I. Historisches: Die Sinus-Cosinus-Kurve der akademischen Selbstverwaltung
Jedem im Hochschulbereich Tätigen sollte dieses Phäno- men bekannt sein: Dem Urteil zum Niedersächsisches Vorschaltgesetz 1973 und der Hochschullehrer-Entschei- dung folgte in den 1990er Jahren die Rechtsprechungs- kaskade des Bundesverfassungsgerichts, beginnend mit der Entscheidung zur Auflösung der Akademie der Wis- senschaften der DDR über die zum „starken Dekan“ bis hin zu „Brandenburg I“ vom 26.10.2004. Letzteres Urteil galt für viele als Exit der akademischen Selbstverwal- tung. Seither hat das Pendel wundersamerweise – wenn- gleich aus naturgesetzlicher Perspektive konsequent – die Gegenrichtung eingeschlagen. In den Entscheidun- gen zum Hamburgischen Hochschulgesetz, zur Medizinischen Hochschule Hannover und zur BTUCS – Brandenburg wurde wieder auf die stärkere Einbindung der Professorenschaft rekurriert. Zwar hat der Hoch- schulgesetzgeber nach wie vor einen weiten Gestaltung- spielraum bei der Machtverteilung auf die Hochschulor- gane und er kann auch das präsidiale Leitungsorgan mit einer hohen Machtfülle ausstatten, die mit einer Kompe- tenzbeschneidung des Kollektivorgans (Senat) einher- geht. Letztere muss allerdings durch eine höhere Kom- petenz kompensiert werden, eine vorzeitige Abwahl von Mitgliedern eines als Kollegium verfassten präsidialen Organs zu erwirken. Diese „Reziprokformel“ ist das eigentlich Neue der Rechtsprechung. Einen „sidekick“ hat diese Schubumkehr auch durch die Akkreditierungs- entscheidung vom Februar 2016 erfahren: Hier ging es zwar nicht um die Hochschulgovernance im engeren Sinne, jedoch ganz zentral auch um die maßgebliche Mitwirkung der Professorenschaft an der Erarbeitung der Maßstäbe der Bewertung und von geeigneten Ver- fahrenselementen.
Den jüngsten „Kracher“ in dieser Richtung hat der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg gezündet. Unter Berufung auf BVerfGE 35, 79 – die „Mutter“ aller Hochschulentscheidungen – weitet er die Stellung der Hochschullehrer sogar noch aus:
1. Vertreter der Professorenschaft kann nur sein, wer von diesen mit einem sog. Repräsentationsmandat ge- wählt wurde. Mitglieder kraft Amtes (insb. Rektoren,
1 Gehalten am 8.12.2016 auf dem Symposium „Funktionale Selbstverwaltung im 21. Jahrhundert“ an der Akademie der
Präsidenten und Dekane) sind dagegen keine Vertreter der Hochschullehrer.
2. Damit wird Zahlenspielen, wonach Präsidenten/ Rektoren, die der Professorenschaft entstammen, dieser auch zugerechnet werden, der Boden entzogen.
3. Weiter liegt ein hinreichendes Mitwirkungsniveau nur dann vor, wenn ein Selbstverwaltungsgremium mit der Stimmenmehrheit der gewählten Vertreter der Hochschullehrer die Wahl eines Leitungsorganmitglieds verhindern kann. Eine Rektoren- bzw. Präsidentenwahl gegen den Senat (also etwa nur durch den Hochschulrat) ist damit nicht mehr möglich. Auch müssen sich die ge- wählten Mitglieder eines Selbstverwaltungsorgans von einem Mitglied des Leitungsorgans, das ihr Vertrauen nicht mehr genießt, trennen können, ohne auf die Eini- gung mit den Vertretern anderer Gruppen und ohne Zu- stimmung eines weiteren Organs (namentlich des Hoch- schulrats) oder des Staates (durch ein Vetorecht des Mi- nisteriums) angewiesen zu sein.
4. Neu ist auch, dass sich die maßgebliche Mitwir- kung der Hochschullehrer nicht mehr auf einen zuvor immer kleiner gewordenen Bereich der „eigentlichen“ Wissenschaft beschränkt, sondern ganz extensiv ver- standen wird. War die Kandidatenfindung und Beset- zung von Leitungspositionen schon im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Medizinischen Hoch- schule Hannover von 2014 als wissenschaftsrelevant ein- gestuft worden, so werden im Urteil des Verfassungsge- richtshofs auch die Struktur- und Entwicklungsplanung sowie Entscheidungen über den Haushalts- oder Wirt- schaftsplan definitiv als wissenschaftsrelevant bestätigt. Man erinnere sich: Früher wäre das als dem staatlichen oder gemischt staatlich-universitären Bereich nur schwach oder gar nicht mit Mitwirkungsrechten durch- setzt gewesen. Gemäß dem Leitbild der ökonomisierten Hochschule, „der Manager-Universität“ – das immer noch in etlichen Bundesländern und Köpfen vorherrscht – wurden solche Mitwirkungsrechte geradezu als Sys- temfehler betrachtet. Sogar der Bayerische Verfassungs- gerichtshof hatte in seinem Hochschulurteil 2008 noch den Einfluss der Hochschullehrer zurückgedrängt.
5. Schließlich spricht der Baden-Württembergische Verfassungsgerichtshof auch ein Grundproblem der Willensbildung im Dreiersystem Hochschulleitung – Se-
Wissenschaften Leopoldina in Halle. Die Vortragsfassung wurde beibehalten, auf Belege daher verzichtet.
Max-Emanuel Geis Hochschul-Selbstverwaltung – Ein Impulsreferat1
Ordnung der Wissenschaft 2017, ISBN/ISSN 3–45678-222–7
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nat – Hochschulrat an. Es handelt sich hier zwar nach dem Willen der Erfinder um eine Gewaltenteilungskon- struktion (im untechnischen Sinne) im Sinne eines „sys- tem of checks and balances“, das freilich in den Ländern sehr unterschiedlich konstruiert ist. Der Hochschulrat tritt dabei in einigen Bundesländern (z.B. Niedersach- sen, Nordrhein-Westfalen) an die Stelle der früheren mi- nisteriellen Fachaufsicht; dieses behält nur die Rechts- aufsicht als unverzichtbares Element demokratischer Le- gitimation. In anderen Modellen stehen Hochschullei- tung und Hochschulrat faktisch nicht selten in einem engen gegenseitigen Verhältnis: Im niedersächsischen Stiftungsmodell bereitet die Hochschulleitung Sitzungen des Rates vor und erarbeitet Beschlussvorlagen für die- sen (§ 61 Abs. 1 NHG). Noch gravierender wirkt es sich aus, dass die Hochschulleitung den Informationsfluss an den Rat kanalisieren und steuern kann. Diese Unwucht bedeutet einen Konstruktionsfehler, der nicht dadurch behoben wird, dass er landauf-landab als innovatives Governancemodell verkauft wird. Wenn dazu – wie an nicht wenigen Hochschulen zu beobachten – die objekti- ve Distanz zwischen den Organen durch die gemeinsa- me Mitgliedschaft der Organwalter in Parallelgesell- schaften (z.B. gesellschaftliche Zirkel aller Art) aufge- weicht wird, verflüchtigt sich die aufsichtliche Kontrolle in einem Netzwerk, während die ministerielle Rechts- aufsicht meist nicht wirklich wahrgenommen wird. Die Forderung der Rechtsprechung nach einer „kraftvollen Rechtsaufsicht“ durch das Ministerium als Korrelat der Machtfülle verhallt so häufig im Raum.
Die Reaktion der baden-württembergischen Wissen- schaftsministerin Theresia Bauer (und anderer) fiel harsch aus: Das Urteil atme der Geist der 60er Jahre. Das ist natürlich ein eher affirmatives Argument, da es pejo- rativ suggeriert, dass das Vergangene immer überholt, das Neue immer innovativ sei. Das ist allerdings ein Trugschluss. Ob diese Bewertung auch inhaltlich stimmt, erfordert einige weitere Reflektionen.
II. Die Diversität der Selbstverwaltungsmodelle
Allen Selbstverwaltungsmodellen wohnt der Gedanke der Betroffenenpartizipation inne. Dennoch ist Selbst- verwaltung nicht gleich Selbstverwaltung. Die kommu- nale Selbstverwaltung ist – grob gesagt – als Demokratie vor Ort konstruiert. Dies erklärt die Geltung der Wahl- rechtsgrundsätze, insbesondere der Stimmengleichheit.
Die berufsständische Selbstverwaltung folgt dagegen eher dem Prinzip der vereinigten Fachkundigen.
Die Hochschulselbstverwaltung schließlich vereinigt die Partizipation fachkundiger Betroffener mit der staat- lichen Verpflichtung eines objektiven Grundrechts-
schutzes, der den besagten Eigengesetzlichkeiten am besten gerecht wird. Das ist der Grund, warum die Selbstverwaltung auf denen aufbaut, die zur Erkenntnis der Eigengesetzlichkeiten am besten ausgebildet und be- fähigt sind und ihnen einen maßgeblichen Einfluss ver- leiht. Mit einem demokratischen Ansatz hat dies nichts zu tun, mit einem quasi-basisdemokratischen Ansatz schon gar nichts. Deswegen sind die immer wieder par- tei-ideologischen aufflammenden Konzepte einer Drit- tel- oder gar Viertelparität völlig fehl am Platze. Sie ver- kennen auch die heterogene Mitgliederstruktur im Hochschulbereich, im Gegensatz zur homogenen Struk- tur etwa des Kammerwesens. Es gilt ganz klar:
Eigengesetzlichkeit ist keine demokratische Katego- rie, der Erkenntnisprozess ist keine Frage der Mehrheits- entscheidung. Beide können aber auch nicht quasi-dik- tatorisch von oben verordnet werden. Im Grunde sind das Selbstverständlichkeiten, dennoch war es notwen- dig, dass die erwähnten neueren Judikate dies in zuneh- mend deutlicherem Maß konsequent herausgearbeitet haben.
III. Autonomie und Freiheit – ein bewusstes Missverständnis
Ein liebgewordenes Stereotyp der Hochschulpolitik lau- tet, dass die Reformen der letzten knapp zwei Jahrzehnte den Hochschulen eine größere Autonomie gebracht hät- ten, die sie auch bräuchten, um sich im Wettbewerb pro- filieren zu können. Allerdings: „Mehr Autonomie für die Hochschulen“ heißt in Wirklichkeit „Mehr Freiheit für die Hochschulleitungen“ im Sinne des Leitbilds Manage- mentuniversität oder gar „unternehmerische Hochschu- le“. Zum anderen beruht die These auf einer suggestiven, etymologischen Begriffsvertauschung. Autonomie im strengen staats- und verwaltungsrechtlichen Sinn bedeu- tete die Befugnis von organisatorisch verselbständigten Hoheitsträgern zur eigenverantwortlichen Setzung objektiven Rechts (Forsthoff, Ossenbühl). Im Wissen- schaftsbereich tritt jedoch der eigentliche Wortsinn von Autonomie zutage: Autonomie ist nicht gleich bedeu- tend mit Freiheit (weder individueller noch institutio- neller), sie entspricht vielmehr dem deutschen Begriff der Eigengesetzlichkeit. Und Eigengesetzlichkeit ist geradezu das Wesen der Wissenschaft: Erkenntnisge- winn erfolgt nach je eigenen Methoden, Gesetzen und Verfahren, sich von Disziplin zu Disziplin dabei unter- scheidend. Die Denkgesetze des empirischen Naturwis- senschaftlers sind andere als die des wertorientierten Philosophen, und wieder andere als die der normativen Wissenschaften. Von da her ist es schon im Ansatz ver- fehlt,denEffizienz-undNützlichkeitsgedankenzumall-
gemeinen Signum guter Wissenschaft zu machen. Und das ist auch der tiefere Sinn der akademischen Selbstver- waltung: Es geht darum, der Eigengesetzlichkeit in opti- maler Weise dadurch gerecht zu werden, dass eben die Fachkundigsten an den Entscheidungen beteiligt wer- den. Es ist dabei keinesfalls verboten, Elemente der Aus- sensicht einzubauen (auch Hochschulräte), um einer gerade infolge Fachkunde drohender Verengung der Perspektive entgegenzuwirken. Als Kontrollinstanz der gesellschaftlichen Relevanz bzw. Nützlichkeit von For- schung ist der Hochschulrat jedoch nicht berufen (anders leider der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seinem Hochschulurteil von 2008). Freiheit und Auto- nomie sind zwei unterschiedliche Kategorien, die Frei- heit der Wissenschaft ist vielmehr zum Schutze der Eigen- Gesetzlichkeiten durch die Partizipation abzusichern.
IV. Fazit
Meine Damen und Herren, als Fazit dieses Parforcerittes möchte ich ziehen:
Die politische Idee, Hochschulen zu Einrichtungen umzuformen, die nach betriebswirtschaftlichen Grund- sätzen „gesteuert“ werden sollen, muss denknotwendig mit der Wissenschaftsfreiheit kollidieren, sei es mit der
individuellen des einzelnen Hochschullehrers, sei es mit der objektiven Grundrechtsgarantie. Da sich dieser An- satz in einer schleichenden Aushöhlung der Freiheitsin- halte manifestiert, nicht so sehr in einem konfrontativen Eingriff, war der Rechtsverlust nicht richtig greifbar. Um so wichtiger ist es, die akademischen Selbstverwaltung dahingehend fortzuentwickeln, dass sie auch diesen schleichenden Aushöhlungen entgegenwirken kann. Das nun anerkannt zu haben, darin sehe ich das Positive der neueren Rechtsprechung.
Und um das Verdikt von Frau Ministerin Theresia Bauer nochmals aufzugreifen: Das Urteil des Baden- Württembergischen Verfassungsgerichtshofs als vorläu- fig jüngste Manifestation dieser Schubumkehr atmet nicht den Geist der 60er Jahre, es atmet den Geist der Wissenschaftsfreiheit, die auch einmal im Wortsinne konservativ gegen den Zeitgeist zu verteidigen ist.
Max-Emanuel Geis ist Direktor der Forschungsstelle für Wissenschafts- und Hochschulrecht, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht, Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Öffentliches Recht an der Fried- rich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg.
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