Vor allen Dingen daher müsste jedes Schild aller literari- schen Schurkerei, die Anonymität, dabei wegfallen. In Literaturzeitungen hat zu ihrer Einführung der Vorwand gedient, dass sie den redlichen Rezensenten, den Warner des Publikums schützen sollte gegen den Groll des Autors und seiner Gönner. Allein gegen einen Fall dieser Art werden hundert sein, wo sie bloß dient, den, der, was er sagt, nicht vertreten kann, aller Verantwortlichkeit zu entziehen, oder wohl gar, die Schande dessen zu verhül- len, der feil und niederträchtig genug ist, für ein Trink- geld vom Verleger ein schlechtes Buch dem Publikum anzupreisen. Oft auch dient sie bloß, die Obskurität, Unbedeutsamkeit und Inkompetenz des Urteilenden zu bedecken. Es ist unglaublich, welche Frechheit sich der Bursche bemächtigt und vor welchen literarischen Gau- nereien sie nicht zurückbeben, wenn sie unter dem Schatten der Anonymität sich sicher wissen. – Wie es Universal – Medizinen gibt, so ist folgendes eine Uni- versal – Antikritik gegen alle anonymen Rezensionen, gleichviel, ob sie das Schlechte gelobt oder das Gute geta- delt haben: „Halunke, nenne dich! Denn vermummt und verkappt Leute anfallen, die mit offenem Angesicht einhergehen, das tut kein ehrlicher Mann: das tun Buben und Schufte. – Also: Halunke, nenne dich“.
Probatum est. Schon Rousseau hat in der Vorrede zur „Neuen Heloise“ gesagt: „Jeder ehrliche Mann setzt sei- nen Namen unter das, was er schreibt“, und allgemein bejahende Sätze lassen sich per contrapositionem umkehren. Wie viel mehr noch gilt dies von polemi- schen Schriften, wie doch Rezensionen meistens sind! Weshalb Riemer ganz recht hat, wenn er in seinen „Mit- teilungen über Goethe“ sagt: „Ein offener dem Gesicht sich stellender Gegner ist ein ehrlicher, gemäßigter, einer, mit dem man sich verständigen, vertragen, aus- söhnen kann; ein versteckter hingegen ist ein nieder- trächtiger feiger Schuft, der nicht soviel Herz hat, sich zu dem zu bekennen, was er urteilt, dem also nicht einmal etwas an seiner Meinung liegt, sondern nur an der heim- lichen Freude, unerkannt und ungestraft sein Mütchen zu kühlen.“ Dies wird eben auch Goethes Meinung gewesen sein: denn sie sprach meistens Riemern. Über- haupt aber gilt Rousseaus Regel von jeder Zeile, die zum Drucke gegeben wird. Würde man es leiden, wenn ein maskierter Mensch das Volk harangieren oder sonst vor einer Versammlung reden wollte – und gar, wenn er dabei andere angriffe und mit Tadel überschüttete? Wür- den nicht alsbald seine Schritte zur Tür hinaus von frem- den Fußtritten beflügelt werden?
Ausgegraben:
Arthur Schopenhauer
Wider den Anonymus
(aus Parerga und Paralipomena II, § 281)
Ordnung der Wissenschaft 2014, ISSN 2197–9197
42 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 1 (2014), 41–42