In OdW 2017, 273 (282 ff.) hat sich Benjamin Unger aus- führlich mit meinen Gedanken zum Überdenkensver- fahren (nachfolgend ÜV) in OdW 2017, 13 ff. auseinan- dergesetzt. Ich möchte hierauf wie folgt erwidern.
I.
Die umfängliche Befassung von Unger mit diesem The- ma liegt genau in meinem Interesse, das ÜV noch stärker in das Bewusstsein der Akteure in den Hochschulen zu heben. Insofern gebührt Unger dafür zunächst Dank und Anerkennung, und seine Abhandlung hat mich auch persönlich gefreut.
Sodann sei der geschätzte Leser darauf hingewiesen, dass sein gedanklicher Fokus in einem entscheidenden Aspekt nicht meinem entspricht, so dass sich unsere Analysen eher ergänzen als widersprechen. Denn wäh- rend Unger seinen Schwerpunkt bei den juristischen Staatsprüfungen setzt, wo es bundesweit flächendeckend detaillierte Regelungen zum ÜV gibt, hatte ich versucht, das Thema grundlegend für die vielen Modulprüfungen fruchtbar zu machen, zu denen es in den Hochschulen derzeit gerade noch keine oder nur sehr vereinzelte Re- gelungen gibt. Sehr schön ist dies für mich erkennbar, wenn Unger eine Behandlung des ÜV im Rahmen des Widerspruchsverfahrens damit begründet, es bestünden hierfür weit überwiegend Regelungen in diese Richtung (OdW 2017, 285). Er induziert damit die zutreffende the- oretische Anbindung aus der praktischen Handhabe, während ich – gewissermaßen umgekehrt – versuche, aus rechtstheoretischen Strukturen eine mögliche prak- tische Lösung abzuleiten. Ich kann mich den Ausfüh- rungen von Unger für den Bereich der juristischen Staatsprüfungen insoweit ohne Weiteres anschließen, ohne dass dadurch jedoch meine Gedankenführung für die Modulprüfungen an Hochschulen berührt wäre. Da- mit ist hoffentlich gleichzeitig auch geklärt, dass ich ei- ner Einbettung des ÜV in das Widerspruchsverfahren nicht „allgemein entgegentrete“ (Unger, a.a.O.), sondern eben nur für den Bereich der Modulprüfungen.
Soweit schließlich verschiedene Auffassungen zu Einzelfragen bestehen, so sei der Leser durch diese Zei- len in seiner Entscheidungsfindung unbeeinflusst. Was die Berechtigung von Fotokopien angeht, fühle ich mich von den einschlägigen juristischen Quellen eher bestä-
tigt (s. etwa Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, Kommentar, 8. Aufl., 2014, § 29 Rn. 84 m.w.N.). Was die Behandlung vertretbarer Fragen im ÜV angeht (Morgenroth, OdW 2017, 20), räume ich dagegen ein, etwas missverständlich formuliert zu haben – die Frage der Vertretbarkeit einer Lösung unterliegt zwar nicht der eingeschränkten ge- richtlichen Überprüfung, ist jedoch als Frage mit unmit- telbarem Einfluss auf die Bewertung der Leistung selbst- verständlich im Rahmen des ÜV behandelbar (s. auch BVerwG NVwZ 1996, 681).
II.
Ein Aspekt sei in meiner Replik jedoch nochmals beson- ders aufgegriffen. Unger bezeichnet diesen Aspekt auch als den Leitgedanken seiner Kritik an meinen Äußerun- gen (OdW 2017, 283): gehört das ÜV strukturell dem Leistungsbewertungsverfahren (Auffassung Morgen- roth) oder dem Rechtsschutz (Auffassung Unger) an? Dieser Aspekt ist unabhängig von einer Einbindung in Staats- oder Modulprüfungen zu betrachten, deshalb sei er hier nochmals etwas ausführlicher dargelegt.
Dieser Aspekt ist in der Tat rechtlich binär fundiert, hat doch das BVerwG 1993 in seinem Leiturteil zum ÜV (BVerwG NVwZ 1993, 681 ff.) formuliert: „Das verwal- tungsinterne Kontrollverfahren … erfüllt damit – in Er- gänzung des gerichtlichen Rechtsschutzes – eine Kom- plementärfunktion für die Durchsetzung der Berufsfrei- heit.“ (BVerwG, a.a.O., S. 683). Mit der Kontrolle einer Ausgangsbewertung und einer ggf. erfolgenden Anpas- sung der Entscheidung lassen sich in der Tat auch we- sentliche Elemente des Rechtsschutzes im ÜV finden. Aus meiner Sicht sprechen dennoch die besseren Grün- de dafür, das ÜV dem Leistungsbewertungsverfahren und nicht dem Rechtsschutz zuzuordnen.
1.
Zunächst ist Rechtsschutz im Sinne des – für das ÜV ja wesentlichen – Grundrechts aus Art. 19 IV GG aus- schließlich gerichtlicher Rechtsschutz. Eine Parallele zum gerichtlichen Rechtsschutz verbietet sich jedoch für das ÜV auf den ersten Blick. Denn im ÜV muss der glei- che Prüfer überdenken (Selbstkontrolle), während die Natur der richterlichen Tätigkeit diejenige einer nichtbe- teiligten, sachlich und inhaltlich unabhängigen Person
Carsten Morgenroth
Replik auf Unger, OdW 2017, 273 (282 ff.)
Ordnung der Wissenschaft 2018, ISSN 2197–9197
30 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2018), 29–32
darstellt (Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl., 2014, Art. 97 Rn. 1 m.w.N.), was das Prinzip der Fremdkontrolle offenbart.
wiegende Überzeugungskraft der Zuordnung zum Rechtsschutz schließen.
4.
Eine Zuordnung der ÜV zum Leistungsbewertungsver- fahren ist schließlich auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil bereits eine Entscheidung gefallen ist, die nicht mehr abänderbar wäre. Denn der Hochschule steht die Befugnis, ihre Entscheidung zu verändern, auch jenseits von Rücknahme und Widerruf zu. Die Abänderungs- kompetenz folgt aus einer analogen Anwendung von § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO (Kraft, BayVBl. 1995, 519 (520) unter Verweis auf das BVerwG). Dies ist vor dem Hinter- grund konsequent, dass das ÜV nach der Rechtspre- chung des BVerwG (BVerwG NVwZ 1993, 681 ff.) auch außerhalb des Widerspruchsverfahrens verankert wer- den kann – so oder so muss es eine Abänderungsbefug- nis geben. Die Hochschule ist deshalb befugt, ihre Mit- teilung der Prüfungsbewertung, sei sie nun Verwal- tungsakt oder nicht (s. Morgenroth NVwZ 2014, 32 ff., zu neuen Entwicklungen bei bestandenen Prüfungsnoten Morgenroth NVwZ 2017, 1430), nach der Neubewertung infolge des ÜV neu bekannt zu geben. Auch aus diesen eher verfahrenstechnischen Gründen heraus ist eine Zuordnung des ÜV zum Rechtsschutz nicht geboten.
5.
Die von Unger angeführten Argumente scheinen mir diesen Gedankengang nicht überzeugend entkräften zu können.
Richtig ist zwar (sein Argument Nr. 1, s. OdW 2017, 282), dass das ÜV den fehlenden Rechtsschutz kompen- siert. Dies kann jedoch auf vielerlei Art und Weise ge- schehen, hier etwa durch eine Verlängerung des Leis- tungsbewertungsverfahrens oder auch durch ein eigenes (informelles?) Rechtsschutzverfahren. Aus der Funktion (Kompensation für fehlenden Rechtsschutz) jedoch un- mittelbar auf die Struktur zu schließen (es wird kompen- sierender Rechtsschutz geleistet, s. S. 282 rechts oben) ist vor diesem Hintergrund weder inhaltlich schlüssig noch definitorisch geboten. Im Gegenteil: Unger selbst sieht die entscheidende Tätigkeit des Prüfers als die „Über- denkung seiner prüfungsspezifischen Wertungen“ an (a.a.O.). Seine eigene Argumentation ist deshalb zwar im Ausgangspunkt richtig, aber inhaltlich sogar unschlüssig oder bestenfalls missverständlich und deshalb auch nicht folgerichtig bzgl. ihres Ergebnisses.
Auch sein zweites Argument lässt hinreichende Schlüssigkeit und damit Überzeugungskraft nicht auf- kommen: das ÜV sei deshalb zwingend ein Rechts- schutzverfahren, weil nicht vollständige gerichtliche
2.
Obwohl Art. 19 IV GG auch auf das vorgelagerte Verwal- tungsverfahren ausstrahlt, etwa, indem es Form- oder Fristanforderungen stellt oder ein Vorverfahren etabliert (Detterbeck, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl., 2014, Art. 19 Rn. 139, 143 a), und damit das nachgelager- te Gerichtsverfahren sichert, lassen sich aus Art. 19 IV GG keine Vorgaben für eigenständigeVerwaltungsver- fahren wie das ÜV ableiten. Auch dieser Aspekt spricht dafür, dass es sich beim ÜV nicht um ein Rechtsschutz- äquivalent handelt. Insoweit hat das BVerwG treffend formuliert: in„Ergänzung“ des gerichtlichen Rechts- schutzes, aber eben nicht in „Ausgestaltung“ oder „Fort- führung“ des gerichtlichen Rechtsschutzes. „Durchset- zung der Berufsfreiheit“ im Sinne des BVerwG, also „Sicherung der Berufsfreiheit durch Verfahren“, durch- zieht stattdessen das gesamte Leistungsbewertungsver- fahren (s. Morgenroth, OdW 2017, 13 ff., ders. Hochschul- studienrecht und Hochschulprüfungsrecht, 2017, S. 95 f., 125 f.).
3.
Man könnte das ÜV sicherlich in die gedankliche Umge- bung zu Verwaltungsverfahren bringen, welche eine Rechtschutz(ergänzungs)funktion aufweisen.
So ist es zwar nicht die Regel, aber durchaus denkbar, ein Widerspruchsverfahren einstufig durchzuführen (Kopp/ Schenke, VwGO, Kommentar, 23. Aufl., 2017, § 72 Rn. 1). Selbst dann könnte aber noch der auch dem Wi- derspruchsverfahren innewohnende Gedanke der Fremdkontrolle dagegen sprechen (s. Morgenroth, OdW 2017, 21).
Strukturell lässt sich das ÜV auch mit Verfahren des informellen Rechtsschutzes, etwa der Gegenvorstellung, verbinden, wo ebenfalls die Behörde der Ausgangsent- scheidung unter Angabe von Einwendungen und deren Begründung erneut um Entscheidung ersucht wird. Auch hier besteht jedoch ein fundamentaler Unter- schied: denn während es bei der Gegenvorstellung gera- de keinen Anspruch auf eine neue Bewertung gibt (BFH, Beschl. v. 13.10.2005, Az. IV S 10/05), hat der Prüfling im Rahmen des ÜV einen Anspruch auf Neubewertung (Niehues/ Fischer/ Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl., 2015, Rn. 790).
In all diesen Fragen fällt die Zuordnung jedoch nicht leicht bzw. ist mit inhaltlichen Hürden behaftet. Auch dies lässt deshalb meines Erachtens nicht auf eine über-
Überprüfbarkeit der Prüfungsbewertungen vorliege. Auch in anderen Fällen besteht jedoch das Phänomen eingeschränkter gerichtlicher Überprüfbarkeit, z.B. bei Planungsentscheidungen von Baubehörden, ohne dass deshalb jedoch die planende Tätigkeit der Behörden zu einer Rechtsschutztätigkeit würde. Im Gegenteil: dies ist und bleibt Verwaltungstätigkeit, und dort sogar ohne weitere Verfahrenskompensation.
Ungers drittes Argument setzt das – inkonsistente – erste Argument fort und ist schon deshalb mit besonde- rer Vorsicht zu betrachten: die Ursache für das ÜV sei die gebotene kompensatorische Rechtsschutzgewäh- rung, die Neubewertung sei nur dessen Folge. Wie gese- hen, ist das ÜV nicht kompensatorische Rechtsschutzge- währung, sondern primär effektive Gewährleistung der Berufsfreiheit des Studierenden durch Verfahren. Des- halb kann die angenommene Ursache-Wirkung-Kombi- nation und damit das gesamte Argument auch nicht greifen.
Auch sein letztes Argument spricht für mich eher ge- gen als für eine Einbindung beim Rechtsschutz: Das ÜV reiche inhaltlich nur so weit, wie der Prüfling Einwände dagegen erhebt. Gerade das indiziert jedoch auch stärker eine Zuordnung zum Bewertungsverfahren als zum Rechtsschutz. Denn es gibt diverse Ausgestaltungen von Rechtsschutz. Im Zivilrechtsschutz ergeht die Entschei- dung – parallel zum ÜV – in den Grenzen des Parteivo- rbringens. Im Strafprozess dagegen wird von Amts we- gen ermittelt, eine Begrenzung der Entscheidung auf den von den Parteien vorgebrachten Prozessstoff besteht – anders als im ÜV – gerade nicht. Da im Verwaltungs- recht ebenfalls eine Ermittlung von Amts wegen erfolgt (wenn auch etwas eingeschränkt, s. § 86 VwGO), spricht eben dieses Argument, auf das ÜV gemünzt, eher gegen den Rechtsschutz. Dagegen wird die Bewertung nur punktuell und nur im Rahmen dessen angepasst, was der Prüfling vorbringt – eine Zuordnung zum Leistungsbe-
wertungsverfahren wird durch Ungers Argument des- halb nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern tendenziell sogar durch ihn selbst indiziert.
6.
Im Ergebnis sprechen für mich die besseren Gründe dafür, das ÜV der Leistungsbewertung zuzuordnen. Eine parallele Behandlung in einem Widerspruchsver- fahren ist dadurch nicht ausgeschlossen.
III.
Als Folge dieser Argumentation ist das ÜV auch nicht zwingend in ein Widerspruchsverfahren einzubetten, wie es Unger aus seiner Schilderung der Praxis heraus suggeriert. Im Gegenteil, das BVerwG hatte dies in sei- nem Leiturteil ausdrücklich offen gelassen (s. auch BVer- wG 1993, 681 ff., Leitsatz Nr. 4).
IV.
Insgesamt wünsche ich mir mehr konstruktive und fun- dierte Äußerungen zum ÜV wie die von Unger, damit das Verfahren (endlich) denjenigen Platz in Bewusstsein und Praxis der Hochschulen einnimmt, der ihm zusteht. Immerhin handelt es sich um eine höchstrichterliche verfassungsrechtliche Vorgabe, deren Einrichtung nun auch nicht weniger als 26 Jahre her ist. Da die Implemen- tierung des ÜV im Bereich der Staatsprüfungen – wie Unger überzeugend zeigt – weitgehend abgeschlossen ist, steht nun an, die Transformation in den Bereich der Modulprüfungen stärker voranzubringen.
Carsten Morgenroth ist Justiziar und Vertreter des Kanzlers der Ernst-Abbe-Hochschule Jena sowie Refe- rent und Fachautor zum Hochschulprüfungsrecht.
Morgenroth · Replik auf Unger 3 1
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