ÜBERSICHT I. Einleitung II. Zwei historische Beispiele 1. Die Einrichtung von Seminaren im 19. Jahrhundert 2. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1966 III. „Bologna“ am Rhein – und an der Elbe 1. Der Vorlauf 2. Die politischen Ziele 3. Das (Aus-)Bildungsdilemma IV. Schlüsse I. Einleitung Wenn Reformen, also Struktureingriffe in ein System, nach dem top-down-Prinzip vorgenommen werden, sehen die Betroffenen dies oft als Angriff, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Initiatoren das auch genau so meinen. Schließlich ist ein solcher Eingriff in der Regel dadurch motiviert, dass ein Missstand ausgeräumt werden soll, den die Betroffenen selbst anscheinend nicht sehen (wollen). Im Folgenden geht es um Eingriffe in die Organisation der Lehre an den Universitäten und den aus dieser Lehre resultierenden Prüfungen. Die dramatischste Reform dieser Art läuft unter dem Namen „Bologna-Prozess“. Zwar ist die Diskussion um diesen Prozess, der nun über 20 Jahre währt, deutlich abgeflaut, aber genau aus dem Grund erscheint es mir reizvoll, mit diesem zeitlichen Abstand vor allem noch einmal in dessen Anfänge zu schauen. Mein Rückblick wird sich von anderen, die es sicherlich zahlreich gibt, dadurch unterscheiden, dass er zu Teilen auf Erfahrungen zurückgreift, die ich selbst in unterschiedlichen universitären Funktionen machen konnte. Dabei werde ich mich größtenteils auf die Geisteswissenschaften beschränken. Wie ich zeigen werde, war die Einführung der gestuften Abschlüsse in Deutschland geleitet vom politischen Willen, auch die Universität dazu zu bewegen, sich deutlicher auf eine Ausbildung auszurichten, die der späteren Beschäftigung der Absolventinnen und Absolventen Rechnung trägt. Eben dieses Ansinnen stößt sich jedoch hart mit dem Grundverständnis universitärer Lehre. Dass man dies nicht einfach damit abtun kann, in der Universität herrsche eben in dieser Hinsicht eine unkurierbar konservative Disposition, wird deutlich, wenn wir noch weiter in der neuere Universitätsgeschichte zurückgehen. An zwei historischen Beispielen möchte ich deshalb zuerst einmal zeigen, dass es schon früher Eingriffe in das Lehr- und Prüfungsgeschehen gab. Wie die Stufung entsprangen auch sie der politischen Intention, die Universität sollte sich stärker als Ausbildungsstätte verstehen, die nicht alleine der eigenen Reproduktion dient. Mit dem ersten historischen Beispiel gehen wir zurück in die zweite Hafte des 19. Jahrhunderts, in die Zeit also, in der sich die Philosophische Fakultät vollkommen neu aufstellte. Die meist von ministerieller Seite oktroyierte Einrichtung von Seminaren als Institution und damit auch einer neuen Lehrform verfolgte – wiewohl sehr moderat – den Zweck, die Lehrerbildung an dieser Fakultät zu verbessern. Das System verarbeitete diesen Eingriff dann allerdings dergestalt, dass sie damit ihren eigenen Wissenschaftsanspruch konsolidierte. Im Rahmen des zweiten Beispiels wird deutlich, wie dauerhaft sich diese Konsolidierung erwies. In den Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1966 ging es wieder darum, universitärer Lehre zumindest teilweise den Charakter der reinen Selbstversorgung zu nehmen. Nun haben wir es allerdings mit einer in vielen Hinsichten anderen Universität zu tun: Ungleich zahlreicher wurde studiert, dies allerdings war auch verbunden mit sehr langen Studienzeiten und hohen Abbruchquoten. Parallel stieg aber auch der Bedarf an wissenschaftlich (aus-)gebildetem Personal in der Berufswelt. Daher das Ansinnen, das Lehr- und Prüfungsgeschehen so umzustrukturieren, dass dies dem außeruniversitäten Bedarf Rechnung trägt. Das aber gelang nur ansatzweise. Und so wurde in den späteren 1990ern ein erneuter Eingriff vorbereitet. Dieser Versuch war zumindest in der Anfangszeit in einen weiteren Kontext gestellt, nämlich den eines gesamteuropäischen Anliegens. Die Überschrift zu diesem Kapitel meines Beitrags lautet „‚Bologna‘ am Rhein –und an der Elbe“, womit ich zum einen ausdrücken möchte, dass der sogenannte „Bologna-Prozess“, um den es da gehen wird, in Deutschland einen sehr spezifischen Weg Ursula Schaefer Reformieren bis zur Selbstauflösung ? –: oder Weshalb die Geisteswissenschaften den „Bologna Prozess“ überlebten Ordnung der Wissenschaft 2020, ISSN 2197–9197 5 4 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2020), 53–62 1 W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1809/1810), in: A. Flitner/K. Giel (Hrsg.), W. von Humboldt: Werke in fünf Bänden, Band IV: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen (1964), S. 255–266, S. 260 f. 2 S. Paletschek, Geisteswissenschaften in Freiburg im 19. Jahrhundert: Expansion, Verwissenschaftlichung und Ausdifferenzierung der Disziplinen, in: B. Martin (Hrsg.), 550 Jahre Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Bd. 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts (1994), S. 44–71, S. 49. 3 H.-E. Tenorth, V. Lehrerberuf und Lehrerbildung, in: K.-E. Jeismann/P. Lundgreen (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band III: 1800–1870: Von der Neuordnung Deuschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, 1989, S. 240–270, S. 255. 4 Th. Finkenstaedt/G. Haenicke, Gutachten des Prof. Tobler in Berlin betreffend die Vorschläge des Prof. Stengel in Marburg wegen Gründung von Universitätsseminarien für romanisch-englische Philologie, in R. Baum/K. Böckle et al. (Hrsg.), Lingua et Traditio. Geschichte der Sprachwissenschaft und der neueren Philologien. Festschrift für Hans Helmut Christmann zum 65. Geburtstag (1994), S. 481–488, S. 481. 5 Vgl. Paletschek (Fn. 2), S. 55 f. 6 Die Gründung von Seminaren war aber nicht auf die ‚Schulwissenschaften’ beschränkt. Paletschek führt an, dass an der Freiburger Juristischen Fakultät 1889 ein Seminar eingerichtet wurde, dort allerdings „erst um 1900 (…) seminaristische Veranstaltungen endgültig etabliert wurden“. Damit zeichnete sich, so Paletschek weiter, die Wandlung auch dieser Fakultät „hin zu einer modernen Wissenschaftsdisziplin ab“; Paletschek (Fn. 2), S. 67. ging, noch ehe er diesen Namen erhielt. Am Rhein waren alle (hochschul-)politischen Akteure stationiert, und die Elbe ist in die Überschrift geraten, weil ich hier auf Erfahrungen aus meiner Zeit an der TU Dresden zurückgreifen möchte. II. Zwei historische Beispiele 1. Die Einrichtung von Seminaren im 19. Jahrhundert Die Funktion der Philosophischen Fakultät bestand bis ins 19. Jahrhundert darin, sprachlich und darüber hinaus allgemeinbildend auf das Studium in den „hohen“ Fakultäten der Theologie, des Rechts oder der Medizin vorzubereiten. Im 19. Jahrhundert emanzipierte sich die Philosophische Fakultät nach und nach aus dieser Rolle des propädeutischen Zulieferers. Dies konnte geschehen, weil sich in dem Jahrhundert das (öffentliche) Schulsystem so entwickelte, dass nun dort – im weitesten Sinn – die Zurüstung für das Studium stattfand. Nebenbei sei hier angemerkt: Humboldts Konzept der „akademischen Freiheit“ hängt eng mit dieser Entwicklung zusammen. Nach seiner Vorstellung sollten nämlich die Schulen „den höheren wissenschaftlichen Anstalten gehörig in die Hände arbeiten“. Der „Zögling“ sollte, wie er es ausdrückte, beim Eintritt in die Universität „physisch, sittlich und intellectuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden“ können.1 Die Entlastung der Philosophischen Fakultät von propädeutischen Aufgaben ging einher mit der Ausprägung der geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer, die sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog. Dass dies nicht überall im Gleichschritt geschah, zeigt das Beispiel der Freiburger Philosophischen Fakultät im 19. Jahrhundert. In Baden hatte eine Reform des Lyzeums zur Folge, dass die Zahlen der an dieser Fakultät eingeschriebenen Studierenden von einem Anteil von 25 % um 1830 für mehr als drei Jahrzehnte auf unter 10 % fiel. In den späten 1870ern stieg diese Zahl wieder an, was „allein an dem steigenden Lehrerbedarf “ und der „Professionalisierung der Lehrerausbildung“ lag, wie Sylvia Paletschek feststellt.2 Zeichen dieser Professionalisierung war zuerst einmal die Einführung des „examen pro facultate docendi“, allerdings zeigt sich da auch, wie unterschiedlich man in den Ländern agierte. Diese ministerielle Qualitätskontrolle wurde zuerst 1809 in Bayern eingeführt, 1810 folgte Preußen, am Ende standen Baden 1837 und Sachsen 1843.3 In jedem Fall wandelte sich die Philosophische nun neben der Theologischen, der Juristischen und der Medizinischen zur vierten berufsausbildenden Fakultät. Im Zug dieser Professionalisierung wurden an den Universitäten sogenannte „Seminare“ eingerichtet. Unter diesem Begriff sind tatsächlich Lehrerbildungsstätten zu verstehen, in denen andere Lehr- und Lernformen als die Vorlesung gepflegt wurden. Das heißt, es formierten sich strukturelle Einheiten, die einer bestimmten Berufsausbildung dienten und die – zuerst einmal – zu eben diesem Zweck eine besondere Lehrform etablierten. Finkenstaedt und Haenicke heben hervor: Das „Seminar“ als Form der Lehre und als konkreter Ort der Ausbildung in einem Fach der Philosophischen Fakultät ist einer der wichtigsten Beiträge der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts zur Form der wissenschaftlichen Ausbildung“.4 Vom Ergebnis her mag man dies so festhalten, allerdings muss präzisiert werden, dass diese Seminargründungen in aller Regel nicht aus den Universitäten erwuchsen, sondern von den zuständigen Ministerien oktroyiert wurden. So geschah es z.B. in Tübingen (Kgr. Württemberg) und Heidelberg (Grhzgt. Baden), während man in Freiburg 1872 ausdrücklich beim Ministerium um die Einrichtung eines Seminars – für die Neuphilologien – ersuchte.5 Darüber hinaus zogen sich die Seminargründungen an den Universitäten von den 1870ern bis in das frühe 20. Jahrhundert.6 Insbesondere die Neuphilologien haben ihre Konstituierung als wissenschaftliche Fächer also in nicht gerin- Schaefer · Reformieren bis zur Selbstauflösung 5 5 7 Vgl. dazu insbesondere für die Anglistik U. Schaefer, Romanistik und Anglistik im 19. Jahrhundert: Kontingenzen und Notwendiges, in: Grazer Linguistische Studien (2017) 87, S. 57–77. 8 Die Theologie klammere ich hier aus, weil dort sehr eigene Bedingungen herrschen. 9 A. Tobler, Das Seminar für romanische Philologie, in: M. Lenz (Hrsg.), Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band 3: Wissenschaftliche Anstalten. Spruchkollegium. Statistik (1910), S. 230–232, S. 231. 10 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen: verabschiedet in der Vollversammlung des Wissenschaftsrates am 14. Mai 1966 (1966); zugänglich über Universitätsbibliothek Paderborn: urn:nbn:de:hbz:466:1–8219. Diese wie alles anderen Internetquellen wurden zuletzt am 10. Nov. 2019 besucht. 11 WR (Fn. 10), S. 14. 12 WR (Fn. 10), S. 16. 13 WR (Fn. 10), S. 30. gem Maß dem Umstand zu verdanken, dass der Staat die wissenschaftliche Ausbildung der Lehrer an höheren Schulen verlangte.7 Dazu dienten nicht nur die Seminargründungen, sondern auch eine vom Bedarf bestimmte deutliche Aufstockung der Professuren. Damit baut sich ein paradoxes Spannungsfeld auf: Mit dieser „Verwissenschaftlichung“ einer bestimmten Ausbildung verstärkt sich gleichzeitig der Wissenschaftsanspruch des Faches und damit der Geltungsanspruch, gerade nicht dem Zweck einer bestimmten Berufsausbildung zu dienen. Das unterscheidet nun auf längere Sicht wieder diese Fakultät von den „hohen Fakultäten“ des Rechts und der Medizin, in denen das Studium selbstverständlich in erster Linie der Ausbildung einer Berufsgruppe dient und der Studienabschluss nur durch ein externes „Staatsexamen“ erreicht werden kann.8 Die Selbstbehauptung der geisteswissenschaftlichen Fächer musste hingegen fast zwangsläufig dazu führen, dass die Seminare von den (meisten) Professoren für die Wissenschaft schlechthin appropriiert wurden. 1910 erinnert sich in diesem Sinn der Romanist Adolf Tobler an der Berliner Universität, das Seminar sei „niemals als eine Anstalt zur Vorbereitung auf bestimmte Prüfungen (etwa im Französischen!) gedacht“ gewesen. Mit den ‚bestimmten Prüfungen‘ meinte er natürlich das Staatsexamen. „Gegenstände der gemeinsamen Übungen“, also jener neuen interaktiven Lehrform, die am Seminar gepflegt wurde, sollten dort vielmehr „in ziemlich regelmäßigem Wechsel den verschiedenen Disziplinen der romanischen Philologie entnommen“ werden.9 2. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1966 Ausläufer dieser Haltung fand ich an der Universität noch vor, als ich im Wintersemester 1966/67 mein Studium (in Geschichte, Politischen Wissenschaften und Anglistik) begann. Nun wollte ich gar nicht „in die Schule“, doch war das (erste) Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien damals die einzige Option, einen Studienabschluss in den Geisteswissenschaften zu erwerben, ohne bis zur Promotion ‚durchzustudieren‘. Die entsprechende Fach-Ordnung gab dabei sehr grob vor, welche Lehrveranstaltungen bei Anmeldung zum Examen erfolgreich besucht sein mussten. Davon, dass gerade größte Aufregung über eine vom Wissenschaftsrat angestoßene Diskussion der universitären (Aus-)Bildung im Gang war, bekam ich nur insofern etwas mit, als ziemlich bald die Rede davon war, es gebe nun eine Zwischenprüfung, und das Studium könne wohl zukünftig – alternativ zum Staatsexamen – auch mit dem „Magisterexamen“ abgeschlossen werden. Im Mai 1966 hatte der Wissenschaftsrat (WR) seine „Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen“ verabschiedet.10 Fünf Aspekte wirkten damals für einige Fächer nachgerade revolutionär: (1) die Forderung einer „äußeren“ Strukturierung des Studiums in eine erste Phase von vier Semestern, die mit der Zwischenprüfung bzw. dem Vordiplom abgeschlossen wird. Deren Bestehen war Voraussetzung für die zweite Phase, die mit dem Staatsexamen, dem Diplom- oder dem Magisterexamen abschließt. Damit einhergehend wurde (2) ein Lehrangebot gefordert, das in der ersten Phase explizit der einführenden Orientierung dient. Schließlich sollten (3) die abschließenden Prüfungen der Tatsache Rechnung tragen, dass bereits die Gegenstände des Studiums nur exemplarischen Charakter haben können. Folglich sollten (4) die Abschlussprüfungen nach einem vierjährigen Studium (plus einem Examenssemester) zu leisten sein. Der WR sah das Studium ausdrücklich als Ausbildung und forderte, es habe sich „einerseits abzugrenzen gegen die Forderung nach selbständiger Mitwirkung in der Forschungsarbeit, andererseits gegen die Beschränkung auf bloße Wissensvermittlung und Einübung in die Berufsarbeit“.11 Dahinter stand bereits ein Stufungskonzept, das (5) vorsah, dem ersten Examen optional ein „Aufbaustudium“ für „Studenten, die an der Forschung interessiert und für sie befähigt sind“, folgen zu lassen.12 Ausgesprochen kryptisch formuliert der WR, solchermaßen gestalte sich „das Verhältnis von Forschung und Lehre in der Weise, daß für das Studium die an der Forschung orientierte Lehre den Vorrang hat, während im Aufbaustudium die Forschung die auf sie bezogene Lehre in ihren Dienst nimmt“.13 Bis dahin, so Olaf Bartz 2006, hatte der WR „zwischen unterschiedlichen Fachkulturen differenziert“, 5 6 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2020), 53–62 14 O. Bartz, Wissenschaftsrat und Hochschulplanung: Leitbildwandel und Planungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1957 und 1975 [Diss. Köln 2005] (2006), S. 110; URL: http://kups.ub.uni-koeln.de/id/eprint/1879/. 15 Zitat und Beleg bei Bartz (Fn. 14), S. 110. 16 Zitat und Beleg bei Bartz (Fn. 14), S. 116; der Soziologe Max Scheler forderte 1926 tatsächlich, Forschung und berufliche Ausbildung dergestalt zu trennen, dass die Universitäten „wissenschaftlich[e] Berufsfachschulen werden“; s. S. Paletschek, Die Erfindng der Humboldtschen Universität.-Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, Historische Anthropologie 10.2 (2002), S. 83 ‑202, S. 193 f. 17 Zitat und Beleg bei Bartz (Fn. 14), S. 115. 18 WR (Fn. 10), S. 9. 19 Die studentischen Reaktionen diskutiert Bartz (Fn. 14), S. 119- 124. 20 Vgl. hierzu H.-H. v. Grünberg/Christian Sonntag, 50 Jahre Fachhochschule: Über das langsame Entstehen eines neuen Hochschultyps, Ordnung der Wissenschaft 2 (2019), S. 157–168. 21 O. Bartz, Bundesrepublikanische Universitätsleitbilder: Blüte und Zerfall des Humboldtianismus, in: die hochschule 2 (2005), S. 99–113, hier S. 109. nun aber wurde „eine hauptsächlich in den Natur- und Ingenieurwissenschaften gängige Studienstruktur de facto für allgemein gültig erklärt“.14 Deshalb kam der geballte Protest gegen diese Empfehlungen von den Philosophischen Fakultäten und auch von einzelnen Professoren aus den Geisteswissenschaften. Schon kurz nach der Veröffentlichung der Empfehlungen meldete sich z.B. die Münchener Philosophische Fakultät mit dem Bedenken, der WR würde „die Einheit von Forschung und Lehre zerstören und eine Pädagogisierung der Wissenschaft herbeiführen“, und warnte allgemein vor „Verschulung und Bürokratisierung“.15 Solche düsteren Szenarien wurden immer wieder verbunden mit der Klage, dass die Universitäten in einigen Bereichen mit einer stark anwachsenden Zahl von Studierenden zurechtkommen mussten. So sah der Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Schöne, dass mit ihrer Umsetzung die WREmpfehlungen „aus den in weiten Bereichen total überanstrengten, durch das rücksichtslose Hineinstopfen immer größerer Studentenmassen und immer neuer zusätzlicher Ausbildungsgänge heruntergewirtschafteten deutschen Universitäten, insbesondere ihren Philosophischen Fakultäten, eine Berufshochschule machen werden“.16 Der Göttinger Althistoriker Alfred Heuß sprach von „staatlich approbierte[m] Banausentum“ und zeigte sich besorgt, es sei „Examens-Dressur“, wenn das „Studium des Gymnasiallehrers von vornherein auf das im engeren Sinne nötige ‚Berufswissen‘“ eingestellt würde.17 Zwischen dieser Feststellung und der von Adolf Tobler über das Seminargeschehen liegt zeitlich zwar ein halbes Jahrhundert, die Haltung ist aber dieselbe. Wenn ich das recht sehe, äußern sich die WR-Empfehlungen gar nicht spezifisch zur Lehrerbildung, vielmehr ging es da wesentlich umfassender darum, dass „die wissenschaftliche Lehre für das Studium allgemein verlangt werden muß und nicht allein auf die Ausbildung des Nachwuchses für die Forschung beschränkt werden kann“.18 Allerdings wurde während meines Studiums oftmals von studentischer Seite Klage geführt, was man da an Lehrveranstaltungen geboten bekomme, sei nicht wirklich „relevant“ für den angestrebten Lehrerberuf. Die Entgegnung darauf lautete regelmäßig, dass man ja auch keine Lehrer ausbilde, und das wohl wissend, dass die große Mehrheit der Studierenden später genau diesen Beruf ergreifen wollten. Ein anderes kritisches Schlagwort der späten Sechziger war das Konzept des „exemplarischen“ Studierens und Prüfens, das in den WR-Empfehlungen stark gemacht worden war. Im Rückblick steckte darin wohl schon der Kern zur Kompetenzorientierung, die vierzig Jahre später im Zuge der Implementierung der Stufung als großer Wendepunkt der Lehre an den Hochschulen durchgesetzt werden sollte. In Summe: Auch wenn gegen diese Neuordnung von professoraler wie studentischer Seite heftig protestiert und agitiert wurde, richtete man sich in den nächsten dreißig Jahren kommod in dieser Studienstruktur ein.19 Das vom WR 1966 zugespitzte Szenario einer Alternative zwischen der „Beschränkung auf bloße Wissensvermittlung und Einübung in die Berufsarbeit“ einerseits und „selbständiger Mitwirkung in der Forschungsarbeit“ andererseits wurde nicht zuletzt dadurch abgefangen, dass Ende der 1960er die Fachhochschulen entstanden.20 Dies hat dann die Universitäten wohl auch ermutigt, den Vorschlag des „Aufbaustudiums“ institutionell nicht weiter zu verfolgen. Olaf Bartz stellt 2005 fest, „im Ergebnis“ sei es nach 1966 „bekanntermaßen zu keiner grundlegenden Studienstrukturreform gekommen“.21 Auch wenn man als „gelernter“ Historiker weiß, dass eigenes Erleben durchaus nicht immer mit der historischen Analyse in der Gesamtschau übereinstimmt, möchte ich diesem Befund doch teilweise widersprechen. Auch wenn sie nur mit „bestanden / nicht bestanden“ bewertet wurde, hatte die Zwischenprüfung doch eine strukturierende Wirkung auf die Studienplanung. Das ging hin bis zur Reaktion eines Studierenden, dem ich – inzwischen auf der Lehrseite – unterbreiten musste, dass er seine Zwischenprüfung nun endgültig nicht bestanden hatte: Überraschenderweise dankte er mir überschwänglich und erklärte, er sei froh, dass er nun nicht weiter studieren müsse, denn er Schaefer · Reformieren bis zur Selbstauflösung 5 7 22 D. Simon, Im Kern verrottet, Der Spiegel 50 (1991) [9.12.1991], S. 52–53; hier S. 52; https://www.spiegel.de/spiegel/ print/d‑13491471.html. 23 Hochschulrektorenkonferenz, Zu Kredit-Punkte-Systemen und Modularisierung Entschließung des 182. Plenums vom 7. Juli 1997; https://www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/zu-kreditpunkte-systemen-und-modularisierung/ 24 Z.B. die Studie von F. Dalichow, Kredit- und Leistungspunktsysteme im internationalen Vergleich, Forschungsstudie für das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), 1997. Auf diese wird in den HRKEmpfehlungen ausdrücklich Bezug genommen. 25 HRK (Fn. 23) unter „II. Ausgangslage und Zielsetzungen“. selbst habe das eh nie gewollt. Und in den Abschlussprüfungen wurde es bei den meisten Professoren die Regel, sich an von den Studierenden angegebenen Spezialgebieten zu halten. Ich weiß aber auch von älteren geisteswissenschaftlichen Kollegen, die bis in die 1990er in mündlichen Prüfungen eine Angabe von „Spezialgebieten“ und entsprechenden Leselisten ablehnten. Das sparte zumindest ihnen die Prüfungsvorbereitung. Unbestreitbar hat die Neuordnung von 1966 drei große Mängel in vielen Fächern nicht behoben: zu lange Studienzeiten, zu viele Studienabbrecher und kapazitäre Überlast. Deshalb sprach 1991 der Rechtshistoriker und damalige WR-Vorsitzende Dieter Simon – sehr ähnlich wie der Kunsthistoriker Schöne 1966 – im Spiegel von „Auflösungserscheinungen“: „endlose Studienzeiten, riesige Abbruch- und Durchfallquoten, apathische Professoren, lust- und orientierungslose Studenten, anarchische Organisationsstrukturen, umschulungsbedürftige Absolventen und was an dergleichen Unerfreulichkeiten noch aufgezählt werden kann“.22 Der erste Schritt, mit dem sich die Universitäten in die Lage versetzten, hier dauerhaft Abhilfe zu schaffen, bestünde darin, dass die Universitäten ihre Studierenden selbst aussuchen. Simons Diagnose, dass die Universitäten „im Kern verrottet“ seien, regte die Kollegen immens auf – und sein Vorschlag wurde beiseite geschoben. Stattdessen begann ein paar Jahre später der bis dahin fundamentalste Umbau der Studien- und Prüfungsstruktur. Und dies nahm die Politik in den 1990ern so dezidiert in Angriff, wie nie zuvor. III. „Bologna“ am Rhein – und an der Elbe 1. Der Vorlauf Was nach der Jahrtausendwende in Deutschland unter dem Begriff „Bologna-Prozess“ lief, zeichnete sich bereits einige Jahre zuvor langsam ab. Doch die Konturen dieses „Prozesses“ waren noch unscharf. In der Rückschau bin ich mir nicht sicher, ob man dies politisch beabsichtigte oder ob man tatsächlich noch unentschieden war, wie das Übel der überlangen Studienzeiten und der übergroßen Zahl von Studienabbrechern effektiv abgestellt werden könnte. Von der Aktenlage ist darauf zu schließen, dass im Sommer 1997 mit den Empfehlungen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) „Zu Kredit-Punkte-Systemen und Modularisierung“ für alle politischen Akteure der Weg bereits klar war.23 Grundsätzlich empfahl die HRK „die verstärkte Einführung von studienbegleitenden Prüfungen“, die verbunden sein sollten mit „KreditPunkte-Systemen“. Unschwer zu erkennen, dass dies das Prinzip der Bachelor- und Master-Abschlüsse in Großbritannien und Nordamerika war – und ist. Nun ist davon auszugehen, dass das „know-how“ für die technische Umsetzung dieses Prinzips auf Vorarbeiten beruhte, die das zuständige Bundesministerium lieferte.24 Und zu dieser Umsetzung gehörte von Anfang an das Gebot der „Modularisierung“. Das heißt, die studienbegleitenden Prüfungen bestehen aus „erfolgreich absolvierten Studienabschnitten oder ‑blöcken („Modulen“)“. Dies zeigt, dass man sich da besonders an Großbritannien orientierte, wo der modulare Aufbau von Studiengängen bereits lange etabliert war. Der Werkzeugkasten für den Umbau war also 1997 bereits bestens bestückt. Provokativ könnte man sagen, dass den Hochschulen, insbesondere den Universitäten, nun nurmehr beizubringen war, dass sie es sich nicht erlauben konnten, diese Werkzeuge nicht in die Hand zu nehmen. Dazu bedurfte es der Setzung eines „höheren Gutes“, und dieses war einfach aus den Umbauprinzipien selbst zu extrapolieren: die Internationalisierung, genauer, die internationale Vergleichbarkeit, die dadurch erreicht wird, dass prinzipielle Strukturgleichheit vorliegt. So wurde es bereits in jenen HRK-Empfehlungen von 1997 gesagt, denn mit dem neuen Prüfungssystem werde die „Mobilität deutscher und ausländischer Studierender sowie der damit verbundenen Anerkennung von Studien- und Prüfungsleistungen“ gefördert.25 Diese Internationalisierung wurde im Mai 1998 zum gesamteuropäischen Ziel ausgerufen. indem man zur 800-Jahrfeier der Sorbonne nach Paris lud und dort die „Sorbonne-Erklärung“, also die „Gemeinsame Erklärung zur Harmonisierung der Architektur der europäischen Hochschulbildung“ verkündete. Die Pariser Universität kann zwar kein Gründungsdatum aufweisen, doch eignete sich diese Fiktion bestens als würdige Folie für das Vorhaben. Zur Inszenierung gehörte auch, dass man den internationalen Gästen jene Deklaration unter anderem als Erkenntnis aus den Workshops präsentierte, die unmittelbar vor dem eigentlichen Festakt stattgefunden hatten. Da ich damals als Vizepräsidentin der 5 8 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2020), 53–62 26 Die zitierte englische Version der Erklärung findet sich unter: http://www.ehea.info/media.ehea.info/file/1998_Sorbonne/61/2/1998_Sorbonne_Declaration_English_552612.pdf. – Die Erklärung wurde ursprünglich im Haus des französischen Bildungsminister Allègre erarbeitet; vgl. dazu auch S. Pini, Aux origines du processus de Bologne: la déclaration de la Sorbonne, Nouvelle Europe [online], Lundi 27 août 2007, http://www.nouvelle-europe.eu/node/255. Meiner Erinnerung nach wurde die Erklärung auf Französisch verlesen. Während des Festakts kam es ca. zwanzig Minuten lang zu einer tumultartigen Diskussion in der Zuschauerschaft, ob im Weiteren die englische Sprache benutzt werden dürfe. 27 K. Toens, Die Sorbonne-Deklaration. Hintergründe und Bedeutung für den Bologna-Prozess, in: Die Hochschule: Journal für Wissenschaft und Bildung 16 (2007) 2, S. 37–53, hier S. 50. – URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-164024. 28 http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/13/087/1308796.pdf. 29 In der 6. Novellierung des HRG von 2002 wurde dies dahingehend geändert, dass Bachelor- und Masterstudiengänge zum Regelabschluss wurden. 30 Europäische Union, ECTS-Leitfaden (2015), S. 1; doi:10.2766/87169. Humboldt-Universität zu Berlin zu diesen Feierlichkeiten nach Paris reiste, nahm ich an einem solchen Workshop teil, in dem es meiner Erinnerung nach um Bachelor- und Masterabschlüsse ging. Diffuser hätte eine Diskussion kaum laufen können, was aber nicht weiter erstaunlich war, denn die internationalen Teilnehmer redeten letztlich von den Bedingungen an ihren eigenen Hochschulen. Dennoch stellt die Erklärung fest: „A system, in which two main cycles, undergraduate and graduate, should be recognized for international comparison and equivalence, seems to emerge“.26 Es soll nicht bestritten werden, dass in Paris das politische Bestreben der vier Signatar-Staaten Deutschland, Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich im Vordergrund stand, einen „europäischen Hochschulraum“ zu schaffen. Wie Katrin Toens 2007 in ihrer Analyse der politischen Hintergründe der „Sorbonne-Erklärung“ darstellt, handelte es sich letztlich aber darum, die national stagnierenden Versuche, die Studienstrukturen zu reformieren, von politischer Seite erheblich zu beschleunigen. Insbesondere galt dies für Frankreich, aber das galt genauso gut für die Bundesrepublik, „so dass die damals verantwortlichen staatlichen Vertreter die Gelegenheit der Sorbonne-Aktion nutzten, um von außen Druck auf die innenpolitischen Verhältnisse auszuüben“.27 In Deutschland war, wie gesagt, diese grundlegende Reform von politischer Seite schon längst auf dem Weg. Nach den HRK-Empfehlungen vom Juli 1997 wurde dem Bundestag im Oktober dieses Jahres mit der Drucksache 13/8796 der „Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes“ zur Beschlussfassung vorgelegt.28 Entscheidend ist hier der neu gefasste § 19, der feststellt: „Zur Erprobung können Studiengänge eingerichtet werden, die zu einem Bachelor- oder Bakkalaureusgrad und zu einem Master- oder Magistergrad führen“.29 Allerdings wird dort nur von „Prüfungen“ gesprochen, aufgrund derer der jeweilige Grad erworben wird. Dass Prüfungen auch „studienbegleitend“ abgelegt werden können, regelt § 15 HRG und setzt damit eine Möglichkeit fort, die bereits im ersten HRG von 1976 zu finden ist. Neu wurde aufgenommen, dass zum „Nachweis von Studien- und Prüfungsleistungen (…) ein Leistungspunktsystem geschaffen werden“ solle. Dies war ja ein Kernanliegen der HRK-Empfehlung, und dort wurde auch nahegelegt, dass es sich dabei um das European Credit Transfer System (ECTS) handeln sollte. Das ECTS hatte man im Rahmen von ERASMUS 1989 entwickelt, mit dem u.a. die Mobilität der Studierenden um EURaum gefördert wurde. 30 Dort diente es dazu – und das tut es noch heute –, Studienleistungen zu quantifizieren und international verrechenbar, also anerkennbar zu machen. Den Gedanke des Transfers nimmt die HRGNovellierung begründend auf, denn dieses Punktesystem sollte „auch die Übertragung erbrachter Leistungen auf andere Studiengänge derselben oder einer anderen Hochschule“ ermöglichen. Der springende Punkt dieses neuen Paragraphen war zum einen, dass mit dem Bachelor-/Bakkalaureus-Grad „ein erster berufsqualifizierender Abschluß erworben wird“, für dessen Erreichung die Regelstudienzeit „mindestens drei und höchstens vier Jahre“ beträgt. Zur Erinnerung: Schon im HRG von 1976 war im vierten Absatz der Vorschrift § 10 („Studiengänge“) zu lesen, dass die Regelstudienzeit für den ersten berufsqualifizierenden Abschluss „nur in Ausnahmefällen“ vier Jahre überschreiten dürfe und dass auch Studiengänge mit einer dreijährigen Regelstudienzeit möglich seien. Wahrscheinlich sah man 1997, dass für einige Fächer der Bachelor als Regelabschluss kaum akzeptabel sein würde. Deshalb wurde die Gesamtstudienzeit für den Bachelor und einen konsekutiven, also darauf aufbauenden, Master bei fünf Jahren gedeckelt. Damit ging man sogar ein bis zwei Semester über die Regelstudienzeit des HRG von 1976 hinaus. Doch auch wenn das Gesetz von einem „ersten berufsqualifizierenden Abschluß“ sprechen musste, war es ganz offensichtlich die politische Intention, den Bachelor zum Regelabschluss zu machen, denn nur so war die Absicht wirksam umzusetzen, die Studi- Schaefer · Reformieren bis zur Selbstauflösung 5 9 31 BT (Fn. 28), S. 13. 32 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Einführung neuer Studienstrukturen und ‑abschlüsse (Bakkalaureus/Bachelor – Magister/ Master) in Deutschland (Drs. 4418/00) (2000): https://www. wissenschaftsrat.de/download/archiv/4418–00.html. 33 Deutsche Version unter: https://www.bmbf.de/files/bologna_deu. pdf. 34 Englische Version unter: http://www.ehea.info/cid100210/ministerial-conference-bologna-1999.html. 35 Ich übersetze das so: ‚Fähigkeit der Absolventen, kontinuierlich auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen (angestellt oder freiberuflich, an nationalen [i.e. staatlichen] oder privaten Einrichtungen, zu Hause oder im Ausland)‘; http://www.ehea.info/cid102524/ employability-introduction.html. 36 Wissenschaftsrat, Stellungnahme zum Verhältnis von Hochschulbildung und Beschäftigungssystem, 1999, S. 21; https://www. wissenschaftsrat.de/download/archiv/4099–99.html 37 Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, Heft 101 – Modularisierung in Hochschulen. Handreichung zur Modularisierung und Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen (2002), S. 4. 38 BLK (Fn. 37), S. 8. enzeiten effektiv abzukürzen – und die Absolventinnen und Absolventen schnell dem Arbeitsmarkt zuzuführen. 2. Die politischen Ziele Schaut man allein auf diese Regelungen, so hätte der Übergang in das gestufte System eigentlich wesentlich geräuschloser vonstatten gehen können, als dann tatsächlich geschehen. Ende der 1990er diskutierte man in der universitären Öffentlichkeit die Einführung von Bachelor und Master nach meiner Beobachtung sehr emotional in einer Gemengelage von Argumenten. Da gebe es ja schon die Zwischenprüfung, und die könne man doch einfach umbenennen. Oder man erhob – insbesondere in den Ingenieurwissenschaften – erregt die Stimme für die Erhaltung des Diploms, das schließlich weltweit eine sehr gute Reputation habe. Unbehagen machte sich auch breit, weil man nicht genau verstand, was das mit der Modularisierung auf sich hatte. Vor allem aber fragte man sich, ob denn bei einem dreijährigen Studium überhaupt ein genügend ausgebildeter Chemiker oder eine genügend ausgebildete Informatikerin herauskommen könne. Zwar wurde im Zuge dessen der Begriff des „berufsqualifizierenden Abschlusses“ ins Bewusstsein gerückt, doch nahm man nur am Rand wahr, dass es der Politik ja um mehr ging, als einen solchen Abschluss in kürzerer Studienzeit zu erreichen. Ganz deutlich wird deren Absicht in der „Amtlichen Begründung“ der HRG-Novellierung genannt: „[Das] Hochschulsystem der Zukunft muß ein gestuftes System von Abschlüssen mit einer deutlichen Berufsorientierung in klar definierten Studienzeiten bieten (…)“.31 Der WR drückte das 2000 noch deutlicher aus, denn er forderte neue Abschlüsse mit „Arbeitsmarktrelevanz“.32 Dieser Begriff findet sich in der „Bologna-Erklärung“ von 1999.33 Ziel der Einführung gestufter Abschlüsse sei nämlich, „die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger ebenso wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems zu fördern“. Es lohnt sich, da noch einmal in die englische Version der „Bologna-Erklärung“ zu schauen.34 Was die deutsche Übersetzung mit „arbeitsmarktrelevante Qualifikationen“ wiedergibt, lautet in Englisch schlicht „employability“, und das bedeutet einfach ‚Einstellbarkeit‘. Da im „Bologna“-Diskurs der Begriff „employability“ in der Folge immer wieder kritisch diskutiert worden ist, gibt der Verbund der European Higher Education Area (EHEA) auf seiner Homepage diese, den Kontext des „Bologna-Prozesses“ berücksichtigende Definition: „Graduates‘ ability to sustainably hold one’s own on the labour market (in employed or independent work, with national or private institutions, at home or abroad)“.35 Diese „Arbeitsmarkrelevanz“ festzustellen, ist natürlich höchst problematisch, wenn es sich um „Fächer ohne klare Berufsfelder und mit offener Beziehung zwischen Studium und Beruf “ handelt, unter die der WR 1999 insbesondere die „Geistes- und Sozialwissenschaften“ subsumierte.36 Ein Mittel, um u.a. diese „offene Beziehung“ in rechte Bahnen zu lenken, stellte die BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) 2002 in ihrer „Handreichung zur Modularisierung und Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen“ zur Verfügung. Beim Studium in den „Diplom- und Magister-Studiengängen“ mit ihrer „fächerorientierten Studienstruktur“ würden bisher wenige Fächer studiert, die erst „am Ende im Rahmen einer Fachprüfung abgeschlossen werden“.37 Die Modularisierung befreie von diesem Übel, denn „Modularisierung erfordert ein Umdenken vom ‚Fach‘ zur funktionalen Einheit ‚Modul‘ und zwingt so zu einer grundlegenden Neustrukturierung der zu vermittelnden Studieninhalte“.38 Das heißt, indem man sich in der Modularisierung von der Fachorientierung des Magisterstudiums löst, kann man endlich solche Studiengänge konzipieren, die berufsorientiert sind. Der Preis wäre dann aber, dass in Zukunft ein grundständiges Fachstudium entfällt. Wenn dieser gerade vorgetragene Argumentationsgang und die Folgerung all zu konstruiert erscheint, dann kann ich entgegenhalten, dass eben dies zwischen 2001 und 2005 die Haltung des sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst war. In dieser Zeit war ich nach meinem Wechsel von Berlin an die TU Dresden erst einmal die „Bachelor-Beauftragte“ meiner 6 0 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2020), 53–62 39 BLK (Fn. 37), S. 27. Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften und kämpfte ab 2003 als Dekanin weiter für die Einführung eines Bachelor-Studiengangs meiner Fakultät. In den anfänglichen Entwürfen sollten zwei „Hauptfächer“ oder ein „Haupt-“ und zwei „Nebenfächer“ aus meiner Fakultät studiert werden, weil sich die benachbarte Philosophische Fakultät gegenüber der Stufung noch recht ablehnend verhielt. Die Argumente aus dem Ministerium setzen sich zusammen aus einer Mischung von Extrapolationen, die aus den „Ländergemeinsamen Strukturvorgaben“ und den BLK-„Handreichungen“. Skandalisiert wurde grundsätzlich der Begriff „Fach‘“, dann aber auch, dass wir eine Rahmenordnung vorsahen, die für das Studium aller Fächerkombinationen gelten sollte. Irgendwann schaffte ich es dann aber doch, dass der zuständige Beamte im Ministerium unseren BA-Entwurf in einem persönlichen Gespräch sogar für „vorbildlich“ befand. Allerdings währte die Freude darüber nicht lange. Nach offizieller Einreichung unserer Unterlagen wurde uns von der im Ministerium nachgeordneten Prüfstelle die Genehmigung versagt. Begründet wurde dies u.a. so: „Studiert werden Studienangebote, die modular aufgebaut sind. Es gibt keine Fächer, Hauptfächer, Beifächer“. Unser Einspruch auf diesen Bescheid brachte letztlich die Bewilligung mit der Auflage, dass wir in die Programmakkreditierung gingen. Rückblickend ist dieser Kampf, der unglaublich viel Beharrungsvermögen erforderte, dadurch zu erklären, dass wir in Dredsen wohl einfach zu früh vorgeprescht waren. Das immer wieder vorgetragene Prinzip lautete, dass gestufte Studiengänge nicht einfach die alten Magister in neuer Verpackung sein dürften. 3. Das Ausbildungsdilemma Die gerade skizzierte Haltung schuf eine ungute Atmosphäre, weil man seitens der Politik von vorn herein davon ausging, diejenigen, die zumindest zu Teilen mitverantwortlich für das Problem sind, seien nicht willens, konstruktiv auf dem vorgegebenen Weg bei der Lösung mitzuarbeiten. Ein gern verwendetes Bild dafür ist das sowieso zum Scheitern verurteilte Ersuchen an Frösche, bei der Trockenlegung eines Sumpfs selbst tätig zu werden. Ein solches Ersuchen schafft ein unmoralisches Dilemma, das sich zugespitzt in Forderung der BLK findet, weitgehend „fächerfreie“ Module zu konzipieren. Doch die Autorinnen jener BLK-„Handreichung“ scheinen sich dessen auch bewusst gewesen zu sein, denn sie räumen ein: „(…) während es einerseits darum geht, mit Bachelor-Studiengängen neuartige Angebote zur Berufsbefähigung zu etablieren, so müssen die Hochschulen andererseits auch daran interessiert sein, wissenschaftlichen Nachwuchs heranzubilden“. Deshalb solle „der Bachelor (auch) als Vorbereitung auf ein konsekutives Master- oder Promotionsstudium konzipiert werden“, was dann allerdings zu einem „Zielkonflikt“ führen könne.39 Das sah man 1997 in der Begründung der Novellierung des HRG noch wesentlich einfacher, denn die oben zitierte Passage, in der die „Berufsorientierung“ verlangt wird, lautet vollständig: „[Das] Hochschulsystem der Zukunft muß ein gestuftes System von Abschlüssen mit einer deutlichen Berufsorientierung in klar definierten Studienzeiten bieten und darauf aufbauend die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses gewährleisten“. In beiden Fällen wird offensichtlich davon ausgegangen, dass es ein irgendwie geartetes Promotionsstudium geben müsse – und auch werde. Dies führt den Gedanken des „Aufbaustudiums“ fort, das 1966 die Empfehlungen des WR vorsahen. Woher sich der Nachwuchs das Fundament holen sollte, auf dem dann aufzubauen wäre, bleibt in solchen Vorschlägen unbeantwortet. In gewisser Weise wären wir solchermaßen wieder in den Zuständen vor 1966, bei denen die fachlich-methodischen Grundlagen ja auch eher durch Osmose durch explizite Darlegung zu dem Studierenden dringen sollten. Doch selbst wenn man nicht in erster Linie an den wissenschaftlichen Nachwuchs denkt, lässt es sich schwerlich vorstellen, dass universitäre Masterstudiengänge ohne fachlich ausgerichtete Bachelorabschlüsse sinnvoll konzipiert werden können. Tatsächlich zeigt heute ein kursorischer Blick in die Bachelor-Angebote der Universitäten, dass man sich dort nur sehr eingeschränkt auf dieses der akademischen Praxis ferne Modell des „berufs(feld) bezogenen“ Bachelor eingelassen hat. Dem Gebot der Berufsbezogenheit konnte man dennoch nachkommen, indem nicht-fachliche Studienanteile in eigenen Modulen zu absolvieren sind. Damit gehört dieser Teil des „Bologna-Prozesses“ in die Geschichtsbücher zurecht gescheiterter Reformvorhaben. Das gilt auch für das „Promotionsstudium“. Abschließend muss hier noch ein Wort zur Lehrerbildung gesagt werden. Auch diese sollte in die gestufte Struktur überführt werden, was zuletzt 2015/16 in Baden-Württemberg geschah. Bayern und das Saarland hielten am einstufigen, wiewohl nun modularisierten, Studium zum Staatsexamen fest, in Sachsen nahm im Oktober 2010 mit Kabinettsbeschluss nach gerade mal Schaefer · Reformieren bis zur Selbstauflösung 6 1 40 Von August 2010 bis September 2013 war ich Prorektorin für Bildung und Internationales der TU Dresden. In dieser Funktion habe ich mich intensiv für die Rücknahme eingesetzt. drei Jahren die gestuften Lehramtsstudiengänge wieder zurück.40 Allemal hätte man erwarten können, dass die Länder nicht völlig auf die Möglichkeit verzichten, die Lehrerausbildung über das (erste) Staatsexamen zu lenken. Darüber hinaus erschien mir die Stufung der Lehramtsausbildung immer schon wenig einsichtig. Denn einerseits bestehen die Bildungswissenschaftler wohl zurecht darauf, dass in diesen Studiengängen bereits im Bachelor eine deutliche Ausrichtung auf die spätere Berufstätigkeit stattfindet. Andererseits erlaubt es der erste Abschluss aber nicht, in eben diesem Beruf tätig zu werden. IV. Schlüsse Die Einrichtung von Seminaren im späteren 19. Jahrhundert, der Vorstoß des WR Mitte der 1960er und die Einführung gestufter Studienabschlüsse in den späten 1990ern: In allen Fällen geht es um Anstrengungen, im Blick auf die Lehre das universitäre Selbstverständnis mit politischen Erwartungen in Einklang zu bringen. Mit den Seminaren als neuer Institution und damit einhergehender neuer Lehrform beabsichtigte die politische Seite zwar eine bessere Vorbereitung auf den künftigen Lehrerberuf, doch war die Maßnahme selbst so geartet, dass sie mühelos als Element der wissenschaftlichen Lehre integrierbar war. Auf dieses gefestigte Selbstverständnis trafen die Empfehlungen des WR von 1966, die explizit verlangten, diesen wissenschaftlichen Anspruch einzudämmen. Ähnlich wie die Seminare erwies sich die Binnendifferenzierung zwischen dem Grund- und dem Hauptstudium mittelfristig als interne Entlastung. Demgegenüber bedrohte das Ansinnen, die eigentliche wissenschaftliche (Aus-)Bildung in einen dritten Studienabschnitt zu verlagern, die Integrität der Fächer und musste deshalb weitgehend ignoriert werden. In der ersten Implementierungsphase des „BolognaProzesses“ schließlich sollten insbesondere die geisteswissenschaftlichen Fächer im Rahmen des Bachelorstudiums zwar noch beteiligt werden, doch sollte das nurmehr Beiwerk im Dienst eines berufsorientierten Studiums sein. Damit war die Elastizität der Fächer überreizt. Allerdings fanden sie auch da einen Ausweg, indem sie die Berufsorientierung im Bachelorstudium unabhängig vom Fach einplanten. Tatsächlich reformierend und erneut das wissenschaftliche Selbstverständnis stärkend konnte und kann aber die Konzipierung neuer Masterstudiengänge wirken. Dazu aber sind wissenschaftliche Konturierungen nötig, die die Fächer nicht auflösen und doch eine Perspektivierung nach außen erlauben. Ursula Schaefer hat in Freiburg und München Geschichte, Politische Wissenschaften und Anglistik studiert. Ihre Habilitation setzte sich mit Mündlichkeit und Schriftichkeit in der altenglischen Dichtung auseinander. 1993 nahm sie den Ruf auf eine Professur für ältere englische Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin an und hatte dort von 1996 bis 1999 das Amt der Vizepräsidentin mit den Geschäftsbereichen Lehre, Studium und Internationales inne. Sie folgte 1999 einem Ruf auf den Lehrstuhl für englische Sprachwissenschaften in Dresden. Von 2010 bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2013 war sie Prorektorin für Bildung und Internationales der TU Dresden. 2017 wurde sie vom Rektor der Universität Freiburg zur Honorarprofessorin bestellt. 6 2 O RDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2020), 53–62