Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft für wis- senschaftliches Wissen. Wissenschaft ist Erbauerin und Zerstörerin sozialer Welten und das Tempo der von ihr hervorgebrachten Veränderungen beschleunigt sich in modernen Gesellschaften. Forschung setzt ständig neue Spielfiguren auf das Schachbrett der sozialen Welt, ver- ändert zudem deren Spielregeln. Im Ergebnis kann der Fortschritt in den Wissenschaften manchmal auch die Grundlagen vertrauter rechtlicher Regelungen untergra- ben. In der Diskussion um Experimente zum „Anschär- fen“ von potentiellen Seuchenerregern liegt ein solcher Fall vor. Wissenschaftler können synthetische Mikroben komplett am Reißbrett erschaffen und dabei das Erbgut von Erregern mit einer Art molekularer Textverarbei- tung beinahe nach Belieben redigieren, editieren oder komplett neuschreiben. In zivilen Hochsicherheitslabo- ratorien entstehen immer häufiger sogenannte neuarti- ge, „potentiell pandemische Pathogene“ (PPP), die in der natürlichen Evolution der Lebewesen bisher fehlten.1 Der Einwand, der Mensch könne nichts schaffen, was nicht auch die Natur hervorbringen würde, geht grund- sätzlich fehl: Ohne den Menschen hätte es nicht Hunder- te von Hunderassen gegeben, die er aus dem Wolf gezüchtet hat.2 Mit Hilfe experimenteller Methoden las- sen sich natürliche Einschränkungen aushebeln, die natürliche Selektion von Erregern simulieren und beschleunigen im Sinne einer erzwungenen Evolution.
- 1 Marc Lipsitch, PLOS Medicine, May 20, 2014: „Ethical Alternatives to Experiments with Novel Potential Pandemic Pathogens“: http:// www.plosmedicine.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal. pmed.1001646 (21.1.2015).
- 2 Simon Wain-Hobson, EMBO Mol Med., Nov 2013, S. 1 (3) „Pande- mic influenza viruses: time to recognize our inability to predict the unpredictable and stop dangerous gain-of-function.“
- 3 Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hatte 2010 diese Verfassungsbeschwerde nicht zur Entschei-
dung angenommen (BVerfGK 17, 57). Sie sei unzulässig, weil die Beschwerdeführerin nicht substantiiert darlege, dass sie durchdie ablehnenden Gerichtsentscheidungen in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt sei. Ein schlüssiger Vortrag der Beschwerdeführerin, der von ihr befürchtete Schaden werde eintreten, fehle. Für die Darlegung der Möglichkeit eines solchen Schadenseintritts genüge es insbesondere nicht, Warnungen auf ein generelles Misstrauen gegenüber physikalischen Gesetzen, also gegenüber theoretischen Aussagen der modernen Naturwis- senschaft zu stützen. Namentlich im Bereich der theoretisch weit fortgeschrittenen Naturwissenschaften erforderten vernünftige
Die Debatte um „Biosafety“ und „Biosecurity“ in den mächtigen Lebenswissenschaften gehört in die breite Öf- fentlichkeit, eben weil dabei auch die Grenzen der For- schungsfreiheit im Zeitalter der synthetischen Biologie neu ausgelotet werden müssen. Bei Experimenten mit in der Natur bisher nicht existierenden PPP wie z.B. den bei Säugetieren übertragbaren Vogelgrippeviren handelt es sich um einen besonders heiklen Risikotyp durch For- schung, die technologische Herstellung sogenannter „low probability, high consequential risks“, mit denen sich Gesellschaften seit jeher schwer tun. Ein eher obs- kures Beispiel war die Ablehnung einer Verfassungsbe- schwerde durch das Bundesverfassungsgericht. Darin versuchte eine Beschwerdeführerin darzulegen, in der Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire (CERN) in Genf könnten nach einer in der kernphysika- lischen Wissenschaft diskutierten Theorie sogenannte „Miniatur-Schwarze-Löcher“ erzeugt werden. Eine be- sondere, am CERN geplante Versuchsreihe berge das „Risiko einer Zerstörung der Erde“, daher müsse der Staat die Experimente unterbinden.3
Bisher beruhen die rechtlichen Einhegungen mögli- cher „Biosecurity“-Risiken in den Lebenswissenschaften im Kern auf der einfachen Idee, den materiellen Trans- port und Export von „Dual-Use“-Gütern bei Bedarf ein- zuschränken.4 In den USA wird Forschern in Hochsi- cherheitslaboratorien zudem vorgeschrieben, bei Expe-
Zweifel zudem ein hinreichendes fachliches Argumentationsni- veau. Dabei könne man sich nicht wie die Beschwerdeführerin
auf solche Hilfserwägungen beschränken, die ihrerseits mit dem bewährten, anerkannten Hintergrundwissen des jeweiligen Faches in Widerspruch stünden und nach ihrem eigenen Vortrag bislang weder wissenschaftlich publiziert, noch auch nur in Umrissen theoretisch ausgearbeitet worden seien. Ebenso wenig reiche es für einen schlüssigen Vortrag aus, dass die Beschwerdeführerin Scha- densereignisse als mögliche Folge der Versuchsreihe ankündige und diese Ankündigung damit zu begründen suche, dass sich die Gefährlichkeit der Versuchsreihe eben in den von ihr für möglich gehaltenen Schadensereignissen manifestiere. Ein solches Vor- gehen hinzunehmen hieße, Strategien zu ermöglichen, beliebige Forschungsanliegen durch entsprechend projektspezifische War- nungen zu Fall zu bringen; http://www.bundesverfassungsgericht. de/pressemitteilungen/bvg10-014.html (21.1.2015).
4 In Deutschland finden sich dazu Regelungen in der Gentechnik- Sicherheitsverordnung, in der Biostoffverordnung, in der Dual- Use-Verordnung der EG und im Außenwirtschaftsrecht.
Volker Stollorz
Warum Journalisten das „Dual-Use-Research of Concern“-Dilemma thematisieren
Ordnung der Wissenschaft 2015, ISSN 2197–9197
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rimenten mit bestimmten „Select-Agents“, die absichtlich oder unabsichtlich in falsche Hände geraten könnten, be- sondere Vorsicht walten zu lassen.5 US-Forscher müssen daher inzwischen auch bei bestimmten Erregern vor der Durchführung bestimmter Versuche Genehmigungen ein- holen, im Extremfall ihre Ergebnisse mit „Select-Agents“ sogar geheim halten, um eine Weitergabe der genetischen Informationen über PPP in unbefugte Hände zu verhin- dern oder deren Risiken zumindest zu minimieren.6 Diese Regelungen betreffen in den USA allerdings nur den Be- reich von mit Bundesmitteln bezahlter oder in Bundesein- richtungen durchgeführter Forschungen.
Ähnliche Regularien gelten zum Beispiel auch für Forschungsarbeiten mit den angeblich letzten auf der Welt verbliebenen Pockenviren-Stämmen, die in der Na- tur weltweit durch Impfungen ausgerottet wurden. Alle hochansteckenden Pockenviren sollen aktuell nur noch in zwei Laboratorien in den USA und Russland lagern. Alle Forschungen mit den letzten verfügbaren Pocken- stämmen unterliegen strengen Vorkehrungen, geplante Experimente und selbst solche mit Fragmenten der DNA des Erregers werden von einem Gremium der WHO be- wertet, dokumentiert und genehmigt.7 Ein solches Kon- trollregime basiert letztlich auf einer zentralen Annah- me, die künftig durch den technologischen Fortschritt hinfällig wird: dass die Kontrolle der unerwünschten Verbreitung von Pockenviren durch eine Kontrolle des Zugangs zu den materiell an wenigen Orten vorhande- nen Virenstämmen erfolgen kann. Es ist eben diese An- nahme, die durch rasante Fortschritte der Synthetischen Biologie ausgehebelt wird. Selbst wenn ein Hochsicher- heitslaboratorium künftig einen dort allein verfügbaren Erreger oder einen erzeugten, neuartigen PPP absolut si- cher verwahrt und vor Ort alle Biosicherheits-Regeln strikt einhält, könnten unabhängige Akteure mit virolo- gischer Expertise dieses neuartige PPP oder künftig auch das Pockenvirus durch Erbgut-Synthese wiederauferste- hen lassen. Voraussetzung dafür wäre alleine die öffent-
- 5 Siehe etwa die „National Select Agents and Toxin List“ der USA vom April 2014: http://www.selectagents.gov/Select%20Agents%20and%20 Toxins%20List.html, (2.9.2014).
- 6 „Hinweise und Regeln zum verantwortlichen Umgang mit For- schungsfreiheit und Forschungsrisiken“, Max Planck Gesellschaft 2010: https://www.mpg.de/200127/Regeln_Forschungsfreiheit.pdf (21.1.2015), United States Government Policy for Oversight of Life Sciences Dual Use Research of Concern (March 2012): http://www. phe.gov/s3/dualuse/Documents/us-policy-durc-032812.pdf (2.9.2014).
- 7 Advisory Group of Independent Experts to review the smallpox research programme (AGIES) Report to the World Health Organiza- tion, Geneva, Switzerland, November 2013: http://apps.who.int/iris/ bitstream/10665/97034/1/WHO_HSE_PED_CED_2013.3_eng.pdf (2.9.2015).
- 8 Im Bereich der zivilen Erreger-Forschungen liegen sich verschiedene Lager und Disziplinen über Kreuz bei der wissenschaftlichen Be- wertung von Nutzen und Risiken heikler „Gain of Function-Experi-
liche Verfügbarkeit der besonderen genetischen Bauplä- ne solcher Erreger. Technisch können kleinere Pathoge- ne wie Influenza-Viren im Prinzip schon heute allein durch Kenntnis ihres Erbguts komplett synthetisiert werden, wenn ihr Erbgut in zugänglichen Datenbanken publiziert wurde. Genau eine solche Veröffentlichung ist nicht nur bei den Pocken, sondern auch bei dem Influ- enza-Virus H1N1 bereits erfolgt. Letzterer löste 1918 eine verheerende Pandemie aus, der 20 bis 50 Millionen Men- schen weltweit zum Opfer gefallen sein sollen. Biologi- sche „Wiederauferstehungen“ aus der reinen Erbinfor- mation werden in wenigen Jahren an vielen Orten der Erde auch mit „Select Agents“ und neuartigen PPP möglich sein, die für ihre Anzucht und Vermehrung nötige techni- sche Expertise wird sich vermutlich rasch verbreiten.
Es ist der immaterielle Charakter des genetischen Codes der die bisherigen Regularien der Biowaffen-Kon- vention, des Biosicherheitsrechts und der Exportkont- rollgesetze unterläuft. Die E‑Mail eines deutschen For- schers an eine US-Fachzeitschrift mit der Erbgut-Se- quenz eines neuartigen PPP kann den Export eines „Se- lect Agents“ im Sinne der EU-Dual-Use-Verordnung darstellen, weil dieser auch den Export von genetischer Information meinen kann. Stellte ein Forscher dieselbe Erbgut-Sequenz in Deutschland einfach ins Netz, unter- läge er trotz vergleichbarem Risiko zumindest nicht der Exportkontrolle. Es ist die Immaterialität der Erbsubs- tanz aus der Dürrenmatts Diktum aus seinem Drama „Die Physiker“ folgt: „Was alle angeht, können auch nur alle lösen.“
Zumindest erscheint es im öffentlichen Interesse an- gesichts der technologischen Möglichkeiten unaus- weichlich, dass bereits der Forschungsprozess und die Herstellung von PPP im Labor in den Fokus von Biose- curity-Regulierungen geraten. Genau deshalb ist die öf- fentliche Debatte um die Freiheit und Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern und der Wissenschaft entbrannt.8 Die öffentlich relevante Frage lautet, wie sich For-
mente“, die potenziell pandemische Krankheitserreger erst erschaffen könnten. Mitglieder der „Cambridge Working Group“ (http://www. cambridgeworkinggroup.org, 21.1.2015) forderten kürzlich eine mo- derne Version eines „Asilomar-artigen“ Prozesses, in dem Forscher Regeln und belastbare Risikoanalysen entwickeln, um die Menschheit einerseits vor potentiellen Pandemieerregern in der Natur schützen zu können, bei diesen Forschungen aber „höchstmögliche Sicher- heitsstandards“ zu garantieren. Sie fordern bis dahin ein Moratorium für bestimmte „Gain of Function“-Versuche mit potentiellen Pande- mieerregern aus der Familie der Vogelgrippeviren und Corona-Viren. Als Replik auf diesen Aufruf konterte eine ebenso prominent besetzte Gruppe von Forschern unter dem Banner „Scientists for Science“ (http://www.scientistsforscience.org, 21.1.2015), man müsse selbst heikle Experimente wagen, die bestehenden strengen Regularien reichten aus und die Restrisiken ließen sich durch verantwortliche Forschung minimieren. Einig sind sich beide Seiten bisher nur in einem Punkt: man müsse endlich miteinander reden.
Stollorz · Das „Dual-Use-Research of Concern“-Dilemma 8 5
schungsfreiheit und der Schutz der Verfassung neu aus- balancieren lassen im Lichte des Fortschritts, um mögli- chen Schaden von der Bevölkerung abzuwenden.
Der Deutsche Ethikrat hat sich kürzlich in seinem Bericht „Biosicherheit — Freiheit und Verantwortung der Forschung“ zum Beispiel mit der Frage beschäftigt, ob „Experimente, die einen Krankheitserreger gefährlicher machen, überhaupt gefördert und durchgeführt und ihre Ergebnisse veröffentlicht werden sollen.“9 Soll es zum Beispiel zum Schutz vor einem unbeabsichtigtem Ent- weichen oder dem Missbrauch durch Bioterroristen Ein- schränkungen oder Forschungsverbote bei der Arbeit mit im Labor angeschärften Seuchenerregern geben? Was passiert, wenn es die mächtigen Werkzeuge der syn- thetischen Biologen auch „Bösewichten“ erlauben, etwa den ausgerotteten Pockenerreger aus seiner im Internet veröffentlichten DNA im Labor wieder zum Leben zu er- wecken?
Aus dem bisher Gesagten dürfte klar sein, dass For- scher aus Sicht der Öffentlichkeit beim Umgang mit im Labor erzeugten PPP nicht alleine entscheiden dürfen, wie weit ihre Freiheit reicht. Das „Dual-Use-Research of Concern“-Dilemma im Zeitalter der synthetischen Bio- logie mikrobieller Genome bedeutet für Forscher zu- nächst: Sie sollten es nicht länger verharmlosen. Schon das Herstellen oder das Speichern der genetischen Se- quenz eines potentiell pandemischen Pathogens auf den lokalen Servern einer Universität kann ein „Biosecurity“- Risiko darstellen. Auch deshalb stellt sich die Frage nach den Schranken der Forschungsfreiheit in aller Schärfe neu. Das Risiko des Missbrauchs von Forschung lässt sich zudem durch umfassende Maßnahmen der Laborsi- cherheit nicht vollkommen vermeiden, wenn sich Erbin- formationen allein immateriell verbreiten.
Das erklärt die Wucht auch des öffentlichen Streits um die von Ron Fouchier an der Universität Rotterdam und Yoshihiro Kawaoka an der Universität Madison in Wisconsin hergestellten PPPs — also bei Säugetieren übertragbare Vogelgrippeerreger H5N1, die es in der Na- tur bisher noch nicht gibt. Wir haben in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über diese Versuche und die Debatte von Beginn an ausführlich berichtet, weil aus
- 9 Deutscher Ethikrat 2014: „Biosicherheit, Freiheit und Verantwor- tung in der Wissenschaft: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/ stellungnahme-biosicherheit.pdf (2.9.2014).
- 10 Übrigens sind auch die indirekten Biosafety-Folgen der Herstel- lung von PPPs nicht trivial. Je attraktiver die Forschung an PPPs in Bezug auf mögliche Reputationsgewinne in der Wissenschaft ist, desto stärker steigt das Freisetzungs-Risiko, wenn Forscher
an Orten Erreger herstellen, deren Entkommen sie nicht sicher kontrollieren können. Unfälle in Hochsicherheitslaboratorien kommen vor, vor allem dort, wo die Standards nicht so hoch sind wie in den besten BSL‑4 Laboratorien der industriellen Welt. Und
Sicht der Öffentlichkeit gilt: Selbst wenn Fouchier und Kawaoka alle ihnen gesetzten Regeln strikt einhalten und aus ihren Laboratorien kein PPP freigesetzt werden kann, könnten dieselben neuartigen Viren mit den be- schriebenen Methoden doch andernorts anhand der in den Wissenschaftszeitschriften „Science“ und „Nature“ veröffentlichten Gensequenzen nachgebaut werden. Das Rezept und die Werkzeuge ihrer Herstellung sind nun öffentlich. Sobald aber das Wissen einmal in der Welt ist, kann es nicht mehr zurückgeholt werden. Ein PPP, das es in der Natur (noch) nicht gibt, kann mit seiner bloßen Existenz in einem Labor im Prinzip weltweit bekannt werden. Sobald genetische Informationen eines PPP ver- öffentlicht werden, kann es künftig von kompetenten Dritten im Guten wie im Bösen hergestellt werden.
Was folgt aus diesen Fakten? Zunächst einmal muss die Öffentlichkeit zumindest erfahren, was wo passiert und warum.10 Welche Risiken bestimmte Forschungen mit PPP beinhalten, welcher Nutzen mit welchen Argu- menten behauptet wird. Die Forscher müssen ihre per- sönlichen Forschungsinteressen dabei zurückstellen und sich auch einer öffentlichen Debatte stellen. Vor allem Forschungen zu „Gain of function“-Experimenten an potentiell pandemischen Mikroben stellen ein echtes Di- lemma dar, wie es am Beginn der Entwicklung der Gen- technologie 1975 in Asilomar schon einmal zu Tage trat:11 Welche Art von Forschung sollte unterbleiben weil sie zu riskant erscheint? Wenn sehr riskante For- schung betrieben wird, welche Vorsichtsmaßnahmen sollten dann ergriffen werden, um das Risiko von ab- sichtlichen oder unabsichtlichen Freisetzungen zu mini- mieren? Wenn Ergebnisse von heiklen Experimenten bereits vorliegen, sollten Artikel mit den Erkenntnissen dann frei und detailliert öffentlich verfügbar werden, da- mit jeder, also auch „bad guys“ eigene Lektionen daraus ziehen kann? Rechtfertigt der potentielle Nutzen der Ex- perimente „low probability but high consequential risk“ einzugehen, wenn wir anerkennen, dass wir es mit Risi- ken der Verbreitung immaterieller genetischer Informa- tion zu tun haben? Wie weit dürfen Forscher gehen, wenn sie neuartige PPP im Labor herstellen? Macht es etwa Sinn, tödliche Ebolaviren zu züchten, die auch über
selbst dort passieren Fehler, wie die Berichte über Vogelgrippe- erreger, die bei der US-Seuchenbehörde CDC aus dem BSL‑4 Hochsicherheitstrakt versehentlich verschickt wurden, beweisen. Selbst kleine Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von Biosicher- heitsrisiken potenzieren sich mit der Anzahl der Laboratorien, die „Gain of Function“-Forschung mit PPPs durchführen. Es herrscht derzeit nicht einmal Klarheit, wie viele Hochsicherheits- laboratorien mit welchen Standards weltweit existieren.
11 www.cambridgeworkinggroup.org; www.scientistsforscience.org (21.1.2015).
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die Luft übertragbar sind, um die Wirkung von Impfstof- fen zu testen? Welcher Nutzen entgeht Gesellschaften, wenn sie bestimmte Experimente verbieten? Dürfen un- verhältnismäßige Risiken für geschützte Güter eingegan- gen werden, wenn sehr hohe Risiken mit sehr großen Chancen einhergehen?
Vor allem gilt es zu diskutieren, wer solche Fragen beantworten und Entscheidungen treffen sollte? Die Wissenschaftler allein? Die Gremien der Wissenschaft in Selbstverantwortung? Wo beginnt die Verantwortung der Regierungen? Welche Rolle kann und soll die öffent- liche Debatte spielen? Was sollte geschehen, wenn Rege- lungen in einem Land das Dilemma nicht adressieren können, sondern ein internationaler Konsens für den Umgang mit „Dual-Use-Research of Concern“ unab- dingbar wäre, um Risiken zu minimieren?
Als Wissenschaftsjournalist registriere ich zunächst, dass es bei vielen dieser Fragen einen echten innerwis- senschaftlichen Dissens gibt.12 Die Influenza-Forscher können derzeit weder relevante Dual-Use-Risiken ihrer Forschungen kontrollieren noch einen direkten, unmit- telbaren Nutzen ihrer Forschung für die Menschheit plausibel machen. Auch fehlt der Nachweis, dass das Herstellen von in der Natur nicht vorkommenden Vo- gelgrippeviren Erkenntnisse liefert, die anders nicht er- hoben werden können. Die von einigen Mitgliedern des Deutschen Ethikrats geforderte Beweislastumkehr für bestimmte Forschungsprojekte an PPP halte ich für drin- gend geboten. Zumindest bei solchen Erregern, welche die Natur bisher nicht hervorgebracht hat, sondern von Forschenden neu geschaffen werden mit dem Potenzial, Epidemien oder sogar Pandemien und schwere Krank- heiten auszulösen. Ich denke, besondere Schutzpflichten auslösende, hochgefährliche Mikroorganismen lassen sich definieren und auch bestimmte Typen von Experi- menten, die besonderer Beachtung bedürfen. Ebenso dringend erforderlich scheint mir, die Entwicklung in- ternationaler Regeln zu forcieren, die das Ziel haben müssen, den immateriellen Charakter der genetischen Information zur Grundlage der künftigen Regulierungs- bemühungen im Sinne der „Biosecurity“ zu machen.
- 12 Volker Stollorz, FAZ 31.8.2014: „Darf man Ebola zum Fliegen brin- gen? http://www.faz.net/aktuell/wissen/medizin/riskante-labor- experimente-darf-man-ebola-lungengaengig-machen-13126312. html (2.9.2014).
- 13 Interview mit Rüdiger Wolfrum von Volker Stollorz, FAZ 6.11.2013: „Manches darf man nur denken“: http://www.faz.net/ aktuell/wissen/experimente-mit-riskanten-viren-manches-darf- man-nur-denken-12645939.html (2.9.2014).
- 14 Interview mit Silja Vöneky von Volker Stollorz, FAZ 14. 5. 2014: „Mit Mikroorganismen entstehen neue Gefahrenquellen“: http://
Auch Haftungsregelungen bestimmter Klassen von Ex- perimenten sind entsprechend ihrem Gefährdungspo- tential anzupassen.13
Als Wissenschaftsjournalist denke ich, es gibt be- stimmte experimentelle Forschungen im Bereich von PPP, die nach dem ethischen Diktum „Do no Harm“ un- terbleiben sollten. Für welche Bereiche der Syntheti- schen Biologie die Forschungsfreiheit eingeschränkt werden sollte, darüber lohnt es sich öffentlich unter Be- achtung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingun- gen zu streiten. Ich denke, dem Wissenschaftsjournalis- mus fällt hierbei vor allem die Aufgabe zu, die Wissen- schaft zu beobachten und sie mit den Erwartungen der Öffentlichkeit zu konfrontieren. Diese kritische Alar- mierungs- und Thematisierungsfunktion hat der Jour- nalismus bei dieser kniffligen Debatte zu erfüllen ver- sucht mit dem Ergebnis, dass Forscher sich nun verstärkt rechtfertigen müssen, warum sie tun, was sie tun. Das kann kein Schaden sein, wie immer die weitere Diskussi- on verläuft. Auf entscheidende Regelungslücken hat die Völkerrechtlerin Silja Vöneky von der Universität Frei- burg als Leiterin der Biosicherheitsarbeitsgruppe im Deutschen Ethikrat in einem Interview in der Frankfur- ter Allgemeinen Sonntagszeitung hingewiesen: „Wir ha- ben noch kein kohärentes System, im Grunde nur ein Regelungswerk des 20. Jahrhunderts, das nicht wirklich auf mögliche bioterroristische Herausforderungen im 21. Jahrhundert passt.“14 Mit Blick auf die aktuellen Kon- fliktherde etwa in Syrien und dem Irak wächst derzeit die Sorge, biologische Waffen könnten Teil von Terror- strategien werden.15 Bekannt ist auch, dass die Aum- Sekte aus Japan in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts vor den Giftgas-Anschlägen in der Tokioter U‑Bahn auch mit biologischen Waffen experimentieren wollte und angeblich versuchte, in den Besitz von Ebolaviren zu kommen.16
Schließen möchte ich meinen kurzen Diskussions- beitrag mit einem Zitat von Paul Berg, der 1975 einer der Initiatoren der Konferenz von Asilomar war, wo die bis heute weithin gültigen Prinzipien zur „Biosafety“ in Gentechnologielaboratorien, die mit rekombinanter
www.faz.net/aktuell/wissen/biosicherheit-mit-mikroorganismen-
entstehen-neue-gefahrenquellen-12932319.html (2.9.2014).
15 Harald Doornbos und Jenan Moussa, in Foreign Policy, 28.8.2014:
„Found: the islamic states terror laptop of doom“: http://www. foreignpolicy.com/articles/2014/08/28/found_the_islamic_state_ terror_laptop_of_doom_bubonic_plague_weapons_of_mass_de- struction_exclusive (2.9.2014).
16 Carus, Seth W., Bioterrorism and biocrimes: The illicit use of biological agents since 1900, 2001, S. 49, online verfügbar unter http://www.ndu.edu/centercounter/full_doc.pdf (8.8.2014).
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DNA arbeiten, erstmals diskutiert wurden. Der Nobel- preisträger der kalifornischen Universität Stanford warn- te im April 2012 auf dem Höhepunkt der „Dual-Use-Re- saearch of Concern“-Debatte auf einer Tagung der Royal Society in London vor allem vor der Hybris der For- scher: „With synthetic biology you have recombinant DNA on steroids, so designer organisms deserve a lot more oversight. Hubris, the very antithesis of prudence,
runs very high among scientists. There is an incredible ability to rationalize or even ignore potential risks in their own work. But being able to predict the outcome of an experiment with 100 percent certainty is beyond any of us, indeed it is the unexpected result we are always alert for.“17
Der Autor ist freier Wissenschaftsjournalist aus Köln.
17 Vortrag und Diskussion von Paul Berg auf der Konferenz „H5N1 research: biosafety, biosecurity and bioethics“ der Royal Society in London: https://www.youtube.com/watch?v=46YloeRkY2U&fe ature=youtu.be (2.9.2014).
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