Übersicht
I. Einleitung
II. Herausforderungen durch die Forschung
1. Sicherheitsrelevante Entwicklung
a) Die Risiken der Influenza-Forschung
b) Die Gain-of-Function Experimente
c) Biosafety und Biosecurity
d) Single Use, Dual Use oder Multiple Use
2. Zusammenfassung: Die mehrfache Ungewissheit
III. Wissenschaftsfreiheit und konkurrierende Rechtsgüter
1. Die Wissenschaftsfreiheit als Handlungs- und Kommunikati- onsfreiheit
a) Die Forschung als Handlungspraxis
b) Wissenschaftsfreiheit als Kommunikationsfreiheit
2. Mögliche Einschränkungen des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts
3. Die Risikoabwägung: Nur eine Risiko-Nutzen-Analyse? 4. Einschränkungen durch die EMRK
IV. Die Forschungsfreiheit: Einschränkungen und Verbote 1. Allgemein
2. Forschungsverbote oder ‑einschränkungen zur Wissensbe- schränkung oder ‑unterdrückung
V. Wissenschaftsfreiheit als Kommunikationsfreiheit 1. Wissensdistributionsverbote
a) Die Eigenschaften des Wissens
b) Anknüpfungen an die Handlungen Dritter
2. Das Problem des Zensurverbots
VI. Rahmenbedingungen der Forschungsförderung VII. Ethikkodizes: Selbst- oder Fremdregulierung? VIII. Schluss
1 Der nicht eben für Übertreibungen bekannte Lord May schrieb im Hinblick auf die Rekonstruktion des Virus der Spanischen Grippe von 1918: „The work they are doing is absolutely crazy. The whole thing is exceedingly dangerous“ (…) „Yes, there is a danger, but it‘s not arising from the viruses out there in the animals, it‘s arising from the labs of grossly ambitious people.“, zitiert nach Connor, American Scientists controversially recreate deadly Spanish Flu Virus, The Independent, 11.6.2014; Wain-Hobson vom Institut Pasteure (Paris) wird mit den Worten zitiert: „It’s madness, folly.
It shows the profound lack of respect for the collective decision. Making process we’ve always shown in fighting infections. If society, the intelligent layperson, understood what was going on, they would say ‚What the F are you doing”, zitiert nach Sample, Scientists condemn ‚crazy’ ‚dangerous’ creation of deadly airborne flu virus, The Guardian, 11.6.2014.
In Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses werden Wissenschaftler schnell zu verantwortungslosen, ver- rückten Gesellen,1 die um ihres überspannten Wissen- schaftler-Egos, ihrer Reputation oder ökonomischer Inter- essen willen die Menschheit mit hochriskanten Experi- menten gefährden und nebenbei Terroristen das Wissen zum Bau hochgefährlicher, die Menschheit bedrohender Bio-Waffen liefern. Anlass zu diesen Szenarien sind spekta- kuläre Forschungen der Influenza-Forscher, insbesondere die sogenannten Gain-of-Function (GOF) Experimente.2 Letzter Anlass der Erregung in einer Kette von Experimen- ten war die Rekonstruktion des Virus der Spanischen Grip- pe durch Reverse Genetics.3
Zur Einhegung oder Verhinderung solcher oftmals als zu riskant empfundenen Experimente, zumal in ei- nem Bereich, der wie wenige andere Gegenstand von Untergangsvisionen ist,4 sollen Reflexionslasten, Selbst- verpflichtungen, neue Ethikkommissionen, Forschungs- einschränkungen, Forschungsverbote, Publikationsein- schränkungen und ‑verbote helfen. Vor dem Hinter- grund auch medial hochgetriebener Risiken wirkt die Wis- senschaftsfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG schnell wie aus der Zeit gefallen. Als vorbehaltloses Grundrecht ist sie allerdings eine Grenzmarkierung, die in ihrer Bedeu- tung offenbar minimiert werden muss. Dazu steht der seit 9/11 gepflegte, entgrenzte Sicherheitsdiskurs zur Ver- fügung, der auch in anderen Feldern seine enormen Rechnungen zu Lasten von Freiheitsgarantien präsen- tiert. Der hochrangige Zweck der Sicherheit, die diffuse Bedrohung durch Terrorismus, die nicht näher spezifi-
2 Als Gain-of-Function Experimente bezeichnet man diejenigen Ex- perimente, die die Übertragung auf Mammalia und die Pathogeni- tät von Viren im Wege genetischer Änderung des Virus verändern. Eine informierte Diskussion der Risiken und der potentiellen Vorteile findet sich bei Casadevall/Imperiale, Risks and benefits
of Gain-of-Function Experiments with Pathogens of Pandemic Potential, Such as Influenza Virus: a Call for a Science-Based Discussion, MBio (5/4), 2014, S. 1–5.
3 Watanabe, Circulating Avian Influenza Viruses Closely Related to the 1918 Virus Have Pandemic Potential, Cell Host & Microbe (15/6), 2014, S. 692–705.
4 Zu den Ängsten vor Epidemien vgl. Eckart, Die Erregung der Erreger, Süddeutsche Zeitung v. 2.3.2015 S. 11.
Hans-Heinrich Trute
„…that nature is the ultimate bioterrorist“ – Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses
Zu den Schranken des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
100 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2015), 99–116
ziert werden kann, da sie überall und jederzeit manifest werden kann, soll dann jede Einschränkungen von Frei- heitsrechten rechtfertigen. Der vorgeblich gute Zweck heiligt die Mittel.
Man muss die unter den Stichworten Biosafety und Biosecurity diskutierten Sicherheitsprobleme nicht leug- nen, um sich gleichwohl zu wundern, mit welch leichter Hand Grundrechtsgarantien einem mehr oder weniger strukturierten Abwägungsdiskurs und einem Ethikregime anheim gegeben werden, um Sicherheitsgewinne zu er- zielen, deren Charakteristika vor allem darin bestehen, dass sie abstrakt und intransparent bleiben. Wo die Be- drohungsszenarien diffus bleiben und die Anhaltspunk- te für ihre Relevanz das Licht der Öffentlichkeit scheuen, kann der Sicherheitsgewinn nicht bemessen werden. Man kennt das aus anderen Bereichen: Je diffuser die Be- drohungsszenarien und möglichen Sicherheitsprobleme sind, desto mehr wird ein schon in die Terminologie hi- neinreichender Überbietungsdiskurs gepflegt, bei dem enorme Schadenspotentiale beschworen werden, die dann das Nichtwissen über reale Bedrohungen ausglei- chen sollen.5 Wenn etwa die wissenschaftliche Publikati- on als Bauanleitung für Massenvernichtungswaffen me- dial konstruiert wird, ist ein Verbot offenkundig nicht mehr rechtfertigungsbedürftig. So gerät die Wissen- schaftsfreiheit unter Rechtfertigungsdruck. In der allfäl- ligen Abwägung hat der Forscher dann den Nutzen sei- ner Tätigkeit darzustellen, um gegenüber den solcher- maßen stets überwältigenden Risiken bestehen zu kön- nen. Der Hinweis, die Forschung ermögliche Wissen, das auch für die Gesundheit mittelfristig Bedeutung haben könne, wird als zu diffus bewertet, im Gegensatz zu den schneller einleuchtenden Bedrohungsszenarien, die freilich oftmals ohne jede Konkretisierung daherkommen. Damit wird eine Asymmetrie in die Diskussion eingeführt, die Rückwirkungen für die Wissenschaftsfreiheit hat.
Nachfolgend werden zunächst die Szenarien der For- schung und ihre Risiken etwas genauer beleuchtet und insbesondere die Struktur der Gefährdung deutlicher
- 5 Vgl. die ausführliche Diskussion bei Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report on Biosecurity and Dual Use Research. A Report for the Dutch Research Council, 2011, S. 22 ff., die objektive und subjektive Risikoeinschätzungen unterscheiden und die Zwänge der Politik angesichts subjektiver Einschätzungen betonen, ohne dabei freilich die Risiken der Politik selbst zu übersehen. Aller- dings dürften weder die subjektiven Einschätzungen unabhängig von Politik sein, noch dürften allein auf der Basis von subjektiven Risikoeinschätzungen Einschränkungen von Grundrechten ohne Weiteres zu rechtfertigen sein.
- 6 Dazu und zum Folgenden Deutscher Ethikrat, Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft, 2014, S. 27 ff., http://www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/biosicher- heit (5.3.2015).
herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund kann die Wissenschaftsfreiheitsgarantie dann der Problemlage entsprechend differenziert nach Forschung und Kom- munikation entfaltet werden.
II. Herausforderung durch die Forschung
Gegenüber den oben angedeuteten Szenarien ist zunächst das Gefährdungsproblem einer näheren Ana- lyse zu unterziehen. Dabei geht es sowohl um die Art wissenschaftlicher Experimente und die Publikation der Erkenntnisse, als auch um die Struktur der Gefährdung, von der die Rede ist.
Wie immer, wenn die Wissenschaft und ihre Frei- heitsgarantie in der Kritik stehen, ist dies nicht zuletzt durch Fortschritte der Wissenschaft selbst induziert, durch das erhöhte Auflösungs- und Rekombinationsver- mögen derselben,6 das gesellschaftliche Erwartungen begründet und enttäuscht, vorhandene Routinen, Le- bens- und Geschäftsmodelle verändert oder ethisch neu zu bewertende Optionen eröffnet und damit als riskant wahrgenommen wird. Die Forschung wird dabei von ei- nem Risikodiskurs begleitet, in dem nicht nur plausible Risikoszenarien entworfen werden, sondern auch wenig realitätstaugliche Überbietungs- oder Verharmlosungs- szenarien. Dies galt in der Risikodebatte, der Stammzell- forschung, der Reproduktivmedizin, der grünen und ro- ten Gentechnik ebenso wie in der Nanotechnologie und für die Hirnforschung darf in naher Zukunft Ähnliches erwartet werden.7 Nicht selten reagiert die Politik mit Regulierung auf die Überbietungsszenarien.8 Das droht auch im vorliegenden Fall, nicht nur in Deutschland. Je- denfalls aber wirft es stets aufs Neue das Problem der Abstimmung von Wissenschaft und Gesellschaft auf.
1. Sicherheitsrelevante Entwicklungen
Nicht zu verkennen ist, dass sich die Umstände der For- schung in erheblicher Weise verändert haben, keines- wegs nur durch terroristische Bedrohungen, sondern
7 Bei letzterer zeigen sich allerdings Enttäuschungserscheinungen; vgl. einerseits Das Manifest. Was wissen und können Hirnforscher heute?, http://www.spektrum.de/thema/das-manifest/852357 (22.1.2015); dagegen Memorandum „Reflexive Neurowissen- schaft“, https://www.psychologie-heute.de/home/ lesenswert/memorandum-reflexive-neurowissenschaft/ (22.1.2015).
8 Zur Kritik vgl. bereits Trute, Wissenschaft und Technik, in: Isen- see/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 88 Rn. 1; zur Diskussion aus der Sicht der Bioethik vgl. zu den Überbietungs- und Verharmlosungsdiskursen Scott, Toward a Better Bioethics, SciEngEth (15), 2009, S. 283–291.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 1 0 1
auch durch die Globalisierung und nicht zuletzt durch die Entwicklungen in der Wissenschaft selbst.9 So wer- den in der Virusforschung seit geraumer Zeit gentechni- sche Methoden eingesetzt, um die Pathogenität und die Transmissibilität von Erregern zu untersuchen und diese zu verändern. Durch Fortschritte der Lebenswissen- schaften, der Bioinformatik und der Genomforschung sowie der Entwicklung schneller und kostengünstiger Sequenzierungsverfahren wird die Analyse von Pathoge- nitätsfaktoren deutlich verbessert. Die Systembiologie ermöglicht Erkenntnisse über Wirt/Erreger-Verhältnis- se. Insgesamt eröffnet das Ensemble verschiedener Ent- wicklungen avancierte Schritte. Diese dienen letztlich dem Ziel, verbesserte Therapieansätze zu entwickeln. Aber in der Veränderung der Pathogenität und Trans- missibilität können auch nicht unerhebliche Risiken erzeugt werden. Von einer anderen Seite drängen – wie auch sonst in der Wissenschaft – Bewegungen wie Citi- zen Science10 oder hier die Open-Access-Biologie in den Vordergrund und nähren Befürchtungen,11 mit dem Erwerb günstigen Forschungsequipments in diesem Bereich könnten wissenschaftliche Ergebnisse auch von „Laien“ zu terroristischen Zwecken genutzt werden.12 Daher sind nicht mehr nur die Risiken der Forschung
- 9 Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 22 ff.
- 10 Vgl. dazu Fincke, Citizen Science, 2014.
- 11 Unter dem Stichwort De-Skilling wird dies ausführlich debattiert,vgl. Chyba, Biotechnology and the Challenge to Arms Control, Arms Control Today (36) 2006, S. 11–17; Epstein, The Challen- ges of Developing Synthetic Pathogens, Bulletin of the Atomic Scientists, 2008. Dabei ist eine technologiezentrierte Sichtweise unübersehbar, die gleichsam eine De-Professionalisierung der Systembiologie zu einem Lego-Baustein-Arrangement innerhalb weniger Jahre annimmt; dieses ist theoretisch wenig überzeugend und empirisch nicht validiert. Vgl. auch das Resumé von Tucker, Can Terrorists Exploit Synthetic Biology? New Atlantis, 2011,S. 74 f.: „In sum, although certain aspects of parts-based syn- thetic biology may well become more accessible to non-experts, the field’s explicit de-skilling agenda is far from becoming an operational reality.“; ebenso National Science Advisory Board for Biosecurity, Addressing Biosecurity Concerns Related to the Synthesis of Select Agents, 2006.
- 12 Zweifelnd zu Recht Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6),
S. 41, mit dem Hinweis auf notwendige Expertise und vor allem das erforderliche tacit knowledge; ebenso Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 15: „(…) a rather high hypothetical value (…)“. - 13 United States Government Policy for Oversight of Life Sciences Dual Research of Concern, http://osp.od.nih.gov/sites/default/ files/resources/United_States_Government_Policy_for_ Oversight_of_DURC_FINAL_version_032812_1.pdf (22.1.2015): „For the purpose of this Policy, DURC is life sciences research that, based on current understanding, can be reasonably anticipa- ted to provide knowledge, information, products or technologies that could be directly misapplied to pose a significant threatwith broad potential consequences to public health and safety, agricultural crops and other plants, animals, the environment, material, or national security.”; Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 83 ff.
selbst Gegenstand der Besorgnis (Biosafety), sondern auch die mögliche Nutzung der Forschungserkenntnisse durch Terroristen (Biosecurity). Im Hinblick auf den letzteren Aspekt werden dann schon terminologisch aus anderen Bereichen bekannte Semantiken übertragen, wie die Dual-Use-Problematik, die dann als Dual Use Research of Concern (DURC)13 auf dem Display der Wissenschaftsfreiheitsdebatte erscheint.14 Insoweit hat sich schon der Kontext der Forschung erheblich verän- dert.
a) Die Risiken der Influenza-Forschung
Der Ausgangspunkt der gegenwärtigen Debatte liegt, wie schon gesagt, in durchaus sicherheitsrelevanten For- schungen insbesondere der Influenza-Community, ist aber keineswegs darauf beschränkt. Dies galt etwa schon für die Rekonstruktion des Erregers der Spanischen Grippe von 1918 in jahrelanger Arbeit durch drei renom- mierte wissenschaftliche Institutionen mit dem Ziel, Impfstoffe zu entwickeln.15 Auch davor und danach hat es Rekonstruktionen verschiedenster Viren gegeben.16 Anlass der Debatte waren indes vor allem zwei im Jahre 2012 zur Veröffentlichung führenden Experimente,17 die zum Ziel hatten, mittels mutierter Varianten des H5N1-
14 Nicht zuletzt die Entscheidung eines niederländischen Gerichts, eine Regierungsentscheidung aufrechtzuerhalten, nach der Wissenschaftler eine Exportgenehmigung auf der Grundlage der Dual-Use Verordnung für eine Veröffentlichung über eines der 2012 zur Veröffentlichung anstehenden Experimente (siehe
Fn. 17); dazu auch Butler, Pathogen-research laws queried, Nature
(403) 2013, S. 19.
15 Taubenberger/Kash, Insights on influenza pathogenesis, from the
grave, Virus Res. (162), 2011, S. 2–7; Taubenberger et al., Cha- racterization of the reconstructed 1918 Spanish Influenza virus polymerase genes, Nature (437), 2005, S. 889–893; Tumpey et
al., Characterization of the reconstructed 1918 spanish influenza pandemic virus, in: Science (310/5745), 2005, S. 77–80; ausführli- che Darstellung der Gründe auch in CDC, Reconstruction of the 1918 Influenza Pandemic Virus, http://www.cdc.gov/flu/about/ qa/1918flupandemic.htm (22.1.2015); zu den ermöglichten Fort- schritten vgl. auch Taubenberger et al., Reconstruction of the 1918 influenza virus: unexpected rewards from the past. mBio (3/5), 2012, e00201-12. doi:10.1128/mBio.00201–12; für eine kurze Schilderung und Analyse vgl. Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 51 f.
16 Vgl. die Nachweise bei Tucker, Terrorists (Fn. 11), S. 69–81.
17 Imai et. al., Experimental adaption of an influenza H5HA confers
respiratory droplet transmission to a reassortant H5HA/H1N1 virus in fetts, Nature (486/7403), 2012, S. 420–428; Herfst et.
al., Airborne transmission of influenza A/H5N1 virus between ferrets, Science (336/6088), 2012, S. 1534–1541; eine Schilde- rung des langen Prozesses der Konzeption und Durchführung der Arbeiten findet sich bei Fouchier/Herfst/Osterhaus, Public Health and Biosecurity. Restricted Data on Influenza H5N1 Virus Transmission, Science (335/6069), 2012, S. 662–663; vgl. auch die Nachweise bei Lipsitch/Galvani, Ethical Alternatives to Expe- riments with Novel Potential Pandemic Pathogens, PLoS Med (11/5), 2014, e1001646.
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Virus zu prüfen, ob diese auch im Luftwege übertragen werden können (anders als der Wildtyp, der nur bei Kör- perkontakt und ohnehin selten übertragen werden kann). Die erregte Debatte führte zunächst zur Empfeh- lung des amerikanischen National Science Advisory Boards für Biosecurity (NSABB), die Ergebnisse nicht zu publizieren; am Ende aber wurden die überarbeiteten Ergebnisse publiziert. Es folgte ein einjähriges freiwilli- ges Moratorium für entsprechende Versuche.18 Umstrit- ten aber bleiben diese weiterhin,19 befeuert nicht zuletzt durch weitere Experimente, wie die Herstellung des Virus der Spanischen Grippe von 1918 durch die For- schungsgruppe um Yoshihiro Kawaoka aus in wilden Enten gefunden Fragmenten, mit dem Ziel die Übertra- gungsmöglichkeiten des Virus zu analysieren.20
b) Die Gain-of-Function Experimente
Es sind vor allem bestimmte sog. Gain-of-Function (GOF) Experimente und die mit ihnen verbundenen wirklichen oder vermeintlichen Risiken,21 die die Kritik herausfordern. Diese hat mittlerweile zu einem (erzwun- genen) Moratorium durch den Stopp der öffentlichen US-amerikanischen Finanzierung von bestimmten GOF-Experimenten geführt.22
Allerdings zeigt eine ausführliche Diskussion der Ar- tikel von 2012, die Auslöser der erneuten Debatte waren und sind,23 dass ungeachtet der Abwägung von Risiken und Nutzen doch verhältnismäßig wenig über die Aus- breitungsbedingungen von Influenza-Viren bekannt ist und dass eine breit angelegte Ausbreitungs-Forschung notwendig ist, auch in der Anlage der bisherigen GOF-
- 18 Vgl. Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 9 ff.
- 19 Trevan, Do not censor science in the name of biosecurity, Nature(486), 2012, S. 295; Butler, Freeze on mutant-flu research set to thaw, Nature (486/7404), 2006, S. 449–450; Dickmann/Dorsten/ Becker, Wir müssen die Risiken aushalten, FAZ, 20.12.2012.
- 20 Watanabe, Circulating Avian Influenza (Fn. 3); Connor, Ameri- can Scientists controversially recreate deadly Spanish Flu Virus, The Independent, 11.6.2014.
- 21 Eine informierte Diskussion der Risiken und der potentiellen Vorteile findet sich bei Casadevall/Imperiale, Risks and Benefits (Fn. 2); Lipsitch/Galvani, Ethical Alternatives (Fn. 17).
- 22 Kaiser, Researchers rail against moratorium on risky virus experiments, Science, 22.10.2014, http://news.sciencemag.org/ biology/2014/10/researchers-rail-against-moratorium-risky- virus-experiments (21.1.2015).
- 23 Doherty/Thomas, Dangerous for ferrets: lethal for humans?, BMC Biol. (10), 2012, S. 10; Fouchier et. al., Preventing pandemics: the flight over flu, Nature (481), 2012, S. 257–259; Osterholm/Kelley, Mammalian-transmissible H5N1 influenza: facts and perspective, MBiol (3), 2012, S. 2; Palese, Don’t censor life-saving science, Nature (481), 2012, S. 115; Webster, Mammalian-transmissible H5N1 influenza: the dilemma of dual-use research, MBio (3), 2012, S. 1; Morens/Subbarao/Taubenberger, Engineering H5N1 avian influenza viruses to study human adaptation, Nature (486), 2012, 335; Fouchier et al., Gain-of-Function-Experiments on
Experimente. Eine mittlerweile als Aufreger fungierende Schlussaussage ist: „In considering the threat of bioterro- rism or accidental release of genetically engineered viru- ses, it is worth remembering that nature is the ultimate bioterrorist.“24
c) Biosafety und Biosecurity
Es dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, dass bestimm- te GOF-Experimente mit erheblichen Risiken einherge- hen können. Dieser Risikoaspekt (Biosafety) soll in erheblichem Umfang durch Anforderungen an den For- schungsprozess und die Labor- und Arbeitssicherheit abgefangen werden. Die Risiken für das Forschungsper- sonal ebenso wie die Risiken einer unbeabsichtigten Freisetzung sollen dabei durch die Einstufung des Gefah- renpotentials und entsprechende Sicherheitsanforde- rungen soweit reduziert werden, dass sie als hinnehmbar angesehen werden können. Soweit ersichtlich ist bisher keine belegte Freisetzung eines solchermaßen veränder- ten Virus aufgetreten,25 wohl aber mögen Meta-Analy- sen dafür sprechen, dass die Möglichkeit eines unbeab- sichtigten Entweichens kaum je ausgeschlossen werden kann.26
Befürchtet wird darüber hinaus, dass die Materialien und das generierte Wissen zur Produktion von biologi- schen Massenvernichtungswaffen durch Terroristen be- nutzt werden könnte (Biosecurity). Im Ausgangspunkt gilt es dabei festzuhalten, dass nicht etwa Forscher und Forscherinnen verdächtigt werden, etwas Illegales vor- zuhaben und zum Bioterrorismus beizutragen. Zwar kann man mit guten Gründen davon ausgehen, dass es
H7N9, Science (341), 2013, http://www.sciencemag.org/
content/341/6146/612.full.pdf (21.1.2015).
24 Morens/Subbarao/Taubenberger, Engineering H5N1 (Fn. 23),
S. 338; Vgl. dort (S. 335–340) die ausführliche Diskussion der beiden Artikel einschließlich der medialen Übertreibungen und des derzeitigen Stands der Forschung; auch die ausführliche Rekonstruktion der Debatte bei Casadevall/Imperiale, Risks and benefits (Fn. 2); vgl. auch WHO, Report on technical consultation on H5N1 research issues, 2012, http://www.who.int/ influenza/human_animal_interface/mtg_report_h5n1.pdf ?ua=1 (21.1.2015); Perez, Hung up on the Wrong Questions, Science (335), 2012, S. 799–801; krit. etwa Wain-Hobson, The Gain-of- Function Experiment of Great Concern, mBio (5/5), 2014, http:// www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4205792/ (21.1.2015).
25 Das ist allerdings umstritten. Lipsitch/Galvani, Ethical Alterna- tives (Fn. 17) gehen unter Berufung auf Webster et al., Evolution and ecology of influenza A viruses, Microbiol Rev (56), 1992,
S. 152–179 davon aus, dass ein H1N1 Influenza Strang, der von 1977–2009 virulent war, aus einem Laborunfall stammen soll („is thought to have originated“). Der Verweis ist allerdings nicht überzeugend und das Ergebnis als solches wiederum der Kritik ausgesetzt vgl. Sample, Virus experiments risk unleashing global pandemic, study warns, The Guardian, 21.5.2014.
26 Lipsitch/Bloom, Rethinking Biosafety in Research on Potential Pandemic Pathogens, mBio (3/5), 2012, S. 1–3.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 1 0 3
auch aus dem Inneren eines Labors heraus zu bioterro- ristischen Anschlägen kommen kann. Folgt man den Untersuchungen des FBI, soll die Freisetzung des Milz- branderregers Anthrax 2001 in den USA von einem For- scher einer amerikanischen Militärforschungseinrich- tung erfolgt sein, auch wenn Zweifel an dieser Version bleiben.27 Aber dieses Szenario dürfte eher mit Maßnah- men der Laborsicherheit zu adressieren sein, als mit dem Verbot oder der Einschränkung von Forschung und Pu- blikationen. Es ist vor allem das von Wissenschaftlern produzierte Wissen mit Dual-Use Potential, das als ris- kant gilt. Daran ist zweierlei bedeutsam: Es wird der eher seltene Fall sichtbar, in dem Ansprüche auf Sicherheit dazu führen sollen, Wissen entweder nicht zu generieren oder nicht zu publizieren,28 weil es von anderen genutzt werden kann, um damit schädliche Absichten zu verfol- gen.29 Die mögliche Verwendung durch Dritte wird zum Ausgangspunkt von Regulierungsinteressen30 und zwar nicht gegenüber denjenigen, die schädliche Verwendun- gen beabsichtigen, sondern denjenigen, die zu weiteren wissenschaftlichen Erkenntniszwecken dieses Wissen (und die damit verbundenen Artefakte in Form von wis- senschaftlichen Objekten) generieren.31
d) Single Use, Dual Use oder Multiple Use
Der Begriff des Dual Use, der das Stichwort für Regulie- rungsinteressen abgibt, hat dabei eine erstaunliche Kar- riere hinter sich.32 Dieser Begriff suggeriert eine
- 27 Das FBI hat in seiner abschließenden Erklärung Bruce Ivins, For- scher in dem U.S. Army Medical Research Institute for Infectious Diseases (USAMRIID) als verantwortlichen Täter ausgemacht, der im Jahre 2008 wenige Tage vor der Anklageerhebung Selbst- mord beging. Allerdings verbleiben nach der Untersuchung etwa der National Academies of Science weiterhin Zweifel an dieser Version; vgl. die Presseerklärung der NAS v. 5.02.2011 http:// www8.nationalacademies.org/onpinews/ newsitem.aspx?RecordID=13098 (22.1.2015); eine neue Studie des Government Accountability Office ist ebenfalls skeptisch im Hinblick auf die vom FBI gezogenen Schlüsse; vgl. Broad, Inquiry in Anthrax Mailings Had Gaps, Report Says, New York Times, 20.12.2014, S. A 13.
- 28 Das Exzeptionelle betonen auch Marchant/Pope, The Problems with Forbidding Science, SciEngEth (15), 2009, S. 375–394, 376.
- 29 Dies ist allerdings nicht ohne historische Präzedenzfälle; vgl. ausführlich Laughlin, Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft, 2008.
- 30 Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Restriktion der Proliferation des Wissens und der Fertigkeiten im Umgang mit den genetisch rekonstruierten oder veränderten Viren (vgl.
etwa Butler, Freeze (Fn. 19)) auch zur Aufrechterhaltung einer Ungleichverteilung des Wissens führt, die für das Feld von Pandemien schon im Allgemeinen hohe Risiken begründet. Dazu und zu den Ansätzen der WHO die Ungleichverteilung im Rah- men des internationalen Pandemierahmens zu berücksichtigen Trute, How to deal with pandemics? (i.E.) (preprint unter http://
bestimmte Eigenschaft der Produkte, Technologien und des Wissens, die die Regulierungsinteressen rechtfertigt. aa) Er diente zunächst der Bezeichnung einer wissen- schaftspolitischen Position der Nachkriegszeit, die Spill- Over-Effekte der Militärtechnologie in den privaten in- dustriellen Bereich und umgekehrt als einen Weg be- nannte, angemessene Innovationen trotz Reduktion der Militärforschung in diesem Bereich zu erzielen. Die Un- terscheidung von bene- und malevolenten Nutzungs- möglichkeiten ein und derselben Technologie kam erst später hinzu. Auch seine Nutzung im Bereich der Life Sciences datiert verhältnismäßig spät. Auch die Biowaf- fen-Konvention kennt diesen Begriff nicht, sondern legt in Art. 10 ausdrücklich ein Gewicht auf die internationa- le Zusammenarbeit und den Austausch von Agenzien und Toxinen zu friedlichen Zwecken.33 Dies steht im Einklang mit der WHO-Politik über einen Austausch der Viren und Erreger im Rahmen des PIP Frameworks, insbesondere die weniger entwickelten Staaten an der Entwicklung von Mitteln und auch an der Forschung im Sinne einer effektiven Pandemie-Präventionspolitik teil- haben zu lassen.34 Erst im Gefolge der Anthrax-Briefe im Kontext von 9/11 ist diese Begrifflichkeit zu einer
Grundfrage der Forschung aufgewertet worden.35
Dies trifft zusammen mit der Fragmentierung der in- ternationalen Ordnung und den damit verbundenen Schwierigkeiten, ein stabiles Exportkontrollregime zu etablieren.36 Wo die Bedrohung nicht mehr allein von
minervaextremelaw.haifa.ac.il/images/Trute-2014-How_to_deal_ with_pandemics.pdf (22.1.2015); WHO, Report on technical consultation on H5N1 research issues, 2012, http://www.who. int/influenza/human_animal_interface/mtg_report_h5n1. pdf?ua=1(22.1.2015); Fouchier/Herfst/Osterhaus, Restricted Data (Fn. 17), S. 662 f., mit der zutreffenden Bemerkung, dass die Re- striktionen dem WHO-Ansatz des Sharings mit den betroffenen Ländern im Rahmen des PIP Framework widersprechen; ebensoFaden/Karron, The Obligation to Prevent the Next Dual-Use Controversy, Science (335), 2012, S. 802–804.
31 Bisher hat es kaum bekannte Fälle der Verwendung von Agenzien zu terroristischen Zwecken gegeben, jenseits der wenigen, immer wieder bemühten Versuche vor längerer Zeit, wie etwa dem Anschlag der AUM-Sekte in Tokio, dessen genauere Analyse ebenfalls erhebliche Zweifel an der Begründung von Überbie- tungsszenarien gibt; vgl. auch Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 22 mit der Frage, ob dies nicht die Frage nach der Rechtfertigung von Einschränkungen aufwirft.
32 Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 8 ff.; Reppy, Managing Dual Use in an Age of Uncertainty, The Forum (4/1), 2006, S. 1–7.
33 Zur Reichweite im Hinblick auf die missbrauchsanfällige Verwen- dung Teetzmann, Rechtsfragen der Sicherheit in der biologischen Forschung – Gutachten für den Deutschen Ethikrat, 2014, S. 132 f.
34 Trute, How to Deal (Fn. 30).
35 Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 11 ff., 18 ff. 36 Reppy, Managing Dual Use (Fn. 32), S. 1–7.
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Staaten ausgeht, die unschwer als mögliche Adressaten von Einschränkungen oder Verpflichtungen in An- spruch genommen werden können, fällt die Schaffung eines stabilen Rahmens schwerer. Ungeachtet dessen ist der Begriff des Dual Use alles andere als klar.37 Jedenfalls nimmt er im Bereich der Biowissenschaften eine neue Bedeutung an, insofern er nicht mehr in erster Linie auf Exporteinschränkungen bezogen wird, sondern zudem Verbote oder Einschränkungen der Generierung von Wissen legitimieren soll. Offenkundig wird er in dem amerikanischen Kontext zudem häufig anders verwen- det als im europäischen. Während im amerikanischen Kontext eher die Technologie und ihre (damit abstrakte) Gefährlichkeit als solche betont wird, soll in Europa eher der Anwendungskontext bedeutsam sein.38 Auch wenn dies eine Simplifikation der Zusammenhänge darstellen mag, so bringt dies unterschiedliche Ansätze der Risiko- einschätzung zum Ausdruck und mag erklären, warum es in den USA leichter fällt, bestimmte Agenzien und Praktiken generell als gefährlich einzustufen und daraus regulatorische Konsequenzen abzuleiten. Die unbesehe- ne Übertragung in einen anderen Kontext hat dann Fol- gen für das Risikokonzept.
bb) Mit der Übertragung der Dual-Use-Problematik auf die Influenza-Forschung wird darüber hinaus leicht übersehen, dass es hier, jedenfalls soweit es nicht Agen- zien etc. betrifft, nicht um die Beurteilung der möglichen Risiken von Produkten geht, sondern, sieht man einmal von den Risiken der Experimente selbst ab, um die Risi- ken des Gebrauchs von Wissen. Wissen aber ist eine Konstruktion des Verwenders, also desjenigen, der In- formationen und Kommunikate rezipiert und in einen Kontext von Relevanzen einfügt,39 was immer derjenige sagen wollte, der sie zunächst geäußert hat. Von daher ist Dual-Use nicht eine Eigenschaft des Wissens, sondern die Zuschreibung von Verwendungsmöglichkeiten bzw. deren Realisierung. Multiple Use steht für die Funktion der immer wieder neuen Anregung, vorhandene Infor- mationen und Wissen für Neues umzucodieren. Das un- terscheidet Wissen von Produkten, die üblicherweise in einem Kontext des Bekannten verhältnismäßig gut ver- ortet werden können. Sie sind gewissermaßen gefrore-
- 37 Forge, A Note on the Definition of „Dual Use“, SciEngEth (16), 2010, S. 111–118.
- 38 Pustovitz/Williams, Philosophical aspects of Dual Use Technolo- gies, SciEngEth (16), 2010, S. 17–31.
- 39 Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hrsg.), Wis- sen – zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, S. 14 f.
- 40 Von daher stellen die Definitionen von Dual Use denn auch auf den gegenwärtigen Zeithorizont ab; vgl. Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 33.
nes und damit eng gekoppeltes Wissen im Rahmen einer Technologie, deren künftige Verwendung jedenfalls in gewissem Umfang bestimmt werden kann. Eine Zentri- fuge, das weiß man, kann für vielfältige industrielle und wissenschaftliche Zwecke verwendet werden, aber eben auch im Rahmen der Produktion von Atomwaffen. Das ist bei Wissen im Ausgangspunkt anders. Selbst wenn es auf den ersten Blick scheint, als könnte man die künfti- gen Verwendungen einigermaßen bestimmen, so lässt sich die Verwendung in der Zeit nicht wirklich überse- hen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass Wissen später in einem anderen Kontext von Bedeutung ist, und sei es nur als Anregung zur Veränderung von Fragestellun- gen.40 Darin liegt aber gerade ein wesentliches Argu- ment für die prinzipielle Öffentlichkeit der Wissenschaft. Daher ist es schwer, hinreichend sichere Kriterien für die Bestimmung von Risiken der Verwendung von Wissen zu bestimmen.
cc) Im vorliegenden Kontext wird zudem unterstellt, dass dieses Wissen (ganz im Sinne der abstrakten Ge- fährdung) ohne Weiteres für eine malevolente Verwen- dung genutzt werden kann. Schon allgemein gilt, zumal in den Laborwissenschaften, dass erst eine Mischung aus implizitem Wissen einer Forschungspraxis, informellen Kommunikationen und explizitem und damit verallge- meinerungsfähigem Wissen es ermöglicht, Ergebnisse zu erzielen.41 Erst eine anspruchsvolle Praxis in Hochsi- cherheitslaboren macht diese Ergebnisse und ihre Wei- terverwendung möglich. Um diesem Problem zu entge- hen, soll die Einschränkung einer direkten Verwendbar- keit das Ausufern der Dual-Use Problematik verhin- dern.42 Nur bei „Kochrezepten“ der Forschung solle es zu Einschränkungen kommen. Der Vergleich ist instruk- tiv. Wäre es – um in dem Bild zu bleiben – so einfach aus Kochrezepten Sternemenüs zu produzieren, ein jeder könnte Sternekoch sein, vielleicht nach einiger Übung. Das suggestive Bild des Kochrezepts oder der direkten Verwendbarkeit geht an den anspruchsvollen Vorausset- zungen der Praxis der Wissenschaften vorbei.43 Es braucht stets mehr als veröffentlichtes Wissen, um Er- kenntnisse dieser Art zu replizieren und in malevolente Verwendungen zu transformieren.44
41 Gläser, Wissenschaftliche Produktionsgemeinschaften, 2006, S. 107 ff.; Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 41; Allgemein Loenhoff, Implizites Wissen. Epistemologische und handlungsheoretische Perspektiven, 2012.
42 Vgl. auch DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit und Wissen- schaftsverantwortung. Empfehlungen zum Umgang mit sicher- heitsrelevanter Forschung, 2014, S. 13 (ohne zusätzliches Wissen/ ohne aufwendige Umsetzungs- und Anwendungsprozesse).
43 Tucker, Terrorists (Fn. 11) , S. 69–81 mwN. 44 Vgl. auch Tucker, Terrorists (Fn. 11), S. 70 f.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 1 0 5
dd) Darüber hinaus: Veröffentlicht wird nicht ein Re- zept von Massenvernichtungswaffen (von denen es be- kanntlich diverse im Netz geben soll, was technologisch viel enger gekoppelte Atom-Waffen angeht),45 sondern etwa die Veränderung der Pathogenität eines Virus und/ oder seiner Transmissibilitätsbedingungen, also gleich- sam „angeschärfte“ Varianten dieses Virus.46 Aber diese sind noch lange keine Massenvernichtungswaffe. Für eine Transformation in einer Massenvernichtungswaffe bedürfte es der Umsetzung des Erregers in ein anderes Setting,47 welches im Übrigen wieder in unzähligen Ver- suchen gehärtet werden müsste,48 die wiederum nur un- ter höchsten Sicherheitsbedingungen erfolgen könnten. Andernfalls würde die Versuchsdurchführung auch gleichzeitig das Ende des Versuchs für die beteiligten Personen bedeuten. Der Deutsche Ethikrat kommt da- her in seiner Sach-Analyse der derzeitigen und absehba- ren Entwicklung zu der Einschätzung, dass je anspruchs- voller die Technologien sind, desto unwahrscheinlicher es ist, dass sie eine terroristische Gefahr darstellen.49 Das schließt naturgemäß nicht aus, dass die wissenschaftli- che Entwicklung weiter geht und damit auch erhöhte Ri- siken begründet werden können. Es macht aber deutlich, auf welchen anspruchsvollen Voraussetzungen die Dual- Use-Problematik im Bereich der Wissenschaft gründet, jedenfalls dann, wenn sie mit der Veröffentlichung von Wissen zu tun hat.
2. Zusammenfassung: Die mehrfache Ungewissheit
Schon daran wird deutlich, dass man es in diesem Bereich versuchter Regulierung der Wissenschaft mit einer mehrfachen Ungewissheit zu tun hat.50 Diese bezieht sich einerseits auf die Risiken der Forschung selbst (Forschungsrisiken), also der Experimente, ander- seits auf die Risiken der Kommunikation der Ergebnisse (Wissensrisiken). Im ersteren Bereich ist die Situation strukturell durchaus vergleichbar mit den bisherigen Risiken der Gen-Forschung. Voraussetzungsvoller ist indes der Umgang mit Wissen. Zum einen ist es schon
- 45 Dazu und zu den Unterschieden zwischen A- und B‑Waffen vgl. nur Kelle/Schaper, Terrorism using biological and nuclear waepons. A critical analysis of risks after 11 September 2001. PRIF Reports No. 64.
- 46 Dabei ist nach dem bisherigen Stand der Forschung schon unklar, ob eine Transmission direkt durch die Adaption eines Virus oder nur durch die weitere Anpassung eines ohnehin schon übertra- genen Virus stattfinden kann. Darüber hinaus: „This suggests that de novo emergence of a human pandemic influenza virus is an extreme rare event that is not easily achieved in nature, and presumably would not be easily achieved by engineering a small number of laboratory mutations“; vgl. Morens/Subbarao/Tauben- berger, Engineering H5N1 (Fn. 23), S. 335.
- 47 Kuhn, Defining the Terrorist Risk, Bulletin of the Atomic Scien-
missverständlich, hier von einer Dual-Use-Problematik auszugehen, denn Wissen ist in vielfältiger und unabseh- barer Weise verwendbarer: Multiple Use statt Dual Use (Verwendungsungewissheit). Ungeachtet dessen lässt sich jedenfalls am Beginn der Forschung oftmals nicht absehen, was das Ergebnis der Forschung sein wird (Ergebnisunsicherheit).51 Dann lässt sich auch eine Dual-Use-Problematik nicht hinreichend sicher bewer- ten. Ungeachtet dessen aber muss man sehen, dass selbst die bloße Möglichkeit einer malevolenten Nutzbarkeit noch nichts für eine Risikoanalyse hergibt, es sei denn man wollte die abstrakte Gefährdung schon ausreichen lassen. Man hat also eine Reihe von Dimensionen der Risiken in der künftigen Verwendung zu unerwünschten Zwecken jenseits der bloßen theoretischen Möglichkeit zu berücksichtigen.
III. Wissenschaftsfreiheit und konkurrierende Rechtsgüter
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Grundzüge der Wissenschaftsfreiheitsgarantie entwickeln und in einem weiteren Schritt auf die hier in Rede stehenden Probleme beziehen. Dazu gilt es zunächst die Wissenschaftsfrei- heitsgarantie sowohl als Forschungs- wie als Kommuni- kationsfreiheit zu entfalten, bevor wir auf die hier in Rede stehenden möglichen Gründe für Einschränkun- gen eingehen.
1. Die Wissenschaftsfreiheit als Handlungs- und Kom- munikationsfreiheit
Dabei scheinen Biosafety und/oder Biosecurity zunächst unter dem Aspekt der Wissenschafts- bzw. Forschungs- freiheit keine wirklich neuen strukturellen Problemem aufzuwerfen. Vielmehr scheint es vor allem darum zu gehen, ob und inwieweit die Forschungs- und Wissenschaftsfrei- heit zugunsten anderer Rechtsgüter eingeschränkt werden kann,ggf.eingeschränktwerdenmuss.IndesistesimHin- blick auf die Risikoanalyse sinnvoll zwischen der experi-
tists websites 2008, nimmt folgende, durchaus im Einzelnen und ihrem Zusammenwirken komplexe Schritte an: Herstellung des Agens in der erforderlichen Menge, Stabilisierung des Agens, die Überführung des Agens in Trockensubstanz oder Flüssigkeiten und die Entwicklung eines Übertragungssystems. Die Schlussfol- gerung lautet: „The methods to stabilize, coat, store, and disperse a biological agent are highly complicated, known only to a few people, and rarely published.“
48 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 51.
49 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 53.
50 Vgl. auch Thurnherr, Biosecurity und die Publikation heikler
Forschungsdaten aus grundrechtlicher Perspektive, 2014, S. 98 ff. 51 Zu Recht betont in DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit
(Fn. 42), S. 9.
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mentellen Forschungspraxis und der Kommunikationsseite der Wissenschaft zu unterscheiden.
a) Die Forschung als Handlungspraxis
Der Forschungsfreiheit geht es um Handlungen zur Erzeugung neuen Wissens.52 In ihren Schutzbereich ein- bezogen ist alles Handeln, das sich daran orientiert, neu- es Wissen zu erzeugen. Zur Forschung sind daher alle Tätigkeiten zu rechnen, die diesem Ziel dienen, also alle Handlungen der Vorbereitung, Durchführung und Fixierung der Ergebnisse, also etwa Ermittlung des Stan- des der Forschung, Materialsammlung (und ggf. ‑her- stellung), Hypothesenbildung, experimentelle Überprü- fung, Interpretation der Ergebnisse etc. Dies schließt entgegen früher gelegentlich vertretener Ansichten das Experiment in allen seinen Facetten mit ein.53 In den Lebenswissenschaften ist dieses oft genug ein Experi- mentalsystem zur Erzeugung von Wissen, das gleichzei- tig die Manipulation von vorhandenen Agenzien bein- haltet. Experimentalsysteme in diesem Sinne beinhalten nicht nur Instrumente und Aufzeichnungsapparaturen sondern und in den Biowissenschaften vor allem Modell- organismen,54 also auch Agenzien, die manipuliert wer- den können, um damit einen neuen Organismus herzu- stellen, dessen Eigenschaften dann Gegenstand weiterer Forschung sind. Auch diese Experimente sind daher Teil der Forschungsfreiheit.
b) Wissenschaftsfreiheit als Kommunikationsfreiheit
Wissenschaftsfreiheit ist darüber hinaus Kommunikati- onsfreiheit.55 Diese wird als Unterfall und Spezialfall der Meinungsfreiheit angesehen.56 Historisch ist dies zwei- fellos zutreffend; sie ist insofern sogar primär Kommuni- kationsfreiheit. Allerdings ist die Kommunikationsfrei- heit durch eine Reihe von Besonderheiten gekennzeich- net, die einfache Übertragungen der Dogmatik der Meinungsäußerungsfreiheit erschweren.57 Dies beginnt schon mit dem Grundrechtsträger, der im Falle der Mei- nungsfreiheit jedermann ist und sein kann, wohingegen
- 52 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 121 ff.; Mager, Freiheit von Forschung und Lehre, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3. Aufl., 2009, § 166 Rn. 9 f.
- 53 Vgl. dazu oben II. 1. b).
- 54 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, 2006,S. 29.
- 55 Das BVerfG spricht insoweit von der Weitergabe der Forschungs-ergebnisse, ohne dies allerdings weiter auszudifferenzieren; vgl. dazu BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (40), st. Rspr. seit BVerfG, 29.5.1973, 1 BvR 424/71, 1 BvR 325/72, BVerfGE 35, 79 (112).
die Wissenschaftsfreiheit de facto und zumal in den hier relevanten Zusammenhängen gar nicht außerhalb spezi- fischer Berufsrollen und erworbener Qualifikationen aus- geübt werden kann. Die Thematisierung von De-Skilling- Prozessen58 zeigt das ungeachtet ihrer Reichweite. Bedeutsam ist dies vor allem im Hinblick auf die Risiko- einschätzung, die die Bindung an die Berufsrolle und die damit verbundenen Qualifikationsprozesse berücksich- tigen muss. Darüber hinaus ist die wissenschaftliche Kommunikation nicht auf ein Dafürhalten im Sinne von Meinungen bezogen, sondern auf die Mitteilung von neuem Wissen, Theorien, Methoden und Ergebnissen von Wissensgenerierungsprozessen. Es werden also in dieser Kommunikation Geltungsansprüche erhoben, die auch im Regelfall mit Tatsachen einhergehen, die als sol- che mitgeteilt und in bestimmte Zusammenhänge einge- bettet werden. Insofern werden Tatsachen nicht als Vor- aussetzungen von Meinungen betrachtet, sondern sind als Aussagen über Tatsachen nachgerade ein Kern der wissenschaftlichen Kommunikation. Zudem ist der Bezugspunkt der wissenschaftlichen Öffentlichkeit im Ausgangspunkt ein anderer.59 Dieser kann sich zwar mit der allgemeinen Öffentlichkeit überlappen, aber tut dies im Regelfall zunächst nicht, und selten ohne weitere Transformationsschritte von Format und Text. Insoweit kommunizieren Wissenschaftler in der Regel zunächst mit Wissenschaftlern und verhandeln auf diesen Foren der wissenschaftlichen Öffentlichkeit mögliche Gel- tungsansprüche (übrigens nicht selten mündlich auf Konferenzen, im Rahmen von Vorträgen oder informel- ler Kommunikation).60 Insoweit ist zunächst einmal der Rezipientenkreis begrenzt.
Die wissenschaftliche Kommunikationsfreiheit ist in erster Linie ein Recht des einzelnen Wissenschaftlers (oder der Gruppe) zur Veröffentlichung, gleich in wel- cher medialen Form dies geschieht. Sie macht Wissen öf- fentlich und begründet damit Wissenschaft als fortlau- fenden Kommunikationszusammenhang. Zugleich kön- nen die Selbststeuerungsmechanismen, wie etwa die Re-
56 Vgl. dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 13. Aufl., 2014, Art. 5 Rn. 120; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl., 2013, Art. 5 III Rn. 64.
57 Mit Nuancen im Einzelnen auch Mager, Freiheit (Fn. 52),
Rn. 11; Löwer,Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR, Bd. IV, 2011, § 99 Rn. 13.
58 Vgl. dazu oben Fn. 11.
59 Zu Erosionen dieses Befundes vgl. Weingart, Die Stunde der
Wahrheit?, 2001, S. 232 ff.
60 So waren in den oben erwähnten Fällen der GOF-Experimente
die Ergebnisse natürlich schon zuvor auf Konferenzen erörtert worden und damit zumindest zum Teil öffentlich geworden.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 1 0 7
putationszuweisung an die Veröffentlichung anseilen. Dies wird noch deutlicher, wenn man in Rechnung stellt, dass das Medium der Öffentlichkeit der Validierung des Wissens dient und insoweit unverzichtbarer Teil des Qualitätssicherungsmechanismus der Wissenschaft ist. Nicht validiertes Wissen begründet neue Risiken für eben die Rechtsgüter, die durch Publikationsrestriktio- nen geschützt werden sollen.61
Von daher besteht auch zwischen der Forschung als Handlungspraxis und der Kommunikation ein unverzicht- barer Zusammenhang. Unveröffentlichte Forschung ist von daher aus vielen Gründen problematisch, nicht zuletzt, weil sie einem öffentlichen Qualitätstest durch andere nicht ausgesetzt worden ist. Damit aber nicht genug. Na- türlich ist die Veröffentlichung von Forschungsergebnis- sen ebenso für die Fortsetzung der Forschung wie auch für all diejenigen Aspekte unabdingbar, um derentwillen Forschung als frei garantiert und öffentlich alimentiert wird, von der Aufklärung, über die Innovation bis hin zur Revision von Weltbildern. Schon daran zeigt sich, dass die Kommunikationsfreiheit für sich gesehen auf eine Vielzahl von Aspekten verweist und gleichsam in sich multiple Aspekte aufnimmt, nicht nur die individu- ellen Aspekte, die die Forschungskommunikation legiti- mieren, sondern auch die Funktionsweise des Wissen- schaftssystems selbst.62
2. Mögliche Einschränkungen des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts
Die Wissenschaftsfreiheitsgarantie sieht sich – nicht zuletzt wegen ihrer vorbehaltlosen Gewährleistung – vielfältigen Versuchen einer Einhegung jenseits der bekannten dogmatischen Linien der Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte durch kollidierende verfas-
- 61 Zutreffend DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit (Fn. 42), S. 13 f.
- 62 Zur Struktur des Interessenkonflikts auch Thurnherr, Biosecurity(Fn. 50), S. 94 ff.; vgl. auch Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 163 ff.
- 63 Dazu im vorliegenden Kontext Würtenberger/Tanneberger,Biosicherheit und Forschungsfreiheit. Ordnung der Wissenschaft, 2014, S. 3 ff.; zur Situation in der Schweiz vgl. Thurnherr, Biose- curity (Fn. 50), S. 27.
- 64 Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 400 ff; krit. bereits Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 158 ff.; Löwer, Freiheit (Fn. 57), Rn. 15 f.
- 65 Diese Auffassung kann sich auf eine längere Tradition stützen, vgl. nur Smend, VVDStRL (4), 1928, S. 44 ff., 66; Köttgen, Deut- sches Universitätsrecht, 1933, S. 114; ders., Die Freiheit der Wis- senschaft und die Selbstverwaltung der Universität, in: Neumann/ Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 291, 296 ff.;Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, in: Freiburger Universitätsblätter (95), 1987, S. 19 ff.; Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, Der Staat, (42)
sungsrechtliche Positionen ausgesetzt.63 Sie reichen von den Versuchen der Einschreibung ethischer Grenzen in den Schutzbereich,64 über die Herausnahme des Experi- ments aus der Gewährleistung,65 über andere Formen enger Konstruktionen der Forschungsfreiheit,66 wie auch die Konzeption einer Art Nichtstörungsschranke bis hin zu dem Versuch, unter Rückgriff auf die Schutzpflichten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu einer Einschränkung zu kommen.67 Sie lassen sich auch als Versuche lesen, die Wirkmächtigkeit der Wis- senschaft, insbesondere ihre sowohl physische wie kog- nitive Risikodimension gleichsam mit der Gesellschaft abzustimmen.
Indes bedarf es dieser Anstrengungen zur Verkür- zung des Schutzbereichs nicht. Vielmehr kann die Wis- senschaftsfreiheitsgarantie auch als vorbehaltlos ge- währleistetes Grundrecht Einschränkungen unterliegen, die durch kollidierendes Verfassungsrecht begründet werden können.68 Diese können in gesetzlichen Rege- lungen, in Entscheidungen aufgrund gesetzlicher Rege- lungen, Selbstregulierungen von Forschungseinrichtun- gen und Verpflichtungen oder Appellen zu Reflexionen mit bestimmten Inhalten liegen. Als Einschränkungen legitimierendes Gegenrecht fungiert hier regelmäßig die staatliche Schutzpflicht, insbesondere die Schutzpflicht für die Rechtsgüter von Leben und körperlicher Unver- sehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), aber auch zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG) und weite- rer Vorschriften.69 Dabei ist eine praktische Konkordanz anzustreben, die zugleich der Tatsache Rechnung trägt, dass auch die kollidierenden Verfassungsgüter Teil der als Einheit gedachten Rechtsordnung sind.
Dabei fordert das Verfassungsrecht im Hinblick auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Einschrän-
2003, S. 165 ff.; allgemein zur Durchsetzung der experimentellen Wissenschaft vgl. Stichweh, Die Autopoiesis der Wissenschaft, in: ders., Wissenschaft, Universität, Profession, 1994, S. 52, 59 f.
66 Krit. Fehling, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK-GG, 110. EGL, Stand: März 2004, Art. 5 III Rn. 146 ff.; differenzierend anhand eines Evidenzkriteriums Löwer, Freiheit (Fn. 57), Rn. 15 mwN.
67 Dazu sogleich III. 3.
68 BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (41); BVerfG,
28.10.2008, 1 BvR 462/06, BVerfGE 122, 89 (107); BVerfG 8.4.1981, 1 BvR 608/79, BVerfGE 57, 70 (99); BVerfG, 1.3.1978, 1 BvR 333/75, BVerfGE 47, 327 (369); ausführlich Löwer, Freiheit (Fn. 57), Rn. 27 ff.; Mager, Freiheit (Fn. 52), Rn. 31 ff.; für den Bereich der Biosicherheit vgl. Teetzmann, Rechtsfragen der Sicherheit in der biologischen Forschung – Gutachten für den Deutschen Ethikrat, 2014, S. 77 ff.
69 BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (41, 85).
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kung nur, dass durch die entsprechende Regelung der Erfolg gefördert werden kann, nicht aber eine optimale Lösung.70 Im Ergebnis muss der Ausgleich auf einer ver- tretbaren gesetzgeberischen Lösung beruhen.71
Insoweit kommt es auf die Lösung eines mehrstelli- gen Grundrechtsproblems an. Denn dabei spielen nicht nur die Intensität des Eingriffs, die dadurch bewirkten Schutzniveaus, vor allem aber die Schwellen der Gewiss- heit/Ungewissheit des Eintritts des schadensbegründenden Ereignisses, des Schutzniveaus ebenso das Ausmaß der ein- tretenden Schäden eine Rolle, sondern auch die Ziele der Forschung, insbesondere wenn sie darauf gerichtet sind, Schutzmaßnahmen (die auch gegenüber missbräuchlicher Verwendung zum Tragen kommen können) zu entwickeln ebenso wie die Notwendigkeit der Überprüfung der Ergeb- nisse in einem offenen Diskurs.
Im Hinblick auf die Eingriffsschwelle ist nicht schon die Denkbarkeit eines Kausalverlaufs ausreichend, son- dern die durch tatsächliche Anhaltspunkte hinreichend gestützte Risikovorsorge.72 Dabei kommt es entschei- dend auf die Tatsachengrundlage an. Denn auch die vor- genannten Aspekte dürfen nicht jenseits hinreichend be- stimmter Tatsachengrundlagen zum Einsatz kommen.73 Auch hinsichtlich der Ermächtigung zu Risikoanalysen muss eine etwaige Einschränkung auf hinreichenden Anknüpfungstatsachen beruhen. Alles andere wäre eine Risikovorsorge ins Blaue hinein, die die Wissenschafts- freiheit zu Gunsten anderer Rechtsgüter unverhältnis- mäßig minimiert.
3. Die Risikoabwägung: Nur eine Risiko-Nutzen- Analyse?
Im amerikanischen Kontext besonders ausgeprägt,74 aber auch in Deutschland, findet sich nicht nur in der medialen Öffentlichkeit sondern auch in den Kodizes von Forschungseinrichtungen die Tendenz, die Risiko-
- 70 BVerfG, 2.3.2010, 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260
(317 f.); BVerfG, 4.4.2006, 1 BvR 518/02, BVerfGE 115, 320 (345); BVerfG, 3.3.2004, 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279 (336). - 71 BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (85 ff.).
- 72 Ausführlich in Auseinandersetzung mit BVerfG, 24.11.2010,1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1(41 f., 85 ff.), Würtenberger/Tanneber-ger, Biosicherheit (Fn. 63), S. 1, 6 ff.
- 73 In der Sache ähnlich Würtenberger/Tanneberger, Biosicherheit(Fn. 63), S. 7 f.
- 74 Vgl. Lipsitch: „This is a risky activity, even in the safest labs. Scien-tists should not take such risks without strong evidence that the work could save lives, which this paper does not provide“, zitiert nach Sample (Fn. 1); Lipsitch/Plotkin/Bloom, Evolution, Safety, and Highly Pathogenic Influenza Viruses, Science (336), 2012,
S. 152–153; United States Government Policy for Oversight of Life Sciences Dual Research of Concern, http://osp.od.nih.gov/sites/ default/files/resources/United_States_Government_ Policy_for_Oversight_of_DURC_FINAL_version_032812_1.pdf
analyse in eine Risiko-Nutzen-Analyse zu verwandeln.75 Die Argumentation läuft darauf hinaus, dass die Risiken der Forschung nur gerechtfertigt sind, wenn sie nicht unangemessen hoch für wichtige Rechtsgüter sind und durch den möglichen Nutzen für die Gesellschaft gerechtfertigt werden können. Während ersteres gleich- sam klassische Risikoanalyse ist, wird mit dem zweiten Kriterium der Maßstab der Abwägung verschoben. Wis- senschaft wird damit einer Nützlichkeitsrechtfertigung unterzogen.76 Dies freilich führt in der Sache zu einer inkrementalen Veränderung der Gewährleistung. Sie fragt als individuelle Garantie ebenso wie als objektive Norm nicht danach, ob und inwieweit die Wissenschaft einen Nutzen hat (den sie schon durch die Gewinnung neuen Wissens erzielt). Insoweit ist auch scheinbar nutz- lose Forschung geschützt und keineswegs eine mindere Form von Wissenschaft. Dies hat seinen guten Grund nicht zuletzt darin, dass es für die Nützlichkeit (Nutzlo- sigkeit) in der Sache kaum einen überzeugenden Maß- stab gibt, der auch langfristig gerechtfertigt werden könnte.
Zugunsten der Wissenschaftsfreiheit ist daher, folgt man dem Bundesverfassungsgericht,77 stets der diesem Freiheitsrecht zugrunde liegende Gedanke zu berück- sichtigen, dass gerade eine von gesellschaftlichen Nütz- lichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitserwägungen freie Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Er- gebnis am besten dient. Auch wenn das dahinter stehen- de Leitbild von Wissenschaft aus der Sicht der Wissen- schaftsforschung zu mancher Kritik einladen mag, so ist das Widerlager einer freien Forschung gegenüber allfäl- ligen Tendenzen ihrer Finalisierung unverzichtbar. Die- ses aber lässt es nicht zu – übrigens auch nicht als ethi- sche Verpflichtung78 – die Forschung einer umfassenden Risiko-Nutzen-Abwägung zu unterwerfen. Das mag zwar nach Forschungstypen zu differenzieren sein,79 für
(22.1.2015); Casadevall/Imperiale, Risks and benefits (Fn. 2); zur Rechtfertigung des Ansatzes vgl. die Stellungnahme von Mitglie- dern des NSABB Berns et al., Adaptions of Avian Flu Virus are a Cause for Concern, Science (335), 2012, S. 660–661.
75 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 193.
76 Ein nicht unerheblicher Teil der Debatte in den USA nutzt die
Kosten-Nutzen-Analyse, wenn auch in diesen Fällen eine für das Wissenschaftssystem nicht untypische kognitive Ungewissheit besteht, so dass die jeweiligen Seiten der Medaille jeweils eine gewisse Betonung erfahren; aus der Vielzahl von Beiträgen vgl. nur Casadevall/Imperiale, Risks and benefits (Fn. 2); Mahmoud, Gain-of-Function-Experiments: Unproven Technique, Science (342/6156), 2012 S. 310–311.
77 BVerfG, 1.3.1978, 1 BvR 333/75, BVerfGE 47, 327 (370); std. Rspr. BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1, (87).
78 Vgl. dazu unten VI.
79 Vgl. insoweit auch den Ansatz von Miller/Selgelid/van der Brug-
gen, Report (Fn. 5), S. 40 ff.
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Ressort- und sonstige Forschung mag es durchaus denk- bar sein, Einschränkungen unter dem Nutzenaspekt vor- zusehen, nicht aber für die akademisch-disziplinäre For- schung.80 Insoweit sind nicht etwa die Risiken der For- schung und der Nutzen der Forschung abzuwägen, son- dern das Freiheitsrecht und seine konkurrierenden Rechtsgüter.81 Sofern allerdings die Forschung zugleich der Förderung anderer verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter dient, ist dies allerdings im Rahmen der Ab- wägung zu berücksichtigen.82 Dies ist freilich etwas an- deres, als von vornherein die Forschung einer Nützlich- keitsrechtfertigung zu unterziehen.
4. Einschränkungen durch die EMRK
Gelegentlich wird eine Verstärkung der Einschränkungs- möglichkeit der Wissenschaftsfreiheit durch die EMRK erwartet. Die EMRK garantiert die Freiheit der Wissen- schaft als Teil der Meinungsfreiheit, wobei nach vielfach vertretener Auffassung, die Freiheit der Forschung nicht eigenständig geschützt sein soll.83 Es mag dahinstehen, ob dies in der Sache noch zutreffend ist.84 Die Schranken des Art. 10 Abs. 2 EMRK sind dabei in bi-polaren Verhältnissen schon wegen Art. 53 EMRK kein Mandat zur Einschrän- kung des Art. 5 Abs. 3 GG. Allerdings mag sich dies ändern, wenn in mehrpoligen Verhältnissen die günstigere nationa- le Vorschrift andere Garantien der EMRK beschränkt. Daher lässt sich in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen die Günstigkeit des einen Grundrechts nur dann und nur insoweit durchhalten, wie der kollidierende Anspruch nicht das Niveau der EMRK unterschreitet.85 Anders gewendet:
- 80 Vgl. den etwas rätselhaften Hinweis von BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (41).
- 81 Teetzmann, Rechtsfragen (Fn. 68), S. 89.
- 82 Zu den Konsequenzen für die Forschungsfreiheit vgl. unten VI.
- 83 Teetzmann, Rechtsfragen (Fn. 68), S. 106 f. mwN.
- 84 In EGMR Mustafa Erdoğan and others/Turkey, 27.5.2014, 346/04u. 39779/04, Rn. 40, hat das Gericht immerhin ausgeführt: „In this connection, academic freedom in research and in training should guarantee freedom of expression and of action, freedom to disseminate information and freedom to conduct research and distribute knowledge and truth without restriction (see Recommendation 1762 (2006) of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe). It is therefore consistent with the Court’s case-law to submit to careful scrutiny any restrictions on the freedom of academics to carry out research and to publish their findings …“.
- 85 Grabenwarter, Nationale Grundrechte und Rechte der EMRK, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR VI/2, § 169 Rn. 28.
- 86 Case of Centre for legal resources on behalf of Valentin Cam- paneu v. Romania, 17.7.2014, 47848/08, Rn. 130; Vilnes u.a./Nor- wegen, 5.12.2013, 52806/09, Rn. 160; Kolyadenko u.a./Russland, 28.2.2012, 17423/05 u.a., Rn.157–161, Öneryıldız/Turkey [GC], 28.2.2012, 48939/99, § 89, ECHR 2004 XII.
- 87 Grabenwarter, European Convention on Human Rights, 2014, Art. 2 § 16.
- 88 In Öneryıldız/Turkey [GC], 28.2.2012, 48939/99, führt das
Solange das Niveau der kollidierenden Garantie nicht unterschritten wird, vermittelt jedenfalls Art. 10 Abs. EMRK, unabhängig von jeder margin of appreciation, auch kein Mandat zur weitergehenden Einschränkung des Art. 5 Abs. 3 GG. Die andernfalls geforderte Annäherung andasNiveauderKonventionlässtsichgrundrechtscho- nend schon durch eine entsprechende Interpretation der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG erreichen, die dann die ent- sprechende weitergehende Einschränkung des Art. 5 Abs. 3 GG schon vermittelt.
Art. 2 Abs. 1 EMRK, das Recht auf Leben als staatliche Schutzpflicht, kann insoweit Einschränkungen der Wissen- schaftsfreiheit rechtfertigen, jedenfalls wenn und soweit die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG hinter dem Schutzan- spruch aus Art. 2 Abs. 1 EMRK in der Kollision mit der Wis- senschaftsfreiheit zurückbleibt. Insoweit trifft den Staat die Pflicht zur Schaffung eines angemessenen gesetzlichen und administrativen Rahmens, um eine effektive Abwehr von Gefahren für das Recht auf Leben zu gewährleisten.86 Ent- scheidend ist nicht ein Minimalstandard des Schutzes son- dern die Effektivität desselben.87 Die Schutzpflicht wird ins- besondere im Kontext gefährlicher Handlungen ausgelöst und umfasst durchaus weitreichende Vorkehrungen,88 auch wenn die Wahl der Mittel letztlich im Gestaltungs- spielraum der Mitgliedstaaten verbleibt.89 Sie besteht aller- dings nur bei tatsächlicher und unmittelbarer Gefahr für das Rechtsgut.90 Bei der Frage, ob der Staat die Schutzpflicht erfüllt hat, sind allerdings alle Umstände der Situation her- anzuziehen, insbesondere auch andere von der Konven- tion geschützte Interessen.91
Gericht aus: „This obligation indisputably applies in the particular context of dangerous activities, where, in addition, special emphasis must be placed on regulations geared to the special features of the activity in question, particularly with regard to
the level of the potential risk to human lives. They must govern the licensing, setting up, operation, security and supervision of the activity and must make it compulsory for all those concerned to take practical measures to ensure the effective protection of citizens whose lives might be endangered by the inherent risks.“
89 Case of Centre for legal resources on behalf of Valentin Cam- paneu/Romania, 17.7.2014, 47848/08, Rn. 130; Budayeva u.a./ Russland, 20.3.2008, 15339/02, u.a. Rn. 134 f.
90 Case of Centre for legal resources on behalf of Valentin Cam- paneu/Romania, 17.7.2014, 47848/08, Rn. 130; Gongadze/Ukrai- ne, 8.11.2005, 34056/02, Rn. 165.
91 Vilnes u.a./Norwegen, 5.12.2013, 52806/09, Rn. 161: „In assessing whether the respondent State complied with its positive obligati- on, the Court must consider the particular circumstances of the case, regard being had, among other elements, to the domestic legality of the authorities’ acts or omissions, the domestic decisi- on-making process, including the appropriate investigations and studies, and the complexity of the issue, especially where conflic- ting Convention interests are involved. The scope of the positive obligations imputable to the State in the particular circumstances would depend on the origin of the threat and the extent to which one or the other risk is susceptible to mitigation.“
110 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2015), 99–116
Die Schutzpflicht reicht zwar in gewisser Weise wei- ter als diejenige nach dem Grundgesetz und kann bei Gefahren jedenfalls ein effektives Schutzniveau verlan- gen. Indes dürfte die Schwelle im Hinblick auf das Vor- liegen einer Gefahr eher höher liegen. Und ob die Schutz- pflicht auch dann ausgelöst wird, wenn nicht die For- schung selbst oder die Publikation Dritter die Risiken auslösen, sondern diese durch das Verhalten anderer durch Nutzung der Forschungsergebnisse begründet werden, ist damit noch nicht gesagt. Der EGMR spricht insoweit von den inhärenten Risiken von Handlungen und dürfte damit die Zurechenbarkeit begrenzen. Im Er- gebnis dürften daher erleichterte Eingriffsmöglichkeiten aus der EMRK im Regelfall kaum begründbar sein.
IV. Die Forschungsfreiheit: Einschränkungen und Verbote
1. Allgemein
Forschungsverbote und ‑einschränkungen treffen die Wissenschaftsfreiheit jedenfalls dann in ihrem Kern, wenn sie zu einem Wissenserzeugungsverbot führen. Ungeachtet dessen ist natürlich zugunsten der genann- ten Rechtsgüter dann eine Einschränkung der For- schungstätigkeit gerechtfertigt, wenn damit eine recht- fertigungsfähiges Ziel verfolgt wird, dieses in gleicher Weise geschützt ist wie die vorbehaltlos gewährleistete Wissenschaftsfreiheit und ein angemessener Ausgleich gefunden wird.
Zwar kommt dem Schutz von Leben und körperli- cher Unversehrtheit ein hohes Gewicht zu. Im Einzelfall können auch Eingriffe durch Forschungsverbote und ‑beschränkungen jenseits der Gefahrenschwelle gerecht- fertigt sein,92 wenn anders ein Lebensschutz nicht mög- lich ist. Dies dürfte jedenfalls insoweit gelten, als nicht aus gleichgewichtigen Schutzinteressen Dritter die For- schung selbst zu rechtfertigen ist, weil sie der Gewin- nung von Erkenntnissen dient, die ihrerseits dem Le- bensschutz dienen.93 Als verfassungsrechtlich kaum haltbar würden sich daher Regelungen erweisen, die – jedenfalls wenn sie als gesetzliche Regelungen vorgese- hen werden sollten – eine Beweislastumkehr zu Lasten der Forschungsfreiheit in den Fällen begründen wollen, in denen Erreger so verändert und damit neu geschaffen werden, dass außerhalb des Labors durch diese die Ge- fahr einer Epidemie hervorrufen, sofern nicht ein direk-
- 92 Allerdings nicht als Risikovorsorge „ins Blaue hinein“, sondern nur bei hinreichenden Anhaltspunkten, dass auf andere Weise ein Lebensschutz nicht möglich ist; vgl. dazu oben III. 2.
- 93 Würtenberger/Tanneberger, Biosicherheit (Fn. 63), S. 9.
- 94 So ein Teil des Deutschen Ethikrates in seiner Empfehlung für ei- nen Forschungskodex aber auch hinsichtlich der Befugnisse einer
ter, konkreter und überwiegender Nutzen zur Abwehr von Gefahren für Leben oder Gesundheit wahrschein- lich ist.94 Dies begründet nicht nur hinsichtlich der Nut- zenkategorie erhebliche Bedenken, sondern auch des- halb, weil damit die Logik der Wissensakkumulation durch Forschung nachgerade unmöglich gemacht wird, die Sicherheitsanforderungen an die Durchführung gänzlich außer Betracht bleiben und damit eine Asym- metrie zu Lasten der Forschung begründet wird. Es liegt auf der Hand, dass damit eine genetische Forschung an pathogenen Erregern mit dem Ziel, diese zu verändern, deutlich erschwert wird – eine rechtlich schwer vertret- bare Lösung. Schon aus Gründen eines angemessenen Ausgleichs gilt letztlich, dass vor allem Sicherheitsanfor- derungen legitimiert werden, die der Risikominimie- rung dienen. Insoweit dürfte regelmäßig ein Vorrang der Sicherheits- und Containment-Regelungen bestehen. Sie inhibieren die Forschung nicht, sondern begrenzen die Art der Durchführung im Hinblick auf damit verbunde- ne Risiken. Nur soweit hinreichende Anhaltspunkte da- für bestehen, dass die betreffenden Regelungen unzurei- chend sind, kommen weitergehende Einschränkungen in Betracht.95
Auch wenn eine willkürliche oder unwillkürliche Freisetzung von hochpathogenen Erregern durchaus er- hebliche Schäden zur Folge haben kann, so dürften sich Forschungsverbote nur unter sehr engen Voraussetzun- gen legitimieren lassen. Die Ambivalenz der Forschung insbesondere mit hochpathogenen Erregern und die Er- zeugung neuer hochpathogener Erreger ist nicht nur le- gitim, sondern angesichts der Wissenslücken in diesem Bereich auch notwendig96 oder doch zumindest sinn- voll, um wirksam Prävention und sei es auch nur in einer längerfristigen Perspektive gegenüber Pandemien zu ge- währleisten. Nicht zuletzt aber macht ein Vergleich mit anderen Risiken, etwa der grünen Gentechnik mehr als deutlich, dass die Zulassung selbst der Freisetzung gen- technisch modifizierter Organismen, die ebenfalls mit erheblichenRisikenverbundenseinkann,nichtgrund- sätzlich zu inhibieren ist.97 Auch wenn Unterschiede schon deshalb nicht zu verkennen sind, weil die grüne Gentechnik mit einem gestuften, lernenden System ar- beitet, das die Unsicherheit schrittweise reduzieren soll, und erst dann die Freisetzung in Betracht kommt, so verbleiben doch am Ende erhebliche Unsicherheiten, die durchaus mit Risiken einhergehen, die aber in Kauf ge-
gesetzlich einzurichtenden DURC-Kommission, vgl. Deutscher
Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 193, 197 f.
95 Dafür bestehen jedenfalls derzeit keinerlei Anhaltspunkte;
vgl. dazu oben II. 1 c).
96 Vgl. dazu oben II. 1.
97 Vgl. BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (40 ff.).
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 1 1 1
nommen werden (dürfen). Jedenfalls derzeit spricht nichts dafür, dass die vorhandenen Regelungen98 unzu- reichend sind. Wo dies nach einer Evaluation und Risi- kobewertung der Fall sein sollte, dürften Verschärfungen der Laborsicherheit ausreichen, den unterschiedlichen Rechten hinreichend Rechnung zu tragen.
2. Forschungsverbote oder ‑einschränkungen zur Wissensbeschränkung oder ‑unterdrückung
Andere Gesichtspunkte sind in den Fällen gegeben, in denen die Forschung unterbunden werden soll, um die Generierung und Verteilung von Wissen zu unterbinden, wie es teilweise in den USA diskutiert wird. Die Forschung soll nicht stattfinden, weil das ggf. produzierte Wissen nicht verbreitet werden soll, da es als besonders sicherheitsrele- vant eingeschätzt wird. Das derzeitige „Moratorium“ in den USA, das wesentlich ein Einfrieren der öffentlichen Förde- rung bis zu einer weiteren Klärung der Rahmenbedingun- gen ist, dürfte auch dieses Ziel haben. Der Grund liegt dann nicht etwa in der direkten Beeinträchtigung der Rechte Dritter oder öffentlicher Interessen, sondern beinhaltet eine Bewertung des Wissens, bevor es überhaupt generiert wor- den ist. Dies soll es im amerikanischen Kontext möglicher- weise angesichts u.U. nicht einfach zu überwindender Res- triktionen des 1. Amendments erleichtern, Sicherheitsbe- lange durchzusetzen.99 Eine solche Beschränkung steht indes vor schwer zu überwindenden Rechtfertigungslasten. Es ist schwer bzw. kaum prognostizierbar, welchen Gehalt ein künftiges Wissen hat.100 Würde man es kennen, bräuch- te man die Forschung ohnehin nicht. Im Übrigen kann das Ergebnis anders sein, als vorhergesehen101 und auch die Methoden können sich ändern. Schon gar nicht kennt man die Aussagen im nötigen Detaillierungsgrad.102 Eine der
- 98 Zu den vorhandenen Regelungen Deutscher Ethikrat, Biosicher- heit (Fn. 6), S. 104 ff.; Teetzmann, Rechtsfragen (Fn. 68), S. 5 ff.
- 99 Vgl. dazu Kraemer/Gostin, The Limits of Government Regulation of Science, Science (335), 2012, S. 1047–1049.
- 100 Dieser Aspekt wird schnell in den Hintergrund gedrängt, obwohl gerade in der Offenheit des Forschungsprozesses eine mögliche Ressource der Innovation steckt. Nicht umsonst gehört der orga- nisierte Skeptizismus als Zurückhaltung eines endgültigen Urteils bevor die Fakten zur Hand sind, zu dem Ethos der Wissenschaf- ten; dazu Weingart, Wahrheit (Fn. 59), S. 68 ff.
- 101 Vgl. dazu das Beispiel der Forschung von Jackson et al., Expres- sion of Mouse Interleukin‑4 by a Recombinant Ectromelia Virus Suppresses Cytosolic Lymphocyte Responses and Overcomes Ge- netic Resistance to Mousepox, Journal of Virology (75/3), 2001, S. 1205–1210.
- 102 Zu Recht betonen Miller/Selgelid/van der Bruggen, Report (Fn. 5), S. 47 die Notwendigkeit einer detaillierten Analyse der Risiken eines malevolenten Gebrauchs, um die Forschungsfreiheit überwinden zu können; die Ungewissheit betonend auch DFG/ Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit (Fn. 42), S. 9.
- 103 Vgl. dazu unten V. 2.
- 104 Vgl. dazu oben III. 1.
- 105 Ausführlich auch Thurnherr, Biosecurity (Fn. 50), S. 95 ff.
intensivstenEingriffeindieForschungsfreiheitsindinhalts- bezogene Wissensgenerierungsverbote. Sie beseitigen die Ratio der Gewährleistung selbst. Es müsste also mit hinrei- chenden Anhaltspunkten prognostizierbar sein, dass unmittelbar aufgrund des Wissens eine Beeinträchtigung von Rechtsgütern Dritter stattfindet. Dafür bestehen regelmä- ßig keine Anhaltspunkte. Zugleich werden die Anforderungen umgangen, die sich aufgrund des Zensurverbots ergeben.103
V. Wissenschaftsfreiheit als Kommunikationsfreiheit
Wissenschaftsfreiheit ist auch Kommunikationsfreiheit. Als solche ist sie auch für die Funktionsfähigkeit der Wissen- schaft über die individuellen Aspekte hinaus bedeutsam.104 Insoweit wird damit nicht nur Wissenschaftsfreiheit derjeni- gen begrenzt, die für die Erzeugung verantwortlich sind oder doch gewesen wären, es wird zugleich – für einen bestimmten Bereich – die Kontinuität von Wissenserzeugung, Modifika- tion, Variation und Verwerfung unterbrochen, also die Wissenschaft als Kommunikationszusammenhang beein- trächtigt.105 Allerdings ist bisher ein Konflikt zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und der Gesellschaft, jedenfalls in Deutschland, erheblich seltener, deutete sich aber immer- hin schon in der Entzifferung des menschlichen Genoms an, wenngleich er eher auf die Beeinträchtigung des informatio- nellen Selbstbestimmungsrechts bezogen ist.106 Politisch motivierte Zugriffe auf die wissenschaftliche Kommunika- tion dürften bisher Seltenheitswert haben, auch wenn in anderen Rechtsordnungen durchaus aus Gründen der öffentlichen Sicherheit wie auch aus ideologischen Grün- den107 auf der Wissenschaftsfreiheit unterfallende Gehalte zurückgegriffen worden ist.108
106 Vgl. dazu etwa Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulie- rung – Am Beispiel der Erzeugung und Verwendung genetischer Daten, in: M. Eifert/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovation und rechtliche Regulierung, 2002, S. 291 ff.
107 Etwa in der Beschlagnahme der Physik-Examensarbeit von John Phillips durch das US-amerikanische FBI, die sich auf der Grund- lage öffentlich zugänglicher Quellen mit Konstruktionsprinzipien der A‑Bombe befasste; dazu etwa Laughlin, Verbrechen (Fn. 29), S. 70 ff., sowie die Auflösung in Abwägungs- und Einschätzungs- mechanismen bei Wilholt, Die Freiheit der Forschung, S. 52 f., aber auch die Versuche der Regierung von Bush, missliebige Ergebnisse der Wissenschaft in den Bereichen Klimawandel, Stammzellforschung etc. in Ressortforschungseinrichtungen zu unterdrücken; dazu Union of Concerned Scientist, Scientific Freedom and the Public Good, 2008, http://www.ucsusa.org/ sites/default/files/legacy/assets/documents/scientific_integrity/ scientific_freedom.pdf (22.1.2015); vgl. auch Wilholt, aaO,
S. 250 ff. mwN.
108 Dazu etwa die Versuche, die Evolutionsbiologie durch andere
Konstrukte wie die Kreationslehren zu ersetzen und die Lehre der Evolution zu inhibieren; dazu allgemein Laughlin, Verbrechen (Fn. 29).
112 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2015), 99–116
1. Wissensdistributionsverbote
Wissensdistributionsverbote sollen dazu führen, dass bereits erzeugtes Wissen nicht, nur begrenzt oder verän- dert veröffentlicht oder nur einem begrenzten Kreis von besonders bestimmten Wissenschaftlern, Labors etc. zugänglich gemacht oder doch erst zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlich wird. Damit kann die Kommu- nikation über den wissenschaftlichen Inhalt und die wis- senschaftliche Methode nicht erfolgen und damit auch nicht die Validierung innerhalb der wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhänge.
Es finden sich für Wissensdistributionsverbote im Grunde zwei Anknüpfungspunkte, die in den Eigen- schaften des Wissens liegen können oder die Handlun- gen Dritter, die das Wissen zu malevolenten Zwecken nutzen können, zum Kriterium machen.
a) Die Eigenschaften des Wissens
Nach dem oben Ausgeführten dürfte die Eigenschaft des Wissens als „gefährlich“ eine schwierige Klassifikations- aufgabe darstellen, da Wissen sich gerade durch die Viel- zahl der Verwendungsmöglichkeiten kennzeichnen lässt, also im Grunde nicht abstrakt gefährlich ist, son- dern kontextuell und zudem ohnehin mit einem zeitli- chen Index versehen ist, der die Bewertung ändern kann.109 Insofern wird man auch unter dem Aspekt der Risikovorsorge – wenn überhaupt – allenfalls von einem Risiko ausgehen können. Dieses ist allerdings nicht nur schwer zu bestimmen, etwaige Beschränkungen müssen sich auch vor den Funktionen der Wissenschaftsfrei- heitsgarantie rechtfertigen lassen. Das dürfte wohl nur dort der Fall sein können, wo in der Tat eine direkte Umsetzbarkeit in eine gefährliche Technologie in Rede steht und die Realisierung auch außerhalb von Hochsi- cherheitslaboren möglich ist, deren Kontrolle ohnehin permanent stattfindet oder jedenfalls stattfinden sollte. Dies dürfte von vornherein die Beschränkungsmöglich- keiten auf wenige Ausnahmefälle einschränken.
b) Anknüpfungen an die Handlungen Dritter
Die Anknüpfung an die Handlungen Dritter ist ebenfalls nur in geringem Umfang aussichtsreich. Schon ein Ver- gleich mit der Situation der Forschungspraxis zeigt inso- weit deutliche Unterschiede, die auch Konsequenzen für die Beurteilung haben. Durch die Handlungspraxis der
- 109 Vgl. dazu oben II. 1. d.
- 110 Zur Kritik an dieser Figur vgl. BVerfG, 1.9.2000, 1 BvQ 24/00, NVwZ2000, 1406 ff.; jüngst auch Trute, Zur Entwicklung des Polizeirechts2009-2013, Die Verwaltung (46), 2013, S. 537, 544 mwN.
- 111 Bloße Vermutungen reichen dafür unabhängig von dem Grad der zu verlangenden Wahrscheinlichkeit der Gefahrenprognose nicht
Forschung können Rechtsgüter direkt beeinträchtigt werden und von daher ist es gerechtfertigt, diese Beein- trächtigungen zu verhindern. Bei den Kommunikations- freiheiten ist dies in der Regel, wenn auch nicht immer, anders. Die Tatsache, dass andere das Wissen nutzen, wird dem Urheber des Wissens in der Regel nicht zuge- rechnet. Davon mag es Ausnahmen geben, aber diese bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Nur insoweit sind die Urheber des Wissens für den Gebrauch des Wis- sens verantwortlich. Es handelt sich, wenn überhaupt, um gestreckte Beeinträchtigungsvorgänge, die noch nicht einmal mit der höchst umstrittenen Figur des Zweckveranlassers im Polizeirecht vergleichbar sind.110 Es würde sich um den Zugriff auf diejenigen handeln, die von ihrer grundrechtlich geschützten Kommunikati- onsfreiheit Gebrauch machen, weil unbekannte Dritte möglicherweise einen malevolenten Gebrauch beabsich- tigen. Dies begrenzt die Möglichkeit des Zugriffs von vornherein. Darüber hinaus ist allerdings zu berücksich- tigen, dass schon im Bereich der Meinungsfreiheit bei möglichen direkten Wirkungen der Meinungsäußerung von Verfassung wegen zu verlangen ist, dass eine zu prä- ventiven Zwecken erfolgende Beschränkung nur auf- grund einer Gefahrenprognose möglich sein soll, bei der nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte vorhanden sind.111 Dies muss umso mehr bei diesen gestreckten Vorgängen gelten, wie sie hier in Rede stehen.
Darüber hinaus gilt: Es wird in keiner mir bekannten Prognose, die an das als riskant eingestufte Wissen an- knüpft, ein realistisches Szenario einer terroristischen Bedrohung entfaltet. Es gab regelmäßig zum Zeitpunkt der Veröffentlichung keine indiziell, durch Tatsachen ge- härtete Bedrohung, sondern eher abstrakte Gefähr- dungslagen.112 Es geht hier allein um die Möglichkeit der künftigen, aber unbekannten Verwendung durch Dritte. Das verdeutlicht das Exzeptionelle dieses Vorhabens. Schon aus diesem Grunde dürfte nur in Ausnahmefällen eine Beschränkung in Betracht kommen. Wo diese in Betracht kommt, sind gegenüber einem völligen Publi- kationsverbot immer auch mildere Formen der sachli- chen, personellen oder zeitlichen Beschränkung vorran- gig.113 Damit sind doch recht enge Grenzen umschrie- ben, denen jede Einschränkung, die ohnehin nur auf ge- setzlicher Grundlage erfolgen könnte, unterliegen würde.
aus; so BVerfG, 8.12.2010, 1 BvR 1106/08, juris Rn. 15, AfP 2011, 43 ff. im Fall einer publikationsbeschränkenden Weisung nach § 68b Abs. 1 Nr. 4 StGB.
112 Das scheint durch bei Casadevall/Imperiale, Risks and benefits (Fn. 2).
113 DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit (Fn.42), S. 14.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 1 1 3
2. Das Problem des Zensurverbots
Selbst wenn man die Einschränkungen der Wissen- schaftsfreiheit aus Risikogründen im Ausnahmefall für zulässig erachten wollte, wäre jedenfalls eine Vorab- Kontrolle der Ergebnisse im Hinblick auf ihre Publikati- onswürdigkeit wegen des Zensurverbots zweifelhaft. Relevant ist dies im vorliegenden Kontext, da doch Genehmigungspflichten, Abhängigkeiten von Kommis- sionsvoten etc. als Maßnahmen vor der Veröffentlichung erörtert werden, sei es in Codes of Conducts, staatlich eingerichteten oder doch zumindest angereizten Selbst- verpflichtungen oder auf gesetzlicher Grundlage durch DURC-Kommissionen.114 Insoweit stellt sich allerdings die Frage, ob solche Maßnahmen, jedenfalls wenn sie dem Staat zurechenbar sind, dem Zensurverbot unter- fallen können.
Allerdings ist die Geltung des Zensurverbots für die Wissenschaft umstritten. Der Sache nach sprechen zwar auf den ersten Blick systematische Erwägungen dagegen, weil Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG nur für die Kommunikations- freiheiten des Art. 5 Abs.1 GG Geltung zu beanspruchen scheint. Versteht man indes das Zensurverbot als Aus- druck einer verfassungsmäßigen Konturierung des We- sensgehalts der Kommunikationsgrundrechte,115 wie richtigerweise angenommen wird, dann ist schwer zu se- hen, warum dies nicht auch für die wissenschaftliche Kommunikationsfreiheit gelten sollte.116 In jedem Fall aber würde es eine Wertungsschwelle umschreiben, die kaum zu überwinden ist. Denn es wäre erstaunlich und vom Sachbereich her kaum nahegelegt, dass die Schran- ken der Wissenschaftsfreiheit enger sind, als die der an- deren Medienfreiheiten, die nicht vorbehaltlos garan- tiert sind. Auch diejenigen, die insoweit zwischen der Pressefreiheit und der Wissenschaftsfreiheit trennen, müssten die Frage beantworten, ob nicht schon deswe- gen, weil Wissenschaftler als Inhaltslieferanten dienen, die der Pressefreiheit vorgelagerte Ebene ebenfalls dem Zensurverbot unterfallen würde.117
114 Vgl. Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 187 ff.
- 115 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 119), Rn. 170; für die SchweizThurnherr, Biosecurity (Fn. 50), S. 54 ff, die allerdings eine Abwä- gung aus systematischen Gründen nach Maßgabe der Schweizer Verfassung für möglich hält.
- 116 Für die Kunstfreiheit BVerfG, 27.11.1990, 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, 130 (155); für die Wissenschaftsfreiheit Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 119), Rn. 173; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl., 2014, Art. 5 Rn. 129; Fehling, GG (Fn. 66), Rn. 713; für die Schweiz aufgrund einer anderen verfassungsrechtlichen Lage anders Thurnherr, Biosecurity (Fn. 50), S. 54 ff.
- 117 Zum Problem der Drittwirkung vgl. Bethge, GG (Fn.116), Rn. 133.
Verbreitet wird bei den Kommunikationsfreiheiten auch die Tätigkeit von Vermittlern einbezogen. Das dürfte von der jeweiligen grundrechtlichen Ausgestal- tung abhängen. Der Sache nach wird man bestimmte, für die Funktionsfähigkeit des Systems relevante Ein- richtungen mit in die Wissenschaftsfreiheit einbezie- hen.118 Für die Aufnahme der Fachpublikationen spricht schon die Überlegung, dass diese unverzichtbarer Be- standteil der Funktionsweise des Wissenschaftssystems sind. Von daher sind sie in die Freiheit der Wissenschaft einzubeziehen. Andernfalls gilt das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG für Presseerzeugnisse ohnehin.
Allerdings wird die Einbeziehung von Vermittlungs- funktionen nur gegenüber einem präventiven Prüfgebot von staatlichen Stellen beeinträchtigt, nicht wenn sie Fol- ge privater Selbstregulierung ist.119 Hier kann den Staat allerdings eine objektiv-rechtliche Verpflichtung zur Of- fenhaltung der Kommunikationswege treffen.120 Dies auch für den Fall, dass aufgrund vorauseilenden Gehor- sams zentrale Publikationen Selbstbeschränkungen aus eben den Gründen vornehmen, die vor Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG keinen Bestand haben. Publikationseinschränkun- gen formell privater, materiell aber staatlich (fast) voll- ständig finanzierter Forschungseinrichtungen – wie der DFG, Max-Planck-Gesellschaft, Teilen der Helmholtz- Gesellschaft oder der Leibniz-Gesellschaft – sind nicht in diesem Sinne private Einrichtungen, sondern solche, die entweder dem Staat zurechenbar sind oder bei denen zumindest aufgrund der Finanzierung und des Einflus- ses eine staatliche Verantwortung für die Einhaltung der freiheitlichen Standards besteht.121
VI. Rahmenbedingungen der Forschungsförderung
Immer wieder findet sich der Hinweis, dass Begrenzun- gen der Forschungsförderung unter dem Stichwort Biosecurity, sei die Förderung nun programmgebunden oder nicht, nicht als Eingriff zu verstehen seien.122 Bei- spiele für solche Grenzen sind etwa die Bindung von
118 Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 120, 690 ff.; Löwer, Freiheit
(Fn. 57), Rn. 19; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., 2010, Art. 5 III Rn. 405.
119 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar Bd. I, 3. Aufl., 2013, Art. 5 I, II, Rn. 174 mwN.
120 Schmidt-Aßmann, Free Access to Research Findings and its Limi- tations, in: H. Novotny et al., The Public Nature of Science under Assault, 2005, S. 109, 113 ff.
121 Zu der unterschiedlichen Ausprägung der staatlichen Verantwortung vgl. Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 215 ff., 523 ff., 560 ff., 678 ff.
122 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 180.
114 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2015), 99–116
Geldern für bestimmte GOF-Forschungen an Relevanz- kriterien (nur, wenn ein wahrscheinlicher Ertrag für Aspekte der öffentlichen Gesundheit zu erwarten ist),123 die Bindung an Codes of Conduct oder an die Voten von „Ethik“- oder Risikokommissionen (DURC-Kommissi- onen), um nur einige Beispiele zu nennen. In dieser All- gemeinheit ist Behauptung einer grundrechtlichen Irre- levanz einer „nur“ konditionierten Förderung indes unzureichend.124
Richtig ist, dass staatliche Leistungen zunächst ein- mal die Freiheitsausübung ermöglichen oder begünsti- gen und insofern nicht als Eingriff zu thematisieren sind; dies jedenfalls solange die Annahme als freiwillig angese- hen werden kann. Für den Bereich der staatlich einge- richteten Forschung, etwa an den Hochschulen, wird man indes zum einen die Verpflichtung des Staates zur Einrichtung freier Wissenschaft ebenso berücksichtigen müssen, wie die Absenkung der Grundfinanzierung der Einrichtungen, um deren Orientierung an den Program- men externer Mittelgeber anzureizen.125 Ob unter die- sen Bedingungen, die stets eine Mischung von Teilhabe an den institutionellen Grundmitteln und den Bedin- gungen externer Governance durch Fördereinrichtungen noch von einer Freiwilligkeit gesprochen werden kann, müsste im Hinblick auf jedes wissenschaftliche Feld ge- sondert untersucht werden. Das mag hier dahinstehen. Aber es zeigt, dass selbst im Hinblick auf die Freiwillig- keit nicht unbesehen alte dogmatische Gewissheiten weitergetragen werden können.
Ungeachtet dieser Einschränkungen sind es aller- dings die Lenkungswirkungen der Subventionen, die nicht nur durch die eben genannten spezifischen Anreiz- strukturen verstärkt werden, die einer grundrechtlichen Rechtfertigung bedürfen.126 Sie können ab einer gewis- sen Intensität eine eigenständige und damit rechtferti- gungsbedürftige Belastung darstellen.127 Dies gilt zumal dann, wenn die Lenkungswirkung auf der Grundlage von „Selbst“regulierungen in Form von Ethikkodizes erfolgt, die ihrerseits schon der Rechtfertigung bedürfen,128 deren
- 123 Vgl dazu bereits oben II. 1. a) aus der US-amerikanischen Debat- te etwa die Position des US Departments of Health and Human Services Patterson/Tabak/Fauci/Collins/Howard, A Framework for Decisions about Research with HPAI H5N1 Viruses, Science (339), 2013, S. 1036–1037.
- 124 Dazu bereits ausführlich Trute, Die Forschung (Fn. 52) S. 632 ff.
- 125 Zu diesen Steuerungsimpulsen vgl. Trute, Politische und recht- liche Steuerung der Universitäten, (i.E.); Trute/Pilniok, Von derOrdinarien- über die Gremien- zur Managementuniversität, in: Jansen (Hrsg.), Neue Governance der Forschung, 2009, S. 21 ff.; Sieweke, Managementstrukturen und outputorientierte Finanzie- rung im Hochschulbereich, 2010.
- 126 Dazu ausführlich bereits Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Ein-
Wirkung aber durch die Abhängigkeit von finanzieller För- derung noch einmal verstärkt werden soll.
Dabei ist es in der Sache unproblematisch, im Hin- blick auf die mögliche Beeinträchtigung der Rechtsgüter durch die Forschung selbst auch Kriterien einer Risiko- vorsorge zur Anwendung zu bringen. Dies gilt auch für die Einrichtung von Kommissionen, die freilich – wie im Falle der DURC-Kommission, die vom Deutschen Ethi- krat vorgeschlagen wird – vor allem als Risikobewer- tungskommissionen zusammengesetzt sind und nicht als allgemeine „Ethisierungs“-Kommissionen der For- schung. Dies unterscheidet den Sachbereich von den Ethik-Kommissionen, die eingerichtet werden, um ethi- sche Aspekte der Forschung an Menschen zu bewerten. Darum geht es hier gerade nicht. Klar umschriebene Rechtsgutskollisionen der hier beschriebenen Art sind kein allgemeines Mandat zur Etablierung von Ethisie- rungsregimen oder einer beliebigen Kontextualisie- rung.129
Mögen also im Hinblick auf die Risiken der For- schung selbst Einschränkungen der Risikovorsorge ge- rechtfertigt werden können, so ist dies ungleich schwie- riger im Hinblick auf das generierte Wissen. Etwaige Einschränkungen treffen nicht die „Verursacher“ son- dern wollen Restriktionen im Hinblick auf die gesell- schaftliche Nutzung des Wissens durchsetzen. In dem Maß, wie diese Einschränkungen angesichts der distan- ten Beeinträchtigungsvorgänge, der Ungewissheit der tatsächlichen Situation und der Bedeutung der Publika- tion für das Wissenschaftssystem nicht gerechtfertigt werden können, dürfen sie auch nicht etwa Förderent- scheidungen zugrunde gelegt werden. Dies hat auch Vorwirkungen für die Konzeption etwaiger prozeduraler Vorkehrungen, wie etwa der Einrichtung von Kommissi- onen (DURC-Kommissionen).
Allerdings können Förderentscheidungen von der Einhaltung der Anforderungen von Codes of Conduct, also etwa der Einhaltung von Anforderungen der guten wissenschaftlichen Praxis, abhängig gemacht werden.
griffsabwehrrechte, 1988, S. 267 ff., 271 ff.; Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 632 ff.; Breuer, Staatliche Berufsregelung und Wirt- schaftslenkung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII,
3. Aufl., 2010, § 171 Rn. 96 ff.
127 Vgl. dazu Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 635 f.
128 Ausführlich zu den Ethikkodizes im Forschungsbereich und
ihrer Wirkung Wilms, Die Unverbindlichkeit der Verantwortung. Ethikkodizes der Wissenschaft im deutschen, europäischen und internationalen Recht, 2015, S. 134 ff.
129 Ausführlich zu den verschiedenen Formen Schulze-Fielitz, Responses of the Legal Order to the Loss of Trust in Science, in: Novotny et al., The Public Nature of Science under Assault, 2005, S. 63 ff.
Trute · Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines entgrenzten Sicherheitsdiskurses 1 1 5
Dies jedenfalls insoweit, wie diese Ergebnisse innerwis- senschaftlicher Reflexion sind, nicht aber dann, wenn sie externe Anforderungen an die Wissenschaft umsetzen. Dann mögen sie als „Selbstbegrenzungen“ thematisiert werden, dies ändert an ihrem Rechtfertigungsbedarf nichts. Diese werden sonst zu einem Einfallstor eines Ethisierungsregimes, das schwer zu operationalisierende und nicht in jeder Hinsicht zu rechtfertigende Anforde- rungen stellt.130 Insoweit hat die objektiv-rechtliche Di- mension der Grundrechte prozedurale Vorwirkungen.
VII. Ethikkodizes: Selbst- oder Fremdregulierung?
Selbstverständlich können unterhalb der Schwelle der Forschungs- und Publikationsverbote und ‑beschränkun- gen Maßnahmen im Bereich der Risikovorsorge vorgese- hen werden, die den Problemen mit weniger einschneiden- den Maßnahmen entgegenwirken wollen. Insoweit mag man darüber nachdenken, die Selbstreflexionsfähigkeit der Wissenschaft durch Ausbildungsangebote und Reflexions- lastenzuverstärken,um–wieesderDeutscheEthikratnennt – eine culture of responsibility zu schaffen.131 Auch mag dies im Rahmen eines Forschungskodexes vorgenommen werden.
Eine Folgenverantwortung der Wissenschaftler lässt sich in unterschiedlicher Weise verstehen und konzipie- ren. Dabei markieren die rechtlichen Grenzen nur einen Baustein im Geflecht einer wissenschaftlichen Folgen- verantwortung.132 Der Sache nach geht es angesichts der Asymmetrie des Wissens zwischen der Wissenschaft und anderen Teilsystemen bzw. der Gesellschaft darum, Mechanismen der Folgenreflexion zu institutionalisie- ren. Diese können auf einer individuellen Entscheidung von Wissenschaftlern, der Selbstregulierung der Diszi- plinen, Fachgesellschaften oder Forschungseinrichtun- gen beruhen oder rechtlich angereizt werden. Insoweit ist eine Vielzahl von Varianten denkbar, die unterschied- liche rechtliche Probleme aufwerfen können.
- 130 Vgl. etwa Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 194, der alle öffentlichen und privaten Förderer darauf verpflichten möchte, der nicht einmal das US-amerikanische Forschungs- system folgt. Dies aber macht deutlich, dass der Sache nach das Argument, es handele sich „nur“ um eine Einschränkung der Förderung, nicht besonders überzeugend ist.
- 131 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), 190 f.
- 132 Dazu Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 158 ff.
- 133 Dies gilt insbesondere für die Versuche, die vorgeblich wenigergrundrechtssensible Förderung der Forschung als Hebel zu nutzen, um ansonsten nicht durchsetzbare Forschungseinschrän- kungen oder ‑verbote durchzusetzen. Nicht frei davon ist die Empfehlung des Deutschen Ethikrates, Biosicherheit (Fn. 6),
S. 179 f. Angesichts der oben dargelegten rechtlichen Rahmen- bedingungen der Forschungsförderung dürfte dies deutlich an verfassungsrechtlichen Grenzen rühren. - 134 Ausführlich zu dieser Problematik, Wilms, Unverbindlichkeit der Verantwortung (Fn. 128), S. 134 ff.; für das Schweizer Recht
Aus der Perspektive der Wissenschaftsfreiheitsgaran- tie ist dabei im Ausgangspunkt wichtig, dass nicht In- pflichtnahmen bewirkt werden, die durch rechtliche Re- gulierungen so nicht erreicht werden könnten.133 Durch denBegriffderethischenVerantwortungderWissenschaft(ler) besteht die Gefahr einer inkrementalen Überspielung rechtli- cher Grenzen. Dabei wird man nicht umhin können, nach dem Stand der Grundrechtsdogmatik die Kodizes, je- denfalls dann, wenn sie nicht eine Forschungspraxis wi- derspiegeln und rationalisieren, als mittelbare Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit behandeln zu müssen, wenn sie beschränkende Wirkungen – die auch im negativen Werturteil über eine Forschung liegen können – zur Fol- ge haben und dem Staat zurechenbar sind.134 Sie sind dann Fremd- und nicht Selbstregulierungen der Wissen- schaft.
Als unproblematisch erweisen sich im Ausgangs- punkt Appelle an die individuelle Verantwortung des Wissenschaftlers, die seine Entscheidungszuständigkeit betonen.135 Anders wird dies schon dort, wo gesetzlich begründete Reflexionslasten institutionalisiert wer- den.136 Auch wenn die Reflexion zu den Wirkungen der Forschung zur Eigenverantwortung des Wissenschaft- lers gehört, so ist dies ein Eingriff, der allerdings durchaus gerechtfertigt werden kann.137 Indes ist die- se Reflexionslast nicht unbegrenzt, auch nicht was die Risiken der Forschung angeht. Insbesondere wird man zwischen den Risiken der Forschung und denen der Verwendung des Wissens unterscheiden müs- sen.138 Wie gesehen verbleiben im Hinblick auf die Verwendung des Wissens erhebliche Ungewisshei- ten,139 die sich nicht in abstrakte ethische Verbote zu Lasten der Forschung ummünzen lassen. Ebenso we- nig kann dies dazu führen, dass – insoweit mag man zwischen Einrichtungen und ihrem Auftrag differen- zieren müssen – umfassende Relevanz- und Nutzen- erwägungen anzustellen sind.140 Dies gilt dann natür-
auch Thurnherr, Biosecurity (Fn. 50), S. 40 ff.; Deutscher Ethikrat,
Biosicherheit (Fn. 6), S. 140 f.
135 Am Ansatzpunkt DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit
(Fn. 42), S. 10.
136 Fallkonstellation in BVerfG, 1.3.1978, 1 BvR 333/75, BVerfGE 47,
327 (363 ff.).
137 Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 161; Löwer, Freiheit (Fn. 57),
Rn. 33 mwN.
138 Trute, Die Forschung (Fn. 52), S. 162 ff.
139 Dazu oben unter II. 1. d); nicht unproblematisch daher DFG/
Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit (Fn. 42), S. 12, (auch die Folgen zu bedenken, die von Dritten damit verursacht werden können) soweit dies nicht allein den gut übersehbaren Kontext der For- schung, die Auftraggeber und Kooperationspartner betrifft.
140 In der Sache ähnlich Löwer, Freiheit (Fn. 57), Rn. 33; zweifelhaft daher DFG/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit (Fn. 42), S. 12 (Chancen der Forschung/Risiken für Rechtsgüter).
116 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 2 (2015), 99–116
lich auch für alle institutionalisierten Formen der Fol- genverantwortung.
Schwieriger erweisen sich diejenigen Formen von „Selbst“-verpflichtungen, die zum einen deutlich auf mittelbare Verbindlichkeit durch Sanktionen setzen141 und in ihrer Konsequenz auf eine durchgängige Ethisie- rung der biosicherheitsrelevanten Wissenschaft abzie- len.142 Zwar ist es richtig, dass Raum für eine Ergänzung des Rechts durch nichtrechtliche Verhaltensstandards in der deutschen Rechtsordnung besteht. Das Problem aber liegt darin, dass unter dem Label von Verantwortung und Selbstregulierung letztlich eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit beabsichtigt (oder zumindest in Kauf genommen) wird, die mit rechtlichen Instrumen- ten so einfach nicht erreicht werden könnte.
Dies würde etwa für die Genehmigungspflichten von Publikationen gelten, aber auch für diejenigen von For- schung, sofern diese an sich in legitimer Weise betrieben werden könnte. Insoweit weckt es doch nicht unerhebli- che Zweifel, dass der Deutsche Ethikrat etwa die Wahl angemessener Forschungsziele und Forschungsmetho- den festlegen und diese dann auch noch in einem deutschlandweit oder international einheitlichen Kodex geregelt sehen möchte.143 Aber auch unterhalb dieser Schwelle wird man sich fragen müssen, wieweit eine Ethisierung reichen kann. So ist bedenklich, wenn eine umfassende Abwägung in einem definierten Bereich von Forschungsvorhaben stattfinden soll,144 Risiko-Nutzen- erwägungen zu einem wesentlichen Kriterium werden,
bei bestimmten Risiken vermutet werden soll, dass der Schaden den Nutzen überwiegen soll145 oder ein kontinu- ierliches Monitoring der bestimmter DURC-Forschungstä- tigkeitwährendderProjektdauererfolgensoll.146
VIII. Schluss
Dass die Wissenschaft mit der Veränderung ihrer For- schungspraxis und den daraus folgenden Risiken immer wieder die Frage nach der Abstimmung mit anderen rechtlich geschützten Interessen aufwirft, ist an sich nichts Neues. Von daher kann man auf gesicherte grund- rechtsdogmatische Bestände zugreifen, ohne die nötigen Grenzziehungen in einer unstrukturierten Abwägung auflösen zu müssen. Neu ist der nunmehr beabsichtigte Zugriff auf das produzierte Wissen, dass inhibiert wer- den soll, weil Dritte davon einen malevolenten Gebrauch machen könnten. Das trifft die Wissenschaftsfreiheit in ihrem Kern und kann daher bestenfalls ein letztes Mittel sein, wo andere nicht ausreichen. Dies setzt eine Analyse der möglichen Gefährdungen voraus, nicht aber einen Überbietungsdiskurs der Konstruktion von Schreckens- szenarien.
Hans-Heinrich Trute, Professur für Öffentliches Recht. Medien- und Telekommunikationsrecht an der rechts- wissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg. Einer der Forschungsschwerpunkte des Autors ist das Recht der Wissenschaft.
- 141 Vgl. etwa Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 182.
- 142 Vgl. nochmals Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 183.
- 143 Vgl. Fn. 141, 142.
- 144 Der Deutsche Ethikrat verweist in seinem Vorschlag auch auf denaus den USA stammenden Katalog an Agenzien, der ganz offen- sichtlich auf der Basis einer abstrakten Gefährdung entworfen wurde, ohne sich jedoch auf eine Agenzienliste festzulegen; diese soll von der neu einzurichtenden DURC-Kommission erarbeitet und fortlaufend angepasst werden, vgl. Deutscher Ethikrat, Biosi- cherheit (Fn. 6), S. 195 f., 201 ff.
- 145 In Teilen vertritt dies immerhin der Deutsche Ethikrat, Biosi- cherheit (Fn. 6), S. 193, 197 f., sofern nicht ein direkter, konkreter und überwiegender Nutzen für die Abwehr von Gefahren für das Leben oder die Gesundheit von Menschen wahrscheinlich ist, in
Bezug auf solche GOF-Forschungsvorhaben, die zum Gegen- stand haben oder bei denen abzusehen ist, dass die pathogene Wirkung eines Mikroorganismus so verstärkt wird, dass im Falle der Verbreitung außerhalb des Labors die Gefahr der Epidemie einer schwerwiegenden Erkrankung beim Menschen gegeben
ist. Deutlicher kann man die Wissensasymmetrie zulasten der Wissenschaft nicht aufspannen. Während man an sich einräumen muss, dass man bezüglich des Missbrauchsrisikos im Regelfall über die bloße Möglichkeit nicht hinaus kommt, soll bezüglich des Nutzens dann eine direkte, konkrete und überwiegende ver- langt werden. Dass dies ein angemessener Ausgleich sein könnte, müsste erst einmal begründet werden können; vgl. auch bereits oben bei Fn. 94.
146 Deutscher Ethikrat, Biosicherheit (Fn. 6), S. 193.