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Ein beson­de­res Reiz­the­ma der Stu­den­ten­be­we­gung war das angeb­li­che Über­holt­sein der Vor­le­sung. Von ihren Ver­äch­tern wur­de die Vor­le­sung als ver­al­te­te Ver­mitt- lungs­tech­nik von Wis­sen und auto­ri­tä­re, den Stu­den­ten den Mund ver­bie­ten­de Indok­tri­na­ti­on dar­ge­stellt. Bei- des kann sie sein, und mir per­sön­lich sind Semi­na­re in Form der Rede und Gegen­re­de immer lie­ber gewe­sen. Aber grund­sätz­lich hal­te ich das für eine Fehl­ein­schät- zung. Die Vor­le­sung, die mit auto­ri­tä­rer Ges­te Hand- buch­wis­sen ver­brei­tet, ist zumin­dest im Bereich der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten fehl am Platz. Die Vor­le­sung erfüllt ihre Auf­ga­be viel­mehr als eine reprä­sen­ta­ti­ve und hoch kon­zen­trier­te Demons­tra­ti­on von Erkennt­nis­ge- winn und ‑erpro­bung, wie jeder bestä­ti­gen wird, der das Glück hat­te, ein­mal einer gro­ßen Vor­le­sung bei­zu­woh­nen. Gewiß hat sie oft etwas Aura­ti­sches – war­um nicht –: dar­in liegt gera­de eine ihrer Stär­ken. Sie demons­triert den für die Kul­tur­wis­sen­schaf­ten so kenn­zeich­nen­den Wech­sel­be­zug von Per­son und Sache, den Zusam­men­hang von Lebens- stil und Denk­stil, der gera­de dadurch enste­hen kann, daß die Per­son des Leh­ren­den mit all ihren Mög­lich­kei- ten zum Erkennt­nis­or­gan ver­sach­licht. Mit der Stim­me und Kör­per­spra­che des Leh­rers kann sich lebens­läng­lich ein Gegen­stand ein­prä­gen. Die inne­re Zusam­men­fas­sung des Spre­chen­den und der Zuhö­ren­den, des ein­zel­nen Hörers und der Men­ge der Mit­hö­ren­den stei­gern ein­an­der wech­sel­sei­tig. Nicht die mit­schrei­ben­de Lammsgeduld,

son­dern die Hel­lig­keit des Den­kens und Mit­den­kens hat ihre Stun­de. Aus­dau­er ist gefragt. Kul­tur läßt sich nicht in Fak­ten, Fea­tures und State­ments auflösen.

So bie­tet die Vor­le­sung den Raum und demons­triert die Mög­lich­keit, erheb­li­che Stoff­mas­sen von gro­ßer Kom­ple­xi­tät geis­tig zu orga­ni­sie­ren, wei­te Per­spek­ti­ven und Hori­zon­te zu ent­wer­fen, exem­pla­risch minu­ti­ös ins Detail ein­zu­tau­chen, Gene­ral­the­sen zu erpro­ben, ohne daß sie schon die vol­le Ver­bind­lich­keit des gedruck­ten wis­sen­schaft­li­chen Werks besit­zen müß­ten. Die Vor­le- sung ist sozu­sa­gen die wis­sen­schaft­li­che Mono­gra­phie im Erpro­bungs­sta­di­um. Idea­li­ter kann man hier dem Vor­gang der wis­sen­schaft­li­chen Pro­duk­ti­on bei­woh­nen, und die Vor­le­sun­gen Franz Schna­bels oder ein Steg­reif- vor­trag Theo­dor W. Ador­nos, der erklär­te, den Pro­zeß sei­nes Den­kens vor­füh­ren zu wol­len, sind mir des­we­gen unver­geß­lich. Wer das Schwei­gen der Hörer wäh­rend der Vor­le­sung als auf­ge­nö­tig­te Pas­si­vi­tät inter­pre­tiert, wie das immer wie­der geschah, weiß nicht, wovon er spricht oder will es nicht wis­sen. Man kann redend nichts als vor­ge­fer­tig­te, pas­siv über­nom­me­ne Wort- und Gedan­ken­hül­sen aus­wer­fen, und man kann hörend höchst aktiv sein – nicht nur durch mit­lau­fen­de Kri­tik, son­dern schon allein durch den unter­bro­che­nen Selek- tions- und Zuord­nungs­pro­zeß, der in der Rezep­ti­on statt­fin­det oder zumin­dest statt­fin­den sollte.

1 Aus Ger­hard Kai­ser, Rede, daß ich dich sehe. Ein Ger­ma­nist als Zeit­zeu­ge, 2000, S. 177f.

Ger­hard Kai­ser Vor­le­sung – ja oder nein?1

Ord­nung der Wis­sen­schaft 2018, ISSN 2197–9197

252 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2018),251–252