Die Dissertation „Möglichkeiten und Grenzen der „Anfechtbarkeit juristischer (Staats-) Prüfungen“ wurde an der Universität Passau erstellt. Betreut wurde diese Arbeit von Prof. Dr. Müller-Terpitz.
I. Einführung
Die Dissertation geht eingehend der Frage nach, ob und inwieweit und mit welchen Mitteln der Prüfling außer- gerichtlich und/oder gerichtlich – mit Aussicht auf Erfolg – gegen ihn belastende Prüfungsentscheidungen vorgehen kann.
Im Rahmen dieser Untersuchung erfolgt eine Ausei- nandersetzung mit dem einschlägigen materiellen (Prü- fungs-) und Prozessrecht und vor allem dessen Ausle- gung und Anwendung in Rechtsprechung und Literatur. Dabei wird auch die (Fort-) Entwicklung der prüfungs- rechtlichen Dogmatik seit der „Juristenentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.4.1991, die mit der Anerkennung eines „Antwortspielraums“ des Prüflings in Fachfragen und der Notwendigkeit einer verwal- tungsinternen Kontrolle der Prüfungsentscheidung (for- mal) zu einer wesentlichen Verbesserung der Rechtsstel- lung des Prüflings geführt hat, aufgezeigt. Hier wird nachgewiesen, dass die Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes durch die instanzgerichtli- che Rechtsprechung in einer Art und Weise erfolgt ist, die im Ergebnis dazu führt, dass die heutige Rechtsposi- tion des Prüflings gegenüber dem status quo kaum ge- stärkt worden ist. Die Gründe dafür werden ebenso auf- gezeigt wie mögliche Wege zu einer Verbesserung der Rechtsstellung des Prüflings. Hervorzuheben ist inso- weit die Neuziehung der Grenzen des Bewertungsspiel- raums durch die Übertragung des Modells der rationa- len Abwägungskontrolle auf das Prüfungsrecht und die Entwicklung abgesenkter bzw. gesteigerter Anforderun- gen für die Einleitung und Durchführung des Überden- kungsverfahrens auf der Grundlage einer neuen Dogmatik.
II. Rechtsgrundlagen des Juristenausbildungs- und Prüfungsrechts
Nach einer Einführung in den Gegenstand und Gang der Untersuchung in den Kapiteln 1 und 2, in welcher dem Leser im Wesentlichen mitgeteilt wird, dass sich deren Gliederung an dem tatsächlichen Ablauf einer Prüfungsanfechtung orientiert, werden im dritten Kapi- tel der Arbeit zunächst die Rechtsgrundlagen des Juris- tenausbildungs- und Prüfungsrechts vorgestellt.
1. Verfassungsrechtliche Grundlagen
Entsprechend der Normenhierarchie werden zunächst die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Prüfungswe- sens herausgearbeitet.
Als maßgebliche Determinationsquellen für dessen einfach-rechtliche Ausgestaltung sind hier die Art. 12 Abs. 1 Satz 1, Art. 3 Abs. 1, 19 Abs. 4 Satz 1 sowie Art. 20 Abs. 3 GG zu benennen. Eine schlechthin konstituieren- de Bedeutung kommt insoweit dem Grundrecht der Be- rufsfreiheitzu,demdiedasJustizausbildungs-undPrü- fungsrecht im Wesentlichen prägenden verfassungs- rechtlichen Vorgaben entnommen werden können.
Im Ausgangspunkt ist zunächst festzustellen, dass die erfolgte Reglementierung des Zugangs zu den juristi- schen Berufen einen Eingriff in die von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Berufswahlfreiheit in Form einer subjektiven Zulassungsschranke darstellt. Dieser lässt sich grundsätzlich rechtfertigen, da die vorgesehenen Berufszugangsprüfungen das Ziel der Eignungs- und Bestenauslese zum Erhalt einer funktionierenden Rechtspflege als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut verfolgen. Im Hinblick auf die sich aus der Wesentlich- keitslehre ergebenden Anforderungen müssen aber die konstituierenden Merkmale der den Berufszugang be- schränkenden Regelungen vom parlamentarischen Ge- setzgeber vorgegeben werden. Als weiteres Erfordernis für die Rechtmäßigkeit der freiheitsbeschränkenden Be- rufszugangsprüfungen ergibt sich die Notwendigkeit,
Benjamin Unger
Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit ju- ristischer (Staats-)Prüfungen
Ordnung der Wissenschaft 2017, ISSN 2197–9197
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dass die Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens und die Bestimmung der Prüfungsinhalte in rechtlicher und tat- sächlicher Hinsicht für alle um den Berufszugang kon- kurrierenden Kandidaten zur Ermittlung ihrer wahren Kenntnisse und Fähigkeiten geeignet, erforderlich und angemessen gewesen ist und die unter diesen Bedingun- gen gezeigten Prüfungsleistungen zutreffend bewertet worden sind.
Ausgehend von diesen Prämissen kann aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ein Anspruch des Prüflings auf eine „richtige“ Prüfungsentscheidung abgeleitet werden, des- sen Erfüllung Vorkehrungen rechtlicher und tatsächli- cher Art für das Verfahren der Ermittlung der Prüfungs- leistung, deren Bewertung und Überprüfung erfordert. Dieses Grundrechtverständnis erlaubt es, den von der Rechtsprechung ursprünglich allein aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten und inhaltlich eine (formal) gleiche Chance aller Prüflinge beim Erwerb der Berufszugangsberechti- gung einfordernden Grundsatz der Chancengleichheit bereits unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG abzuleiten.
Weiter lässt sich aus dem in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG wurzelnden Gebot der „Richtigkeit“ der Prüfungsent- scheidung eine Reihe allgemeiner Bewertungsvorgaben einschließlich der bislang anerkannten „allgemeinen Be- wertungsgrundsätze“ ableiten (Gebot der Verhältnismä- ßigkeit der Prüfungsanforderungen, Verbot der Anstel- lung sachfremder Erwägungen, angemessene Gewich- tung der positiven und negativen Leistungsaspekte, Ge- bot der Sachlichkeit unter dem Aspekt der Freihaltung des Bewertungsprozesses von übermäßigen Emotionen, Gebot der Anerkennung des „Antwortspielraums“ des Prüflings in Fachfragen, nach dem eine vertretbare und mit gewichtigen Gründen folgerichtig begründete Lö- sung nicht als falsch bewertet darf).
Es ist aber zu bedenken, dass die aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableitbaren materiell-rechtlichen Bewertungs- vorgaben nicht notwendigerweise dem Umfang der (ge- richtlichen) Kontrolle der Prüfungsentscheidung ent- sprechen (müssen). So geht die ganz herrschende Mei- nung im Bereich der „prüfungsspezifischen Wertungen“, zu denen etwa die angemessene Gewichtung der Leis- tungsaspekte gehört, von einer Diskrepanz der an den Prüfer gerichteten Handlungsvorgaben und der zur Ver- fügung stehenden (objektiven) Kontrollnormen aus. Diese Annahme hat die Anerkennung eines Bewer- tungsspielraums des Prüfers und zur Folge, dass eine Kontrolle der „Richtigkeit“ der Prüfungsentscheidung unterbleibt. Das dadurch entstehende Rechtsschutzdefi- zit muss entsprechend der Forderung des Bundesverfas-
sungsgerichtes durch eine verwaltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung kompensiert werden, da der Prüfling nämlich gestützt auf die prozedurale Gewähr- leistungskomponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG die Be- reitstellung eines Verfahrens zur effektiven Durchset- zung der materiellen Grundrechtsverbürgungen bean- spruchen kann. Daher kann der Prüfling auch – zur Ge- währleistung eines angemessenen Grundrechtsschutzes durch Verfahren – die Einräumung all derjenigen (Ne- ben-) Rechte verlangen, deren er bedarf, um sein Haupt- recht auf eine „richtige“ Prüfungsentscheidung außerge- richtlich und/oder gerichtlich mittels der Erhebung sub- stantiierter Einwände gegen die ihr zugrundeliegenden Einzelbewertungen durchsetzen zu können (Begrün- dungsanspruch, Akteneinsichtsrecht).
Bei der Ableitung des Chancengleichheitsgrundsatzes unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG hat Art. 3 Abs. 1 GG für die Ausgestaltung des Prüfungswesens kaum noch ei- genständige Bedeutung. Auch der Heranziehung des Art. 20Abs.3GGbedarfesansichnicht,dasichinsbesondere das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Prüfungsanforde- rungen bereits unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ab- leiten lässt.
Mit Blick auf die Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG entnommenen prozeduralen Gewährleistungen ergeben sich Überschnei- dungen mit dem Gewährleistungsbereich des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Innerhalb ihres Anwendungsbereichs, d.h. der Garantie eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, geht die Rechtsschutzgarantie aber Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG vor. Soweit eine (gerichtliche) Kontrolle der „Richtigkeit“ der Prüfungsentscheidung unterbleibt, stellt dies keine Verlet- zung der Rechtsschutzgarantie dar, wenn eine hinreichende verwaltungsinterne Überprüfung der Prüfung stattgefun- den hat. Damit lässt sich der Anspruch auf die Durchfüh- rung eines Überdenkungsverfahrens zur Kompensation der Lücke im gerichtlichen Rechtsschutz auch aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ableiten.
2. Einfach-rechtliche Grundlagen
Im Anschluss an die Darstellung der verfassungsrechtli- chen Grundlagen des Prüfungswesens wird im vierten Kapitel der Arbeit der sich aus den einfach-rechtlichen Rechtsgrundlagen (Deutsches Richtergesetz, Juristenaus- bildungsgesetze- und Prüfungsordnungen, Hochschulge- setze, universitäre Satzungen) ergebende Inhalt der Juris- tenausbildungunddervorgesehenenPrüfungendargestellt und an den verfassungsrechtlichen Ausgestaltungsvorga- ben gemessen. Im Schwerpunkt wird dabei auf die Neue- rungen eingegangen, die sich durch das jüngste Juristenaus- bildungsreformgesetz ergeben haben.
a) Ausgestaltung der Zwischenprüfung und ihre Bewertung
Dementsprechend steht zunächst die neue Zwischen- prüfung im Fokus, die mit der erstmaligen Einführung der universitären Schwerpunktbereichsprüfung aus hochschulrechtlichen Gründen erforderlich geworden ist. Deren Ausgestaltung steht in allen Bundesländern im Wesentlichen im freien Belieben der Universitäten, da es insoweit ganz überwiegend an jeglichem parlamentari- schen (Rahmen-) Vorgaben fehlt.
Dies hat zur Folge, dass die erste Berufszugangshürde von den Universitäten weitgehend in Alleinverantwor- tung errichtet wird. Zudem gibt es selbst innerhalb eines Bundeslandes hinsichtlich Art und Inhalt der zu erbrin- genden Zwischenprüfungsleistungen vielfach große Unterschiede.
Dieser Befund erscheint mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar. Auch bei gebotener Anerkennung der Sat- zungsautonomie der Universitäten müssen die für die Grundrechtsausübung wesentlichen Entscheidungen vom parlamentarischen Gesetzgeber getroffen werden. Infolgedessen müssen von den Landesparlamenten zu- mindest die wesentlichen Eckpunkte für die Zwischen- prüfung etwa in Form der Festlegung der Art und des Inhalts der zur erbringenden Prüfungsleistungen festge- legt werden. Anderenfalls kann auch die Chancengleich- heit der Kandidaten innerhalb eines Bundeslandes nicht gewährleistet werden.
Im Übrigen ist nach einer bundesweiten Analyse des Inhalts der einschlägigen Zwischenprüfungsordnungen eine erhebliche Varianzbreite hinsichtlich der Art und Anzahl der zu erbringenden Prüfungsleistungen sowie des Prüfungsinhalts zu konstatieren. Dieses Ergebnis er- scheint mit dem bundesrechtlichen Gebot der Einheit- lichkeit der Leistungsanforderungen (§ 5 Abs. 1 Satz 2 DRiG), das richtigerweise auch auf die Zwischenprüfung zu erstrecken ist, unvereinbar.
Soweit als weiteres Auswertungsergebnis festzustel- len ist, dass mündliche Prüfungsleistungen überwiegend nicht vorgesehen sind, bleibt damit zunächst der Rege- lungsauftrag des Reformgesetzgebers unerfüllt, (auch) in der Zwischenprüfung die Schlüsselqualifikationen zu berücksichtigen. Der mögliche Ausschluss des Kandida- ten vom Berufszugang allein aufgrund unzureichender schriftlicher Prüfungsleistungen ist aber vor allem auch mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar, weil es ihm verwehrt bleibt, diese durch bessere mündliche Leistungen zu kompensieren.
Keinen rechtlichen Bedenken begegnet es demgegen- über, dass die Zwischenprüfungsleistungen überwiegend nur von einem Prüfer bewertet werden, da das Zwei- Prüfer-Prinzip zu keinem Objektivitätsgewinn bei der Bewertung führt. In diesem Fall gewinnt aber die ver- waltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung zur Gewährleistung eines angemessenen Grundrechts- schutzes durch Verfahren an Bedeutung. Hier ergibt sich die Besonderheit, dass aufgrund des gestreckten Prü- fungsverfahrens bei der Zwischenprüfung zwischen der Bekanntgabe der Einzelbewertungen und dem Ergehen des Zwischenprüfungsbescheides auf deren Grundlage ein erheblicher Zeitraum liegen kann. Zur Gewährleis- tung einer effektiven verwaltungsinternen Kontrolle der Prüfungsentscheidung ist es daher entsprechend der Re- gelung in einigen Zwischenprüfungsordnungen erfor- derlich, diese zweistufig auszugestalten. Das heißt, dass dem Prüfling zunächst eine Remonstrationsmöglichkeit beim Veranstaltungsleiter zum Zwecke des (zeitnahen) Überdenkens der Bewertung eröffnet werden und er un- abhängig von ihr daneben die Möglichkeit haben muss, im Rahmen eines späteren Widerspruchs gegen den Zwischenprüfungsbescheid eine Überprüfung seiner Rechtmäßigkeit zu erreichen.
b) Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung und ihre Bewertung
Die vorzufindende Ausgestaltung der Schwerpunktbe- reichsprüfung wirft ganz ähnliche rechtsgrundsätzliche Fragen und Probleme auf wie diejenige der Zwischen- prüfung. Auch insoweit ist nämlich festzustellen, dass es teilweise an jeglichen parlamentarischen Direktiven fehlt. Damit haben die Bundesländer zunächst den ihnen vom Bund erteilten Auftrag, das Nähere der Schwer- punktbereichsprüfung zu regeln, nicht erfüllt. Vor allem aber ist das weitgehende Fehlen parlamentarischer Aus- gestaltungsdirektiven mit den Vorgaben der Wesentlich- keitslehre offenkundig unvereinbar. Soweit die legislative Zurückhaltung der Landesgesetzgeber zu teilweise sehr unterschiedlichen Regelungen innerhalb eines Bundes- landes geführt hat, sind zudem wiederum die Chancen- gleichheit der Kandidaten und das Einheitlichkeitsgebot nicht gewahrt.
Bedenken begegnet die Ausgestaltung der Schwer- punktbereichsausbildung und ‑Prüfung weiter insoweit, als bereits das Fehlen (vertiefter) Kenntnisse in einem Teilbereich der Rechtswissenschaft zum Ausschluss vom Berufszugang führen kann. Daraus ergeben sich jeden- falls besondere Anforderungen für die (konkrete) Aus-
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gestaltung der Ausbildungs- und Prüfungsinhalte, die eine hinreichend sichere Grundlage für das zu fällende Befähigungsurteil darstellen müssen.
Zuzustimmen ist im Ergebnis auch der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, nach der zur Vermeidung eines Systembruchs (auch) bei den schriftlichen Prü- fungsleistungen eine Kompensationsmöglichkeit vorge- sehen werden muss. Vor allem aber besteht aus verfas- sungsrechtlichen Gründen die Notwendigkeit, dem Prüfling die Möglichkeit einzuräumen, Defizite in den schriftlichen Prüfungsleistungen durch bessere mündli- che Prüfungsleistungen auszugleichen.
c) Ausgestaltung der staatlichen Prüfungen und Bewertung
Zum Abschluss des vierten Kapitels erfolgt noch eine kurze Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung der staatlichen Prüfungen, die weit weniger Rechtsfragen und ‑probleme aufwerfen als die universitären Prüfun- gen. Soweit aber festzustellen ist, dass in einigen Bundes- ländern in den Juristenausbildungsgesetzen keine parla- mentarischen Leitentscheidungen im Sinne substantiel- ler Regelungen getroffen worden sind, ist auch dies mit den Vorgaben der Wesentlichkeitslehre nicht in Ein- klang zu bringen.
Im Übrigen stellt die Bestehensregelung in Rhein- land-Pfalz, nach der die Zulassung zur mündlichen Prü- fung mindestens ausreichende schriftliche Prüfungsleis- tungen voraussetzt, im Vergleich zu den Bestehensrege- lungen in den anderen Bundesländern unter dem Aspekt des Einheitlichkeitsgebot einen Systembruch und eine Verletzung des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG im Hinblick auf die fehlende Kompensationsmöglichkeit dar.
III. Mögliche Angriffsgegenstände und vorpro- zessuale Rechtsschutzmöglichkeiten im Überblick
Im fünften Kapitel der Untersuchung werden die belas- tenden Prüfungsentscheidungen, die in dem jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsabschnitt auf der Grundlage der zuvor dargestellten Regelungen ergehen können, sowie die dem Prüfling hiergegen vorprozessual eröff- neten Rechtsschutzmöglichkeiten im Überblick aufge- zeigt.
Der in erster Linie streitgegenständliche Bescheid über das Nichtbestehen der Zwischen‑, Schwerpunktbe- reichs‑, staatlichen Pflichtfach- oder Zweiten juristi- schen Staatsprüfung stellt nach allen Ansichten einen Verwaltungsakt dar. Entsprechend einzuordnen ist aber auch der Bescheid über das Bestehen der juristischen
(Staats-) Prüfungen mit einer bestimmten Note, da ent- gegen einer teilweise vertretenen Auffassung mit diesem verbindlich festgestellt wird, dass die Prüfung nicht bes- ser als mit der ausgewiesen Note bestanden worden ist. Daher kann der Prüfling gegen den jeweiligen (Nicht-) Bestehensbescheid Widerspruch einlegen, sofern ihm diese Möglichkeit nach den einschlägigen landesgesetz- lichen Regelungen eröffnet ist. Dies ist nur in Bayern beim Vorgehen gegen die Ergebnisse der jur. Staatsprü- fungen nicht der Fall, da hier zur Durchführung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten verwaltungsin- ternen Kontrolle der Prüfungsentscheidung ein eigen- ständiges Nachprüfungsverfahren eingeführt worden ist.
Ist – wie im Regelfall – ein Widerspruch gegen die Prüfungsentscheidung statthaft, erfolgt die gemäß § 68 VwGO gebotene Kontrolle der Recht- und Zweck- mäßigkeit des Prüfungsbescheides bzw. der ihm zugrun- deliegenden Einzelbewertungen in einer Art Kooperati- onsverhältnis zwischen den Prüfern und dem Prüfungs- amt. Im Rahmen desselben obliegt dem Prüfungsamt die (abschließende) Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Prü- fungsentscheidung, während die Überprüfung ihrer Zweckmäßigkeit durch die Prüfer in Form des Überden- kens der Einzelbewertungen erfolgt.
Dieses Kooperationsverhältnis wird bei der Über- prüfung der universitären Prüfungsentscheidungen deutlich, wenn dort die verwaltungsinterne Kontrolle im Rahmen eines zweistufigen Verfahrens erfolgt. In diesem Fall hat auch der Streit um die Frage, ob die Bewertung einer einzelnen Prüfungsleistung, die in den späteren Gesamtbescheid eingeht, Verwaltungsaktqualität hat, keinerlei praktische Bedeutung.
Für die staatlichen Prüfungen gilt dies ohnehin, da hier im Regelfall die Bekanntgabe der Einzelbewertun- gen mit der Bekanntgabe des Gesamtergebnisses zeitlich zusammenfällt. Im Übrigen beantwortet sich die Frage der Verwaltungsaktqualität von Einzelleistungen nach der zutreffenden Auffassung des Bundesverwaltungsge- richtes allein nach der Ausgestaltung der jeweiligen Prüfungsordnung.
IV. Möglichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Das sechste Kapitel, das sich den Möglichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) Kontrolle der Prüfungsent- scheidung zuwendet, stellt den Kern Untersuchung dar. Einleitend werden das mögliche Spektrum der Einwen- dungen des Prüflings und der tatsächlich in Betracht kommenden Rechtsfehler des Prüfungsverfahrens,
deren Abgrenzung, die Voraussetzungen ihrer erfolgrei- chen Geltendmachung sowie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Kompensation aufgezeigt.
1. Differenzierung zwischen Verfahrensfehlern und formellen und materiellen Bewertungsfehlern
Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Fehlern im Verfahren der Leistungsermittlung auf der einen und formellen und materiellen Bewertungsfehlern auf der anderen Seite. Unter Verfahrensfehlern sind solche fort- wirkenden Beeinträchtigungen des Prüfungsablaufs zu verstehen, die geeignet (gewesen) sind, die Ermittlung der wahren Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings zu verhindern. Sie können letztlich nur durch eine erneute Erbringung der durch die widrigen Umstände (mögli- cherweise) verfälschten Prüfungsleistung unter ord- nungsgemäßen Prüfungsbedingungen kompensiert wer- den. Um zu verhindern, dass sich der Prüfling eine wei- tere Chance auf den Prüfungserfolg dadurch erschleicht, dass er sich nach Bekanntgabe der ihn beschwerenden Prüfungsergebnisse auf einen Verfahrensmangel beruft, der ihn bei der Leistungserbringung gar nicht beein- trächtigt hat, muss dem Prüfling im Grundsatz eine Obliegenheit zur Rüge der Störungen des Prüfungsab- laufs auferlegt werden.
Da derartige Missbrauchsmöglichkeiten bei auftau- chenden formellen oder materiellen Fehlern im Bewer- tungsvorgang nicht bestehen, können diese bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung im Verwaltungs- prozess geltend gemacht werden. Solche Bewertungsfeh- ler sind nach einhelliger Auffassung durch eine rechts- fehlerfreie Neubewertung zu kompensieren. Fehlt es al- lerdings zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wie im Regelfall bei mündlichen Prüfungen an einer noch hinreichenden Bewertungsgrundlage, kommt nur eine Wiederholung der Prüfungsleistung in Betracht.
2. Voraussetzungen der erfolgreichen Geltendmachung von Verfahrensfehlern
Nach dem einleitenden Überblick über die möglichen Rechtsfehler im Leistungsermittlungs- und Bewertungs- verfahren und ihrer Kompensation werden die Voraus- setzungen dargestellt, unter denen der Prüfling nach Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse Störungen im Prü- fungsablauf noch mit Aussicht auf Erfolg geltend machen kann. Hier ist das Vorliegen eines erheblichen Verfah- rensfehlers, der offensichtlich oder vom Prüfling recht- zeitig geltend gemacht, vom Prüfungsamt aber nicht anerkannt oder nicht (hinreichend) beseitigt und/oder kompensiert worden war, zu benennen.
a) Erscheinungsformen von Verfahrensfehlern
Nachgehend werden diese Voraussetzungen im Einzel- nen behandelt. Es wird dargestellt, dass bei den einzel- nen Verfahrensfehlern zwischen äußeren und inneren Störungen und bei letzteren wiederum zwischen Män- geln aus der Sphäre des Prüflings und solchen aus dem Verantwortungsbereich des Prüfungsamtes differenziert werden muss. Während beim Prüfling nur eine Krank- heit als innere Störung in Betracht kommt, umfasst das mögliche Spektrum beim Prüfungsamt die gesamten Prüfungsverfahrensfehler im engeren Sinne (Über- oder Unterschreitung der Prüfungsdauer, falsche Besetzung der Prüfungskommission etc). Zu ihnen zählt richtiger- weise auch die Prüfungsstoffüberschreitung, deren Ein- ordnung in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist.
b) Die Rügeobliegenheit des Prüflings
Im Anschluss an die Auflistung und nähere Behandlung der möglichen Verfahrensfehler erfolgt eine eingehende Befassung mit der Rügeobliegenheit des Prüflings. Hier ist zunächst festzustellen, dass die Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Prüfungsunfähigkeit und das Verfahren ihrer (erfolgreichen) Geltendmachung über- wiegend in den Prüfungsordnungen normiert worden sind, die Obliegenheit zur Rüge äußerer Störungen und sonstiger Prüfungsverfahrensfehler (im engeren Sinne) demgegenüber nur vereinzelt.
Beim Fehlen einer gesetzlichen Regelung der Rügeo- bliegenheit haben Rechtsprechung und Literatur diese bislang im Regelfall aus dem Grundsatz der Chancen- gleichheit abgeleitet. Für den Fall der dem Prüfling nach- weisbaren Kenntnis des Verfahrensfehlers zum Zeit- punkt der Leistungserbringung und damit dem Vorlie- gen einer bewussten Risikoübernahme überzeugt diese Ableitung nicht. Der (drohende) Einwendungsaus- schluss und die daraus folgende Rügeobliegenheit lassen sich hier besser mit dem Grundsatz von Treu und Glau- ben unter dem Gesichtspunkt des Vorwurfs eines rechts- missbräuchlichen Verhaltens begründen. Aufgrund sei- ner rechtsschutzbegrenzenden Wirkung kann sich der Prüfling in diesem Fall auf sein aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgendes Interesse an einer zeitlich unbegrenzten Geltendmachung von Verfahrensfehlern gar nicht erst berufen.
Eine Abwägung mit dem gegenläufigen Interesse der anderen Prüfungsteilnehmer an einer Begrenzung der Wiederholungsmöglichkeiten zur Gewinnung einer Rü- geobliegenheit ist daher nur geboten, wenn dem Prüfling die Kenntnis des Verfahrensmangels und damit ein treu-
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widriges Verhalten nicht nachgewiesen werden können. Diese ist in vielen von der Rechtsprechung bisher ent- schiedenen Fallkonstellationen nicht gelungen mit der Folge, dass eine Rügeobliegenheit des Prüflings in einem zu weitgehenden Umfang angenommen wird. Um sie sachgerecht einzugrenzen, wird vorgeschlagen, bei Un- klarheiten über das Vorliegen eines Verfahrensmangels und/oder den darauf bezogenen Grad der Erkenntnis des Prüflings eine sphären- und verantwortungsbe- reichsorientierte Differenzierung anhand der Typizität des Verfahrensmangels vorzunehmen. Im Ergebnis einer solchen Differenzierung ist eine Rügeobliegenheit nur begründbar bei Verfahrensmängeln, die dem Prüfungs- amt verborgen geblieben sind, dem Prüfling aber nach- weislich bekannt oder zumindest erkennbar waren. Da- mit ist insbesondere die Geltendmachung der aus der Sphäre des Prüfungsamtes stammenden Prüfungsver- fahrensfehler im engeren Sinne nach der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse für den Prüfling nicht ausge- schlossen, wenn ihm – wie im Regelfall – deren Kenntnis oder Kennenmüssen nicht nachgewiesen werden kann. Der gegenteiligen Rechtsprechung ist mit dem Argu- ment entgegenzutreten, dass anderenfalls zu Unrecht dem Prüfling die an sich bei der Prüfungsbehörde als Herrin des Prüfungsverfahrens liegende Verantwortung für ein ordnungsgemäßes Prüfungsgeschehen aufgebür- det werden würde. Aus eben diesem Grund ist auch die weit verbreitete, beinahe unumstrittene Rechtsauffas- sung abzulehnen, dass den Prüfling eine erneute Rügeo- bliegenheit trifft, wenn er die infolge der Anzeige eines Verfahrensmangels vom Prüfungsamt ergriffenen Kom- pensations- bzw. Abhilfemaßnahmen nicht für ausrei- chend hält.
c) Unverzügliche Geltendmachung des Verfahrensmangels
Im Anschluss an die Klärung der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit des Prüflings legitimiert werden kann, beantwortet die Untersuchung die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt der jeweilige Verfahrensmangel geltend gemacht werden kann. Hier wird zunächst der allgemeinen Auffassung beigetreten, nach der ein Verfahrensmangel unverzüg- lich geltend zu machen ist, soweit dem Prüfling dies in der konkreten Prüfungssituation zumutbar ist. Sodann erfolgt eine fallgruppenartige Konkretisierung der Zumutbarkeitsregeln, wobei zwischen den verschiede- nen Verfahrensfehlern und der schriftlichen und münd- lichen Prüfung differenziert wird. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Überlegungen lassen sich dahin
zusammenfassen, dass dem Prüfling wegen der weitrei- chenden Rechtsfolgen einer Prüfungsunfähigkeitsanzei- ge grundsätzlich eine angemessene Überlegungszeit ein- zuräumen und ihm die Rüge von Verfahrensfehlern im engeren Sinne bereits während der mündlichen Prüfung nicht zumutbar ist. Sofern die nachträgliche Geltendma- chung einer Prüfungsunfähigkeit in einigen Prüfungs- ordnungen zeitlich befristet ist, müssen solche Vor- schriften verfassungskonform dahin ausgelegt werden, dass sie nur bei Kenntnis oder Kennenmüssen der Prü- fungsunfähigkeit greifen.
Soweit eine Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit unter den dargelegten Prämissen verfassungsrechtlich legiti- mierbar ist, bedarf sie der gesetzlichen Regelung. Die diesbezügliche Leitentscheidung ist zudem wegen der weitreichenden Folgen eines Einwendungsausschlusses durch den parlamentarischen Gesetzgeber zu treffen. Im Übrigen wird für das Erfordernis einer generellen Hin- weispflicht auf die bestehenden Rüge- und Anzeigeoblie- genheiten zur Gewährleistung eines hinreichenden Grundrechtsschutzes durch Verfahren eingetreten.
Anschließend werden kurz die beim Auftreten eines Verfahrensmangels in Betracht kommenden Abhilfe-/ Kompensationsmaßnahmen dargestellt und es wird dar- auf hingewiesen, dass der Prüfungsbehörde bei ihrer Auswahl mittlerweile kein Beurteilungsspielraum mehr zugestanden wird.
Teils bereits Gesetz geworden ist die umstrittene Rechtsauffassung, nach welcher der Prüfling im Falle ei- ner als nicht hinreichend angesehenen Abhilfe-/Kom- pensationsmaßnahme innerhalb eines Monats nach Ab- schluss der Prüfung bzw. unverzüglich und jedenfalls vor Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse den Verfah- rensfehler (nochmals) geltend machen muss. Eine solche Mitwirkungslast des Prüflings ist abzulehnen, weil sie ihm wiederum unzulässigerweise die (alleinige) Verant- wortung für ein rechtmäßiges Prüfungsgeschehen aufbürdet.
Die Beschäftigung mit möglichen Verfahrensfehlern endet mit der Darstellung der Rechts- bzw. Kompensati- onsfolgen, die sich nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen bzw. der Rechtsprechung bei ihrem Vorlie- gen ergeben, welche kritisch unter Entwicklung eigener Ansätze beleuchtet werden.
3. Formelle und materielle Bewertungsfehler
Der nachfolgende Unterabschnitt widmet sich dann den möglichen formellen und materiellen Bewertungsfeh- lern, die zur Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung führen können. Eingangs werden die wesentlichen
Merkmale des sich aus den einschlägigen Prüfungsrege- lungen ergebenden Bewertungsverfahrens nur knapp dargestellt, da deren Auslegung und Anwendung kaum Probleme bereitet.
a) Der Bewertungsvorgang als dreistufiger Abwägungsprozess
Umso ausführlicher wird im Anschluss auf das materiel- le Bewertungsverfahren eingegangen, bei dem zwischen dem Vorgang der Ermittlung der Beurteilungsgrundlage im Sinne des gegenständlichen Erfassens der Prüfungs- leistung und dem Vorgang der eigentlichen Leistungsbe- wertung differenziert wird. In Bezug auf den Ermitt- lungsvorgang werden zunächst die Obliegenheiten des Prüflings behandelt, die ihn im Rahmen der Leistungs- erbringung treffen. Sodann wird auf die Verpflichtungen des Prüfers bei der Leistungserfassung eingegangen und im Zuge dieser Darlegungen auch das Problem des (teil- weisen) Abhandenkommens von schriftlichen Prü- fungsleistungen behandelt. Dieses wird im Ergebnis dahin gelöst, dass der Prüfling deren Wiederholung unter der Voraussetzung verlangen kann, dass sich der (Teil-)Verlust der Prüfungsleistung auf die (Gesamt-) Bewertung ausgewirkt haben kann.
Im Weiteren erfolgt eine Analyse des nach der Erfas- sung der Prüfungsleistung beginnenden eigentlichen Vorgangs der Leistungsbewertung. Dabei wird erstmals herausgearbeitet, dass sich dieser in einem dreistufigen Abwägungsprozess dergestalt vollzieht, dass im Rahmen der teilleistungsorientierten Brauchbarkeitsprüfung zu- nächst das Abwägungsmaterial gesammelt, dieses im Zuge der sich anschließenden gesamtleistungsorientier- ten Brauchbarkeitsprüfung gewichtet und abgewogen und schließlich die so ermittelte Gesamtleistung des Prüflings einer der nach der Bundesnotenverordnung vorgesehenen Prüfungsnoten zugeordnet wird. Auf der ersten Stufe des Bewertungsvorgangs misst der Prüfer die vom Prüfling erbrachten Teilprüfungsleistungen zu- nächst an den sich aus der Prüfungsaufgabe ergebenden fachspezifischen Anforderungen und sodann an seinen prüfungsspezifischen Bewertungskriterien, zu denen etwa der angenommene Schwierigkeitsgrad der Aufga- benstellung gehört.
Diese prüfungsspezifischen Bewertungskriterien kennzeichnet, dass sie sich im Laufe der Prüfertätigkeit herausbilden und geprägt sind durch die hierbei gewon- nenen Einschätzungen und Erfahrungen, insbesondere durch den ständigen Vergleich der Aufgabenstellungen und der Leistungen der Prüflinge. Sie kommen insbe- sondere auch als Gewichtungs- und Abwägungsfaktoren
auf den nachfolgenden Stufen des Abwägungsvorgangs zur Anwendung, so dass die Bewertung insgesamt maß- geblich durch sie beeinflusst ist. Deren Ursprung lässt sich aufgrund ihrer komplexen Entwicklung und der im- ponderablen und unbewussten Prägung des Prüfers spä- ter nicht mehr hinreichend aufklären.
b) Der Bewertungsspielraum des Prüfers und seine (neue) Legitimation
Diese Erkenntnis hat das Bundesverwaltungsgericht frühzeitig dazu bewogen, einen weiten, auch die fach- spezifische Bewertung einschließenden Beurteilungs- spielraum des Prüfers anzuerkennen. Infolgedessen soll- te die Bewertung nur daraufhin überprüfbar sein, ob der Prüfer von einem vollständig und zutreffend ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, allgemein gültige Bewer- tungsgrundsätze beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder sonst willkürlich gehandelt hat. Dieser weitreichende Bewertungsspielraum ist erst vom Bun- desverfassungsgericht in seiner „Juristenentscheidung“ vom 17.4.1991 unter Anerkennung eines „Antwortspiel- raums“ des Prüflings in Fachfragen auf die prüfungsspe- zifischen Wertungen eingeengt und dementsprechend auch terminologisch nur noch als „Bewertungsspiel- raum“ anerkannt worden.
Heutzutage wird meist nur noch über die dogmati- sche Begründung für den Bewertungsspielraum des Prü- fers und über seine Rechtsfolgen gestritten. Insoweit überwiegt die Auffassung, dass die Anerkennung eines Bewertungsspielraums den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG berührt, aber zur Wahrung der Chan- cengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer gerecht- fertigt ist. Nur vereinzelt wird die Auffassung vertreten, dass vor dem Hintergrund des Gewährleistungsgehalts des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Annahme eines dem Prüfer zustehenden Bewertungsspielraums nicht zu ei- ner Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle führen dürfe. Der Prüfer sei zwar berechtigt, seine eigenen sub- jektiven Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln und anzu- wenden. Diese müssten von den Gerichten aber im Rah- men einer Zweckmäßigkeitskontrolle überprüft werden.
In dieser Diskussion um die Begründung und Be- gründbarkeit eines Bewertungsspielraum des Prüfers wird nach einer Darstellung des aktuellen Standes der Diskussion um die verfassungsrechtliche Legitimierbar- keit von administrativen Entscheidungsfreiräumen in Rechtsprechung und Literatur der neue Standpunkt ein- genommen, dass eine allein aufgrund fehlender objekti- ver Kontrollmaßstäbe unterbleibende gerichtliche Kont- rolle der Verwaltungsentscheidung den Schutzbereich
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des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG grundsätzlich ebensowe- nig berühren kann wie denjenigen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG. Denn eine (gerichtliche) Überprüfung der „subjektiven Richtigkeit“ der Bewertung ist im Hin- blick darauf, dass es nicht möglich ist, (objektive) Kontroll- bzw. Richtigkeitsmaßstäbe im Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen zu definieren, über- haupt gar nicht möglich.
Zwar können die Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG auch durch eine unzweckmäßige, an den eigenen Maßstäben des Prüfers gemessen „subjektiv unrichti- ge“ Bewertung verletzt werden. Diese Rechtsverlet- zung darf das Gericht aber nur mit dem Maßstab und denMethodendesRechtsundnichtdurcheineeigene Bewertung der Prüfungsleistung in Form der teilweise geforderten Zweckmäßigkeitskontrolle feststellen. Das dadurch entstehende Rechtsschutzdefizit ist viel- mehr durch eine Gestaltung des Verwaltungsverfah- rens zu kompensieren, die eine hinreichende Selbst- kontrolle der Bewertungen durch den Prüfer und da- mit einen vorverlagerten Grundrechtsschutz ermög- licht. Sofern diese sichergestellt ist, lässt sich ein Bewertungsspielraum des Prüfers mit dem Gewähr- leistungsgehalt der Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbaren.
c) (Verbleibende) Möglichkeiten der (gerichtlichen) Überprüfung der materiellen Bewertung
Anschließend werden die bei der Annahme eines Bewer- tungsspielraums des Prüfers noch (verbleibenden) Mög- lichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) Kontrolle der Prüfungsentscheidung aufgezeigt.
aa) Die bisherigen Kontrollformeln der Rechtsprechung
Zunächst werden die im Wesentlichen noch zur Verfü- gung stehenden Kontrollparameter im Überblick und der Inhalt der daraus in der Rechtsprechung entwickel- ten Kontrollformeln dargestellt. So erstreckt sich die gerichtliche Prüfung nach der vorherrschenden neuen Kontrollformel des Bundesverwaltungsgerichtes allein auf das Vorliegen von Verfahrensfehlern, die vollständi- ge und zutreffende Ermittlung des Sachverhalts, die Ein- haltung des geltenden Rechts und allgemein gültiger Bewertungsmaßstäbe, das Anstellen sachfremder Erwä- gungen sowie die Feststellung sonstiger Verstöße gegen das Willkürverbot. (Nur) in der bayerischen Verwal- tungsgerichtsbarkeit wird vorgeblich einer erweiterten Kontrollformel zudem geprüft, ob die Bewertung des Prüfers in sich schlüssig und nachvollziehbar ist und dem Gebot der rationalen Abwägung gerecht wird.
bb) Differenzierung zwischen den Voraussetzungen der Eröffnung und den Grenzen des Bewertungsspielraums
Diese beiden Kontrollformeln benennen die Rechtmä- ßigkeitsvoraussetzungen für die Prüfungsentscheidung im weiteren Sinne. Richtigerweise ist aber entgegen der bisherigen Dogmatik in Bezug auf den Bewertungsspiel- raum des Prüfers rechtslogisch zwischen den Vorausset- zungen seiner Eröffnung und den Grenzen seiner Aus- übung zu differenzieren. Entsprechend diesem Stand- punkt werden eine verfahrensfehlerfrei ermittelte und vom Prüfer vollständig und zutreffend erfasste Prü- fungsleistung sowie die Eignung der Prüfungsaufgabe als Eröffnungsvoraussetzungen benannt und diese soweit (noch) erforderlich im Einzelnen erläutert. Dem- gemäß wird die erforderliche Eignung der Prüfungsauf- gabe eingehend behandelt, die davon abhängt, ob die Prüfungsaufgabe entsprechend den Bestimmungen der Prüfungsordnung ausgewählt worden und zur Ermitt- lung der wahren und für die Berufsausübung erforderli- chen Kenntnisse und Fähigkeiten geeignet gewesen ist. Daher werden insbesondere die sich aus den gesetzli- chen Regelungen ergebenden Anforderungen an Art und Inhalt der Prüfung unter Berücksichtigung der ver- fassungsrechtlichen Vorgaben bestimmt.
cc) (Bisherige) Grenzen des Bewertungsspielraums als „verkappte Abwägungskontrolle“
Nach kurzen Darlegungen zum Sachverhaltsirrtum des Prüfers, der entsprechend dem neuen dogmatischen Ansatz als Verfahrensfehler eingeordnet wird, erfolgt die Darstellung der (bisherigen) Grenzen des Bewertungs- spielraums, die in dem „anzuwendenden Recht“ und den „allgemeinen Bewertungsgrundsätzen“ gesehen werden. Zunächst wird darauf hingewiesen, dass sich die Wirkung von objektiven Bewertungsmaßstäben, die aus Rechtsvorschriften abgeleitet oder schlicht als „allge- mein gültiger Bewertungsgrundsatz“ postuliert werden, mit Blick auf den dargestellten Ablauf des Bewertungs- vorgangs darin erschöpft, im gewissen Grad den Abwä- gungsprozess des Prüfers zu steuern, sich durch sie die Prüfungsnote aber nicht im Vorhinein bestimmen lässt. Anschließend werden kurz die wenigen, sich aus den Prüfungsregelungen ergeben Bewertungsvorgaben im Lichte der verfassungsrechtlichen Determinanten her- ausgearbeitet.
Im Anschluss erfolgt eine ausführliche Auseinander- setzung mit den in ihrer Bedeutung bislang ungeklärten „allgemeinen Bewertungsgrundsätzen“, indem ihre Ent- wicklung in Rechtsprechung und Literatur eingehend
beleuchtet und ihr bisheriger Inhalt dargestellt wird. Da- bei zeigt sich im Ergebnis, dass das Gebot der Sachlich- keit und der Respektierung des Antwortspielraums des Prüflings – die beiden bislang allein anerkannten Bewer- tungsgrundsätze – Instrumente einer „verkappten Ab- wägungskontrolle“ darstellen. Dabei kommt dem Gebot der Respektierung des Antwortspielraums des Prüflings die Funktion zu, den Abwägungsvorgang zu steuern, während das Sachlichkeitsgebot nur ein Abwägungser- gebnis falsifizieren kann.
dd) Das neue Modell der rationalen Abwägungskont- rolle
Sodann wird nachgewiesen, dass sich hinter dem Kontroll- kriterium des rationalen Abwägungsgebots, an dem die bayerischen Verwaltungsgerichte vorgeblich ihrer Kontroll- formel die Bewertung des Prüfers zusätzlich messen, ein eigenständiges,erweitertesKontrollmodellverbirgt.Hierzu werden zunächst die bisherigen Ansätze zu einer rationalen Abwägungskontrolle in Rechtsprechung und Literatur auf- gezeigt. Anschließend wird das von Riehm in einer jünge- ren Untersuchung entwickelte universelle Abwägungskont- rollmodell vorgestellt. Nach diesem beschränken sich die Möglichkeiten einer (gerichtlichen) Überprüfung einer Abwägungsentscheidung auf eine formale Rationalitäts- kontrolle im Sinne der Sachbezogenheit und Konsistenz der zur Begründung der Abwägungsentscheidung ange- führtenGründesowieininhaltlicherHinsichtaufdieEin- haltungdesAbwägungsrahmensimSinnederBeachtung der (gesetzlichen) Abwägungsregeln und im Rahmen der Subsumtionskontrolle auf das Vorliegen einer abstrakten Fehlgewichtung maßgeblicher Abwägungsgesichtspunkte.
Dieses Kontrollmodell Riehms stimmt weitgehend mit der bauplanungsrechtlichen Abwägungsfehlerlehre überein. Das Bundesverwaltungsgericht hat anlässlich einer entsprechenden Anregung des Verfassers ihre He- ranziehung zur (gerichtlichen) Kontrolle von Prüfungs- entscheidungen abgelehnt. In der hier vorgestellten Un- tersuchung wird nun nachgewiesen, dass die von der Rechtsprechung für die Kontrolle von Bauleitplänen ent- wickelte Abwägungsfehlerlehre entgegen dem Bundes- verwaltungsgericht auf das Prüfungsrecht übertragbar ist. Hierzu wird die Parallelität der Entscheidungsstruk- turen aufgezeigt und im Einzelnen belegt, dass den Kon- trollparametern der Abwägungsfehlerlehre (Abwä- gungsausfall, ‑defizit, ‑fehleinschätzung, ‑disproportio- nalität) auch im Prüfungsrecht materiell-rechtliche Bin- dungen gegenüberstehen. Diese Kontrollparameter sind für das Prüfungsrecht um das bislang als allgemeiner Be- wertungsgrundsatz anerkannte Gebot der Sachlichkeit
zu ergänzen, das im rationalen Abwägungskontrollmo- dell die Funktion eines weiteren Abwägungsfalsifikati- onsmaßstabs einnimmt. Auch die so erweiterte Abwä- gungsfehlerlehre führt aber nur zu einer Kontrolle der Abwägung im engeren Sinne. Von dieser zu unterschei- den ist im rationalen Abwägungskontrollmodell die Überprüfung der Einhaltung der den Abwägungsrah- men absteckenden Abwägungsdirektiven. Das sind ne- ben den gesetzlichen Bewertungsvorgaben das Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen und nament- lich das Gebot der Respektierung des Antwortspiel- raums des Prüflings in Fachfragen, nachdem eine ver- tretbare und mit gewichtigen Gründen folgerichtig be- gründete Lösung nicht als falsch bewertet werden darf.
ee) Der „Antwortspielraum“ des Prüflings als Abwä- gungsdirektive
Die (möglichen) Steuerungswirkungen dieser Abwä- gungsdirektive werden nachfolgend eingehend behan- delt. Dabei wird zunächst aufgezeigt, dass das „Gebot der Respektierung des Antwortspielraums in Fachfragen“, so wie es derzeit in der Rechtsprechung ausgelegt und ange- wendet wird, nicht als Kontrollmaßstab fungiert. Diese Funktion hat der „Antwortspielraum“ dadurch einge- büßt, dass die Verwaltungsgerichte von Anfang an den Rechtsstandpunkt eingenommen und bis heute beibe- halten haben, dass die Beurteilung der „Gewichtigkeit der Argumentation“ und der „Folgerichtigkeit der Lösung“ komplexe prüfungsspezifische Wertungen erforderten mit der Folge, dass diese allein dem Prüfer innerhalb seines nur eingeschränkt überprüfbaren Bewertungsspielraums zustehe. Diese Sichtweise hat zur Konsequenz, dass der Prüfer sich im Regelfall immer auf eine unzureichende Begründung und der Prüfling dann nicht auf seinen „Antwortspielraum“ berufen kann.
Damit ist die mit der Postulierung des „Antwort- spielraums“ angestrebte Rechtsschutzintensivierung für den Prüfling nur erreichbar, wenn das Vorliegen aller seiner konstituierenden Voraussetzungen vom Verwal- tungsgericht vollständig überprüft wird. Dies ist entge- gen den bisherigen Annahmen auch ohne Weiteres mög- lich. Bei der „Gewichtigkeit“ der Argumentation handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auch in anderen Rechtsvorschriften Anwendung findet und der abstrakt-objektiven Konkretisierung zugänglich ist. Und soweit das Bundesverfassungsgericht die Folgerich- tigkeit der Lösung verlangt, wird in der Sache die Einhal- tung der objektiven Regeln der Logik vorausgesetzt, die auch das Verwaltungsgericht ohne Weiteres überprüfen kann. Da im Übrigen weitgehend anerkannt ist, dass alle
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durch die Prüfungsaufgabe und deren Lösung aufgewor- fenen Fragen, die einem fachlichen Richtigkeitsurteil zu- gänglich sind, gerichtlich überprüfbar sind, kann bei der aufgezeigten richtigen Anwendung des „Gebots der Res- pektierung des Antwortspielraums des Prüflings in Fachfragen“ tatsächlich eine wesentliche Einengung des Bewertungsspielraums des Prüfers erreicht werden.
Im Anschluss an die Konkretisierung der Abwä- gungsdirektiven wird noch einmal zusammenfassend auf die Abwägungsfalsifikationsmaßstäbe und hier in Ergänzung der bisherigen Darstellung näher auf die for- mellen Rationalitätsanforderungen und das Sachlich- keitsgebot eingegangen.
Abschließend werden das Erfordernis der Erheb- lichkeit von Abwägungsfehlern herausgearbeitet und die Kriterien für ihre Annahme entwickelt. Während im Ergebnis Fehler im Abwägungsvorgang stets als er- heblich anzusehen sind, müssen die Auswirkungen von Fehlern bei der Zusammenstellung des Abwä- gungsmaterials in erster Linie anhand der Prüferer- klärungen beurteilt werden, soweit diese plausibel sind.
V. Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Das siebte Kapitel der Untersuchung befasst sich erst- mals detailliert mit den Voraussetzungen für die Einlei- tung und Durchführung des Überdenkungsverfahrens, die in den einschlägigen Juristenausbildungsgesetzen- und Ordnungen nur ansatzweise benannt sind und bis zuletzt weder in der Rechtsprechung noch in der Litera- tur näher beleuchtet worden sind. Jüngst hat nun Mor- genroth in einem in dieser Zeitschrift nach der Druckle- gung der Dissertation veröffentlichten Beitrag den Ver- such unternommen, dem Überdenkungsverfahren durch die Beantwortung von Fragen, die sich aus der Sicht der Hochschulen diesbezüglich aufdrängen, Kon- turen zu verleihen.1 Dabei hat er Thesen aufgestellt, die nicht unwidersprochen bleiben können.
1. Zur Funktion des Überdenkungsverfahrens als kompensatorisches Rechtsschutzverfahren
Entgegenzutreten ist zunächst seiner Annahme, dass das Überdenkungsverfahren systematisch zum Leistungsbe- wertungsverfahren und nicht zum Rechtsschutzverfah- ren zählt.2 Wie bereits ausgeführt schafft die Durchfüh- rung desselben einen verfassungsrechtlich notwendigen Ausgleich für die Rechtsschutzlücke, die dadurch ent-
1 Morgenroth, OdW 2017, 13 ff.
steht, dass die prüfungsspezifischen Bewertungen des Prüfers (auch bei der Anwendung des in der Untersu- chung entwickelten Modells der rationalen Abwägungs- kontrolle) gerichtlich nur eingeschränkt überprüft wer- den können. Indem der Prüfer namentlich seine prü- fungsspezifischen Wertungen überdenkt, leistet er den gebotenen kompensatorischen Rechtsschutz. Zwar geht das Überdenken der Bewertung, soweit die Einwände des Prüflings dazu veranlassen, mit einer (partiellen) Neubewertung der Prüfungsleistung einher. Dies recht- fertigt es aber nicht, das Überdenkungsverfahren dem Leistungsbewertungsverfahren zuzuordnen. Vielmehr ist zu erkennen, dass eine (partielle) Neubewertung der Prüfungsleistung nur Folge der gebotenen kompensato- rischen Rechtsschutzgewährung ist bzw. sein kann, wei- ter, dass dieser entsprechend die (Neu-) Bewertungsbe- fugnisse des Prüfers im Überdenkungsverfahren richti- gerwiese nur so weit reichen wie die Einwände des Prüflings und auch deshalb die Zuordnung desselben zum Leistungsbewertungsverfahren nicht sachgerecht erscheint.
Aus der (richtigen) Erkenntnis, dass das Verfahren des Überdenkens der Bewertung rechtssystematisch kompensatorischen Rechtsschutz gewährt, lassen sich gewichtige Folgerungen für die Anforderungen an die Einleitung und Durchführung desselben ableiten.
2. Das Erfordernis der Erhebung substantiierter Bewertungsrügen als Einleitungsvoraussetzung
Die Durchführung eines Überdenkungsverfahrens kann der Prüfling nur bei der Erhebung substantiierter Ein- wände beanspruchen, zu deren Formulierung er aber nur in der Lage ist, wenn er die Gründe erfährt, die die Prüfer zu der streitgegenständlichen Bewertung bewo- gen haben. Aus dieser Erkenntnis resultiert ein Anspruch des Prüflings auf eine nachvollziehbare Begründung der Bewertung und ein Recht auf Einsicht in diese.
3. Das Akteneinsichtsrecht des Prüflings als notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erhebung substantiier- ter Bewertungsrügen
Das Akteneinsichtsrecht des Prüflings ist mittlerweile überwiegend spezialgesetzlich in den Juristenausbil- dungsgesetzen- bzw. Verordnungen sowie allgemein (§ 29 LVwVfG, § 79 LVwVfG i.V.m. § 100 VwGO) ohnehin geregelt. Der Anwendungsbereich der ver- schiedenen Rechtsgrundlagen wird gegeneinander abgegrenzt und ihr Inhalt teils kritisch im Lichte der Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG beleuchtet. Im
2 Morgenroth, OdW 2017, 13 (23).
Ergebnis wird unabhängig von der jeweils einschlägi- gen Rechtsgrundlage für ein in zeitlicher und gegen- ständlicher Hinsicht grundsätzlich unbeschränktes und namentlich die Anfertigung von Ablichtungen der Prüfungsunterlagen umfassendes Akteneinsichts- recht eingetreten. Morgenroth will demgegenüber die „Pflicht zur Ermöglichung von Fotokopien“ auf Aus- nahmefälle beschränken und meint, dass eine solche Praxis mit dem Gebot der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes zu vereinbaren sei.3 Diese These ist schon in sich widersprüchlich, soweit von einer „Pflicht“ die Rede ist, die aber nicht erfüllt zu werden braucht. Im Übrigen begründet Morgenroth seinen Rechtsstand- punkt nicht mit gewichtigen Argumenten. Insbesondere benennt er kein legitimes Interesse der Hochschulen, dem Prüfling die Anfertigung von Ablichtungen zu ver- wehren, das aber erforderlich wäre, um die Beschrän- kung der sich aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 GG ergebenden Rechte des Prüflings zu rechtfertigen. Tat- sächlich lässt sich ein solches, wie in der Untersuchung im Einzelnen nachgewiesen wird, aber auch nicht begründen.
4. Der Begründungsanspruch des Prüflings als weitere Vorbedingung
Im Anschluss an das Akteneinsichtsrecht wird der Begründungsanspruch des Prüflings behandelt. Dessen Erfüllung ist für die Realisierung seines Überdenkensan- spruchs gleichermaßen konstituierend wie die Gewäh- rung eines Akteneinsichtsrechtes. Dennoch sind die Voraussetzungen und der Inhalt des aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG ableitbaren Begründungsan- spruchs gesetzlich nur vereinzelt und zwar für die Bewer- tung mündlicher Prüfungsleistungen geregelt. Danach hängt deren Begründung entsprechend der allgemeinen und vom Verfasser geteilten Annahme von einem ent- sprechenden Verlangen des Prüflings ab, während sie wegen ihrer Garantie- und Klarstellungsfunktion bei der Bewertung einer schriftlichen Prüfungsleistung obliga- torisch ist.
An das notwendige Begründungsverlangen des Prüf- lings bei mündlichen Prüfungen dürften aber keine be- sonderen Anforderungen gestellt werden. Abzulehnen ist – um insbesondere Überschneidungen mit der Reali- sierung des Überdenkensanspruchs zu vermeiden – die mitunter geforderte einwendungsbezogene Spezifizie- rung desselben. Soweit der Prüfling unmittelbar im An-
- 3 Morgenroth, OdW 2017, 13 (21).
- 4 Morgenroth, OdW 2017, 12 (24); auch dem Zweiten Senatdes Bundesverwaltungsgerichtes ist in einem Beschluss vom 21.12.2016 – 2 B 108/15, juris, insb. Rn. 15, dieser Fehler unter- laufen. In dem Fall ging es nicht um die Anforderungen an die
schluss an die Bekanntgabe der Bewertung einer münd- lichen Prüfungsleistung und gegebenenfalls deren kur- zer Begründung mit den Prüfern über deren Angemes- senheit diskutiert, erhält er eine erweiterte Begründung der Bewertung, gegen die er dann zu einem späteren Zeitpunkt Einwände im Rahmen des Widerspruchsver- fahrens erheben kann. Morgenroth verkennt in seiner Abhandlung diese gebotene Differenzierung zwischen dem Anspruch des Prüflings auf eine erweiterte Begrün- dung der Bewertung und deren Überdenken.4
Die Garantie‑, Klarstellungs- und Rechtschutzfunkti- on der Begründung erfordert auch bei mündlichen Prü- fungen im Regelfall eine schriftliche Begründung der Bewertung. Erstaunlich ist, dass der Zweite Senat des Bundesverwaltungsgerichtes in einem Beschluss vom 21.12.2016 den Rechtsstandpunkt eingenommen hat, dass eine schriftliche Begründung der Bewertung der mündlichen Prüfungsleistung verfassungsrechtlich nicht zwingend erforderlich ist. Diese Aussage ist jedenfalls für den Fall nicht richtig und mit der Rechtsprechung des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichtes5 unver- einbar, dass der Prüfling eine (schriftliche) Begründung der Bewertung seiner mündlichen Prüfungsleistungen verlangt und deren Erstellung den Prüfern zum Zeit- punkt des Begründungsverlangens noch möglich ist. Entgegenstehe Regelungen in den Prüfungsordnungen sind daher – soweit möglich – verfassungskonform auslegen.
Die Anforderungen an Inhalt und Umfang der Be- gründung der Bewertung werden in Abweichung von der bisherigen Dogmatik wegen der äquivalenten Funk- tion der Begründung eines Urteils und der Parallelität der Entscheidungsstrukturen ausgehend von § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO analog bestimmt. Demgemäß wird (nur) eine Pflicht des Prüfers zur Angabe der leitenden Erwä- gungen angenommen, die sein Abwägungs- und Bewer- tungsergebnis bestimmt haben. Deren Erfüllung macht es erforderlich, dass die vom Prüfer angenommenen fachlichen Anforderungen und die angewendeten prü- fungsspezifischen Abwägungs- und Gewichtungskriteri- en in einer solchen Ausführlichkeit angegeben werden, dass die (Punkt-)Bewertung entsprechend dem forma- len Rationalitätspostulat schlüssig und nachvollziehbar aus dem Wortgutachten folgt.
Fehlt eine Begründung oder ist sie gemessen an den für richtig gehaltenen Maßstäben völlig unzureichend, wird für eine Neubewertung durch einen anderen Prüfer
Begründung der Bewertung einer mündlichen Prüfungsleistung, sondern diejenigen für die Durchführung des Überdenkungsver- fahrens.
5 Siehe BVerwGE 99, 185 (195 f.).
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eingetreten, da nur so einer mit dem Chancengleich- heitsgrundsatz unvereinbaren Änderung der Bewer- tungskriterien durch den ursprünglichen Prüfer begeg- net werden kann. Liegt eine ausreichende Bewertungs- begründung vor, wird der in der Rechtsprechung teils angenommene Anspruch des Prüflings auf eine weitere, konkretere Begründung der Bewertung unter der Vor- aussetzung der Erhebung substantiierter Einwände ab- gelehnt. Eine Konkretisierung der Begründung stellt sich in diesem Fall nämlich nur als Nebeneffekt bei der Reali- sierung des Anspruchs auf ein Überdenken der Bewer- tung bzw. der Gewährung rechtlichen Gehörs dar (ent- sprechend § 108 Abs. 2 VwGO).
Abschließend werden zunächst noch „praktische Handreichungen“ für die konkrete Umsetzung der zuvor erarbeiteten abstrakten Begründungsanforderungen durch die Entwicklung verallgemeinerungsfähiger Grundsätze gegeben.
Sodann wird darauf hingewiesen, dass die aufgestell- ten Begründungsanforderungen gleichermaßen für den Zweitprüfer gelten. Dieser kann sich aber bei der über- wiegend durchgeführten „offenen Zweitkorrektur“ einer ausreichenden Erstbegründung anschließen, soweit er die Bewertung des Erstprüfers und deren Begründung teilt.
Gesteigerte Begründungspflichten des Zweitkorrek- tors sind auch für den Fall, dass seine Bewertung dazu führt, dass die Klausur als nicht bestanden gilt, abzuleh- nen. Die insoweit lebhaft geführte Diskussion behandelt eine Scheinproblematik, da es hier in der Sache immer nur um die Frage der ausreichenden Umsetzung der ab- strakten Anforderungen namentlich für die Begründung der prüfungsspezifischen Wertungen geht.
5. Die Substantiierungsobliegenheit des Prüflings
Nach der Darstellung des Akteneinsichtsrechts des Prüf- lings sowie seines Begründungsanspruchs als notwendi- ge Vorbedingungen für die Erhebung substantiierter Einwände gegen die Bewertung erfolgt eine nähere Aus- einandersetzung mit dieser allgemein postulierten Obliegenheit des Prüflings. Zunächst werden die rudi- mentären gesetzlichen Regelungen der Substantiie- rungsobliegenheit und hier vor allem diejenige in Rhein- land-Pfalz vorgestellt, nach der eine Prüferbeteiligung nur unter der Voraussetzung erfolgt, dass nach summa- rischer Prüfung der Einwände des Prüflings das Vorlie- gen von Bewertungsfehlern nicht ausgeschlossen erscheint (§ 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP).
Die Substantiierungsobliegenheit und ihre gesetzli- chen Regelungen werden sodann im Lichte der Art. 12
6 So aber Morgenroth, OdW 2017, 12 (20).
Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG bewertet. Im Ergebnis wird eine Substantiierungsobliegenheit des Prüflings im Grundsatz als unproblematisch erachtet, aber zu beden- ken gegeben, dass die Voraussetzungen für den Zugang zum Überdenkungsverfahren nicht in einer unzumutba- ren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Art und Weise erschwert werden dürfen. Kritisch in den Blick genommen wird insoweit die in Rheinland-Pfalz getroffene Regelung. Da der Prüfling gerade die Mög- lichkeit haben muss, die „subjektive Richtigkeit“ der Be- wertung auch durch isolierte Einwände gegen die prü- fungsspezifischen Wertungen anzuzweifeln, wird § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP daher als verfassungswidrig angesehen.
Nach der Darstellung der bislang aufgestellten Subs- tantiierungsanforderungen in Rechtsprechung und Lite- ratur wird ausgehend von der strukturellen Identität der einem Prüfungsurteil und einem Urteil im Allgemeinen vorausgehenden Abwägungsprozesse in analoger An- wendung der §§ 124 Abs. 2 Nr. 1, 124 a Abs. 4 Satz 2 VwGO eine eigene Substantiierungsformel entwickelt. Nach dieser ist maßgeblich, ob es dem Prüfling gelungen ist, ernstliche Zweifel an der objektiven oder subjektiven Richtigkeit der Bewertung aufzuzeigen. Dies ist der Fall, wenn er eine erhebliche Tatsachenfeststellung, den tra- genden (abstrakten) Rechtssatz oder Maßstab einer fach-oder prüfungsspezifischen Wertung oder ein kon- kretes Subsumtionsergebnis mit schlüssigen Gegenargu- menten in Frage gestellt hat. In diesem Zusammenhang ist der Rechtsansicht von Morgenroth entschieden entge- genzutreten, dass es nicht zulässig sei, im Überden- kungsverfahren eine Vertretbarkeitsrüge bzw. sonstige Bewertungsfehler geltend zu machen.6 Zwar ist es rich- tig, dass ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren nur zum Zwecke des Überdenkens der prüfungsspezifischen Bewertungen durchgeführt werden muss und die bloße Rüge von Bewertungsfehlern eine Prüferbeteiligung nicht erfordert. Dies schließt es aber nicht nur nicht aus, dass der Prüfer neben den prüfungsspezifischen Wer- tungen auch seine fachlichen Einschätzungen über- denkt. Vielmehr erscheint dies aus Praktikabilitätsgrün- den zwingend geboten, da fachspezifische mit prüfungs- spezifischen Wertungen im Regelfall untrennbar ver- knüpft sind. Stellt der Sachbearbeiter beim Prüfungsamt einen Bewertungsfehler fest, muss dieser ohnehin den Prüfer mit dessen Korrektur beauftragen, weil nur dieser die Prüfungsleistung neu bewerten darf. Vor diesem Hintergrund ist es wesentlich effektiver, dem Prüfer von vornherein eine umfassende Selbstkontrolle seiner Be- wertung im Lichte der Einwände des Prüflings zu er-
möglichen. So verfährt auch die Praxis und dies nicht nur bei der Erhebung von Einwänden gegen die Bewer- tung juristischer Prüfungsleistungen.
Das bislang in der Rechtsprechung teils weiter ge- hend aufgestellte Erfordernis der Schlüssigkeit der Ein- wendungen in dem Sinne, dass die Einwendungen des Prüflings die Prüferkritik auch tatsächlich berühren, ist abzulehnen, weil nur der Prüfer beurteilen kann, ob dies der Fall ist.
6. Anforderungen an die Durchführung des Überdenkungs- und Widerspruchsverfahrens
Nachdem die Voraussetzungen für die Einleitung des Über- denkungsverfahrens abgehandelt worden sind, werden die Anforderungen für die Durchführung desselben und des Widerspruchsverfahrens dargelegt. In diesem Zusammen- hang ist klarzustellen, dass mit Ausnahme von Bayern das Überdenkungsverfahren in allen Bundesländern im Rah- men des Widerspruchsverfahrens durchgeführt wird. Mor- genroth tritt allgemein einer solchen Einbettung entgegen,7 was wie dargelegt darauf beruht, dass er die Rechtsschutz- funktion des Überdenkungsverfahrens verkennt. Erkennt man diese, ist das Widerspruchsverfahren der ideale Stand- ort für die Durchführung des Überdenkungsverfahrens. In der Untersuchung wird herausgearbeitet, dass die im Widerspruchsverfahren gebotene Kontrolle der Recht- und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einer Art Kooperationsverhältnis zwischen dem Prüfungsamt und dem Prüfer durchgeführt wird. Im Rahmen dessen wird – wie bereits ausgeführt – die Zweckmäßigkeitskontrolle durch den Prüfer in Form des Überdenkens seiner prü- fungsspezifischen Bewertungen durchgeführt, während die Sachbearbeiter beim Prüfungsamt die (abschließen- de) Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Bewertung vor- nehmen. Wie dargelegt schließt diese grundsätzliche Aufgabenverteilung es aber nicht aus, den Prüfern auch eine Selbstkorrektur der vom Prüfling gerügten Bewer- tungsfehler zu ermöglichen. Diese zusätzliche Kontrolle stärkt den Rechtsschutz des Prüflings weiter. Im gegebe- nen Kontext ist Morgenroth auch insoweit entgegenzu- treten, als er der Ansicht ist, dass die Anwendung eines Prüfungsbewertungsmaßstabs reine Rechtsanwendung darstellt, deshalb im Überdenkungsverfahren keine Zweckmäßigkeitskontrolle stattfindet und das Wider- spruchsverfahren für seine Durchführung daher unpas- send ist.8 Tatsächlich liegt eine Rechtsanwendung nur vor, wenn der Prüfer objektive Bewertungsmaßstäbe anwendet bzw. beachten muss, die aus dem geltenden Recht einschließlich des Verfassungsrechts folgen.
- 7 Morgenroth, OdW 2017, 12 (23).
- 8 Morgenroth, OdW 2017, 12 (24).
Soweit seine Bewertung auf seinen subjektiven Bewer- tungskriterien beruht, kommen außerrechtliche Maß- stäbe zur Anwendung, die nur einer Zweckmäßigkeits- überprüfung, aber keiner Rechtskontrolle zugänglich sind. Das wird von Morgenroth selbst nicht in Abrede gestellt.9
7. Befassungs- und Bescheidungspflicht des Prüfers
In Bezug auf den Umgang des Prüfers mit den subs- tantiierten Einwänden des Prüflings wird in der Untersuchung zur Gewährleistung der Rechtsschutz- funktion des Überdenkungsverfahrens eine umfas- sende Befassungs- und Bescheidungspflicht ange- nommen, die rechtsfortbildend neu in § 108 Abs. 2 VwGO analog verortet wird. Dieser Vorschrift bzw. ihrer Auslegung in Rechtsprechung in Literatur wer- den auch die im Einzelnen zu stellenden Anforderun- gen an den Umfang der Stellungnahme des Prüfers entnommen. Soweit das Bundesverwaltungsgericht nun in einem am 21.9.2016 gefassten Beschluss, der in der Untersuchung nicht mehr berücksichtigt werden konnte, den Rechtssatz aufgestellt hat, dass der Umfang und die Begründungstiefe, die eine im Über- denkungsverfahren abgegebene Stellungnahme auf- weisen muss, von der Substanz der im konkreten Fall vom Prüfling vorgebrachten Einwände abhinge,10 steht dieser mit dem in der Untersuchung aufgestell- ten Postulat einer umfassenden Befassungs- und Bescheidungspflicht durchaus in Einklang, die natür- lich unter dem Vorbehalt steht, dass die Einwände des Prüflings hinreichend substantiiert und schlüssig sind.
8. Kompetenzen des Prüfers im Überdenkungs- verfahren
Im Rahmen der abschließenden Auseinandersetzung mit den Kompetenzen des Prüfers im Überdenkungs- verfahren wird erstmals zwischen einer formellen Über- prüfungsberechtigung, deren Umfang durch die Ein- wände des Prüflings bestimmt wird, sowie der materiel- len Neubewertungs-/Abänderungsbefugnis des Prüfers differenziert. Diese ist innerhalb einer bestehenden Überprüfungskompetenz unter der Voraussetzung der Beibehaltung des bisherigen Bewertungsmaßstabs unbe- schränkt. Auch eine Änderung der Bewertung zum Nachteil des Prüflings und eine darauf aufbauende Auf- hebung/Abänderung der ursprünglichen Prüfungsent- scheidung sind möglich, wenn ihr keine schutzwürdigen Belange des Prüflings entgegenstehen.
9 Morgenroth, OdW 2017, 12 (24).
10 BVerwG, Bes. vom 21.9.2016 – 6 B 14/16, juris, Rn. 11.
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VI. Verwaltungsprozessuale Rechtsschutz- möglichkeiten
Im Rahmen des Schlusskapitels der Dissertation wird dargestellt, mit welchen prozessualen Mitteln der Prüf- ling seinen Anspruch auf eine „richtige“ Prüfungsent- scheidung und die zu seiner Durchsetzung dienenden Nebenansprüche (Akteneinsichtsrecht, Begründungsan- spruch etc.) gerichtlich (weiter-) verfolgen und unter welchen Voraussetzungen das jeweilige Rechtsschutzbe- gehren erfolgreich sein kann.
1. Bestimmung des Streitgegenstandes
Eingangs der diesbezüglichen Darstellung wird der in das gerichtliche Verfahren einzuführende Streitgegen- stand bestimmt. Hier wird auf die prüfungsrechtliche Besonderheit hingewiesen, dass sich der Prüfling zwar formal gegen die im jeweiligen Prüfungsbescheid getrof- fene Regelung, in der Sache aber gegen das Verfahren der Ermittlung einer oder mehrerer Teilprüfungsleis- tung (en) oder deren Bewertung wendet. So stellt bei von ihm erhobenen materiellen Rügen gegen die Bewertung, die zur Einholung von Prüferstellungnahmen geführt haben, deren Begründung in der Gestalt, die sie durch das verwaltungsinterne Kontrollverfahren erhalten hat, den Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle dar. Dieser Kontrollgegenstand kann durch die Einholung erstmali- ger oder ergänzender Prüferstellungnahmen Verände- rungen unterworfen sein. In diesem Fall ist der Prüfling gehalten, darauf zur Meidung prozessualer Nachteile zu reagieren (prozessbeendende Erklärung, weiter gehende Substantiierung).
2. (Erneute) Prüferbeteiligung während des gerichtli- chen Verfahrens?
Ausgehend von diesen möglichen Veränderungen des Streitgegenstandes wird anschließend den Fragen nach- gegangen, ob auch gegen den Willen des Prüflings Stel- lungnahmen der Prüfer zu seinen prozessualen Bewer- tungsrügen eingeholt werden können und ob und unter welchen Voraussetzungen er umgekehrt eine (erneute) Prüferbeteiligung verlangen kann. Die erste Frage ist im Hinblick auf die Dispositionsbefugnis des Prüflings zu verneinen.
Hinsichtlich der zweiten Frage gilt es, die unter- schiedlichen Fallkonstellationen zu unterscheiden, in denen ein Bedürfnis des Prüflings für eine erneute bzw. erstmalige Prüferbeteiligung bestehen kann. Im Ergeb- nis wird in der Untersuchung ein diesbezüglicher An- spruch zunächst in den Fällen bejaht, in denen es nicht
11 VG Stuttgart, Bes. v. 5.5.2017 – 2 K 4815/17, n.v.
dem Prüfling angelastet werden kann, dass ein Überden- kungsverfahren nicht durchgeführt worden ist; aber auch bei einer infolge einer Obliegenheitsverletzung un- terbliebenen Prüferbeteiligung oder dem (einstweiligen) Verzicht des Prüflings auf eine solche wird ein fortbeste- hender Überdenkensanspruch bejaht. Grund hierfür ist, dass die gebotene Abwägung zwischen dem (kompensa- torischen) Rechtsschutzinteresse des Prüflings und dem bloßen Interesse der Prüfer an einer unterbleibenden In- anspruchnahme für eine verwaltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung eindeutig zugunsten des Prüflings ausgeht.
3. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium
Nach erfolgter Klärung der Zulässigkeit bzw. Geboten- heit einer (erneuten) Einbindung der Prüfer in die (gerichtliche) Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Prü- fungsentscheidung wird das dem Prüfling zur Verfü- gung stehende Rechtsschutzinstrumentarium darge- stellt. Hier werden zunächst die statthaften Klagearten bei den jeweils in Betracht kommenden Begehren des Prüflings und sodann die Rechtsfolgen bei deren prozes- sualer Überholung auch und gerade mit Blick auf daraus resultierende Handlungslasten des Prüflings behandelt.
4. Vorläufige Rechtsschutzmöglichkeiten
Der nachfolgende Teilabschnitt widmet sich der Frage, wel- che Möglichkeiten der Prüfling hat, seinen Anspruch auf eine „richtige“ Prüfungsentscheidung sowie die zu seiner Durchsetzung dienenden Neben- und Hilfsansprüche im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes durchzusetzen, die im Hinblick auf die immer noch zunehmende Dauer der Hauptsacheverfahren von überragender Bedeutung ist. Prinzipiell kann der Prüfling seine Neben- und Hilfsan- sprüche (Akteneinsichtsrecht, Begründungsanspruch, Überdenkensanspruch etc.) durch den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO durchsetzen, sofern dem nicht § 44a Satz 1 VwGO, wonach Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zuläs- sigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden können, ent- gegensteht. In vielen Fällen, insbesondere bei einem schon abgeschlossenen Widerspruchsverfahren, ist diese Vorschrift aber bereits tatbestandlich nicht einschlägig. Im Übrigen bedarf § 44a Satz 1 VwGO innerhalb seines Anwendungsbereichs mit Blick auf den Gewährleis- tungsgehalt der Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG der verfassungskonformen Auslegung, soweit näm- lich durch die Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes Nachteile entstünden, etwa das Unmöglichwerden des
Überdenkens der Bewertung durch die Prüfer infolge Zeitablaufs und der dadurch verblassten Erinnerung an das (mündliche) Prüfungsgeschehen, die im späteren Hauptsacheverfahren nicht mehr ausgeglichen werden könnten. Dies war bislang auch der überwiegende Stand- punkt der Rechtsprechung. Jüngst hat nun aber das VG Stuttgart in einem bislang unveröffentlichten Beschluss vom 5.5.201711 einen vom Verfasser gestellten Antrag auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Begründung der Bewertung einer Lehrprobe mit Verweis auf § 44a Satz 1 VwGO kurz und knapp für unzulässig erklärt. Die Ent- scheidung des VGH Mannheim als Beschwerdeinstanz und die weitere Entwicklung der Rechtsprechung in die- ser Rechtsfrage bleibt abzuwarten.
Grundsätzlich ist es anerkannt, dass ein Prüfling, der aufgrund unzureichender schriftlicher Prüfungsleistun- gen die Prüfung endgültig nicht bestanden hat, gestützt auf seinen materiell-rechtlichen Hauptanspruch die vor- läufige Zulassung zur mündlichen Prüfung erstreiten kann, weil er anderenfalls gehalten wäre, sein Prüfungs- wissen trotz Ungewissheit über den Ausgang des Haupt- sacheverfahrens und einer etwaigen Neubewertung sei- ner schriftlichen Prüfungsleistungen für einen unabseh- bar langen Zeitraum zu konservieren und fortlaufend zu aktualisieren, was zu Recht als unzumutbar angesehen wird.12 In einem Beschluss vom 19.4.2017 hat der VGH Mannheim nun seine frühere Rechtsprechung bestätigt, wonach eine vorläufige Zulassung zur mündlichen Staatsprüfung bereits aus Rechtsgründen ausscheide, weil der Prüfungsausschuss die Endnote nicht festsetzen könne, solange die in der schriftlichen Prüfung erzielte Note nicht feststünde.13 Diese Rechtsprechung des VGH Mannheim ist im Hinblick auf die insbesondere auch vom Bundesverfassungsgericht betonte gebotene Gewährleis- tung effektiven Rechtsschutzes in der zur Diskussion ste- henden Fallkonstellation14 abzulehnen. Es ist mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar, die unzumutbaren Belastun- gen für den Prüfling durch die gebotene Aufrechterhaltung des notwendigen Prüfungswissen für einen unabsehbar langen Zeitraum anzuerkennen, aber ihn gleichwohl die vorläufige Zulassung wegen der zunächst nicht möglichen Festsetzung der Endnote zur mündlichen Prüfung zu ver- sagen. Hier verkennt der VGH Mannheim im Übrigen, dass wegen der Vorläufigkeit der Zulassung die Festsetzung der Endnote noch gar nicht geboten ist. Da die Endnote noch gar nicht ermittelt werden kann, steht der vorläufi- gen Zulassung zur Prüfung entgegen dem VGH Mann- heim auch nicht entgegen, dass der Prüfungsausschuss
- 12 Siehe etwa aktuell OVG Lüneburg, Bes. v. 19.4.2017 – 2 ME 101/17, n.v.
- 13 VGH Mannheim, Bes. v. 19.4.2017 – 9 S 673/17, juris, Rn. 11 ff.
nach § 5 d Abs. 4 Satz 1 DRiG zu entscheiden hat, ob von dieser aufgrund des vom Prüfling gewonnen Gesamtein- drucks abzuweichen ist. Diese Endscheidung kann erst getroffen werden, wenn das Ergebnis der schriftlichen Prüfung endgültig feststeht. Dass sie tatsächlich auch noch zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden kann, belegen die Konstellationen, in denen der Prü- fungsausschuss erneut eine Abweichensentscheidung treffen muss, weil der Prüfling, der die Prüfung bestan- den hat, eine bessere Bewertung seiner schriftlichen Prü- fungsleistungen im Wege einer Prüfungsanfechtung er- stritten hat. Einer drohenden Verblassung an den in der mündlichen Prüfung vom Prüfling gewonnen Eindruck kann durch die Anfertigung entsprechender Notizen be- gegnet werden.
In der Konsequenz der Rechtsprechung des VGH Mannheim müsste der Prüfling darauf ausweichen, die vor- läufige Neuerbringung und/oder Neubewertung von Prü- fungsleistungen im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu erstreiten. Insbesondere die vorläufige Neubewertung von schriftlichen Prüfungsleistungen ist in der bisherigen Rechtsprechung ausnahmslos mit dem Argument abge- lehnt worden, dass eine Bewertung nicht vorläufig sein könne und daher im Falle der Stattgabe eines entsprechen- den Antrags die Hauptsache unzulässigerweise vorwegge- nommen werden würde. In der Untersuchung wurde dar- auf hingewiesen, dass die Vorläufigkeit der Bewertung da- durch gesichert sei, dass das Ergebnis der Neubewertung keinenBestandhat,wennimHauptsacheverfahrendieKla- ge mangels Vorliegen von Bewertungsfehlern abgewiesen wird. Weiter wird ausgeführt, dass selbst bei Annahme der Vorwegnahme der Hauptsache diese zur gebotenen Ge- währleistung eines effektiven Rechtsschutzes hinzunehmen sei, um unzumutbare Nachteile für den Prüfling zu vermei- den. Diese bestehen darin, dass ein Prüfer, der viele Jahre nach der Erstbewertung eine schriftliche Prüfungsleistung erneut bewerten muss, nicht mehr in der Lage ist, diese nach den seinerzeit angewandten subjektiven Bewertungs- maßstäben zu beurteilen, worauf der Prüfling aber einen Anspruch hat. Insbesondere ist eine Neubewertung inner- halb des ursprünglichen Vergleichsrahmens ansonsten nicht mehr gewährleistet.
Kurz vor Drucklegung der Dissertation hat das VG Bremen nun den ähnlichen Standpunkt eingenommen, dass wegen der immensen Dauer eines Hauptsachever- fahrens ein Anspruch auf die vorläufige Neubewertung einer schriftlichen Prüfungsleistung prinzipiell anzuer- kennen sei.15
14 BVerfG, Bes. v. 25.7.1996 – 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, 479. 15 VG Bremen, Bes. v. 4.3.2015 – 1 V 80/15, juris, Rn. 22 f.
Unger · Anfechtbarkeit juristischer Prüfungen 2 8 7
288 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 4 (2017), 273–288
Im vorletzten Teilabschnitt des Schlusskapitels wird der gerichtliche Entscheidungsfindungsprozess inner- halb der dem Prüfling offen stehenden gerichtlichen Rechtsschutzverfahren beleuchtet. Nach der Darstellung der hier geltenden allgemeinen Grundsätze wird näher auf das Verfahren der Feststellung und der Erheblichkeit von Bewertungsfehlern eingegangen und das in diesem Zusammenhang zu beachtende Selbstbewertungsverbot betont.
Zum Ende des Kapitels und der Untersuchung wer- den noch die verschiedenen Möglichkeiten der Prozess- beendigung dargestellt.
VII. Ergebnis und Ausblick
Auch wenn die vorgestellte Dissertation explizit nur die Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristi- scher (Staats-)Prüfungen untersucht, so gelten ihre wesentlichen Ergebnisse für die Anfechtung aller Prü- fungsentscheidungen. Hervorzuheben ist insoweit zunächst insbesondere die (Fort-) Entwicklung des Modells der rationalen Abwägungskontrolle und seine Heranziehung zur (gerichtlichen) Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Prüfungsentscheidungen. Insoweit
leistet die Untersuchung auch allgemein einen Beitrag zu den Möglichkeiten der Eingrenzung administrativer Entscheidungsfreiräume. Weiter ist zu betonen, dass innerhalb des (fort-) entwickelten Modells der rationa- len Abwägungskontrolle der „Antwortspielraum“ des Prüflings als Abwägungsdirektive eingeführt wird und die Voraussetzungen für seine Eröffnung so interpretiert werden, dass das Gebot seiner Respektierung entgegen der bisherigen Rechtsprechung tatsächlich als Kontroll- maßstab fungiert. Bedeutsam für die Rechtsschutzmög- lichkeiten des Prüflings im Allgemeinen sind auch die erstmals umfassend behandelten Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung des Überdenkungs- verfahrens. Aus den im Zuge der Untersuchung insoweit gewonnenen neuen Erkenntnissen können eventuell auch Folgerungen für die Ausgestaltung des außerge- richtlichen Überprüfungsverfahrens bei der Erhebung von Einwendungen gegen beamtenrechtliche Beurtei- lungen gezogen werden.
Benjamin Unger ist als selbstständiger, auf Prüfungs- recht spezialisierter Rechtsanwalt, in Hildesheim, tätig.