Übersicht
I. Einleitung
II. Rahmenbedingungen
1. Reichweite der Entscheidung
2. Rechtsprechung und Kritik der Literatur
3. Bisherige Ausgestaltung des Verfahrens
4. Statistik: Zunahme der Hochschulzugangsberechtigten und Auswahlgrenzen
5. Ausgangsverfahren
III. Vom „Abitur“ zum „Aditur“: Anerkennung veränderter Re- alitäten und Ausdifferenzierung der Auswahlverfahren
1. Ausganspunkt der gerichtlichen Erwägungen
2. Eignungsorientierung des Auswahlverfahrens
3. Gleichmäßige Gewichtung der Auswahlkriterien
4. Wesentlichkeitstheorie und Ausgestaltungsbefugnis der Hoch- schulen
5. Abkehr von der Wartezeit
6. Ablehnung der Drohung mit dem originären Teilhaberecht
IV. Utopie der Gleichheit: Erfordernis einer Bereinigung der Hochschulzugangsberechtigungen
1. Kernaussage
2. Die „drei Säulen“ der Unvergleichbarkeit
3. Analyse der fehlenden Vergleichbarkeit in der Erziehungswis- senschaft
4. Die „Bereinigung“ von Noten der Hochschulzugangsberechti- gung
5. Zwischenfazit: Utopie der Normalverteilung des Bildungspo- tenzials
V. Mittelbare Folgen
1. Auswirkung auf Studiengänge mit örtlicher Zulassungsbe- schränkung
2. Ausstrahlungswirkung in sonstige Rechtsgebiete, insbesondere auf Art. 33 Abs. 2 GG
3. Obiter dictum: Zulassungsrecht und Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen vor dem Hintergrund der Diskussion über die Einführung einer Landarztquote
4. Tätigwerden von Bund oder Ländern?
5. Aushandlung neuer Verfahrensgrundsätze VI. Fazit oder das Dilemma der Verteilung
- 1 Urt. v. 19.12.2017, Az.: 1 BvL 3/14; vgl. NVwZ 2018, 233 m. Anm. M. Wiemers; NJW 2018, 361 m. Anm. C. von Coelln; JuS 2018, 305 m. Anm. F. Hufen; JA 2018, 233 m. Anm. S. Muckel; R. Brehm/A. Brehm-Kaiser, Das Dritte Numerus-Clausus-Urteil des BVerfG, NVwZ-Extra 2018, 1 (1 ff.).
- 2 Vgl. S. Mau, Das metrische Wir, Über die Quantifizierung des Sozialen, 2017.
Matthias Bode
Zwischen Realität und Utopie:
Die „Numerus clausus III“-Entscheidung des BVerfG
I. Einleitung
Das BVerfG hat seine seit 1972 entstandene und kunst- voll über die Jahre fortentwickelte Rechtsprechung zu den Grundsätzen der Hochschulzulassung um eine maßgebende Entscheidung erweitert.1 Angesichts ver- änderter Rahmenbedingungen, etwa eines deutlich gestiegenen Anteils von Hochschulzugangsberechtigten pro Jahrgang, sieht das BVerfG nicht mehr allein den Erwerb des Abiturs als konstitutiv für den Zulassungsan- spruch an, sondern fordert den Gesetzgeber auf, zusätz- lich auf Kriterien der Eignung zurückzugreifen; dabei wird insbesondere auch die Rolle der Hochschulen im Rahmen der Hochschulzulassung anerkannt und gestärkt. Damit nimmt das Gericht eine Argumentati- onslinie auf, die zunehmend auch in Rechts- und Bil- dungswissenschaften vertreten wird. Indem das Gericht zudem – soweit noch auf die Note der Hochschulzu- gangsberechtigung abgestellt wird – eine „Bereinigung“ von länderspezifischen Vergleichbarkeitsdefiziten for- dert, wirft es allerdings mehr Fragen auf als es Antwor- ten gibt; dieser Ansatz dürfte den Gleichheitssatz über- fordern und ist in der Sache eher Ausdruck einer – durchaus zeittypischen2 – Utopie. Dieser Artikel kontextualisiert die Entscheidung vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung und ordnet ihre Bedeu- tung für das Hochschulzulassungsrecht ein.
Die Frage, wer berechtigt sein soll, ein Hochschulstu- dium aufzunehmen, ist seit jeher von entscheidender ge- sellschaftlicher Bedeutung. Über den Hochschulzugang konstituieren sich Experteneliten, es prägen sich institu- tionelle Milieus; die Übergangsquote von der Schule zur Hochschule hat schließlich Auswirkungen auf die öko- nomische Entwicklung.3 Überdies kommt der Berechti- gung zum Hochschulbesuch auch weitreichende Steue- rungswirkung für künftige Entwicklungen zu; die Öff- nung der Hochschule lockt – oder verschreckt – Studi- eninteressierte und entscheidet über Bildungswege. Das BVerfG hatte diese Bedeutung auch vor Augen, als es
3 Vgl. H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1700–1815, 4. Aufl. 2006, S. 479; A. Wolter, Von der Elitenbildung zur Bil- dungsexpansion, 1989, S. 3 ff.; ders., Das Abitur, 1987; R. Bölling, Kleine Geschichte des Abiturs, 2010; M. Bode, Hochschulzulas- sungsrecht im Spannungsfeld von gesamtstaatlicher Planung und lokaler Gerechtigkeit, WissR 2013, 348 (349 ff.).
Ordnung der Wissenschaft 2018, ISSN 2197–9197
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1972 erstmals mit der Frage nach der Verfassungsmäßig- keit des Numerus clausus konfrontiert war. So führte es aus, dass „Zulassungsbeschränkungen der in Rede ste- henden Art Verteilung von Lebenschancen bedeuten können“.4
Mit dem ersten Numerus clausus-Urteil vom 18. Juli 1972 verkündete das BVerfG schon einmal eine Entschei- dung mit geradezu utopischem Gehalt. Dieser lag weni- ger in der Aussage, dass aus der an sich als Abwehrrecht gegen den Staat konzipierten Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG auch ein Leistungsrecht im Sinne eines sub- jektiv-öffentlichen Rechts auf Zulassung zum begehrten Studienfach im Rahmen der verfügbaren Plätze folge; das war nämlich weder dogmatisch überraschend noch unter praktischen Gesichtspunkten von größerer Bedeu- tung.5 Entscheidend war vielmehr, dass das Gericht den Wert des Abiturs als vermeintlich unmittelbare Zugangs- berechtigung hervorhob und den Eindruck erweckte, es könnte grundsätzlich jeder „prinzipiell gleichberechtigte hochschulreife Anwärter“ das Studium seiner Wahl auf- nehmen. So wurde die Zulassung zur bloßen Ressour- cenfrage. Folgerichtig warf das Gericht die Frage auf, „ob aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen und der Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols ein objek- tiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstel- lung ausreichender Ausbildungskapazitäten für die ver- schiedenen Studienrichtungen“ folge. Auch wenn es dies im Ergebnis offen ließ, versuchte das Gericht, den „Vor- behalt des Möglichen“ zu modifizieren, also das Recht „gegen die Eigenlogik der Wirklichkeit“ zu behaupten – und ergriff damit Partei für die Forderung nach einem Ausbau der Studienplätze.6 Wie sich Gunnar Folke Schuppert, damals wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Ersten Senat des BVerfG, erinnert, verwandelte das Ur- teil den Numerus clausus in eine „rechtfertigungsbe- dürftige Technik“ und erzeugte „normativen Druck in Richtung auf eine Verbesserung in den Problemberei- chen Kapazitätsnutzung und Zulassungsverfahren“.7
- 4 BVerfGE 33, 303 (338).
- 5 Vgl. T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 393;W. Kalisch, Beschränkungen in der Zulassung zum Studium inverfassungsrechtlicher Hinsicht, in: DVBl. 1967, 134 (134 f.).
- 6 BVerfGE 33, 303 (333); O. Depenheuer, in: J. Isensee/P. Kirchhof,HdbStR, Bd. 12, 3. Aufl. 2014, § 269 Rn. 9, 48.
- 7 G. F. Schuppert, Der Zugang zu den Universitäten, in: H. J. Vogel,FS M. Hirsch, 1981, S. 567 (574 ff.).
- 8 W. Hassemer, Politik aus Karlsruhe?, JZ 2008, 1 (5 f.).
- 9 P. Häberle, Das BVerfG im Leistungsstaat, in: DÖV 1972, 729 (732).Anders dagegen Rupp, der kritisierte, dass das Urteil „das eigentliche Problem grundrechtlicher Freiheitserfüllung überhaupt“ nicht ge- troffen habe, da es allein auf den Zulassungsanspruch des Einzelnen abstelle und ökonomische Faktoren oder die individuelle Eignung für den Beruf unberücksichtigt ließe. H. H. Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, in: AöR 101, 161 (181 f.); kritisch auch Kimminich,
Diese „Politik aus Karlsruhe“8 hatte unter anderem die im Wesentlichen ländereinheitliche Ausgestaltung des Zulassungsrechts zur Folge und kann daher in pragma- tisch-politischer Hinsicht mit Häberle als „eine kluge Strategie“ beurteilt werden.9
Zugleich verlieh das BVerfG mit seinem Urteil der Vorstellung Ausdruck, dass die Bewirtschaftungsrah- men der Nachkriegszeit überholt seien und an ihre Stel- le eine vorausschauende Planung treten müsste.10 Dies entsprach dem seit den 1960er Jahren vielerorts vorherr- schenden Glauben, dass durch Steuerungsmaßnahmen eine Regulierung des Bildungswesens zum allgemeinen Vorteil möglich und nötig sei.11 Es war aber auch die Ab- sage an einen rigiden planwirtschaftlichen Dirigismus, wie er seitens der „Zentralstelle für die Studienbewer- bungen“ in Magdeburg – bereits sechs Jahre vor Grün- dung der ZVS 1974 – vom beargwöhnten „Bruderstaat“ in Osten betrieben wurde.12
In der Utopie reflektierte sich die Dahrendorfsche Forderung nach dem „Bürgerrecht auf Bildung“,13 und sie war der Siegeszug des subjektiven Rechts. Das Ge- richt vollzog die „kopernikanische Wende“ des Perspek- tivwechsels von einem Recht der Hochschule zum Grundrecht der Bewerber. Das Urteil kann daher zu- gleich als Markstein einer ordnungspolitischen Durch- dringung des Hochschulwesens angesehen werden. Sie symbolisiert das „kleine Glück der größten Zahl“.14
Das Scheitern der Utopie folgte in den Niederungen der Praxis – und auf Raten. In Folge des ersten Numerus clausus-Urteils kollidierten von nun an – sich stets aus- differenzierende – rechtliche Vorgaben mit den Zielen der Bildungsplanung.15 Letztlich war es der in dieser Form nicht vorhergesehene Bildungsboom, der das Ende der Utopie markierte. Die Auswahlgrenzen signalisieren dies; die zur Realisierung der Utopie in die Pflicht ge- nommenen Bildungsverwaltungen taten über die Jahre viel, um Härte abzumildern; beispielsweise wurde ein sog. besonderes Auswahlverfahren konzipiert, das – an
der es als „rührendes Dokument der Hilflosigkeit“ bezeichnete, O.
Kimminich, Anmerkung, in: JZ 1972, 696 (699).
10 Vgl. H. Bahro/W. Becker/J. Hitpass, Abschied vom Abitur?, 1974,
S. 8 ff.
11 Vgl. M. Ruck, Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie, in:
A. Schildt, Dynamische Zeiten, 2000, S. 362 (362 ff.).
12 Vgl. M. Bode, in: L. Knopp/F.-J. Peine/H. Topel, Brandenburgi- sches Hochschulgesetz, 3. Aufl. 2018, BbgHZG, Vorbemerkung
Rn. 50.
13 Vgl. R. Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, 1965, S. 14 ff. 14 M.-E. Geis, Die Rechtsprechung des BVerfG zum „Recht auf
Bildung“ in den Jahren 1972–1977, in: WissR, Beiheft 18, 2007, 9
(10 f.).
15 Anschaulich: D. Hewig, Steuerungsprobleme im Hochschulbe-
reich, in: BayVBl. 1978, 68 (70 ff.).
sich systemwidrig – im Falle starken Bewerberüber- hangs nun wieder Fragen der Eignung in die Zulassung einbrachte. Die Hochschulen hatten mit ihren Interessen in dieser Zeit häufig das Nachsehen.16
Der Beitrag untersucht, wie sich das BVerfG zu den Grundsätzen seiner bisherigen Rechtsprechung positio- niert. Dabei wird zunächst auf die Rahmenbedingungen der Hochschulzulassung eingegangen (II.) und sodann auf die im Mittelpunkt der Entscheidung stehende Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Auswahlkriterien und die organisatorischen Anforderungen; hierbei wird argumentiert werden, dass das Gericht einen Teil seiner Grundsätze den veränderten Gegebenheiten angepasst hat, was etwa in der Stärkung der Auswahl nach Eignung zum Ausdruck kommt (III.). Anschließend werden die weitreichenden Aussagen zum Erfordernis der „Bereini- gung“ von schulischen Abschlusszeugnissen im Bil- dungsföderalismus analysiert. Hier ist zu zeigen, dass das Gericht ein weitreichendes Postulat in Hinblick auf die Gleichbehandlung aufstellt (IV.). Schließlich wird die Ausstrahlungswirkung der Entscheidung auf weitere Be- reiche dargestellt (V.).
II. Rahmenbedingungen
1. Reichweite der Entscheidung
Es ist sinnvoll, zwischen den Begriffen Hochschulzugang und ‑zulassung zu differenzieren: Das Hochschulzu- gangsrecht (sog. Qualifikationsrecht) regelt, welche Qualifikation eine Person aufweisen muss, um das Studi- um aufnehmen zu dürfen. Das Hochschulzulassungs- recht (sog. Verteilungsrecht) bestimmt, welche zugangs- berechtigten Bewerber sich immatrikulieren dürfen.17 Das Urteil betrifft im Wesentlichen Fragen des Zulas- sungsrechts. Indem nun aber auch im Rahmen der Ver- teilung Aspekte der Eignung eine Rolle spielen sollen (siehe III.), verschwimmt die Grenze zum Zugangsrecht. Entscheidend ist, dass das Qualifikationsrecht nach wie vor die Bedingungen festlegt, unter denen die generelle Eignung zum Studium im Sinne der Hochschulzugangs- berechtigung ausgestellt wird, während das Verteilungs- recht an der Eignung für ein spezifisches Studienfach
- 16 Bode (Fn. 3), 349 ff.
- 17 Vgl. J. F. Lindner, in: M. Hartmer/H. Detmer, Hochschulrecht,3. Aufl. 2017, 11 Rn. 1 ff.; A. Pautsch/A. Dillenburger, Kompendiumzum Hochschul- und Wissenschaftsrecht, 2. Aufl. 2016, B Rn. 80 ff.
- 18 R. Brehm/W. Zimmerling, Die Entwicklung des Hochschulzulas-sungsrechts seit 2008, NVwZ-Extra 2014, 1 (1 ff.).
- 19 BVerfGE 33, 303 (337 ff.); 40, 352 (354 ff.); 42, 291 (317, 323, 345,364); 59, 172 (205 ff.).
- 20 M.w.N. M. Bode, in: M.-E. Geis, Hochschulrecht in Bund undLändern, Bd. 1, 2017, HRG, § 32 Rn. 13 ff., 45 ff.
- 21 K. Hailbronner, Kompetenzen des Bundes zur Regelung des Hoch-
anknüpft. Weiterhin bezieht sich die Entscheidung ledig- lich auf das sog. innerkapazitäre Hochschulzulassungs- recht, also die Verteilung der Studienplätze im Rahmen der ausgewiesenen Kapazitäten. Sie betrifft nicht das Kapazitätsrecht und dessen Überprüfung im Rahmen sog. außerkapazitärer Klageverfahren.18
2. Rechtsprechung und Kritik der Literatur
Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf eine Zulas- sungsbeschränkung nur in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter Erschöpfung der Nutzung der vor- handenen Ausbildungskapazitäten angeordnet werden. Die Auswahl muss auf Grundlage sachgerechter Kriteri- en erfolgen und jedem an sich hochschulreifen Bewerber zumindest eine Zulassungschance eröffnen. Dabei sind starre Grenzziehungen zu vermeiden.19
Diese Rechtsprechung wurde bislang überwiegend von Gerichten und Literatur so interpretiert, dass im Wesentlichen das Abitur über den Hochschulzugang entscheidet und dass sogar eine spezifische Eignung des Bewerbers diese Bindung an die Note nicht – bzw. im Auswahlverfahren der Hochschulen nur sehr einge- schränkt – überspielen kann. Die seit den 1970er Jahren eingetretenen Umfeldveränderungen des Hochschulzu- lassungsrechts, insbesondere der hochschulpolitischen Rahmenbedingungen, und die Ausweitung des Kreises der Hochschulzugangsberechtigten (siehe II.4.), haben allerdings vor allem in der rechtswissenschaftlichen Lite- ratur Zweifel an der bisherigen Konzeption wachsen lassen:20
Dies betrifft zum einen die Frage, ob der Hochschul- zugangsberechtigung, regelmäßig dem Abitur, eine „Tür- öffner-Funktion“ für die Hochschule zukommen muss. Hier wurden vermehrt Stimmen laut, die für eine neben dem Abitur stehende Studieneignungsfeststellung durch die Hochschulen plädieren,21 teilweise auch als „neues Hochschulzulassungsrecht“ bezeichnet.22 Es wurde ar- gumentiert, dass die Vergleichbarkeit der Hochschulzu- gangsberechtigungen schon aufgrund der Vielgestaltig- keit der Bildungswege, die den Hochschulzugang eröff- nen, nicht vorliege. Die notwendige „Wissenschaftlich- keit der Hochschulbildung“ erfordere, dass Hochschulen
schulzugangs, WissR 1994, 1 (11 ff.); ders., Hochschulzugang, zentrale Studienplatzvergabe und Hochschulauswahlverfahren, WissR 2002, 209 (215 ff.); R. Steinberg/H. Müller, Art. 12 GG, Numerus Clausus und die neue Hochschule, NVwZ 2006, 1113 (1113 f.); H. Datzer, Diversifi- zierung beim Hochschulzugang, in: M. Fehling/J. A. Kämmerer/K. Schmidt, Hochschulen zwischen Gleichheitsidee und Elitestreben, 2005, S. 99 (100 ff.). Vgl. W. Löwer, Aktuelle Probleme einer Neuregelung des Hochschulzugangs, in: M. Winkler, FS E.-J. Meusel, 1997, S. 175 (191 ff.); T. Mann, in: M. Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 176.
22 P. Hauck-Scholz/B. Brauhardt, Verfassungsrechtliche Aspekte der neuen Studienplatzvergabe, WissR 2008, 307 (322).
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geeignete Bewerber für ihre Studiengänge (mit-)aussu- chen.23 Hiergegen wird eingewandt, dass eine punktuel- le Aufnahmeprüfung die Eignung eines Bewerbers kaum repräsentativ widerspiegeln könne. Art. 12 Abs. 1 GG schütze gerade die Freiheit des grundsätzlich Zugangs- berechtigten von der Schule zur Ausbildungsstelle.24Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) hielt am „Konzept der allgemeinen Hochschulreife als schulischer Ab- schlussqualifikation zur Zugangsberechtigung für alle Studiengänge“ fest.25
3. Bisherige Ausgestaltung des Verfahrens
Die Verteilung der Studienplätze im sog. Zentralen Ver- fahren beruht auf den §§ 31 ff. HRG und dem von allen Bundesländern umgesetzten Staatsvertrag. Zunächst bil- det die Stiftung für Hochschulzulassung sog. Vorabquo- ten, etwa für Bewerber, die aufgrund besonderer indivi- dueller Härte sofort studieren müssen oder für Sanitäts- offiziersanwärter der Bundeswehr. Die verbleibenden Studienplätze werden zu 20 Prozent an die sog. Abitur- besten vergeben.26 Der Mehrheit der Bewerber sollte das Auswahlverfahren der Hochschulen im Umfang von 60 Prozent eine Zulassungschance eröffnen, in dem die Hochschulen eigene Kriterien aus einem vorgegebenen Katalog auswählen konnten; hierbei musste die Note der Hochschulzugangsberechtigung allerdings „maßgebli- chen Einfluss“ – je nach landesrechtlicher Umsetzung also das absolut oder relativ stärkste Gewicht – zukom- men. 20 Prozent der Plätze erhalten diejenigen, die die längste Wartezeit aufweisen.27
Soweit das bisherige Zulassungssystem als Zulas- sungskriterium auf die Note der Hochschulzugangsbe- rechtigung zurückgreift, wendet es zwei unterschiedli- che Methoden an: Im Auswahlverfahren der Hochschu- le gilt die „nominale“, also ausgewiesene Note, die – je nach Ausgestaltung – mit weiteren Kriterien seitens der Hochschule verrechnet wird und in der Bildung einer Rangliste aller Bewerber mündet. In der Abiturbesten- quote wird die Note zwar ebenfalls „nominal“ berück-
- 23 K. Hailbronner, Verfassungsrechtliche Fragen des Hochschulzu- gangs, WissR 1996, 1 (23 ff.); vgl. P. Dallinger Neuordnung des Hochschulzugangs, WissR 1998, 127 (138 f.).
- 24 Löwer (Fn. 21), S. 197; I. Richter, Ausbildung und Arbeit, in: JZ 1981, 176 (180).
- 25 KMK-Beschl. v. 30.11./1.12.1995.
- 26 Dies war vom Gesetzgeber weniger als Zulassungsoption für dasGros der Bewerber konzipiert worden, sondern als Art Privilegfür die nach Abiturnote leistungsstärksten Bewerber.
- 27 Bemessen wird die Wartezeit nach den Halbjahren, die seitErwerb der Hochschulzugangsberechtigung vergangen sind.
In dieser Zeit darf allerdings nicht an deutschen Hochschulen studiert werden. Sog. Parkstudienreglung, vgl. BVerfGE 43, 291 (378 ff.). - 28 Der Anteil eines Landes an den Studienplätzen bemisst sich nach
sichtigt; durch einen Kunstgriff wird jedoch sicherge- stellt, dass nur Bewerber eines Bundeslandes miteinan- der in Konkurrenz treten. Hierzu werden sog. Landes- quoten gebildet. Auf der Landesquote stehen nur Bewerber, die in dem jeweiligen Bundesland ihre Hoch- schulzugangsberechtigung erworben haben. Diesen Be- werbern steht freilich nur ein gewisser Anteil aller Plätze zur Verfügung, der jedoch über alle Länder und alle Hochschulstandorte verteilt wird. Diese Verteilung ist „von außen“ kaum erkennbar und beruht auf einer kom- plizierten Berechnung.28
4. Statistik: Zunahme der Hochschulzugangsberechtig- ten und Auswahlgrenzen
War Anfang der 1970er Jahre in den Gremien der KMK noch davon ausgegangen worden, dass die Zahl der Stu- dierenden nur leicht ansteigen würde, nahm die Zahl derjenigen, die mit Abitur und Fachoberschulreife ein Studium antraten, in den folgenden Jahrzehnten stark zu.29 Zudem vergrößerte sich auch der Anteil der Hoch- schulzugangsberechtigten stetig: Während 2008 rund 43 Prozent der 25- bis 30-jährigen eine allgemeine oder fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung aufwie- sen, betrug der entsprechende Anteil unter den 60- bis 65-jährigen nur 19 Prozent.30 Rund 25 Prozent aller Abi- turienten erwarben im Schuljahr 2009/2010 ihre Hoch- schulreife nicht mehr an einem allgemeinbildenden Gymnasium, sondern etwa an beruflichen Gymnasien oder integrierten Gesamtschulen.31
Zum Wintersemester 2016/2017 konnten in der Hu- manmedizin über die Abiturbestenquote nur noch Be- werber einen Studienplatz erhalten, die – je nach Bun- desland, in dem sie ihre Hochschulzugangsberechtigung erworben hatten – Noten zwischen 1,0 und 1,2 aufwie- sen. Im Auswahlverfahren der Hochschulen verlief die tatsächliche Auswahlgrenze allerdings an acht von den 35 Medizin-führenden Hochschulen bei 2,0 oder schwä- cher, wobei die niedrigsten Auswahlgrenzen bei 2,4, 2,5 und 2,8 lagen. Diese Bewerber hatten neben der Hoch-
einem landesspezifischen Quotienten. Dieser richtet sich gem. Art. 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StV 2008 zu einem Drittel nach dem Anteil des Landes an der Ge-samtzahl der Bewerber für den betreffenden Studiengang (Bewerberanteil) und zu zwei Dritteln nach seinem Anteil an der Gesamtzahl der Achtzehn- bis unter Einundzwanzigjährigen (Bevölkerungsanteil); für die Länder Berlin, Bremen und Hamburg werden die sich danach ergeben- den Quoten um drei Zehntel erhöht.
29 Bahro/Becker/Hitpass (Fn. 10), S. 20 ff.
30 O. Köller, Abitur und Studierfähigkeit, in: J. Asdonk/
S. U. Kuhnen/P. Bornkessel, Von der Schule zur Hochschule,
2013, S. 25 (25 f.).
31 Köller (Fn. 30), S. 26; ders., Wege zur Hochschulreife und
Sicherung von Standards, in: D. Bosse, Standardisierung in der gymnasialen Oberstufe, 2013, S. 15 (16).
schulzugangsberechtigung noch weitere der von den Hochschulen erwünschten Kriterien nachgewiesen. In der Wartezeitquote lag die Zulassungsgrenze bei 14 Halbjahren,32 also sieben Jahren Wartezeit. Dafür hatten die Bewerber faktisch die Garantie auf eine Zulassung.
Das Urteil des BVerfG nennt lediglich die Auswahl- grenzen in der Abiturbesten- und der Wartezeitquote, die moderateren Grenzen des Auswahlverfahrens der Hochschulen ließ es bemerkenswerterweise unerwähnt; infolgedessen konzentrierte sich auch die mediale Be- richterstattung nur auf diese Auswahlgrenzen – die durchaus bewerberfreundlicheren Auswahlverfahren der Hochschulen und die Zulassungsgarantie spielten keine Rolle.
5. Ausgangsverfahren
Die beiden Kläger des Ausgangsverfahrens konnten mit den Noten der Hochschulzugangsberechtigung von 2,0 und 2,6 sowie jeweils einer Berufsausbildung erst nach sieben Jahren den erwünschten Studienplatz erhalten.33 Während dieser Wartezeit erhoben sie Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht. Nachdem das OVG NRW eine Änderung des Verfahrens im Eilrechtsschutz abgelehnt hatte, strengte das VG Gelsenkirchen eine konkrete Normkontrolle nach Art. 100 GG an, über die das BVerfG am 19. Dezember 2017 entschieden hat.34
III. Vom „Abitur“ zum „Aditur“: Anerkennung ver- änderter Realitäten und Ausdifferenzierung der Aus- wahlverfahren
1. Ausganspunkt der gerichtlichen Erwägungen
Das bisherige Zulassungsverfahren ist vor dem Hinter- grund der tatsächlichen Entwicklungen „aus den Fugen geraten“: die Abiturbestenquote erfüllte ihren Zweck nur bedingt – denn in fast allen Bundesländern lag die Zahl der Bewerber mit 1,0 höher als die Zahl der zur Verfü- gung stehenden Plätze, so dass im Ergebnis die nachran- gigen Kriterien entschieden, wer zugelassen wurde.35 Im Auswahlverfahren der Hochschulen war durch die lan- desrechtlich unterschiedlich interpretierte Maßgabe des „maßgeblichen Einflusses“ der Abiturnote ein Teil der Bewerber im Ergebnis recht stark an die Abiturnote
- 32 Als nachrangiges Kriterium war mindestens eine Note von 2,9 erforderlich; mit der Note 3,0 hätte die Wartezeit also bei 15 Halbjahren gelegen.
- 33 Eine Person bewarb sich nicht mehr weiter.
- 34 Vgl. M. Bode, Vorlagepflicht nach Art. 100 GG und vorläufigerRechtsschutz, VerwArchiv 2016, 206 (206 ff.).
- 35 Vgl. „Abi mit 0,7 — aber keinen Studienplatz“, Süddeutsche Zei-tung, 25.1.2011.
- 36 M.w.N. Bode (Fn. 20), § 32 Rn. 201.
gebunden,36 soweit nicht wenige Hochschulen sogar gänzlich auf die Heranziehung eines weiteren Auswahl- kriteriums verzichteten. In der Wartezeitquote schließ- lich vertrauten einige Bewerber auf ihre Zulassungsga- rantie – nur bewarb sich stets auch eine unvorhersehbar große Anzahl von Konkurrenten, so dass manch ein Bewerber der Auswahlgrenze „hinterherwartete“. Vor allem aber stand der gestiegenen Zahl an Bewerbern eine gleichbleibende Menge an Studienplätzen gegen- über.
Vor diesem Hintergrund fordert das BVerfG eine Korrektur der Hochschulzulassung. Ein solcher Finger- zeig war im Ergebnis wohl auch nur durch das Gericht selbst möglich, da sich die Staatsverwaltung der schuli- schen Hochschulzugangsberechtigung traditionell einen hohen Stellenwert beimaß,37 dessen Preisgabe rechtlich risikoreich und politisch wohl unerwünscht gewesen wäre.
2. Eignungsorientierung des Auswahlverfahrens
Das Gericht stellt klar, dass die Vergabe der Studienplät- ze „im Falle der Knappheit nach Regeln erfolgen“ müsse, „die sich grundsätzlich an dem Kriterium der Eignung orientieren.“ Damit etabliert das Gericht Eignung als neues Richtmaß des Zulassungsrechts. „Die für die Ver- teilung relevante Eignung bemisst sich […] an den Erfor- dernissen des konkreten Studienfachs und den sich typi- scherweise anschließenden beruflichen Tätigkeiten“. Eine danach „differenzierende Kriterienbildung“ sei „verfassungsrechtlich geboten, wenn sich nur so das konkret erforderliche Eignungsprofil hinreichend abbil- den“ lasse. Dies nimmt das Gericht für die Medizin offenbar an, denn es fährt fort: „Dafür müssen auch praktische und sozial-kommunikative Fähigkeiten sowie bereits in medizinischen Berufen erworbene Qualifikati- onen eine Rolle spielen.“ Hier stellt sich – so wünschens- wert ein sozial-kommunikativer Arzt sein mag – die Fra- ge, mit welcher Berechtigung das Gericht hier in das Ausbildungsziel der Humanmedizin eingreift.38 Sollten so also über Jahrzehnte die falschen Ärzte ausgebildet worden sein?
Die bisher im Auswahlverfahren angewandten Aus- wahlkriterien (Gesamtnote der Hochschulzugangsbe-
37 Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Reform des Hochschul- zugangs, Drs. 5920/04, 30.1.2004, 39.
38 Gem. der insofern maßgeblichen Approbationsordnung ist das Ziel der ärztlichen Ausbildung „der wissenschaftlich und prak- tisch in der Medizin ausgebildete Arzt, der zur eigenverantwort- lichen und selbständigen ärztlichen Berufsausübung, zur Wei- terbildung und zu ständiger Fortbildung befähigt ist“. Immerhin nachgeordnet soll die Ausbildung „auch Gesichtspunkte ärztlicher Gesprächsführung“ umfassen, vgl. § 1 Abs. 1 ÄApprO.
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rechtigung, gewichtete Einzelnoten, fachspezifische Stu- dierfähigkeitstests, fachnahe Ausbildungen und Aus- wahlgespräche) sind aus Sicht des Gerichts „je für sich als Indikatoren für eine an der Eignung orientierte Aus- wahl von Verfassungs wegen vom Grundsatz her nicht zu beanstanden“. Dies gilt insbesondere auch für die Ge- samtnote der Hochschulzugangsberechtigung, die als valider Prädiktor des Studienerfolges anerkannt wird,39 allerdings „bereinigt“ werden muss (siehe III.). Im Be- reich der medizinischen Studiengänge besteht bereits eine Reihe von eignungsdiagnostischen Verfahren. So werden Tests angeboten, in denen neben praktischen Fä- higkeiten auch berufsbezogene Kenntnisse abgefragt werden.40 Dem Umstand, dass hier – insbesondere auch in Bezug auf andere örtlich zulassungsbeschränkte Stu- diengänge – noch einiges unerforscht ist, trägt das Ge- richt Rechnung, und erlegt dem Gesetzgeber eine Beob- achtungspflicht auf.
Indem das Gericht die Orientierung an der Eignung betont, verabschiedet es sich impliziert von der Wer- tung, dass allein die Hochschulzugangsberechtigung selbst einen unmittelbaren Anspruch auf Aufnahme des Studiums begründe. Ein solcher Anspruch unterliegt bei vorliegender Zulassungsbeschränkung nur noch der Eignung, die ihrerseits zwar die Hochschulzugangsbe- rechtigung voraussetzt, aber eben mehr erfordern kann als diese. Über die Aufnahme des Studiums entscheidet weniger die „abgebende Stelle“ im Rahmen des „Abi- turs“ als vielmehr die aufnehmende Hochschule; es wird also eine Art „Aditur“ erteilt.
3. Gleichmäßige Gewichtung der Auswahlkriterien
Die „Öffnung des Auswahlverfahrens“ für die Einbe- ziehung weiterer Kriterien liegt nach Ansicht des BVerfG „nicht allein in der freien Entscheidung des Gesetzgebers, sondern ist zur Gewährleistung einer gleichheitsgerechten Zulassung zum Studium in gewissem Umfang auch verfassungsrechtlich gebo- ten.“ Hier nimmt das Gericht die zentrale Aussage der zweiten Numerus clausus-Entscheidung wieder auf, nach welcher der Grundsatz der Chancenoffenheit gebiete, „den prinzipiellen Ausschluss ganzer Grup- pen geeigneter Bewerber durch starre Grenzziehun- gen zu vermeiden sowie für angemessene Ausweich-
39 Vgl. hierzu G. Kadmon/F. Resch/R. Duelli/M. Kadmon, Der Vorhersagewert der Abiturdurchschnittsnote und die Prognose der unterschiedlichen Zulassungsquoten für Studienleistung und ‑kontinuität im Studiengang Humanmedizin, GMS Zeitschrift für Medizinische Ausbildung 2014, 1 (1 ff.); Köller (Fn. 30), S. 44
möglichkeiten Sorge zu tragen“. Die Note allein darf nicht das Gros der hochschulzugangsberechtigten Bewerber vom Studium ausschließen.
Ein Kriterium, das „keine hinreichend tragfähigen Vorhersagen zulässt oder das nur Teilaspekte der in ei- nem Studienfach relevanten Anforderungen abbildet“, dürfe „nicht als einziges Auswahlkriterium“ vorgesehen werden, „weil es sonst diese Schwächen bei der Auswahl verabsolutierte“. Schwächen eines Kriteriums kann der Gesetzgeber dadurch ausgleichen, dass er zusätzlich ein anderes Kriterium heranzieht, das ebenfalls auf die Eig- nung hinweist.“ Die herangezogenen Kriterien „müssen aber in ihrer Gesamtheit Gewähr für eine hinreichende Vorhersagekraft bieten.“
Zwar habe der Gesetzgeber bei der Bestimmung der für die Auswahl maßgeblichen Kriterien „einen sehr weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum“. In Bezug auf die Gewichtung der Auswahlkriterien sei aber sicherzustellen, dass „die Gesamtsicht der Eignungskri- terien hinreichend breit angelegt ist“: Um der begrenz- ten Aussagekraft der jeweiligen Auswahlkriterien zu be- gegnen, muss also eine Vielfalt von Kriterien angewandt werden. Diese dürfen weder ausschließlich noch größ- tenteils schulnotenbasiert sein. Es sei dem Gesetzgeber selbst überlassen, ob er das Verfahren – wie gegenwärtig – in zentrale und dezentrale Teile aufgliedert und in wel- chen Quoten er welche Kombinationen vorsieht. Die Feinjustierung, etwa die Auswahl der konkreten Kriteri- en aus dem vorzugebenden Katalog, obliegt – „auch in Anknüpfung an von ihnen verantwortete Profilbildun- gen des Studiums (vgl. Art. 5 Abs. 3 GG)“ – den Hochschulen.
Eine Beschränkung auf sechs Wünsche im Auswahl- verfahren der Hochschulen sei verfassungsrechtlich hin- zunehmen, da „sie durch die Dezentralität im derzeiti- gen System bezweckte Mehrgleisigkeit […] die Hoch- schulen vor erhebliche Herausforderungen“ stelle.41 Al- lerdings sei es „verfassungsrechtlich geboten […], dass bei Gesamtsicht nur ein hinreichend begrenzter Anteil der Studienplätze jeder Hochschule von einem hohen Grad der Ortspräferenz abhängt.“ Auch bei aufwendigen Auswahlmechanismen darf der Grad der Ortspräferenz nur auf einen Teil der jeweils zu vergebenden Studien- plätze angewandt werden.
m.w.N.; S. Gentsch, Richtig ausgewählt? 2009, S. 75 ff.
40 Zu nennen sind etwa der TMS, der HAM Nat und der Studierfä-
higkeitstest der Uni Münster.
41 Unzulässig sei die Beschränkung allerdings in der Abiturbesten-
und in der Wartezeitquote.
4. Wesentlichkeitstheorie und Ausgestaltungsbefugnis der Hochschulen
Mit der Entscheidung schrieb das Gericht auch die von ihm maßgeblich geprägte Wesentlichkeitstheorie fort,42 nach der wesentliche, grundrechtsrelevante Fragen nur vom parlamentarischen Gesetzgeber in Gesetzesform getroffen werden dürfen.43
Der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts verlange, „ge- setzliche Sicherungen dafür, dass die Hochschulen Eig- nungsprüfungen in standardisierten und strukturierten Verfahren“ durchführen. Dabei genüge es, „wenn der Gesetzgeber die Hochschulen zu einer transparenten ei- genen Standardisierung und Strukturierung verpflichtet, auch um der Gefahr diskriminierender Anwendung vorzubeugen“.
Neu ist, dass das Gericht ausdrücklich anerkennt, dass der Gesetzgeber den Hochschulen „gewisse Spielräume für die Konkretisierung der gesetzlich der Art nach festgelegten Kriterien“ zur Beurteilung der Eignung einräumen dürfe.44 „Den Hochschulen steht nach Art. 5 Abs. 3 GG das Recht zu, ihren Studiengang nach eigenen wissenschaftlichen Kriterien zu prägen und dabei eigene Schwerpunkte zu setzen.“ Diese Konkretisierungsbefugnis schlage sich in den Ausge- staltungsmöglichkeiten hochschuleigener Eignungs- prüfungen nieder. Die Eignung sei allerdings „auch im Lichte der fachlichen Ausgestaltung und Schwer- punktsetzung unter Einbeziehung hochschulspezifi- scher Profilbildungen“ zu beurteilen.
5. Abkehr von der Wartezeit
Die Bildung einer Wartezeitquote ist nach dem BVerfG „an sich verfassungsrechtlich zulässig“, jedoch nicht „verfassungsrechtlich geboten“. Sie sei geeignet, Schwächen der in anderen Quoten verwendeten Eig- nungskriterien abzumildern. Da sich die Quote aber negativ auf die Zulassungschancen „besser qualifi- zierter Bewerber in den anderen Quoten“ auswirke, sei sie höchstens bis zum Anteil von 20 Prozent der Plätze in den Hauptquoten verfassungsgemäß.
- 42 Vgl. statt vieler BVerfGE 34, 165 (192 f.); 40, 237 (248 f.); 134, 141 (184); 141, 143 (170).
- 43 Bereits in der ersten Numerus clausus-Entscheidung hatte das BVerfG ausgeführt, dass es „wegen der einschneidenden Bedeu- tung der Auswahlregelung“ Aufgabe des Gesetzgebers sei, „die Art der anzuwendenden Auswahlkriterien und deren Rangver- hältnis untereinander selbst festzulegen.“ BVerfGE 33, 303 (345). F. Ossenbühl, in: J. Isensee/P. Kirchhof, HdbStR, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 101 Rn. 14 ff.
- 44 Dies rechtfertige sich „durch den direkten Erfahrungsbezug der Hochschulen und die grundrechtlich geschützte Freiheit
In ihrer derzeitigen Ausgestaltung genüge die Wartezeit den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Sie könne ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie „nicht über- mäßig lange“ dauert und sei auf maximal 7 Halbjahre zu begrenzen. Entsprechende Limitierungen existieren etwa in Bremen, Schleswig-Holstein und Hamburg.45 Diese Regelungen führen freilich nicht zu einer Verkür- zung der Wartezeit, da die Kapazität, also die Zahl der Plätze, konstant bleibt; vielmehr verlagern sie die Aus- wahlentscheidung auf die nachrangigen Kriterien. Dies bewirkt lediglich, dass zwischen Personen, die die Kappungsgrenze überschritten haben, nicht mehr entscheidet, wer die längere Wartezeit aufweist, son- dern dass nachrangig auf die Qualifikation, dann auf Dienst und Los abgestellt wird.46 Dies wirft die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Quote auf, die je nach Ausgestaltung entweder dauerhaft ausschließend wir- ken oder sich als eine Art qualifizierte Losquote ent- puppen könnte.
Bislang hatten Bewerber faktisch eine Zulassungsga- rantie. Zwar begründete das BVerfG nie ausdrücklich das Erfordernis einer solchen Gewähr; vielmehr hatte es bereits früh darauf hingewiesen, dass Teilhaberechte „unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen“ stehen, „was der Einzelne vernünftigerweise von der Ge- sellschaft beanspruchen kann,“ und betonte in der zwei- ten Numerus clausus-Entscheidung 1977, „schon begriff- lich“ schließe „die Einräumung von Chancen das Risiko des Fehlschlages ein“.47 Dennoch wies das Verfahren in der Praxis keine endgültige Ausschlussmöglichkeit auf, so dass spätestens über die Wartezeit eine Zulassung er- folgen konnte.48 Eine Regelung des besonderen Aus- wahlverfahrens, die einen entsprechenden Ausschluss zur Folge gehabt hätte, wurde abgeschafft, bevor sie erst- mals hätte angewandt werden müssen.
In Bezug auf die Möglichkeit eines Verfahrensaus- schlusses wird das BVerfG nun deutlicher: Das Teilha- berecht reiche „nicht so weit, dass jeder und jede Hochschulzugangsberechtigte – unabhängig vom Er- gebnis der schulischen Leistungen und der sonstigen fachspezifischen Qualifikation – beanspruchen könn-
von Forschung und Lehre, was die eigene Schwerpunktsetzung
einschließt und damit auch eine Profilbildung ermöglicht“.
45 Maximal acht Semester Wartezeit: § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BremHZG;
§ 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 HZG S‑H. Bis zu zehn Halbjahre: § 10 Abs. 5
Universitäts-Zulassungssatzung Uni HH.
46 Bode (Fn. 12), § 11 Rn. 16.
47 BVerfGE 33, 303 (333); Depenheuer (Fn. 6), § 269 Rn. 9, 48.
48 Eine Ausnahme kann in Bezug auf die Angehörigen bestimmter
Vorabquoten gelten, etwa die Zweitstudienbewerber, für deren Zulassung die Wartezeit keine Rolle spielt. Vgl. Bode (Fn. 20), § 32 Rn. 133 ff., 187 ff.
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te, die Zulassung zu dem gewählten Studium tatsäch- lich eines Tages zu erhalten“. In Fächern, „in denen die Anzahl an Bewerbungen das Angebot an Studienplät- zen weit übersteigt, kann der Teilhabeanspruch die tatsächliche Studienzulassung von vornherein nicht garantieren“. Bei der Vergabe knapper unteilbarer Gü- ter könne „jedes Auswahlsystem – wie immer es aus- gestaltet ist – nur einem Teil der Bewerberinnen und Be- werber reale Aussichten eröffnen“.
„Nicht jeder grundsätzlich hochschulreife Bewerber“ müsse „den Anspruch auf Zulassung zu seinem Wunsch- studium im Ergebnis tatsächlich realisieren können.“ Die Kehrseite der Aufhebung der Zulassungsgarantie ist freilich, dass das Verfahren „harte Kanten“ aufweist und einen Teil der Bewerber endgültig oder zumindest dau- erhaft vom gewünschten Studium ausschließen wird. Das „Risiko des Fehlschlags“ wirft damit die nicht ganz so einfach zu beantwortende Frage auf, wer und wann unter welchen Bedingungen darüber entscheiden darf, dass ein Bewerber dauerhaft von seinem Wunschstudi- um ausgeschlossen sein soll.49
6. Ablehnung der Drohung mit dem originären Teilha- berecht
und der Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten für die verschiedenen Studienrichtungen folgt.“ Dieser käme jedoch erst „bei evidenter Verletzung jenes Verfas- sungsauftrages in Betracht“ und sei damals nicht fest- stellbar gewesen.52
Die Diskussion über originäre oder absolute Leistungs- rechte war in den 1970er Jahren – nicht zuletzt in Wechsel- wirkung mit den gesellschaftlichen Begleitumständen – en vogue.53 In grundrechtsdogmatischer Hinsicht begegnet diese Rechtsfigur zumindest im Bereich des Art. 12 GG je- doch schwerwiegenden Bedenken und wurde in der Litera- tur mehrheitlich abgelehnt. Die Aufgabe der Ausgestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Fürsorge obliegt primär dem legitimierten Gesetzgeber.54
Von der Idee des originären Leistungsrechts distan- ziert sich das BVerfG nun deutlich und führt aus, das Teilhaberecht reiche „nicht so weit, dass es einen indivi- duellen Anspruch begründen könnte, Ausbildungskapa- zitäten in einem Umfang zu schaffen, welcher der jewei- ligen Nachfrage gerecht wird.“ Die Bemessung der Aus- bildungskapazitäten obliege der Entscheidung des de- mokratisch legitimierten Gesetzgebers.
IV. Utopie der Gleichheit: Erfordernis einer Bereini- gung der Hochschulzugangsberechtigungen
1. Kernaussage
Überraschender und von ihrer Bedeutung her tiefgreifen- der als die übrigen Aussagen der Entscheidung sind die Pas- sagen zum Erfordernis der Umrechnung der Abiturnoten, soweit diese im Rahmen der Auswahl oder der Vorauswahl, herangezogen werden: „Mit dem Recht auf gleiche Teilha- be“ sei es „nicht vereinbar“, dass der Gesetzgeber „im Aus- wahlverfahren der Hochschulen eine Berücksichtigung von Abiturnoten vorsieht, ohne zumindest deren annähernde länderübergreifende Vergleichbarkeit – gegebenenfalls durch Ausgleichsmechanismen – sicherzustellen.“ Anders als in der Abiturbestenquote sind im Auswahlverfahren der Hochschulen keine Länderquoten vorgesehen, berücksich- tigt wird allein die von der Schule ausgestellt nominelle Note (siehe II.3). Durch diese Gleichbehandlung der Noten
53 1971 hatte sich auch die Staatsrechtslehrertagung mit der Frage befasst. D. Schimanke, BVerfG und numerus clausus, JR 1973, 45 (46); H. M. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 173 f.
54 M.w.N. Heinig (Fn. 53), S. 374 ff.; H. Dreier, Grundrechtsdurch- griff contra Gesetzesbindung?, Die Verwaltung 2003, 105 (115 f.); R. Breuer, in: J. Isensee/P. Kirchhof, HdbStR, Bd. 8, 3. Aufl. 2010, § 170 Rn. 106.
Auch in anderen Punkten schafft das Gericht beachtliche Klarheit – und distanziert sich mit feinem Florett von bisherigen Ansätzen. Dies betrifft zum einen die Klassi- fizierung der Teilhaberechte. Noch 1972 hatte das BVerfG entschieden, dass das Freiheitsrecht „ohne die tatsächli- che Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos“ wäre.50 Neben der abwehrrechtlichen Kompo- nente kommt der Berufsfreiheit also auch eine leistungs- rechtliche Funktion zu. Soweit sich dieser Anspruch auf bereits bestehende Studienplatzkontingente bezieht, entwi- ckelten sich diese Ausführungen des Gerichts zum Schul- beispiel für ein derivatives Teilhaberecht und für einen Ein- griff durch die Verletzung von Leistungspflichten.51
Deutlich mehr Brisanz lag in der Andeutung des Ge- richts, ob neben dem derivativen Recht auf Teilhabe an den bestehenden Kapazitäten sogar ein Anspruch auf Schaffung weiterer Kapazitäten, also ein originäres oder absolutes Teilhaberecht, folgen könne. Es „ließe sich fra- gen, ob aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen
- 49 Vgl. hierzu grds. H. Bethge, in: J. Isensee/P. Kirchhof, HdbStR, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 203.
- 50 BVerfGE 33, 303 (330 f.).
- 51 Vgl. F. Hufen, Staatsrecht II, 3. Aufl. 2011, § 8 Rn. 14. Die Beson-derheit des derivativen Teilhabeanspruchs ist vor allem darin zu sehen, dass der Zulassungsanspruch unabhängig von der relativen Stellung des Klägers im Vergleich zu anderen Bewerbern durch- setzbar ist. BVerfGE 39, 258 (270).
- 52 BVerfGE 33, 303 (333).
werden aus Sicht des BVerfG „erhebliche Ungleichheiten hingenommen“. Denn „nach dem derzeitigen Stand der Entwicklung der Abiturnoten können die Hochschulzu- gangsberechtigungen der Länder nicht als aus sich selbst heraus hinreichend vergleichbar angesehen werden.“
Diese Aussage knüpft an eine traditionsreiche, auch identitätspolitisch aufgeladene Diskussion über „Gleich- heit im Bundesstaat“ an.55 In bildungspolitischer Hin- sicht steht dahinter die Frage, in welchem Umfang die Abiturnote überhaupt als Prädiktor für Studienerfolg nutzbar ist (siehe II.). Zudem geht es um Leistungsunter- schiede zwischen unterschiedlichen Bundesländern ebenso wie zwischen verschiedenen Schulformen, etwa schulischen und beruflichen Gymnasien. In rechtsdog- matischer Hinsicht ist fraglich, in welchem Umfang die unitarisierende Wirkung von Bundesgrundrechten in die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern hineinwirken darf. Besteht außerhalb des ausstellenden Bundeslandes eine Verpflichtung zur Umrechnung bzw. Anpassung von Noten, so hat dies faktisch deutliche Auswirkungen auf die Bildungshoheit der Länder.
Vor diesem Hintergrund ist zunächst zu untersu- chen, womit das BVerfG einen Gleichheitsverstoß be- gründet (2.). Sodann ist auf den Stand der empirischen Bildungswissenschaft einzugehen (3.) und die Forderung auf „Bereinigung“ der Schulnoten näher zu analysieren (4.).
2. Die „drei Säulen“ der Unvergleichbarkeit
Worauf stützt das Gericht diese in ihrer Aussage gewich- tige These der Unvergleichbarkeit? Die erste „Säule“ sind Bewertungen Dritter, etwa des Gesetzgebers selbst sowie des Wissenschaftsrates. So folge aus der ununterbroche- nen Anwendung der 1976 als Übergangslösung konzi- pierten Abiturbestenquote, dass der Gesetzgeber selbst bislang nicht davon ausgehe, „die Noten der Hochschul- zugangsberechtigung seien vergleichbar“. Dem wider- spricht jedoch bereits der Vortrag der Länder im Verfah- ren, vor allem aber auch der explizite Verzicht auf Lan- desquoten im Auswahlverfahren der Hochschulen.
In diesem Zusammenhang zitiert das Gericht unter anderem56 die Empfehlungen des Wissenschaftsrates aus
- 55 Vgl. m.w.N. S. Boysen, Gleichheit im Bundesstaat, 2005.
- 56 Weiterhin wird ein Protokoll des Ausschusses für Bildung, For-schung und Technologiefolgenabschätzung aus dem Jahr 2004 zi- tiert. Hier taucht in der Tat im Vortrag einer Fraktion die Aussage auf, dass die Schulabschluss-noten „nur begrenzt vergleichbar“ seien. Eine valide Begründung fehlt allerdings. BT-Drs. 15/3475, 5, 11.
- 57 Wissenschaftsrat (Fn. 37), S. 40 f.
- 58 Vgl. O. Köller, Standardsetzung im Bildungssystem, in: H. Rein-ders, Empirische Bildungsforschung, Strukturen, 2. Aufl. 2015, S. 197 (198).
dem Jahr 2004, die ohne weitere Nachweise feststellen: „Über diese engere Abstimmung von Schulausbildung und allgemeinen Anforderungen des Hochschulstudi- ums hinaus müssen Vergleichbarkeit und Transparenz der Durchschnittsnoten erheblich verbessert werden.“ Hierzu forderte der Wissenschaftsrat die „Standardisie- rung der schulfachlichen Angebotsstruktur“, eine klare- re Gewichtung der nachzuweisenden Wissensbestände sowie die Einführung von ländereinheitlichen Zentralabitur-Prüfungen.57
Das Gericht geht allerdings nicht darauf ein, dass die Kultusminister dieser Forderung bereits weitgehend nachgekommen sind. So haben sie in den vergangenen Jahren Maßnahmen veranlasst, um die Vergleichbarkeit der in der gymnasialen Oberstufe erworbenen Zeugnis- se der Allgemeinen Hochschulreife zu sichern und auf die Vereinheitlichung der Prüfungsmaßstäbe hinzuwir- ken.58 Die KMK novellierte im Dezember 2016 die Ver- einbarung über die Abiturprüfung der gymnasialen Oberstufe und sieht darin unter anderem Normierungen für die Bearbeitungszeit der Aufgaben in der schriftli- chen und der mündlichen Abiturprüfung vor.59 Über- dies wurde auf der Basis der Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife, die für die zentralen Fächer Deutsch, Mathematik und die fortgeführte Fremdspra- che (Englisch/Französisch) vorliegen, ein gemeinsamer Abituraufgabenpool entwickelt. Dieser stand den Län- dern erstmals in der Abiturprüfung 2017 zur Verfügung; spätestens für Schüler, die 2019 in die Qualifikationspha- se eintreten, haben sich die Länder zu dessen Umsetzung verpflichtet.60 Alle Länder haben diesem Pool Aufgaben entnommen. Die Aufgaben sollen sich normierend auf die Abituraufgaben in den übrigen Fächern wie auch auf die Klausuren in der Qualifikationsphase der gymnasia- len Oberstufe auswirken.61
Als zweite „Säule“ stützt sich das Gericht auf einen Vergleich der durchschnittlichen Länderabiturdurch- schnitte. „Der Ländervergleich der Abiturergebnisse zeigte zuletzt eine Spanne des Notenmittels zwischen 2,16 und 2,59 und damit von 0,43 Notenstufen zwischen dem besten und dem schwächsten Landesschnitt“. Bei der Notenverteilung, die das Gericht unter Berufung auf
59 KMK-Beschl. v. 13.12.1973 i.d.F. v. 8.12.2016, verfügbar unter: www.kmk.org.
60 Vgl. KMK-Beschl. v. 7.7.1972 i.d.F. v. 8.12.2016, verfügbar unter: www.kmk.org. Vgl. auch M. Neumann/G. Nagy/U. Trautwein/
O. Lüdtke, Vergleichbarkeit von Abiturleistungen, ZfE 2009, 691 (697).
61 Auch die Abschaffung des Kurssystems in bislang 11 Bundes- ländern und die Vorgabe konkreter Fächer anstatt der Wahl- möglichkeit von Kursen aus Fächergruppen sollen der besseren Vergleichbarkeit dienen. D. Bosse, Die gymnasiale Oberstufe unter Standardisierungsdruck, in: dies. (Fn. 31), S. 69 (75).
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die Werte der KMK ausschließlich für den deutschen Bildungsraum untersucht, stellt es ebenfalls „erhebliche Unterschiede“ fest. „Die Anteile der Abiturnoten im Be- reich zwischen 1,0 und 1,9 bewegten sich zwischen 38,8 % inThüringenund17,2%inNiedersachsen[…].“62Diese Unterschiede sind tatsächlich über die Jahre relativ kon- stant; sie besagen aber lediglich, dass Notenunterschiede bestehen, lassen jedoch keinen Rückschluss auf Leis- tungs- oder Bewertungsunterschiede zu.
So bleibt unklar, warum der Landesdurchschnitt der Hochschulzugangsberechtigungen bundesweit nahezu gleich sein sollte: Abweichende Werte deuten nicht zwangsläufig auf unterschiedliche Benotungspraktiken hin, sondern können auch aus verschiedenen schulpoli- tischen Grundentscheidungen resultieren, etwa der Durchlässigkeitsquote zum Abitur. Ein Blick auf die Bundesländer verdeutlicht hier tatsächlich Unterschie- de. Während in Hamburg der Anteil der Absolventen von allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, die eine allgemeine Hochschulreife erwarben, 2015 bei 57,7 Prozent lag, machte er in Bayern nur 31,6 Prozent aus. Der bundesweite Mittelwert lag bei 41,2 der Gesamtbe- völkerung.63 Es erscheint naheliegend, dass Personen, die mit spezieller Förderung zum Abitur begleitet wer- den und dieses unter Umständen knapp erreichen, den Schnitt des Landes eher absenken als wenn bereits auf dem Weg zum Abitur strengere Bewertungsmaßstäbe angelegt werden.64
Die „empirische[n] Studien“, die das Gericht – als dritte „Säule“ – heranzieht, beschränken sich auf einen Aufsatz aus dem Jahr 2009, der am Beispiel der Mathe- matik- und Englischleistungen Unterschiede in der Be- wertung zwischen Abiturienten aus Hamburg und Ba- den-Württemberg untersucht hat. Er kommt zum Ergeb- nis, dass in Mathematik die Hamburger Abiturienten „bei vergleichbaren Leistungen […] bessere Fachnoten“ erhielten, was auf eine unterschiedliche Beurteilung hin- weist; im Fach Englisch ließen sich dagegen „keine Un- terschiede in der Bewertungsstrenge“ feststellen. Zu- gleich zeigte die Studie auf, dass hinter den unterschied- lichen Noten – im Fach Mathematik – zwischen Ham- burger und Baden-Württemberger Schülern derartig große Leistungsunterschiede lagen, dass eine „leistungs- bezogene Vergleichbarkeit“ zulasten der Hamburger Schüler „kaum noch gegeben“ sei.65 Mit anderen Wor-
- 62 Vgl. KMK, Abiturnoten 2015 (Schuljahr 2014/2015), 9.12.2016, verfügbar unter: www.kmk.org.
- 63 Statistische Veröffentlichungen der KMK, Dokumentation Nr. 211, Dez. 2016, S. 362, Tabelle C.III 1.3.2a.
- 64 Vgl. zur Heterogenität allein der Schülerschaft im Vergleich zwischen Hamburg und Baden-Württemberg U. Trautwein/
O. Köller/R. Lehmann/O. Lüdtke, Öffnung von Bildungswegen,
ten: Soweit in Mathematik die wahren Leistungen ge- messen würden, hätten Hamburger Schüler 2009 zu- recht wesentlich schlechtere Karten bei der Hochschul- zulassung gehabt als die Konkurrenten aus Baden-Würt- temberg, bei den Englischnoten allein wären die Chancen aufgrund etwa gleichwertiger Leistungen zu- recht ungefähr gleich gewesen.
Zu ergänzen ist, dass diese Kritik auch mit der ver- stärkt in Breitenmedien aufgegriffenen Klage über ver- meintliche Ungerechtigkeiten des Föderalismus einher- geht. So hatte Der Spiegel die Thematik Ende April 2017 ineinemLeitartikelunterdemTitel„GlücksspielAbitur, Deutschlands ungerechte Schulen“ aufgegriffen und war zu dem Ergebnis gekommen, das Abitur sei aufgrund seinerlongitudinalenAusrichtung„dasbesteMittel“zur Prognose der Studieneignung, „das wir haben“. Auf- grund seiner „undurchsichtigen Abiturpraxis“ aber eben „nicht gut genug“. Unter anderem hatte hier ein pensio- nierter Mathematiklehrer anhand des fiktiven Schülers „Paul“, der extrem positive Leistungen in Mathe und Deutsch, im Übrigen aber über mangelhafte Noten ver- fügte, nachzuweisen versucht, dass mit derselben Leis- tung in manchen Ländern nicht einmal eine Zulassung zum Abitur möglich war, in anderen ein Abitur mit Note „1“ vergeben wurde.66 Diese hypothetische Überlegung übersieht allerdings sowohl die Beurteilungsspielräume der Lehrer als auch das Adaptionsvermögen der Schüler an die Regelungen, denen sie ausgesetzt sind.
Nach wie vor ist also offen, was konkret die Unver- gleichbarkeit der Noten ausmacht. Zwar ist das BVerfG keine Tatsacheninstanz – diese Aufgabe fällt den Fachge- richten zu –, doch darf es gem. § 26 Abs. 1 BVerfGG den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis er- heben. Angesichts der Tragweite seiner Entscheidungen ist es aber doch bedenklich, dass die Untersuchung der tatsächlichen Umstände, wie in der Literatur kritisiert wird, häufig „halbherzig und in kaum überzeugender Weise“ erfolgt.67 Dies ist deshalb von Bedeutung, weil sich allein hieraus ergibt, wovon der Gesetzgeber künftig die Noten bereinigen soll.
3. Analyse der fehlenden Vergleichbarkeit in der Erzie- hungswissenschaft
Es stellt sich die Frage, ob sich aus den – seit der Entste- hung des zitierten Aufsatzes – fortgeschrittenen Erkennt-
erreichtes Leistungsniveau und Vergleichbarkeit von Abschlüssen,
in: dies., Schulleistungen von Abiturienten, 2007, S. 11 (14 f.).
65 Neumann/Nagy/Trautwein/Lüdtke (Fn. 60), 691, 707.
66 „Die Lotterie des Lebens“, Der Spiegel Nr. 18, 29.4.2017, S. 20 ff. 67 S. Brink, Tatsachengrundlagen verfassungsgerichtlicher Judikate,
in: H. Rensen/demselb., Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 1, 2009, S. 1 (26).
nissen der Erziehungswissenschaft Weiteres ergibt. Ter- minologisch sollte dabei zwischen Leistungs‑, Noten- und Bewertungsunterschieden differenziert werden. Während Leistungsunterschiede „tatsächlich vorhande- ne und mit standardisierten Leistungstests erhobene Unterschiede in den Kompetenzen“ von Schülern bezeichnen, beziehen sich Notenunterschiede lediglich auf die Notenverteilung, ohne dass Leistungsunterschie- de berücksichtigt werden. Demgegenüber beziehen sich Bewertungsunterschiede auf die unterschiedlichen Beurtei- lungen identischer Leistungen.68 Die vom Gericht im Rah- men der ersten „Säule“ herangezogenen Quellen stellen pauschal auf eine nicht näher unterscheidbare Unvergleich- barkeit ab; mit dem zweiten Argumentationsstrang werden bloße Notenunterschiede nachgewiesen.
Aus Sicht der Erziehungswissenschaft lässt sich zu- nächst festhalten, dass für das Abitur bis zur Jahrtau- sendwende – dem Zeitpunkt der Etablierung Empiri- scher Bildungswissenschaft als eigene Disziplin69 – kaum Untersuchungen existierten, „die verlässliche Schlüsse über länderübergreifende Leistungs- und Bewertungs- unterschiede am Ende der gymnasialen Oberstufe“ ge- statten.70 Die – auch international – vergleichende Schul- leistungsforschung bildet „den Ankerpunkt“ des neuen Zweiges der Bildungswissenschaft.71 Für einzelne Fächer und einzelne Bundesländer liegen inzwischen Erkennt- nisse aus Einzelstudien vor:
Tatsächlich zeigen die vorliegenden stichpunktarti- gen, auf wenige Länder und einzelne Studienfächer be- zogenen Untersuchungen, dass „in unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Schulformen mit subs- tanziellen Leistungsdifferenzen zu rechnen“ sei. Bereits im Vorfeld der Gymnasialen Oberstufe, in der Sekundar- stufe I, sind – auch länderübergreifend – erhebliche Un- terschiede im Leistungsvermögen der Schüler erkenn- bar.72 Während sich für die Fächer Mathematik und Physik auf Grundkursniveau „keine Unterschiede der Bewertungsstränge in Abhängigkeit von der Gebietszu- gehörigkeit“ feststellen ließen, fanden sich auf Leistungs- kursniveau „deutliche Hinweise auf unterschiedliche Be- wertungsmaßstäbe“, vor allem zwischen östlichen und
- 68 Neumann/Nagy/Trautwein/Lüdtke (Fn. 60), 694.
- 69 „Das Verhältnis zwischen Empirischer Bildungsforschung undBildungspolitik war bis Mitte der 1990er Jahre durch ein Auf- tragsverhältnis geprägt.“ E. Aljets, Der Aufstieg der Empirischen Bildungsforschung, 2015, S. 310.
- 70 Neumann/Nagy/Trautwein/Lüdtke (Fn. 60), 696 f. Zur „empiri- schen Wende“, die seit den 1990er Jahren in der Erziehungswis- senschaft einsetzt, vgl. Köller (Fn. 30), S. 27 ff, 32.
- 71 Aljets (Fn. 69), S. 311.
- 72 Vgl. Köller (Fn. 30), S. 26 f., 30.
- 73 R. Watermann/G. Nagy/O. Köller, Mathematikleistungen inallgemein bildenden und beruflichen Gymnasien, in: O. Köller/
westlichen Bundesländern. Auch innerhalb der Länder ließen sich zwischen unterschiedlichen Oberstufenfor- men Leistungs- und – dies ist kritisch – auch Bewer- tungsunterschiede erkennen.73 „Große Leistungsunter- schiede“, die zu „auffallenden“ Bewertungsunterschie- den führten, zeigten sich auch beim Vergleich der Ma- thematikleistungen zwischen Schülern an Oberstufen von Gesamtschulen und Gymnasien in Nordrhein- Westfalen. Ähnliche Befunde liegen für berufliche und allgemeinbildende Gymnasien vor.74
Während sich in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der Schüler unterschiedlicher Bundesländer – mit aller gebotenen Vorsicht – sagen lässt, dass unterschiedli- che Leistungsniveaus vorliegen, die zumindest teil- weise mit unterschiedlichen Benotungen korrespon- dieren, ist eine Aussage zu unterschiedlichen Beurtei- lungen kaum möglich. Dies mag daran liegen, dass Schulnoten neben der Diagnosefunktion auch eine Anreiz- bzw. Motivationsfunktion zukommt; sie sol- len neben der reinen Leistung auch „unterrichtsstüt- zende Aspekte“, etwa die Anstrengungsbereitschaft, erfassen. Nicht zuletzt müssen sie sich auch nach der Vergleichskohorte richten.75 Die hierbei heranzuzie- henden Schüler sind regelmäßig die Mitschüler, nicht eine Art abstrakter bundesdurchschnittlicher „Mus- terschüler“. So ist etwa nachgewiesen, dass die gleiche Leistung eines Schülers in leistungsschwächeren Lern- gruppen besser bewertet wird als in leistungsstarken Gemeinschaften.76
Ein „Patentrezept“ gegen diese Unterschiede hat die Wissenschaft bislang nicht. Stark vereinheitlichte Anfor- derungen – etwa im Sinne eines bundesweiten Zentral- abiturs – können keine Einheitlichkeit der Maßstäbe ge- währleisten. Zu berücksichtigen ist hier die Vielfalt der Bildungswege, die zum Abitur führen. So unterscheiden sich derzeit die Abituranforderungen für allgemein bil- dende und für berufliche Gymnasien, um der berufsfeld- bezogenen Ausprägung der beruflichen Gymnasien Rechnung zu tragen.77
Aufgrund dieser Befunde war im wissenschaftlichen Fachdiskurs bereits früh die Forderung erhoben worden,
R. Watermann/U. Trautwein/O. Lüdtke, Wege zur Hochschulreife
in Baden-Württemberg, 2004, S. 205 (277).
74 O. Köller/J. Baumert/K. U. Schnabel, Wege zur Hochschulreife,
ZfE 1999, 385 (415); Köller (Fn. 30), S. 39.
75 Neumann/Nagy/Trautwein/Lüdtke (Fn. 60), S. 693.
76 U. Trautwein/F. Baeriswyl, Wenn leistungsstarke Klassenkame-
raden ein Nachteil sind, Zeitschrift für Pädagogische Psychologie
2007, 119 (128).
77 Vgl. O. Köller/R. Watermann/U. Trautwein, Transformation des
Sekundarschulsystems in der Bundesrepublik Deutschland, in: Köller/Watermann/Trautwein/Lüdtke (Fn. 73), S. 13 (21).
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dass neben der Note „auch die Eignung und Motivation“ des Bewerbers für den gewählten Studiengang zum Aus- wahlkriterium erhoben werden sollte, nachzuweisen etwa über einen fachspezifischen Studierfähigkeitstest.78 So wird die bundesweite Vergleichbarkeit von einem globalen in ein lokales Problem transformiert. Zu be- denken ist freilich, dass dann die Vergleichbarkeit der verschiedenen Eignungstests zu gewährleisten ist.
Auch die vielfach angeführte und inzwischen landes- weit etablierte Zentralprüfung ist nicht durchweg vor- teilhaft. Zentrale Abiturprüfungen können zu uner- wünschten Nebeneffekten führen, indem etwa gezielt auf das abgeprüfte Wissen „hingelernt“ wird und – pädago- gisch wie auch inhaltlich wichtige – Nebengebiete oder aktuelle Bezüge außer Acht gelassen werden, sog. „Teaching-to-the-Test-Effekt“.79 Weiterhin ist zu beach- ten, dass Tendenzen zur Vereinheitlichung ihrerseits be- stimmte Schülergruppen benachteiligen, etwa solche, die sich besonders gut auf das Kurssystem einstellen können, das mit seiner wechselnden personellen Zusam- mensetzung die Flexibilität der Schüler förderte und ge- wissermaßen einen Vorgriff auf die Lernwelt der Hoch- schule bot.80 Schüler, die bereits früh besondere Talente oder Neigungen in Fächern außerhalb des Kerncurricu- lums (Deutsch, Mathematik, Fremdsprache) entwickeln, werden in stark zentralisierten Systemen gegenüber der von 1972 bis 2012 gängigen gymnasialen Oberstufe mit Kurssystem benachteiligt.81 So mögen Leistungen unter Umständen vergleichbarer werden, während die Aussa- gekraft in Bezug auf die Studieneignung jedoch abnimmt.
Letztlich erweist sich auch die Kompetenzorientie- rung des deutschen Bildungssystems als schwer zu kal- kulierender Faktor. Bildungsstandards werden hier als sog. „Can-do-Statements“ bezeichnet und zielen darauf ab, Kompetenzen82 zu vermitteln, etwa die Aussagen einfacher literarischer Texte verstehen oder in klar ge- schriebenen argumentativen Texten zu vertrauten The- men die wesentlichen Schlussfolgerungen erkennen. Dies setzt in aller Regel kommunikative sowie interkul- turelle Fertigkeiten voraus. Die Messung dieser Kompe-
- 78 Watermann/Nagy/Köller (Fn. 73), S. 277; vgl. Neumann/Nagy/ Trautwein/Lüdtke (Fn. 60), 708; Köller (Fn. 30), S. 24; Trautwein/ Köller/Lehmann/Lüdtke (Fn. 64), S. 26.
- 79 Vgl. B. Oerke/K. M. Merki/E. Maué/D. J. Jäger, Zentralabitur und Themenvarianz im Unterricht, in: Bosse (Fn. 31), S. 27 (28).
- 80 Vgl. Bosse (Fn. 64), S. 72 f.; L. Huber, Zur Studierfähigkeit gehört auchInteresse, in: Asdonk/Kuhnen/Bornkessel (Fn. 30), S. 147 (148, 156).
- 81 Vgl. L. Huber, Welche Wahl haben Schülerinnen und Schüler dergymnasialen Oberstufe?, in: Bosse (Fn. 31), S. 81 (100 f.).
- 82 Als Kompetenz ist „die bei Individuen verfügbaren oder durchsie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, voli- tionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problem-
tenzen ist allerdings kompliziert: sie erfordert pro Teilkom- petenz die Bildung einer Vielzahl psychometrisch hoch- wertigerItemssowiedieFormulierungvonKompetenzstu- fen.83 Vor allem aber sind Kompetenzen vielfältig und situativ, was ihre Vergleichbarkeit erschwert.84
Ein Grund für unterschiedliche Leistungsniveaus dürfte sich jedenfalls daraus ergeben, dass die seit den 1970er Jahren auch international vor dem Hintergrund des Übergangs von der Produktions- zur Dienstleis- tungsgesellschaft beförderte Öffnung der Bildungswege dazu führt, dass Bildungszertifikate, etwa das Abitur, durch Schulformen verliehen werden, die nicht dem tra- ditionellen Gymnasium entsprechen können. Schulab- schlüsse und Schulformen werden entkoppelt (sog. ver- tikale Öffnung des Schulsystems).85 Es ist unrealistisch, in einem beruflichen Gymnasium86 dieselben Bewer- tungsmaßstäbe anzulegen wie an einem schulischen, an einer Gesamtschule dieselben wie an einem Wirtschafts- gymnasium – und wäre für einen Teil der Schüler, die mit ihren Fähigkeiten unberücksichtigt bleiben, zudem seinerseits ungerecht.
Aus dem Forschungsstand der empirischen Erzie- hungswissenschaft ergibt sich also keine „einfache Lö- sung“, wie die Vergleichbarkeit von Noten, Leistungen und Bewertungen hergestellt werden könnte – oder auch nur, welche Form von Unterschied (Leistung, Note oder Beurteilung) auszugleichen wäre. Vielmehr wird ein Spannungsfeld deutlich: Der höhere Grad an Offenheit und Durchlässigkeit, welcher neben der traditionellen Gymnasiasten-Kohorte auch anderen, etwa beruflich qualifizierten Bewerbern, den Zugang zum Gymnasi- um eröffnet, führt im Umkehrschluss zu einer stärkeren Heterogenität an Leistungen und Bewertungsmaßstä- ben. Eine Einhegung in gleiche Standards würde – wenn diese sich am traditionellen Abitur orientieren – zu Las- ten der Öffnung wirken.
4. Die „Bereinigung“ von Noten der Hochschulzu- gangsberechtigung
Es ist also nach wie vor offen, welches die aus Sicht des Gerichts auszugleichenden Unterschiede sind. Vielleicht
lösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“. Vgl. F. E. Weinert, Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: ders., Leistungs- messungen in Schulen, 2001, S. 17 (27 f.).
83 Köller (Fn. 58), S. 198 ff.
84 Vgl. B. Gniewosz, Kompetenzentwicklung, in: H. Reinders, Em-
pirische Bildungsforschung, Gegenstandsbereiche, 2. Aufl. 2015,
S. 69 (69 f.).
85 Vgl. Köller/Baumert/Schnabel (Fn. 74), 386 ff.; vgl. Trautwein/
Köller/Lehmann/Lüdtke (Fn. 64), S. 12 f.
86 Die Mehrheit der Schüler an beruflichen Gymnasien besteht aus
leistungsstarken Realschulabsolventen, vgl. Trautwein/Köller/Leh- mann/Lüdtke (Fn. 64), S. 14.
– so die Hoffnung – hilft ein Blick in die Argumentation des Gerichts zur fehlenden Rechtfertigung der derzeiti- gen Regelung weiter. Das Außerachtlassen dieser Unter- schiede lasse sich nicht dadurch rechtfertigen, dass „eine Vergleichbarkeit von Abiturnoten von vornherein struk- turelle Grenzen“ begegne. Während es sich bei Faktoren wie Klassengröße, Niveauunterschied und sozialem Umfeld um bloße „Unschärfen“ handele, die nur begrenzt verallge- meinerbar erfasst und ausgeglichen werden können, seien „länderübergreifende Vergleichbarkeitsdefizit der Abitur- noten“ dagegen systembedingte Unterschiede, die „in den länderspezifisch unterschiedlichen Bildungs- und insbe- sondere auch Bewertungssystemen angelegt“ seien.
Auf die verfassungsrechtlich garantierte Bundes- staatlichkeit und die Kompetenzordnung des Grundge- setzes dürfe ein Verzicht auf einen Ausgleichmechanis- mus der Noten nicht gestützt werden. Es bleibe den Län- dern nämlich unbenommen, eigene gegebenenfalls von- einander abweichende Regelungen zu erlassen. Für die Hochschulzulassung verlange der durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG gewährleistete Anspruch auf gleiche Teilhabe allerdings, dass „die Eig- nung für das Studium gleichheitsgerecht beurteilt wird und nicht die Hochschulzugangsberechtigung aus be- stimmten Ländern entscheidet“. Mit anderen Worten dürfteesbeieinerunterstelltengleichheitswidrigenBe- wertung innerhalb der Bundesländer bleiben, ein „fal- sches“ Zeugnis sei für sich genommen eben hinzuneh- men. Wenn dieses aber für die Studienplatzbewerbung genutzt werden soll, muss die Note „bereinigt“ werden. Es drängt sich die Frage auf, was dann noch der Nutzen einer Hochschulzugangsberechtigung sein soll – und ob nicht eine entsprechende „Bereinigung“ gleichermaßen auch für die Bewerbung um Ausbildungsplätze, Stipen- dien etc. vorgenommen werden muss.
Hieraus wird immerhin deutlich, dass nur „struktu- relle“ Unterschiede auszugleichen seien. Weitere Hin- weise ergeben sich aus der vergleichsweise ausführlichen Auseinandersetzung des Gerichts mit den sog. Landes- quoten (siehe II.3.). In Bezug auf die Heranziehung die- ses Instruments im Rahmen der Abiturbestenquote be- tont das Gericht, es sei „nicht ersichtlich, dass diese Re- gelung verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht ge- nügen würde“. Gleichzeitig erkennt es an, dass die Übertragung des für die zentrale Studienplatzvergabe
- 87 Reich, HRG, § 32 Rn. 15a. So auch der Gesetzgeber selbst: BT-Drs. 7/3279, S. 10.; vgl. H. Bahro/H. Berlin, Das Hochschulzulassungs- recht in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2003, S. 165.
- 88 Hailbronner (Fn. 23), S. 10.
- 89 Vgl. Bode (Fn. 20), § 27 Rn. 183. Zurückhaltend positiv („nochnicht abschließend beurteilen“) BVerfGE 43, 291 (313 ff.).
- 90 Damals hatte Art. 11 Abs. 8 StV 1973 vorgesehen, dass „für jedes
derzeit vorgesehenen Landesquoten-Prinzips für das Auswahlverfahren der Hochschulen „an Grenzen“ stoße. Es sei nun Aufgabe des Gesetzgebers, „eine Regelung zu finden, die eine annähernde Vergleichbarkeit der Noten praktikabel ermöglicht, etwa durch eine Relationierung der Noten auf Zentralebene, auf die die Hochschulen dann zurückgreifen können“, wobei „eine annähernde Vergleichbarkeit der Abiturnoten über die Ländergren- zen hinweg“ ausreiche.
Im Ergebnis beruht die Bildung von Landesquoten auf einer Reihe von Annahmen, die ihrerseits begrün- dungsbedürftig sind. In der Literatur wurden die Lan- desquoten von vornherein als Behelfslösung mit „Über- gangscharakter“87 – Hailbronner bezeichnet sie als „Krü- cke“88 – und nicht als Ideal angesehen.89 Tatsächlich sind die Landesquoten, die im Ergebnis zu einer Konkurrenz nur eigener „Landeskinder“ untereinander führen, ein probates Mittel, um jegliche bildungspolitische Unter- schiede zwischen Ländern auszugleichen.
Der Hinweis auf verschiedene Durchschnittsnoten der Länder ruft noch einen anderen zwischenzeitlich verfolgten und inzwischen wieder aufgegebenen Ansatz in Erinnerung: Den Bonus bzw. Malus für Abiturienten bestimmter Bundesländer. Zunächst verwundert es, dass sich das Gericht nicht mit der Rechtsprechung des eige- nen Gerichts hierzu auseinandersetzt, obwohl dies durchaus nahegelegen hätte. So hatte das BVerfG bereits Anfang April 1974 zu entscheiden, ob die damals vorlie- gende Praxis eines arithmetischen Ausgleichs von unter- schiedlichen Landesdurchschnittsnoten verfassungs- konform sei.90 Dies führte im Wintersemester 1973/1974 dazu, dass Bewerber mit einer in Bayern erworbenen Hochschulzugangsberechtigung einen Malus von 0,3 er- hielten, während etwa Bewerbern mit Reifezeugnis aus Nordrhein-Westfalen oder Hamburg pauschal ein Bonus von 0,2 gutgeschrieben bekamen, also etwa statt mit 2,0 mit 1,8 am Verfahren teilnahmen. Diese Regelung, die ei- nen „Versuch“ darstelle, „die mit der Auswahl nach Durchschnittsnoten verbundene Unzuträglichkeiten zu mildern“, hielt sich nach Ansicht des BVerfG „noch“ im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben, da ange- sichts der unklaren Ursachen für das Notengefälle der Ermessensspielraum des Gesetzgebers nicht überschrit- ten sei und eine Untätigkeit des Gesetzgebers „noch we- niger tragbar“ gewesen wäre. Gleichwohl gab das BVerfG
Land […] jährlich die Durchschnittsnoten aller Reifezeugnisse festgestellt“ wurden. „Aus dem Ergebnis der einzelnen Länder wird eine Gesamtdurchschnittsnote für alle Länder ermittelt. Unterschreitet die Durchschnittsnote eines Landes die Gesamt- durchschnittsnote, so werden für das Vergabeverfahren die Noten der Reifezeugnisse dieses Landes um die Differenz heraufgesetzt, im umgekehrten Fall entsprechend herabgesetzt.“
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den Beschwerdeführen darin recht, dass „das grobe Mit- tel eines pauschalen Notenausgleichs […] wenig befrie- digt“, da unklar bleibe, ob die Berechnung „auch in je- dem Einzelfall wirklich durch sachliche Gründe gerecht- fertigt“ sei.91
Der BayVerfGH entschied Anfang August 1975, dass der pauschale Notenausgleich als kein taugliches Mittel zur Erfüllung des staatsvertraglichen Ziels anzusehen sei. Maßstab der Zulassung sei nämlich nicht mehr die im Zeugnis des Bewerbers ausgewiesene Note, „sondern ein Durchschnittswert, den der einzelne Bewerber nicht beeinflussen kann“, wodurch das System „von der indivi- duellen Leistungsbewertung“ wegführe. Die Bestnote von 1,0 sei für Angehörige bestimmter Länder, die einem Malus unterlägen, faktisch ausgeschlossen. Auch gingen in die Bildung des arithmetischen Referenzwertes unter- schiedliche Arten von Zugangsberechtigungen ein, was seine Validität als Berechnungsgrundlage verringere. Auch widerspreche das Vorgehen der KMK-Vereinba- rung zur Anerkennung der Leistungsnachweise. Damit erklärte der BayVerfGH den Zustimmungsbeschluss zumStaatsvertragfürnichtig,soweitdieserfürInhaber einer bayerischen Hochschulzugangsberechtigung zu ei- ner Verrechnung der nominalen Note führe.92
Die Klage Bayerns gegen die übrigen Länder, das Verfahren also ohne die entsprechende Regelung durch- zuführen, wies das BVerwG Anfang Juli 1976 übrigens ab. Ohne in der Sache den bayerischen Argumenten ent- gegenzutreten, stellte es klar, dass in einem entspre- chenden Streitfall die Bundesländer verpflichtet seien, eine Klärung durch ein für alle Länder bindendes Ge- richt herbeizuführen; im Übrigen führe auch der Um- stand, dass sich die „Annahme der Länder, das Notenge- fälle bei den Landesdurchschnittsnoten beruhe auf län- derspezifischen Bewertungsunterschieden“, bislang nicht habe beweisen lassen, nicht zur Rechtswidrigkeit der Bo- nus-Malus-Regelung. Vielmehr gelte die Entscheidung des BVerfG zu ihrer Verfassungsmäßigkeit fort.93 Die Entscheidung des BVerwG konnte höchstens formal überzeugen – der Bund setzte sich im Sinne der Rechts- vereinheitlichung durch.94 Auf die vom BayVerfGH kri- tisierte pauschale Bewertung durch den Malus ging sie nicht einmal ein. Politische Folge dieses rechtlichen
- 91 BVerfGE 37, 104 (108 f., 116 ff.).
- 92 BayVerfGH, Beschl. v. 1.8.1975, NJW 1975, 1733 (1738 f.).
- 93 BVerwGE 50, 137 (137 ff.).
- 94 A. Dittmann, Das Bildungswesen im föderalistischen Kompe-tenzgefüge, RdJB 1978, 168 (177).
- 95 BVerfGE 37, 104 (120).
- 96 Vgl. Dittmann (Fn. 94), 176.
- 97 Die mit der sog. modifizierten Bayerischen Formel errechneten Noten-
„Tauziehens“ war übrigens die Einführung von Landes- quoten, ein Weg, den das BVerfG in seiner Entscheidung bereits angedeutet hatte.95 Die Bedenken, die damals ge- gen einen pauschalen Bonus bzw. Malus sprachen, dürf- ten wohl auch heute noch gelten: Die Bandbreite der Hochschulzugangsberechtigungen hat sich – auch im Hinblick auf den Europäischen Hochschulraum – eher verbreitert als reduziert.
5. Zwischenfazit: Utopie der Normalverteilung des Bil- dungspotenzials
Das Ziel eines höheren Maßes an Vergleichbarkeit ist also auf zwei Wegen erreichbar: Entweder durch eine Vereinheitlichung aller Prüfungen und Standards. Die- ser Weg scheint allerdings angesichts der Vielgestaltig- keit der Erscheinungsformen des Abiturs als kaum gang- bar – eine umfassende und ausnahmslose Regelung wäre wohl praktisch unmöglich und würde vor allem ihrer- seits bestimmte Bewerbergruppen (etwa an beruflichen Gymnasien) benachteiligen. Der andere Weg führt in die Aufsplitterung von Ressourcen und die Verteilung in landesspezifischen Kontingenten. Dieses Vorgehen bedarf wohl vor allem einer klaren methodischen Vorga- be; er bietet den Vorteil, dass die Länder separat betrach- tet werden können – eine Anerkennung der „Bildungs- souveränität der einzelnen Länder“.96 Hierin liegt aller- dings auch eine gewisse Dialektik, macht die „Gleichrechnung“ doch das fehlende Vertrauen der Län- der in die Vergleichbarkeit offenkundig. Freilich bietet der Ansatz auch Nachteile, indem er Wettbewerb und Veränderung verhindert – selbst wenn ein Land mit größten Aufwänden die Bildung fördern würde, würden seine Schüler im Gesamtsystem stets wieder relativiert und mit den Absolventen schwächerer Länder gleichge- stellt werden. Veränderungen im Bildungsniveau wür- den stets nivelliert werden.
Ob dieses Modell praktikabel ist, wird sich zeigen; auf dem Gebiet der europäischen Zeugnisse und der Ba- chelor-Zeugnisse hat sich die KMK jedenfalls vom Mo- dell einer Prozentrangtransformation, die die Noten ins Verhältnis der Häufigkeit ihrer Vergabe setzen sollte, schrittweise verabschiedet.97 Angesichts der erheblich deutlicheren Leistungs- und Benotungsunterschiede
werte von Sekundarschulabschlüssen aus EU- und EWR-Staaten sowie der Schweiz sollten nach den Planungen der KMK einer sog Prozent- rangtrans-formation unterzogen werden. Diese Transformation sollte die Häufigkeit der Notenvergabe mit einbeziehen und damit der teilwei- se sehr unterschiedlichen Notenvergabe (vor allem sehr guter Noten) entgegenwirken. Das Vorhaben wird wohl derzeit nicht weiter verfolgt, jedenfalls findet es in den aktuellen Beschlüssen keine Erwähnung mehr. Vgl. KMK-Beschl. v. 15.3.1991 idF v. 19.7.2012; Bode (Fn. 12), § 3 Rn. 35.
zwischen den europäischen Staaten wird abzuwarten sein, ob und wie hier eine „Bereinigung“ vorgenommen werden kann.
Im Ergebnis scheint das Gericht diesen Weg zu mei- nen, wenn es von „Bereinigung“ schreibt. Was die These des BVerfG tatsächlich auf den ersten Blick sympathisch erscheinen lässt, ist der allerdings eher verfassungspoliti- sche – Anspruch, dass eine Art bundesweite „Normal- verteilung“ der im Abitur zum Ausdruck kommenden Leistungs- und Eignungsgesichtspunkte für den Studie- nerfolg vorliegen müsse.
Was wiederum erwiesen ist, bei der Betrachtung des BVerfG jedoch keine Beachtung gefunden hat bzw. im Verfahren auch in prozessrechtlicher Hinsicht keine Be- rücksichtigung finden durfte, ist, dass neben den schuli- schen Kompetenzen und Zertifikaten vor allem auch die soziale Herkunft über den weiteren Bildungsweg ent- scheidet: „Bei gleichen Leistungen besitzen Schülerin- nen und Schüler aus statushöheren Familien eine im Mittel höhere Erfolgserwartung im Vergleich zu Schüle- rinnen und Schülern aus statusniedrigeren Familien.“98 Die Determinanten schulischer Leistungen stellen sich als sehr vielschichtig dar und umfassen individuelle Dis- positionen, Unterrichtsfaktoren aber auch elterliches Unterstützungsverhalten.99 So erscheint es fragwürdig, wo eigentlich mit dem Ausgleich der Unterschiede anzu- setzen wäre – und ob der Preis nicht im Umkehrschluss ein geradezu unheimliches, alles erfassendes Staatswe- sen wäre.100
V. Mittelbare Folgen
1. Auswirkung auf Studiengänge mit örtlicher Zulas- sungsbeschränkung
DieEntscheidung,insbesonderedieAussageninBezug auf die heranzuziehenden Auswahlkriterien und ihrer Gewichtung sowie das Erfordernis der „Bereinigung“ der Noten, betrifft alle Rechtsgebiete, auf die der teilha- berechtliche Aspekt der Kombination von Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip Anwendung findet. Zwar gilt die Entscheidung ihrem Wortlaut nach unmittelbar zunächst für die Humanme- dizin. Ihre tragenden Gründe erwachen jedoch in Geset- zeskraft und binden Verwaltung und Gerichte auch über die Anwendung der HRG-Normen hinaus, etwa bei der Anwendung der Landeshochschul- und Zulassungsge-
- 98 R. Watermann/K. Maaz, Studierneigung bei Absolventen allgemein bil- dender und beruflicher Gymnasien, in: Köller/Watermann/Trautwein/ Lüdtke (Fn. 73), S. 402 (412); vgl. R. Becker, Wie können „bildungsferne“ Gruppen für ein Hochschulstudium gewonnen werden?, KZfSS 2009, 563 (563 ff.).
- 99 Trautwein/Köller/Lehmann/Lüdtke (Fn. 64), S. 17 ff.; V. Müller-
setze. Auch in den übrigen bundesweit zulassungsbe- schränkten Fächern (Zahn- und Tiermedizin sowie Pharmazie) und in Fächern mit örtlicher Zulassungsbe- schränkung und entsprechendem Bewerberüberhang, etwa der Psychologie und der Sozialen Arbeit, dürfte eine Anpassung der entsprechenden landesrechtlichen Regelungen erforderlich werden. Auch Masterzugang und –zulassung sollten auf die Vereinbarkeit mit der Entscheidung überprüft werden.
2. Ausstrahlungswirkung in sonstige Rechtsgebiete, ins- besondere auf Art. 33 Abs. 2 GG
Auch auf weitere Rechtsgebiete, die vom teilhaberechtli- chen Aspekt der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG betroffen sind, dürfte die Recht- sprechung Auswirkungen haben. Zu nennen ist hier etwa die Vergabe von Plätzen für öffentlich-rechtliche Ausbildungsverhältnisse, etwa das juristische und das Lehramtsreferendariat.101
Ohnehin dürfte zu untersuchen sein, ob nicht – auch ohne den genannten Bezug zur Ausbildungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG – die „Bereinigungsverpflichtung“ auf Art. 33 Abs. 2 GG ausstrahlt – also unmittelbar die Defi- nition der „Eignung“ betrifft. Auch hierfür spricht der Gedanke des a maiore ad minus: Wenn schon die Ausbil- dungsfreiheit strukturelle föderalistische Unterschiede auszugleichen hat, dann dürfen diese erst recht beim Zu- gang zum öffentlichen Dienst keine Rolle spielen. Auch in praktischer Sicht steht wenig dagegen: die Absolven- tenkohorten der juristischen Ausbildung sind vom Um- fang her deutlich geringer als die Gruppe der Hoch- schulzugangsberechtigten und werden ohnehin statis- tisch erfasst. Demgegenüber ist der Bereich des Privat- rechts aufgrund der dort nur mittelbaren Wirkung der Grundrechte von entsprechenden „Bereinigungen“ ausgenommen.
3. Obiter dictum: Zulassungsrecht und Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen vor dem Hintergrund der Dis- kussion über die Einführung einer Landarztquote
Bei der Verteilung knapper Studienplätze darf der Gesetzgeber auch „Gemeinwohlbelange“ berücksichti- gen „wie etwa die Patientenversorgung“. Hiermit antizi- piert das Gericht eine Rechtsfrage, die derzeit Gegen- stand von Kontroversen ist, nämlich die Zulässigkeit – oder gar Gebotenheit – der Einführung einer sog.
Benedict, Wodurch kann die soziale Ungleichheit des Schulerfolgs
am stärksten verringert werden?, KZfSS 2007, 615 (615 ff.). 100 Vgl. zur Kritik am planenden Sozialstaat, F. v. Hayek, Recht,
Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, 1981, S. 96 ff.
101 Vgl. S. Sieweke, Das Zulassungsverfahren zum Referendariat,
LKV 2009, 305 (306 f.).
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Landarztquote, also einer Quote für Bewerber, die sich verpflichten, nach Abschluss des Studiums eine gewisse Zeit in medizinisch unterversorgten Gebieten in Deutschland beruflich tätig zu werden.
Dass Belange des Gemeinwohls – die übrigens bis- lang in den maßgeblichen Entscheidungen des BVerfG keine Erwähnung fanden – bei der Bemessung der Zahl der Studienplätze zu beachten sind, erscheint zwingend. Dies gilt etwa für die Berücksichtigung der Sanitätsoffi- ziere, deren Ausbildung für die Bundeswehr von existen- tieller Bedeutung ist. Ob auch die Steuerung der Versor- gungsdichte in unterversorgten Gebieten über das Zu- lassungsrecht vorgenommen werden darf, wird unter- schiedlich beurteilt. Eine Ansicht, unter anderem vertreten vom Martini und Ziekow, befürworteten dies.102 Andere Stimmen vor allem aus dem Umfeld der Hochschulen sahen dies kritisch; die Verteilung der Ärz- te sei nicht Aufgabe des Zulassungsrechts. Anders als bei den über Vorabquoten erfassten Sanitätsoffizieren han- dele es sich beim „Landarzt“ – wie auch immer er zu de- finieren sei – nicht um eine spezielle berufliche Ausrich- tung mit besonderen Anforderungen, sondern um einen Mediziner, der sich von anderen nur dadurch unter- scheidet, dass er in einem unterversorgten Gebiet prakti- ziert. Hinzu kommen praktische Bedenken, etwa die Zu- lässigkeit einer Verpflichtung über einen so maßgebli- chen Zeitraum in einem zum Verpflichtungszeitpunkt mutmaßlich unbekannten Fachgebiet an einem vorher nicht bestimmbaren Ort zu praktizieren sowie die Frage der Sanktionsmöglichkeiten.
4. Tätigwerden von Bund oder Ländern?
Bestimmte Passagen des HRG und des Staatsvertrages verlieren zum 1.1.2020 ihre Rechtskraft. Fraglich ist, wer nun als Normgeber tätig werden wird. Seit der Föderalis- musreform verfügt der Bund über eine sog. Vollkompe- tenz, könnte also gesetzliche Regelungen schaffen, ohne – wie zuvor – nur einen Rahmen setzen zu dürfen, Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 i.V.m. Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 GG. Alter- nativ könnten auch die Länder kraft ihrer konkurrieren- den Gesetzgebungskompetenz tätig werden oder sie
- 102 Vgl. M. Martini/J. Ziekow, Die Landarztquote, 2017.
- 103 Vgl. C. Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompe-tenzen durch die Föderalismusreform, NVwZ 2006, 1209 (1212);Bode (Fn. 20), § 32 Rn. 113.
- 104 Dies sind Bayern, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen,Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Saarland,Sachsen, Schleswig-Holstein. Vgl. GV NRW, 2017, 239.
- 105 Das Gericht ließ Kritik an der darin vorgesehenen Regelungder Bewerbungssemester durchblicken: So seien „keine Gründe ersichtlich, die es gebieten könnten, zwischen […] Bewerbern, die auf eine Studienbewerbung etwa zugunsten einer einschlägigen beruflichen Ausbildung oder Tätigkeit verzichtet haben, und
könnten nachträglich von einem Bundesgesetz abwei- chen oder landesspezifisch modifizieren.103 Der 2016 unterzeichneteundbereitsinzehnBundesländernratifi- zierte Staatsvertrag über die gemeinsame Einrichtung für Hochschulzulassung104 ist jedenfalls nach der Ent- scheidung nicht mehr von Relevanz.105
5. Aushandlung neuer Verfahrensgrundsätze
Erforderlich werden dürfte die Aushandlung neuer Ver- fahrensgrundsätze. Dies betrifft die Frage, welche Aus- wahlkriterien mit welcher Gewichtung Anwendung fin- den sollen, aber auch den Umgang mit der Forderung der „Bereinigung“ von Schulnoten. Einige Fachgesell- schaften haben hier bereits vorgearbeitet und entspre- chende Impulse gegeben. So regen die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) und des Medizinisches Fakultätentages e.V. (MFT) in ihrem gemeinsam erarbeiteten „Vorschlag für ein neues Modell der Studierendenauswahl in der Medizin“ an, künftig auf die Wartezeit als Zulassungskriterium zu ver- zichten und eine einzige Hauptquote vorzusehen.106
VI. Fazit oder das Dilemma der Verteilung
Der Anspruch auf Zulassung soll sich künftig weit über- wiegend nach der Eignung richten, die ihrerseits zwar das Vorliegen der Hochschulzugangsberechtigung vor- aussetzt, aber eben mehr erfordern kann als diese. Stellte das Abitur seit 1788 eine Art „deutschen Sonderweg“107 in Bezug auf die Frage dar, wer eine höhere Bildungsan- stalt besuchen darf, indem die abgebende, nicht die auf- nehmende Institution die Berechtigung hierzu ausstellte, weist das BVerfG nunmehr wieder auf den Hauptpfad zurück, den die weit überwiegende Anzahl von Staaten beschreitet. Hier wird deutlich: Das Abitur ist kein Wert von Verfassungsrang.
Die Utopie, der Weg zum Wunschstudienplatz sei mit dem Abitur prinzipiell geebnet, hat das BVerfG nun selbst – wer hätte es sonst auch tun können? – ad acta ge- legt. Die Anerkennung der statistischen Realitäten, die Ab- kehr vom unmittelbaren Anspruch auf den Studienplatz
solchen zu differenzieren, die sich während der Wartezeit immer
wieder um einen Studienplatz beworben haben.“
106 Der Platz eines Bewerbers bestimmt sich nach einem Punktewert,
in den max. 40 Punkte aus der Note der Hochschulzugangs- berechtigung, bis zu 40 Punkte nach einem Studierfähigkeits-
test, max. 10 Punkte für berufspraktische Erfahrung in einem medizinnahen Bereich oder einen Freiwilligendienst und bis zu 10 Punkte für das Ergebnis eines Situational Judgement Test (SJT) eingehen. Verfügbar unter: www.mft-online.de; vgl. auch Deut- sches Ärzteblatt, 23.9.2016, A 1636; H. Grosse, Wie geeignete Medizinstudierende finden?, Berliner Ärzte 4/2018, 14 (14 ff.).
durch Erwerb des Abiturs sowie der Abschied von der Dro- hung mit dem originären Leistungsrecht markieren diesen Weg.EsliegtaufdieserArgumentationslinie,derWartezei- tquote, der ja keine Aussage über die Eignung des Bewer- bers zukommt, keine größere Bedeutung mehr beizumes- sen. Das mutet angesichts des Umstandes, dass es gerade Bewerber der Wartezeitquote waren, die die Verfahren an- gestrengt haben, geradezu paradox an.
Verwunderlich ist allerdings, dass das Gericht – die gerade aufgegebene Utopie durch eine neue ersetzt, nämlich die der Messbarkeit und Korrigierbarkeit des Bildungssystems. Vereinfacht ausgedrückt: Bekommt schon nicht jeder Bewerber einen Platz, so soll es doch gerecht zugehen, fiat iustitia et pereas mundus. Dabei sind die Erkenntnisse, die die noch junge Disziplin der Empirischen Bildungswissenschaft hervorbringt, eine wichtige Diskussionsgrundlage,108 aber bieten doch al- lem Anschein nach noch kein greifbares Verbesserungs- konzept der Verteilungsgerechtigkeit – abgesehen von der Stärkung lokaler Akteure, etwa Hochschulen. Be- greift man Utopien auch als Alternativen zur herrschen- den Gesellschaftsordnung, also gewissermaßen als kon- frontative Gegenwelt, so lässt sich aus der Entscheidung auch ein „Stachel“ gegen die Bildungsverwaltung, kon- kret die KMK, herauslesen.
Doch auch hier wirft die – durchaus sympathische – Utopie den Schatten ihres Scheiterns voraus: Die Offen- heit bei der Begründung, worin genau die Ungleichbe- handlung liegen soll, lässt es erahnen: Welche Mechanis- men sind vorzusehen, um Verteilungsgerechtigkeit (wie- der-)herzustellen? Genauer gesagt: Liegt nicht das Unmögliche darin, vermessen zu wollen und zu verein- heitlichen zu wollen, was seiner Heterogenität nach nicht zu vereinheitlichen geeignet ist? Handelt es sich bei der Vorstellung, Abiturnoten vergleichen zu können, womöglich um eine „Fiktion“?109 Das Abitur war längst über die Funktion hinausgewachsen, ein Ausweis kon-
- 107 Vgl. Bracher, K. D. (Hrsg.), Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? 1982.
- 108 „International vergleichende Schulleistungsforschung wird sowohl für die wissenschaftlichen als auch für die politischen Akteure ein Mittel zum Zwecke reflexiver Interessen.“ Aljets (Fn. 69), S. 311.
109 E. Maué, Vergleichbarkeit von Abiturnoten – eine Fiktion?, in: Asdonk/Kuhnen/Bornkessel (Fn. 30), S. 114 (125 f.).
kreten Wissens zu sein. Vielmehr spiegelte es bestimmte Kompetenzen wider, die mit verschiedenen Bildungs- hintergründen in diversen Bildungseinrichtungen er- worben werden konnten. Im Prinzip erkennt ja auch das Gericht diesen Umstand an, indem es neben dem Abitur den Nachweis von fachspezifischer Eignung einfordert. Auch wenn in einem meritokratischen Bildungssystem Verletzungen der Verteilungsgerechtigkeit unerwünscht sind, wird wohl eine „perfekte Vergleichbarkeit von Be- urteilungsmaßstäben“ in der Praxis „weder erreichbar noch unbedingt erstrebenswert“ sein.110
Wie auch immer die Verteilung der Studienplätze ab dem Jahr 2020 erfolgen wird – ein Umstand bleibt vor- aussehbar: Die Zahl der zu verteilenden Studienplätze wird aller Voraussicht nach kaum ansteigen. Angesichts der beträchtlichen Kosten111 ist die Humanmedizin der mit Abstand kostenintensivste Studiengang in Deutsch- land. Gleichzeitig dürfte die Zahl der Studienberechtig- ten weiter zunehmen. Wer die Aufgabe des Zulassungs- systems – wie generell des Rechtssystems – darin sieht, Hoffnungen und Erwartungen zu lenken und damit die Zukunft „beherrschbar“ zu machen, der wird davon aus- gehen müssen, dass Bewerber sich auf neue Verfahren der Eignungsdiagnostik einstellen müssen, die dann ein Feedback geben, ob die Zulassung sofort erfolgen kann, in reichbare Nähe rückt oder vielleicht dauerhaft ausge- schlossen ist. Ein belastbarer Anspruch dürfte aller Vor- aussicht nach entfallen. Mehr glückliche zugelassene Be- werber wird die Entscheidung freilich also nicht hervor- bringen – nur andere.
Dr. Matthias Bode M.A. ist Abteilungsleiter und Justitiar der Stiftung für Hochschulzulassung (SfH) in Dortmund. Der Artikel gibt seine persönliche Auffassung wieder.
Bode · Zwischen Realität und Utopie 1 8 9
110 Trautwein/Köller/Lehmann/Lüdtke (Fn. 64), S. 25.
111 Die Gesamtkosten der Ausbildung im Studiengang Humanmedi- zin betrugen im Jahr 2011 ca. 192.900 € je Studienplatz (laufende
Grundmittel). Es handelt sich um die kostenaufwändigsten Studi- enplätze. Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 4.3.2, 2011, S. 187.349 sowie Nachweise bei Höfling/Engels in Kluth/ Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 34 Fn. 76, 115.
190 ORDNUNG DER WISSENSCHAFT 3 (2018), 173–190