Frankfurter Juristen hatten an das Königlich Preußische Staatsministerium eine Petition gerichtet, in der sie die Zulassung von Realgymnasiumsabiturienten zum juristi- schen Studium befürworteten. Diese Petition führte 1900 zu einer ebenso lebhaften wie kontroversen Diskussion in der Deutschen Juristen-Zeitung. Fast alle Juristen von Rang und Namen waren an dieser Diskussion beteiligt. Auf Otto von Gierkes Beitrag in der Juristen-Zeitung wur- de immer wieder Bezug genommen:
„Unerheblich für die Berechtigungsfrage ist die Erwä- gung, ob es dem einzelnen Realgymnasialschüler bei gehöriger Veranlagung gelingen mag, ein tüchtiger Jurist zu werden. Warum denn nicht? Was ihm etwa fehlt, kann er nachholen. Schließlich mag er in jeder Hinsicht den unbegabten Genos vom Gymnasium weit hinter sich lassen. Aber nicht darauf kommt es an. Stände nur das Individuelle in Frage, so könnte man überhaupt von dem Erfordernis einer bestimmten Schulbildung abse- hen und jedem anheimstellen, wie weit er es mit beliebi- ger Grundlegung bringt. Ob es ihm gelungen ist, sich zu genügender juristischer Bildung hindurchzuarbeiten, werden ja die Prüfungen und die Leistungen im Vorbe- reitungsdienst zeigen. In Wahrheit sind es ganz andere Fragen, die hier zur Erörterung stehen. Fragen von allge- meinerer Bedeutung und höherem Range! Es handelt sich vor allem um zweierlei: um die Zukunft des Rechts- unterrichts auf den Universitäten und um die Zukunft der Gesamtbildung des Juristenstandes. Der Universi- tätsunterricht, von dem in der Begründung der Petition merkwürdigerweise kaum ein Wort verlautet, muß auf die Voraussetzung einer bestimmten Schulbildung gegründet sein. Unser bisheriger deutscher Rechtsunter- richt ist auf die humanistische Vorbildung zugeschnit- ten. Würde die realistische Vorbildung gleichgestellt, so
würde er über kurz oder lang, ja müßte gerechterweise sich ihr anpassen. Damit aber müßte er eine Wesensver- änderung erfahren, die ihn auf eine niedrigere Stufe hin- abzöge.
Alle Vertiefung des Rechtsstudiums ist durch histori- sche und philosophische Grundlegung bedingt. Denn das Recht als Gesetzeserzeugnis der menschlichen Ge- sellschaft kann nur aus seinem Werdegang von außen begriffen und nur aus den geistigen Zusammenhängen von innen erschaut werden. Zur Erschließung des ge- schichtlichen Verständnisses unseres geltenden Rechts ist nicht nur die eindringende Beschäftigung mit dem ursprünglichen deutschen Recht, sondern auch das gründliche Studium des von uns aufgenommenen frem- den Rechts erforderlich. Wirkliches Verständnis des rö- mischen Rechts erschließt sich nur auf Grund einer ge- wissen Vertrautheit mit dem gesamten antiken Leben, wie sie eben die humanistische Schulbildung und sie al- lein erzeugt. Der angehende Jurist, der mit Nutzen den Universitätsunterricht genießen will, muß sich einiger- maßen in Rom zu Hause fühlen. Und nicht blos in Rom, sondern auch in Athen! Denn das römische Recht in der Gestalt, in der es auf uns vererbt ist, hat wie ein großes Sammelbecken alle Ströme der antiken Rechtsgeschichte in sich aufgenommen und bildet den juristischen Nie- derschlag der gesamten Kultur des Altertums, die grie- chisch-römisch und im Innersten mehr griechisch als römisch war. Und darum ist auch der griechische Sprach- unterricht für den künftigen Studierenden der Rechte unentbehrlich.
So würde in der That, wenn der Wunsch der Petenten in Erfüllung ginge, der Rechtsunterricht auf den deut- schen Universitäten in eine abwärts führende Bahn ge- drängt werden. Ohnehin hat er ja heute – angesichts neuer umfassender und schwer zu bewältigender Kodifi-
1 Otto von Gierke, Juristenzeitung 1900, S. 240 ff.
Ordnung der Wissenschaft 2017, ISSN 2197–9197
Soll das Rechtsstudium den Realgymnasiasten zugänglich werden?
Eine Kontroverse um die Juristenausbildung um 19001
326 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2017), 221–222
kationen mit gewaltigen Schwierigkeiten zu kämpfen, um sich auf der erreichten Höhe zu halten. Vielleicht aber wäre im Sinne mancher Vorkämpfer der realisti- schen Bildung eine minder „wissenschaftliche“ und da- für um so „praktischere“ Einrichtung des Rechtsstudi- ums gar nicht bedauerlich. Es entspräche ja verbreiteten Stimmungen und Strebungen, wenn an Stelle der Ein- führung in die Wissenschaft mehr und mehr die Abrich- tung für die Praxis träte. Wird als Ziel nur die Erlernung
des juristischen Handwerks, die Aneignung des Stoffes und die Beherrschung der Technik ins Auge gefaßt, so mögen wir uns getrost des Erbes der Vergangenheit, das unser Schiff beschwert, als unnützen Ballastes entledi- gen. Darum handelt, wer dem Rechtsstudium kein ande- res Ziel steckt, lediglich folgerichtig, wenn er für die Streichung des Erfordernisses humanistischer Vorbil- dung wirkt.“