Digi­ta­li­sie­rung ist das Ver­hält­nis von Erfah­rungs- und Wis­sen­schafts­ori­en­tie­rung im beruf­li­chen Han­deln neu zu bestim­men. Die The­se, dass auch in den künf­ti­gen Arbeits­struk­tu­ren „Qua­li­tä­ten eines dyna­mi­schen Erfah­rungs­wis­sens eine beson­ders gro­ße Rol­le“ (Pfeiffer/Suphan 2015, S. 212) spie­len wer- den, wird unter­stützt. Ande­rer­seits wer­den Antei­le eines wis­sen­schafts­ori­en­tier­ten Arbeits­han­delns zuneh­men. Die­ses Ver­hält­nis von Erfah­rungs- und Wis­sen­schafts- ori­en­tie­rung gilt im Prin­zip, aber in unter­schied­li­chen Aus­prä­gun­gen, für Aus­bil­dung und Studium.

Ange­sichts der beschrie­be­nen Aka­de­mi­sie­rungs­pro- zes­se muss das Stu­di­um jun­ge Men­schen auf außer­hoch- schu­li­sche Arbeits­märk­te vor­be­rei­ten und sie befä­hi­gen, beruf­li­che Anfor­de­run­gen zu erken­nen und eige­ne Er- werbs­bio­gra­fien mit­zu­ge­stal­ten. Wis­sen­schaft­li­che und beruf­li­che Kom­pe­ten­zen sind auf­ein­an­der abzu­stim- men. Zur Wis­sen­schaft­lich­keit gehö­ren ein kri­tisch-re- fle­xi­ves Ver­ständ­nis von Wis­sen­schaf­ten, dh. die Aneig- nung und der kri­ti­sche Umgang mit Wis­sens­be­stän­den, Sys­te­ma­ti­ken und Metho­den. Aber eben­so gilt, dass ein rein kogni­ti­ver oder wis­sens­ba­sier­ter Zugang nicht reicht. Eige­ne (berufs­be­zo­ge­ne) Erfah­run­gen an unter- schied­li­chen Lern­or­ten sind wich­tig, um beruf­li­che Hand­lungs­kom­pe­ten­zen und eine eige­ne beruf­li­che Iden­ti­tät her­aus­zu­bil­den. Dua­le Stu­di­en­gän­ge sind dafür ein Bei­spiel eben­so wie an beruf­li­chem Han­deln ori­en- tier­te Pra­xis­pha­sen im Studium.

In Rich­tung Aus­bil­dung ist fest­zu­stel­len, dass eine in der Dua­li­tät von (pra­xis­ori­en­tier­ter) Theo­rie und (re- flek­tier­ter) Pra­xis beru­hen­de beruf­li­che Aus­bil­dung den

13 Vgl. Kaßebaum u.a. 2015.

Anteil wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se bei der Bewäl­ti- gung beruf­li­cher Auf­ga­ben erhö­hen muss, um den kom- peten­ten Umgang mit ver­netz­ten Sys­te­men und kom­p­le- xen Arbeits­ab­läu­fen zu erler­nen. Wis­sen­schafts­ori­en­tie- rung heißt hier, wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se in die Lösung berufs­ty­pi­scher Auf­ga­ben ein­zu­be­zie­hen und auch, beruf­li­che Erfah­run­gen für Fra­gen an die Wis­sen- schaft zu nutzen.

2. Die Bedeu­tung von arbeits- und geschäfts­pro­zess­ori­en­tier­tem Lernen

Beruf­li­ches Ler­nen umfasst fach­li­ches und sozia­les Wis- sen, den Erwerb von Hand­lungs­fä­hig­keit und die im Lern­pro­zess ermög­lich­ten prak­ti­schen Erfah­run­gen. Es muss daher pro­zess- und pro­blem­ori­en­tiert sein. Es zielt auf Selbst­stän­dig­keit. Metho­disch ori­en­tiert es sich an den Kon­zep­ten des „ent­de­cken­den“ und des „for­schen- den“ Ler­nens“. Es geschieht am bes­ten in der Bewäl­ti- gung von berufs­ty­pi­schen Auf­ga­ben und ori­en­tiert sich an rea­len und für den Beruf zen­tra­len Arbeits- und Geschäfts­pro­zes­sen. Hori­zon­tal sind vor- und nach­ge­la- ger­te Berei­che eben­so ein­zu­be­zie­hen wie die sys­te­mi- schen Pro­zes­se einer – digi­ta­li­sier­ten – Pro­duk­ti­ons­steu- erung und der fle­xi­blen Auto­ma­ti­sie­rung. Auch ver­ti­kal, dh. z.B. im Ver­hält­nis von Werk­statt und Pro­duk­ti­ons- steue­rung, zielt Beruf­lich­keit auf koope­ra­ti­ves Arbeits- han­deln. Die für die digi­ta­le Arbeits­welt typi­schen Arbeits­auf­ga­ben an den Schnitt­stel­len von Mecha­nik, Elek­tro­tech­nik und Infor­ma­tik sind sowohl für die Aus- bil­dungs­be­ru­fe wie für die Stu­di­en­gän­ge noch zu iden­ti- fizie­ren. Aus­bil­dungs­ord­nun­gen und Stu­di­en­pro­gram- me sind ent­spre­chend wei­ter zu ent­wi­ckeln. Für das Stu- dium ist der Bezug auf berufs­ty­pi­sche Auf­ga­ben zum Teil noch Neuland.

3. Beruf­li­ches Ler­nen zielt auf die Refle­xi­on und Gestal­tung von Arbeit und Bildung

Im rea­len Pro­zess des Arbei­tens fin­den auf unter­schied- lichen Ebe­nen arbeits­po­li­ti­sche Aus­hand­lungs­pro­zes­se statt. Beschäf­tig­te sind Teil die­ser Pro­zes­se. Daher muss die Ent­wick­lung ihrer Gestal­tungs­kom­pe­tenz in ver- schie­de­nen Dimen­sio­nen Inhalt der beruf­li­chen Lern- pro­zes­se sein. Im Kon­text neu­er Arbeits- und Beschäf­ti- gungs­for­men mit den Risi­ken und Mög­lich­kei­ten erzwun­ge­ner und frei­wil­li­ger Arbeits­wech­sel bekommt die Fähig­keit, Lern- und Berufs­we­ge und damit auch die bio­gra­fi­sche Ent­wick­lung mit­zu­ge­stal­ten, deut­lich mehr Gewicht. Bil­dungs­bio­gra­fi­sche und arbeits­po­li­ti­sche Inter­es­sen müs­sen erkannt und Wege der Umset­zung iden­ti­fi­ziert wer­den. Beruf­li­ches Ler­nen zielt dar­auf, sich mit den eige­nen und den sozia­len Bedürf­nis­sen und

Inter­es­sen aus­ein­an­der zu set­zen, indi­vi­du­el­le und kol- lek­ti­ve Rech­te ken­nen zu ler­nen, sich mit Kol­le­gIn­nen über Alter­na­ti­ven in Bezug auf Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on, Tech­nik­ein­satz und Pro­duk­ti­on zu ver­stän­di­gen und sich im Rah­men der betrieb­li­chen und gewerk­schaft­li- chen Inter­es­sen­ver­tre­tung für sie einzusetzen.

4. Beruf­li­ches Ler­nen ist Bildung

Die Dis­kus­si­on über mög­li­che und sinn­vol­le Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­for­men auch und gera­de in der digi- tali­sier­ten Arbeits­welt, die Debat­te über mög­li­che Frei- heits­gra­de in aty­pi­schen Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen und auch bil­dungs­po­li­ti­sche Ent­wick­lun­gen wie die Aner­ken­nung infor­mal und infor­mell erwor­be­ner Kom- peten­zen wer­den über­la­gert von weit­rei­chen­den Pro­zes- sen der Öko­no­mi­sie­rung von Bil­dung, Arbeit und Gesell­schaft. Beruf­li­che Qua­li­fi­ka­ti­on wird viel­fach auf Anpass­qua­li­fi­zie­rung redu­ziert und ihr Erwerb wird Teil der „Selbst­ver­mark­tung“ der Beschäf­tig­ten in der neo­li- bera­len Ökonomie.

Um die­se Wider­sprü­che zu reflek­tie­ren, sozia­le Inte- res­sen zu erken­nen und um Hand­lungs­op­tio­nen für die Ein­zel­nen und die Beleg­schaf­ten sicht­bar wer­den zu las- sen, bedarf es der Fähig­kei­ten zur Refle­xi­on beruf­li­cher, gesell­schaft­li­cher und öko­no­mi­scher Erfah­run­gen. Be- ruf­li­ches Ler­nen zielt daher immer auch auf Per­sön­lich- keits­ent­wick­lung. Beruf­li­ches Ler­nen ist sozia­les Ler­nen, es för­dert und ent­wi­ckelt beruf­li­che und sozia­le Iden­ti- tät. Not­wen­dig sind „ganz­heit­li­che“ Bil­dungs­pro­zes­se, wel­che die Refle­xi­on der Erfah­run­gen ermög­li­chen. Erst in der Refle­xi­on die­ser Erfah­run­gen in den Span­nungs- fel­dern und Wider­sprü­chen zwi­schen sub­jek­ti­ven Be- dürf­nis­sen und sozia­len Inter­es­sen, zwi­schen Öko­no­mie und Öko­lo­gie und zwi­schen Kapi­tal und Arbeit for­men sich Inter­es­sen und sozia­le Iden­ti­tät heraus.

Beruf­lich­keit steht für ein fle­xi­bles, an den Anfor­de- run­gen des Arbeits­mark­tes sowie an den Ansprü­chen ei- ner sub­jekt­be­zo­ge­nen Berufs­bil­dung aus­ge­rich­te­tes eman­zi­pa­to­ri­sches Bil­dungs­kon­zept. Es ist die Alter­na­ti- ve zu Qua­li­fi­zie­rungs­kon­zep­ten, deren Reich­wei­te durch das markt­kon­for­me Kon­zept der Employa­bi­li­ty begrenzt wird.

IV. Rück­schlüs­se für Hoch­schu­le, Stu­di­um und wis- sen­schaft­li­che Weiterbildung

Mit dem Leit­bild „erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit“ möch­te die IG Metall einer Bil­dungs­po­li­tik zusätz­li­che Kraft geben, wel­che dazu bei­trägt, „die Chan­cen der Indi­vi­du­en zu erwei­tern und zu ver­bes­sern“, „die Qua­li- tät der Arbeit zu sichern und zu beför­dern“ und „den sozia­len Zusam­men­halt zu sichern und den gesellschaft-

Kaßebaum · „Erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit“ 2 0 5

206 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2015), 199–210

lichen Fort­schritt zu unter­stüt­zen“ (alle Zita­te IG Metall 2014, S. 32 ff.). Beruf­lich­keit dient damit auch als Vor­la­ge für poli­ti­sches Handeln.

Auf die­sen all­ge­mei­nen Zie­len auf­bau­end wer­den eine Rei­he von Vor­schlä­gen für die Bil­dungs- und Be- rufs­bil­dungs­po­li­tik, für Arbeits‑, Arbeits­markt- und Be- schäf­ti­gungs­po­li­tik, für Betriebs- und Tarif­po­li­tik und zuletzt für die Gesell­schafts­po­li­tik der IG Metall ge- macht. Die­se Vor­schlä­ge wur­den in einer Rei­he von Bei- trä­gen kon­kre­ti­siert und differenziert.14 Im Fol­gen­den sol­len die Schluss­fol­ge­run­gen der Erwei­te­rung des Kon- zepts der Beruf­lich­keit auf Stu­di­um und wis­sen­schaft­li- che Wei­ter­bil­dung und damit der zwei­fels­oh­ne schwie­ri- gen und auch im Leit­bild der IG Metall bis­her nur be- gon­ne­nen, aber nicht been­de­ten Debat­te um das Ver- hält­nis von Wis­sen­schaft­lich­keit und Beruf­lich­keit nach­ge­gan­gen werden.

In der deut­schen Bil­dungs­ge­schich­te geht die Tren- nung von all­ge­mei­ner und beruf­li­cher Bil­dung in ihren päd­ago­gi­schen Dimen­sio­nen auf den Ein­fluss des Neu- huma­nis­mus ins­be­son­de­re auf die preu­ßi­schen Schul- und Hoch­schul­re­for­men zurück. Her­wig Blan­kertz schreibt dazu15:

Die Neu­hu­ma­nis­ten ver­hiel­ten sich gegen­über den alten Uni­ver­si­tä­ten zwar genau­so kri­tisch wie Mer­kan­ti- lis­ten und Phil­an­tro­pen, aber ihre The­ra­pie war (…) die ent­ge­gen­ge­setz­te, näm­lich nicht Wen­dung zum unmit- tel­ba­ren Ver­wer­tungs­in­ter­es­se an Wis­sen­schaft, son- dern gera­de umge­kehrt Bin­dung an das Ide­al rei­ner Er- kennt­nis, Bin­dung an Wahr­heit und Wert um ihrer selbst wil­len.“ (Blan­kertz 1982, S. 130).

Dass dahin­ter ver­bor­ge­ne, trotz aller Bre­chun­gen bis heu­te in wei­ten Berei­chen der Wis­sen­schaf­ten akzep­tier- te Selbst­ver­ständ­nis ist, dass ein wis­sen­schaft­li­ches Stu- dium – indi­rekt – auf den Arbeits­markt vor­be­rei­tet, weil es den Absol­ven­tIn­nen wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se und Metho­den zur Ver­fü­gung stellt, die die­sen den Trans­fer in den beruf­li­chen All­tag ermög­licht. Die­ses Ver­ständ­nis soll für sich genom­men nicht infra­ge gestellt wer­den. Aber spä­tes­tens in der Pha­se der Bil­dung­sex- pan­si­on, mit der Ent­wick­lung der Hoch­schu­len für an- gewand­te Wis­sen­schaf­ten, der Berufs­aka­de­mien und der Dua­len Hoch­schu­le in Baden-Würt­tem­berg und der Ori­en­tie­rung der über­wie­gen­den Zahl der Studierenden

  1. 14  Vgl. Urban 2015a und b, auch: Kuda/Strauß 2013.
  2. 15  Das Gegen­kon­zept wird in einem eben­falls bei Blan­kertz gefun- denen und von ihm ein­ge­führ­ten Zitat Pes­ta­loz­zis sicht­bar: „Der­Mensch müs­se Mensch sein, ehe er Kan­nen­gie­ßer wer­den kön­ne, wäh­rend er in Wahr­heit muss Kan­nen­gie­ßer wer­den, weil eben sei­ne Mensch­heit unab­hän­gig von sei­ner Kannengießerarbeit

auf die außer­hoch­schu­li­sche Arbeits­märk­te stellt sich die Fra­ge, ob die­ser Ansatz reicht oder er nicht durch eine Sys­te­ma­tik der Pra­xis- und Berufs­ori­en­tie­rung ergänzt wer­den muss.

Das Kon­zept der Beruf­lich­keit kann dabei auf die lan­ge Lis­te und brei­te Dis­kus­si­on der spä­tes­tens mit dem Beginn der Stu­di­en­re­form­pro­jek­te in den sieb­zi­ger Jah- ren ein­set­zen­den Initia­ti­ven zur Pra­xis­ori­en­tie­rung von Stu­di­um und der Dis­kus­si­on über das Ver­hält­nis von Theo­rie und Pra­xis in der Wis­sen­schaft anknüp­fen. Der Pra­xis­be­zug wird dabei immer als „reflek­tier­te“ Pra­xis ver­stan­den. Das Stu­di­um benö­tigt „einen kri­tisch-re- flek­tier­ten Pra­xis­be­zug (…), der fach­li­che und metho­di- sche Qua­li­fi­ka­ti­on in den Kon­text gesell­schaft­li­cher Pro- zes­se stellt und auf die Ent­wick­lung umfas­sen­der Hand- lungs­kom­pe­ten­zen aus­ge­rich­tet ist.“ (DGB 2012, S. 14).

Der sog. Bolo­gna-Pro­zess hat den Bezug des Stu­di- ums auf den Arbeits­markt ver­stärkt. Die län­der­ge­mein- samen Struk­tur­vor­ga­ben for­dern die Hoch­schu­len auf, den Bache­lor als „ers­ten berufs­qua­li­fi­zie­ren­den“ Ab- schluss, den Mas­ter als „wei­te­ren berufs­qua­li­fi­zie­ren­den“ Abschluss zu konzipieren.16 In die­sem Zusam­men­hang hat nicht nur in ein­zel­nen Fach­kul­tu­ren, son­dern auch auf der Ebe­ne der Hoch­schul­rek­to­ren­kon­fe­renz eine in- ten­si­ve Dis­kus­si­on begon­nen. „Aka­de­mi­scher Bil­dungs- anspruch und Arbeits­markt­re­le­vanz des Stu­di­ums schlie­ßen sich nicht aus“, wird dabei in einer Hand­rei- chung des HRK-Nexus Pro­jek­tes fest­ge­stellt (HRK Ne- xus 2014, S. 3). In der Bro­schü­re wie in der HRK selbst bezieht sich man sich in der Argu­men­ta­ti­on auf den Be- griff der „Employa­bi­li­ty“, der im Unter­schied zum Be- rufs­be­griff (!) – so die Argu­men­ta­ti­on – dem Arbeits- markt­be­zug von Stu­di­um aus­rei­chend Fle­xi­bi­li­tät gebe, um das Stu­di­um von einem unmit­tel­ba­ren und engen Bezug auf Tätig­keits­an­for­de­run­gen zu schützen.

Fol­gen­de Fest­stel­lun­gen in die­ser Dis­kus­si­on sind bemer­kens­wert. Ers­tens wird die Not­wen­dig­keit einer brei­ten Aus­bil­dung betont. Es sei „nicht Auf­ga­be der Hoch­schu­len, auf ein spe­zi­el­les Berufs­bild vor­zu­be­rei- ten, son­dern die­se müs­sen die Absol­ven­tin­nen und Ab- sol­ven­ten wis­sen­schaft­lich viel­sei­tig für die wech­seln­den Anfor­de­run­gen der Arbeits­welt breit qualifizieren.“(ebd.) Zwei­tens kann der für not­wen­dig erach­te­te Arbeits- markt­be­zug nicht ohne Refle­xi­ons- und Aus­hand­lungs- pro­zes­se statt­fin­den, an denen nicht nur Akteu­re inner- halb, son­dern auch außer­halb der Hoch­schu­len zu betei-

ihn zum Unmen­schen in der Gesell­schaft machen wür­de.“ (nach

Blan­kertz 1982, S. 136).
16 Vgl. KMK, Län­der­ge­mein­sa­me Struk­tur­vor­ga­ben für die Akkre-

ditie­rung von Bache­lor und Mas­ter­stu­di­en­gän­gen (Beschluss der Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz vom 10.10.2003 i.d.F. vom 4.2.2010).

ligen sind. Und drit­tens wird kon­sta­tiert, dass die Debat- te über die „Beschäf­ti­gungs­re­le­vanz eines Stu­di­ums nach Fächern dif­fe­ren­ziert erfol­gen (muss).“ (ebd.) Eine ähn- liche Argu­men­ta­ti­on ist auch beim Akkre­di­tie­rungs­rat fest­zu­stel­len. Eine auf Initia­ti­ve der Stu­die­ren­den, der Gewerk­schafts- und der Arbeit­ge­ber­ver­tre­ter im Akk­re- ditie­rungs­rat ein­ge­rich­te­te Arbeits­grup­pe kommt auf der Basis einer Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen den Fächern zu dem Ergeb­nis, dass zu klä­ren ist, „auf wel­che Wei­se die Ver­ant­wort­li­chen (Hochschule/Fakultät) die Anfor­de- run­gen an Fach­lich­keit und Beruf­lich­keit im Stu­di­en- gang sicher­stel­len wol­len. Das Ergeb­nis die­ser Ver­ge­wis- serung ist im Ver­fah­ren zu doku­men­tie­ren und sei­ne Umset­zung bei der Reak­kre­di­tie­rung zu über­prü­fen.“ Und dar­auf auf­bau­end: „Lern­ziel­ori­en­tier­te Refe­renz- sys­te­me soll­ten im Akkre­di­tie­rungs­ver­fah­ren genutzt wer­den kön­nen, wenn die zustän­di­gen Fach­be­rei­che oder Fakul­tä­ten an den Hoch­schu­len dies ver­lan­gen.“ (Akkre­di­tie­rungs­rat 2015; S. 2) Der Akkre­di­tie­rungs­rat hat die­se Vor­schlä­ge ange­nom­men und in den soeben ange­lau­fe­nen Pro­zess zur Über­ar­bei­tung der Akkre­di­tie- rungs­ver­fah­ren überführt.

Beru­fe ent­ste­hen nach einem Aus­hand­lungs­pro­zess im gesell­schaft­li­chen Kon­sens. Das Berufs­ver­ständ­nis zielt nicht mehr auf Spe­zi­al­be­ru­fe, son­dern auf ein brei- tes beruf­li­ches und fach­li­ches Fun­da­ment, das einen fle- xiblen Arbeits­ein­satz inner­halb eines wei­ten Berufs­fel- des ermög­licht und die Beschäf­tig­ten vor den Unwäg- bar­kei­ten gegen­wär­ti­ger Arbeits­märk­te schützt und sie befä­higt Lern- und Erwerbs­bio­gra­fien mit­zu­ge­stal­ten. Wäh­rend die Zahl der Beru­fe (ohne Fort­bil­dungs­be­ru­fe und ohne voll­schu­li­sche Beru­fe) auf der Basis der Be- rufs­bil­dungs­ge­set­zes und der Hand­werks­ord­nung in den letz­ten 40 Jah­ren qua­si hal­biert und auf ca. 350 redu- ziert wur­de, sind Stu­die­ren­den und Leh­ren­de auf der Ba- sis eines zuneh­mend aus­dif­fe­ren­zier­ten Hoch­schul­sys- tems gegen­wär­tig mit ca. 16.000 Bache­lor- und Mas­ter- stu­di­en­gän­gen kon­fron­tiert. Die­se wer­den als sin­gu­la­re Stu­di­en­gän­ge kon­zi­piert und akkre­di­tiert. Obwohl Fach- gesell­schaf­ten, Berufs­ver­bän­de, Fakul­tä­ten- und Fach­be- reichs­ta­ge in einer Rei­he von Fächern bemüht sind, ge- mein­sa­me Stan­dards und gemein­sa­me beruf­li­che und fach- liche Ker­ne zu iden­ti­fi­zie­ren, bleibt ein Bild der Unüber- sichtlichkeit.LernzielorientierteReferenzsysteme,anderen Erar­bei­tung neben den Stu­die­ren­den auch die Sozi­al­part- ner zu betei­li­gen sind, könn­ten hier eine mög­li­che Form der Zusam­men­füh­rung und Ver­dich­tung bewerk­stel­li­gen. Die Aus­hand­lungs- und Kon­sens­kul­tur des dua­len Berufs- bil­dungs­sys­tems könn­te hier Vor­bild sein.

Einen eige­nen Dis­kurs zum The­ma Pra­xis- und Be- rufs­ori­en­tie­rung gibt es in den für die IG Metall nicht unwich­ti­gen Inge­nieur­wis­sen­schaf­ten. Praxisorientie-

rung lei­tet sich hier aus der Bestim­mung von Kom­pe- tenz­be­grif­fen und Lern­ergeb­nis­sen ab. Die aktu­el­le Dis- kus­si­on wird maß­geb­lich um das von den euro­päi­schen Inge­nieur­ver­bän­den aus­ge­hen­de inter­na­tio­na­le Fach­sie- gel „Eur-Ace“ her­um geführt. Die­ses Sie­gel ver­langt die Beschrei­bung der Stu­di­en­pro­gram­me und Lern­ergeb- nis­se in Bezug auf fol­gen­de Kri­te­ri­en: „Know­ledge and Under­stan­ding; Engi­nee­ring Ana­ly­sis; Engi­nee­ring De- sign; Inves­ti­ga­ti­ons; Engi­nee­ring Prac­ti­ce; Making Jud- gements; Com­mu­ni­ca­ti­on and Team-working; Lifel­ong Lear­ning“ (http://www.enaee.eu/eur-ace-system/eur- ace-frame­work-stan­dards ). Ob und inwie­weit der in die­sen und ande­ren Kon­tex­ten ent­wi­ckel­te Kom­pe­tenz- begriff an das Kon­zept der beruf­li­chen Hand­lungs­kom- petenz her­an­reicht, kann an die­ser Stel­le nicht nach­ver- folgt wer­den, dass er jedoch auf einem umfas­sen­den Ver­ständ­nis von Hand­lungs­fä­hig­keit beruht, ist unbestritten.

Das dazu not­wen­di­ge Ver­hält­nis von Theo­rie und Pra­xis stellt sich im bes­ten Fall in der Inte­gra­ti­on und nicht in der Addi­ti­on von Metho­den dar, dh. nicht das Aus­la­gern des Erwerbs von „Schlüs­sel­qua­li­fi­ka­tio­nen“ in eigen­stän­di­ge Ein­rich­tun­gen oder das Ver­drän­gen der Pra­xis in das Pra­xis­se­mes­ter, son­dern ein „Wech­sel­spiel von prak­ti­schem Han­deln und theo­rie­ge­lei­te­tem Wis- sen“ (IG Metall 2014a, S. 28) macht die neue Qua­li­tät aus. Die­ses Wech­sel­spiel von Theo­rie und Pra­xis kann auf unter­schied­li­chen Wegen gesche­hen: dazu gehö­ren pra- xis­ori­en­tier­te Auf­ga­ben­stel­lun­gen, Stu­di­en- und Pro­jek- tar­bei­ten, Lern­grup­pen, Exkur­sio­nen, Betriebs­er­kun- dun­gen, Plan­spie­le, Prak­ti­ka und Pra­xis­pha­sen. Alle Pra­xis­an­tei­le – so eine Hand­lungs­hil­fe der Gewerk­schaf- ten für die Akkre­di­tie­rung und Stu­di­en­gang­ge­stal­tung von Inge­nieur­stu­di­en­gän­gen, „erfor­dern die expli­zi­te For­mu­lie­rung von Kom­pe­tenz­zie­len oder ‑anfor­de­run- gen im Hin­blick auf das Errei­chen beruf­li­cher Hand- lungs­kom­pe­tenz.“ (Gewerk­schaft­li­ches. Gut­ach­ter­netz- werk 2009, S. 34). Beruf­li­ches und wis­sen­schaft­li­ches Ler­nen kön­nen im Stu­di­um span­nungs­reich auf­ein­an- der bezo­gen sein, sie müs­sen nicht zwangs­läu­fig einen Wider­spruch bil­den. Ihr Ver­hält­nis wird sich auch spe­zi- fisch in den jewei­li­gen Fächer­kul­tu­ren aus­bil­den. Aktu­ell wur­de eine Lern­ma­trix als Metho­de der Inte­gra­ti­on bei- der Lern­prin­zi­pi­en vor­ge­schla­gen (Els­holz 2015). Ein wei­te­rer Ansatz ist die Lern­fa­brik, die prak­tisch fach­li- che und beruf­li­che Auf­ga­ben­stel­lun­gen simu­liert (vgl. Prinz u.a. 2014). Das Kon­zept der Beruf­lich­keit zielt – wie genannt – auf ein Wech­sel­spiel von (pra­xis­be­zo­ge- ner) Theo­rie und (theo­rie­ge­lei­te­ter) Pra­xis. Es schlägt den Bezug der Leh­re auf beruf­li­che Auf­ga­ben­stel­lun­gen vor und bie­tet dafür die Metho­de der Arbeits- und Ge- schäfts­pro­zess­ori­en­tie­rung an. Beruf­li­ches Ler­nen geht

Kaßebaum · „Erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit“ 2 0 7

208 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2015), 199–210

in die­sem Kon­zept von den Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen der Ler­nen­den aus und bie­tet dafür metho­disch das „ent­de­cken­de“ und/oder „for­schen­de Ler­nen“ an. Es schlägt die Koope­ra­ti­on unter­schied­li­cher Lern­or­te an. Die­se Metho­den sind vor dem Hin­ter­grund weit­rei­chen- der Stu­di­en­re­form­in­itia­ti­ven in vie­len Fach­kul­tu­ren an- schluss­fä­hig an einen Dis­kurs guter Lehre.

Ein grö­ße­res The­ma bleibt die Bestim­mung des Ver- hält­nis­ses von Erfah­rungs- und Wis­sen­schafts­ori­en­tie- rung. In all­ge­mei­ner Wei­se ist die For­mu­lie­rung im Leit- bild unstrit­tig, dass „ein bloß kogni­ti­ver und/oder wis- sen­s­ba­sier­ter Zugang (…) nicht aus(reicht), um beruf­li- che Hand­lungs­kom­pe­ten­zen zu ent­wi­ckeln.“ (IG Metall 2014a, S. 26) Ob es als glei­ches, gleich­wohl die Dif­fe­ren- zen bei­der Bil­dungs­ty­pen akzep­tie­ren­des, Prin­zip für die betrieb­lich-dua­le Aus­bil­dung wie für das Stu­di­um gel­ten kann, wird von Wis­sen­schaft­le­rIn­nen, die bera­tend an der Ent­ste­hung des Leit­bil­des betei­ligt waren, kon­tro­vers dis­ku­tiert. Rita Mey­er wirft die Fra­ge der Hier­ar­chi­sie- rung beruf­li­cher Abschlüs­se auf.17 Georg Spöttl weist da- rauf hin, dass die „wis­sen­schaft­li­che Aus­bil­dung an Hoch­schu­len (…) völ­lig ande­ren Hand­lungs­lo­gi­ken (folgt) als eine betrieb­lich-dua­le Aus­bil­dung. In Hoch- schu­len domi­niert abs­trakt-sys­te­ma­ti­sches, wis­sen- schaft­li­ches Fach­wis­sen, das mit wis­sen­schaft­li­chen Me- tho­den zu erschlie­ßen ist.“ (Spöttl 2014, ohne Sei­ten­an- gabe). Ent­schei­dend sei­en nicht die Metho­den, son­dern das Erkennt­nis­in­ter­es­se und die Unter­schied­lich­keit der beruf­li­chen Auf­ga­ben. Jür­gen Strauß – in der­sel­ben Ver- öffent­li­chung – leug­net die Unter­schie­de wie wei­ter­hin not­wen­di­ge Klä­run­gen nicht. Für ihn steht auch nicht die Beschrei­bung des Sta­tus Quo im Vor­der­grund, son- dern ein Pro­zess des von­ein­an­der Ler­nens. „Das Leit­bild kann eine Ori­en­tie­rung für die Reform hoch­schu­li­scher und betrieb­lich-dua­ler beruf­li­cher Bil­dung sein“ (Strauß 2014, ohne Seitenangabe).

IV. Aus­blick

Das Kon­zept der „erwei­ter­ten moder­nen Beruf­lich­keit“ ist ein Kom­pass für die Berufs­bil­dungs- und Hoch­schul- poli­tik der IG Metall, weil sich aus ihm im Inter­es­se der Aus­zu­bil­den­den, der Stu­die­ren­den und der Beschäf­tig- ten eine Rei­he von bil­dungs- und arbeits­po­li­ti­schen Vor- schlä­gen ablei­ten las­sen. Dar­aus resul­tie­ren klei­ne und gro­ße Pro­jek­te. Sie knüp­fen zum gro­ßen Teil auch an die bil­dungs­po­li­ti­schen For­de­run­gen der IG Metall an. Ziele

17 Vgl. Mey­erRita 2013.

wie mehr Durch­läs­sig­keit zwi­schen all­ge­mei­ner und beruf­li­cher Bil­dung, der Ruf nach mehr Gleich­wer­tig- keit, das Erstrei­ten von mehr Chan­cen­gleich­heit – all die­se For­de­run­gen müs­sen nicht neu geschrie­ben wer- den. Aber sie erhal­ten durch ein gemein­sa­mes Leit­bild für die betrieb­lich-dua­le und die hoch­schu­li­sche Berufs- bil­dung zusätz­li­che Anre­gun­gen und Begrün­dungs­zu- sammenhänge.

Die neue und durch­aus noch zu unter­mau­ern­de Qua­li­tät resul­tiert aus einem nach glei­chen Prin­zi­pen ent­wi­ckel­ten Bil­dungs­kon­zept von Beruf­lich­keit. Aus ihm las­sen sich Anfor­de­run­gen an die Wei­ter­ent­wick- lung betrieb­lich-dua­ler und hoch­schu­li­scher Bil­dung eben­so ablei­ten wie Ansprü­che eines neu­en Ver­hält­nis- ses der bei­den Berei­che zuein­an­der. Wie weit die­ser Im- puls reicht, wird noch zu erkun­den sein. Ob er dazu füh- ren wird, Bil­dung aus der Umklam­me­rung der Öko­no- misie­rung zu befrei­en, ob er Beruf­lich­keit von Bil­dung und Arbeit ange­sichts zuneh­men­der Pre­ka­ri­sie­rung eine Per­spek­ti­ve gibt, ob er ein Bei­trag zur Ver­bes­se­rung der Qua­li­tät von Stu­di­um und Leh­re sein wird, gar einen Bei­trag dazu leis­ten wird, das Ver­hält­nis von all­ge­mei­ner und beruf­li­cher Bil­dung neu zu bestim­men, ob er zu ei- nem stär­ke­ren Mit­ein­an­der der bei­den Bil­dungs­sys­te­me füh­ren wird und eine auf­ein­an­der abge­stimm­te Poli­tik von Berufs­bil­dungs- und Hoch­schul­sys­tem, von Bil- dungs- und Beschäf­ti­gungs­sys­tem und von Bund und Län­dern beför­dert, das steht heu­te noch dahin. Der wis- sen­schaft­li­che Bera­ter­kreis schließt sein jüngs­tes Gut- ach­ten hoffnungsvoll:

„Per­spek­ti­ven eines neu­en wis­sen­schafts­ba­sier­ten Berufs­bil­dungs­sys­tems zu ent­wi­ckeln, heißt weder die her­kömm­li­che Hoch­schul­bil­dung noch die bestehen­de Berufs­aus­bil­dung fort­zu­schrei­ben. Die Ziel­per­spek­ti­ve legt viel­mehr nahe, Ele­men­te bei­der Lern­we­ge auf der Grund­la­ge wis­sen­schaft­lich begrün­de­ten Erfah­rungs- wis­sens in ‚erwei­ter­ter Beruf­lich­keit‘ zu kom­bi­nie­ren.“ (Bera­ter­kreis 2014, S. 62)

Bernd Kaßebaum ist Gewerk­schafts­se­kre­tär beim Vor- stand der IG Metall im Res­sort Bil­dungs- und Qua­li­fi- zie­rungs­po­li­tik. Sei­ne Arbeits­schwer­punk­te sind Hoch- schul­po­li­tik, Schu­le und Arbeits­welt sowie Berufs­bil- dungsforschung.

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Kaßebaum · „Erwei­ter­te moder­ne Beruf­lich­keit“ 2 0 9

210 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2015), 199–210

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