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Ein­lei­tung
Der Gebrauch des plu­ri­zen­tri­schen deut­schen Sprach­sys­tems im sozio­kul­tu­rel­len Raum und Gebiet der sich Befas­sen­den mit den Ver­hal­tens­re­geln eines per­so­nen­mehr­heit­li­chen Ver­bun­des ist von expo­nier­ter Bedeu­tung, setzt man ihn in Rela­ti­on zu den Glu­man­da ande­rer Fach­dis­zi­pli­nen, wel­che sich in der inter­nen Kom­mu­ni­ka­ti­on dif­fe­rent erläu­tern.
Die­ser ein­lei­ten­de Satz löst ver­mut­lich bei den meis­ten Rezi­pi­en­ten ein Gefühl des Unbe­ha­gens, womög­lich der Genervt­heit aus. Er ist, neben über­flüs­si­gen Dopp­lun­gen, gespickt mit Umschrei­bun­gen, wel­che sich durch einen Begriff erset­zen lie­ßen. Teil­wei­se sind Infor­ma­tio­nen ent­hal­ten, die zwar für sich stim­men mögen, für die Kern­aus­sa­ge aber nicht von Belang sind. In Kom­bi­na­ti­on mit dem infla­tio­nä­ren Gebrauch von Fremd­wör­tern und einem Fantasiebegriff1 mag man sogar dar­an schei­tern, die Kern­aus­sa­ge über­haupt zu erken­nen. Das ist beson­ders ärger­lich, wenn man sich einem Fach­ar­ti­kel mit der übli­chen Moti­va­ti­on nähert: der schnel­len, unmiss­ver­ständ­li­chen Ent­nah­me von Infor­ma­ti­on zu einem bestimm­ten The­ma.
Auch in Berei­chen des juris­ti­schen Sprach­ge­brauchs häu­fen sich der­ar­ti­ge Vor­wür­fe. Der Fokus liegt dabei unter ande­rem auf der Fra­ge der sprach­li­chen Sexus­dif­fe­ren­zie­rung in diver­sen Berei­chen. Der fol­gen­de Auf­satz möch­te dabei einen Über­blick über Aus­prä­gungs­an­sät­ze geben und sich der Fra­ge wid­men, ob und inwie­fern hier­aus auch Pro­ble­me ent­ste­hen, die über blo­ße Gefüh­le hin­aus­ge­hen.
Zunächst wird hier­für die lin­gu­is­ti­sche Grund­la­ge der Sexus­dif­fe­ren­zie­rung dar­ge­legt (I.). Anschlie­ßend sol­len ver­schie­de­ne prak­ti­zier­te For­men auf­ge­zeigt wer­den (II.). Sodann soll die Regel­grund­la­ge und Pra­xis in diver­sen juris­ti­schen Berei­chen auf­ge­zeigt und anhand der Fra­ge, wel­che Funk­ti­on die Spra­che erfül­len soll­te, kri­tisch gewür­digt wer­den (III.). Abschlie­ßend erfolgt das Fazit (IV.).
I. Sexus­dif­fe­ren­zie­rung
In der Sprach­wis­sen­schaft kann zwi­schen dem gram­ma­ti­schen Geschlecht (Genus) und dem bio­lo­gi­schen Geschlecht (Sexus) unter­schie­den wer­den. Auf Wör­ter, die kein bio­lo­gi­sches Geschlecht haben, wie etwa die Lam­pe, kann der Sexus nicht ange­wandt wer­den. Das Genus hin­ge­gen kann alle Sub­stan­ti­ve in eine gram­ma­ti­sche Klas­se ein­ord­nen. So ist die Lam­pe bei­spiels­wei­se femi­nin. Wie bereits die Exis­tenz des Genus bei einer zwei­fels­frei bio­lo­gisch unge­schlecht­li­chen Lam­pe andeu­tet, sind das Genus und der Sexus von­ein­an­der prin­zi­pi­ell unab­hän­gi­ge Insti­tu­te. Die ein­zi­ge Aus­sa­ge, die das Genus über einen Begriff ent­hält, ist die kor­rek­te Kon­gru­enz zu ande­ren Wör­tern, wie etwa Arti­kel, Pro­no­men oder Adjek­ti­ve. Im Fall Lam­pe haben die­se mit dem femi­ni­nen Genus über­ein­zu­stim­men, also etwa: die (Arti­kel) schö­ne (Adjek­tiv) Lam­pe, sie (Pro­no­men) leuch­tet. Leuch­tet ein.
Span­nend wird es bei Ober­be­grif­fen für Lebe­we­sen mit bio­lo­gi­schen Geschlech­tern. So hat der Mensch ein mas­ku­li­nes Genus bzw. die Per­son ein weib­li­ches Genus, kann aber auch ein bio­lo­gi­sches Geschlecht haben, wel­ches davon abweicht. Auch die Giraf­fe wur­de bereits in bio­lo­gisch männ­li­cher und der Hund in bio­lo­gisch weib­li­cher Aus­ga­be doku­men­tiert. Das bio­lo­gi­sche Geschlecht, auch semantisches2 Geschlecht, lässt sich hier nicht aus dem gram­ma­ti­schen Geschlecht her­lei­ten, obgleich die bezeich­ne­ten Lebe­we­sen im Gegen­satz zu unse­rer Lam­pe ja immer­hin die Mög­lich­keit offen­ba­ren, sie einem bio­lo­gi­schen Geschlecht unter­zu­ord­nen. In Bewusst­sein die­ser ver­ta­nen Chan­ce, wer­den die­se Ober­be­grif­fe aus­drück­lich als sexus­un­mar­kiert bezeich­net. Möch­te man nun expli­zit einen bio­lo­gisch weib­li­chen Ver­tre­ter eines gram­ma­tisch männ­li­chen Ober­be­griffs (gene­ri­sches Mas­ku­li­num) bezeich­nen, so geschieht das durch soge­nann­te Movie­rung. Das ist die Ablei­tung neu­er Wör­ter zum Zwe­cke der seman­ti­schen Geschlechts­mar­kie­rung, meist durch Suf­fi­xe wie etwa „-in“ für den femi­ni­nen Sexus oder „-rich“ für den mas­ku­li­nen Sexus. Möch­te man nun kenn­zeich­nen, dass sich hin­ter dem Begriff der Mensch ein Ver­tre­ter des weib­li­chen Geschlechts ver­birgt, so wird er, sexus­mar­kiert, zu der (vom Duden aner­kann­ten) Men­schin. Anders­rum: Erkennt jemand die Erpel­lo­cke einer Ente, so erzählt er sei­nen Freun­den womög­lich anschlie­ßend von dem beob­ach­te­ten Ente­rich.
Die­se Movie­rung bezweckt dem­nach die erkenn­ba­re Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen unter­schied­li­chen bio­lo­gi­schen Geschlech­tern; sie bezweckt die Sexus­dif­fe­ren­zie­Theo­dor
Lam­mich
Der Sexus im juris­ti­schen Sprach­ge­brauch
1 Glu­man­da ist der Name eines feu­er­spei­en­den Mons­ters aus der japa­ni­schen Video­spiel­se­rie Poké­mon.
2 Aus dem Alt­grie­chi­schen σημαίνειν (sēmaín­ein), so viel wie bezeich­nen.
Ord­nung der Wis­sen­schaft 2022, ISSN 2197–9197
5 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 2 ) , 5 5 — 6 7
3 Pieper/Fokken, Der Spie­gel 2021 (10), S. 11.
4 Etwa das –en in Jurist*innen.
5 Die Geschäfts­stel­le Gen­der Main­strea­ming der Stadt Frei­burg im
Breis­gau geht noch einen Schritt wei­ter und ist der Ansicht, dass
das gene­ri­sche Mas­ku­li­num nicht nur bestimm­te Geschlech­ter,
son­dern auch Men­schen unter­schied­li­chen Lebens­al­ters, mit unter­schied­li­chen
Behin­de­rungs­gra­den oder mit unter­schied­li­chem
Glau­ben unter­schla­ge. Dem sol­len städ­ti­sche Mitarbeiter_innen
mit dem Unter­strich ent­ge­gen­wir­ken, sie­he Geschäfts­stel­le Gen­der
Main­strea­ming, For­men anti­dis­kri­mi­nie­ren­der Sprach­hand­lun­gen,
S. 5.
6 Als eines der grund­le­gen­den Wer­ke gilt unter ande­rem die
Samm­lung femi­nis­ti­scher sprach­kri­ti­scher Auf­sät­ze und Glos­sen
aus den Jah­ren 1983–1989 in Pusch, Alle Men­schen wer­den
Schwes­tern.
rung. Der Emp­fän­ger der geäu­ßer­ten Wor­te soll erken­nen,
wel­che Rol­le das beschrie­be­ne Lebe­we­sen bei der
Fort­pflan­zung sei­ner Art ein­nimmt.
II. Vari­an­ten der Sexus­dif­fe­ren­zie­rung
Eine Sexus­dif­fe­ren­zie­rung durch eine Sexus­mar­kie­rung
wird in der deut­schen Spra­che auf ver­schie­de­ne Wei­sen
prak­ti­ziert. Unter­schie­den wer­den kann zwi­schen der
voll­stän­di­gen (1.) und der abge­kürz­ten Paar­form (2.).
Schließ­lich gibt es die expli­zi­te Sexus­in­dif­fe­ren­zie­rung
durch geschlechts­neu­tra­le Umschrei­bun­gen (3.). Die
Pra­xis all die­ser Vari­an­ten folgt im Wesent­li­chen der­sel­ben
Begrün­dungs­li­nie (4.).

  1. Voll­stän­di­ge Paar­form
    Bei der voll­stän­di­gen Paar­form wird die Bezeich­nung
    für die Ange­hö­ri­gen des Ober­be­griffs sowohl sexus­un­mar­kiert
    als auch anders­ge­schlecht­lich sexus­mar­kiert
    aus­ge­schrie­ben. Die Tren­nung erfolgt übli­cher­wei­se
    durch die Bin­de­wör­ter und, oder, sowie, wie auch oder
    bezie­hungs­wei­se. So wer­den bei­spiels­wei­se die Juris­ten als
    Grup­pen­be­zeich­nung als Juris­tin­nen und Juris­ten
    bezeich­net, Men­schen als Men­schin­nen bezie­hungs­wei­se
    Men­schen oder Schau­spie­ler als Schau­spie­ler oder Schauspielerinnen.
  2. Abge­kürz­te Paar­form
    Bei der abge­kürz­ten Paar­form wird ver­sucht, sowohl die
    sexus­un­mar­kier­te als auch die anders­ge­schlecht­lich
    sexus­mar­kier­te Vari­an­te in einem Wort unter­zu­brin­gen.
    Dies ver­sucht man in der Regel durch Son­der­zei­chen wie
    etwa den Schräg­strich (Juristinnen/Juristen, Juris­t/-
    innen, Jurist/innen) oder Klam­mern (Jurist(innen)), den
    Unter­strich (Jurist_innen), den Aste­risk (Jurist*innen)
    aber auch der Bin­nen­ma­jus­kel (Juris­tIn­nen). Dabei ist
    der Aste­risk das häu­figs­te ver­wen­de­te Sonderzeichen.3
    In der Pra­xis folgt die abge­kürz­te Paar­form mit Son­der­zei­chen
    fast immer der Regel, dass schlicht die sexus­mar­kier­te
    weib­li­che Begriffs­form genom­men wird und
    das Son­der­zei­chen vor den Suf­fix „-in“ bzw. „-innen“
    gesetzt wird. Dass dadurch in vie­len Fäl­len die mas­ku­lin
    mar­kie­ren­den Suf­fi­xe unter­schla­gen werden4, wird in
    Kauf genom­men.
  3. Expli­zi­te Sexus­in­dif­fe­ren­zie­rung
    Bei der expli­zi­ten Sexus­in­dif­fe­ren­zie­rung ver­wen­det
    man sub­stan­ti­vier­te Par­ti­zi­pi­en oder Adjek­ti­ve und ver­sucht
    damit Wör­ter zu ver­wen­den, die von sich aus kei­nen
    Genus haben. Die begriff­li­che Kenn­zeich­nung des
    Sexus kann hier nicht durch das Sub­stan­tiv selbst, son­dern
    durch die Ver­wen­dung ent­spre­chen­der bestimm­ter
    Arti­kel gesche­hen. Eine wei­te­re Vari­an­te zur sexus­in­dif­fe­ren­ten
    Umschrei­bung ist die Ver­wen­dung des Par­ti­zip
    Prä­sens eines Verbs. Die Stu­den­ten wer­den zu den Stu­die­ren­den.
    Schließ­lich gibt es noch den Ansatz, den
    Ober­be­griff durch Adjek­ti­ve, Pas­siv­for­mu­lie­run­gen oder
    Rela­tiv­sät­ze zu umschrei­ben. So wird bei­spiels­wei­se aus
    dem Juris­ten nun jemand, der Jura prak­ti­ziert oder aus
    der For­mu­lie­rung „der Kauf­mann muss den Jah­res­ab­schluss
    auf­be­wah­ren“ nun „der Jah­res­ab­schluss ist aufzubewahren“.
  4. Zweck der Sprach­mo­di­fi­ka­ti­on
    Unab­hän­gig davon, wel­che zuvor genann­te Vari­an­te
    gewählt wird, so wird sie doch in der Regel zum Zwe­cke
    der soge­nann­ten „geschlech­ter­ge­rech­ten Spra­che“ bzw.
    der soge­nann­ten „gen­der­ge­rech­ten Spra­che“, kurz auch
    „Gen­dern“ ver­wen­det. Dies ist ein Sprach­ge­brauch, der
    zum Ziel hat, die bio­lo­gi­schen bzw. im Fal­le der gen­der­ge­rech­ten
    Spra­che auch die sozia­len Geschlech­ter (Gen­der)
    in gespro­che­ner und geschrie­be­ner Spra­che mög­lichst
    umfas­send zu repräsentieren.5 Dem liegt der
    Gedan­ke zugrun­de, dass das mas­ku­li­ne Genus in Ober­be­grif­fen
    wie ein mas­ku­li­ner Sexus zu wer­ten sei, also
    ein bio­lo­gisch männ­li­ches Geschlecht bedeu­te. Die­se
    Sicht­wei­se ist der soge­nann­ten femi­nis­ti­schen Lin­gu­is­tik
    zuzu­ord­nen, wel­che ihre Anfän­ge in den spä­ten 1970er
    Jah­ren fand.6 Nach die­sem Gedan­ken sei­en Frau­en und
    Diver­se bei der Ver­wen­dung des gene­ri­schen Mas­ku­li­nums
    ledig­lich „mit­ge­meint“. Dies sei nicht nach­voll­zieh­bar,
    ist es doch gesell­schaft­li­cher Kon­sens, die ver­schie­de­nen
    Geschlech­ter nur unter sach­li­chen Gesichts­punk­ten,
    die der Natur der Per­son ent­sprin­gen,
    Lam­mich · Der Sexus im juris­ti­schen Sprach­ge­brauch 5 7
    7 Koll­may­er et al., Fron­tiers in Psy­cho­lo­gy 2018, abruf­bar unter:
    https://doi.org/10.3389/fpsyg.2018.00985.
    8 Vervecken/Hannover, Social Psy­cho­lo­gy 2015, Vol. 46 Nr. 2, abruf­bar
    unter: https://doi.org/10.1027/1864–9335/a000229.
    9 Am Bei­spiel Finn­land, wo man das geschlechts­neu­tra­le
    Pro­no­men „hen“ ein­führ­te: Tavits/Pérez, PNAS 2019, Vol. 116
    Nr. 34, S. 16781–16786, abruf­bar unter: https://doi.org/10.1073/
    pnas.1908156116.
    10 Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit 1991, Rn. 41.
    11 Zum Bei­spiel der/die Käufer/Käuferin.
    12 Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit 1991, Rn. 42.
    13 Zum Bei­spiel der/die Käu­fe­rIn.
    14 Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit 1991, Rn. 43.
    unter­schied­lich zu behan­deln. Zudem wür­de man beim
    Gebrauch gram­ma­tisch männ­li­cher Bezeich­nun­gen
    häu­fig männ­li­che Bil­der asso­zi­ie­ren. Frau­en sei­en also,
    so die The­se, wegen des gram­ma­ti­schen Geschlechts beim
    Zuhö­rer bzw. Leser men­tal nicht reprä­sen­tiert. Die
    Sexus(in)differenzierung soll sich auf das Ver­hal­ten der
    Rezi­pi­en­ten aus­wir­ken: Frau­en wür­den bei­spiels­wei­se
    eher berücksichtigt7, weib­li­che Kin­der trau­ten sich eher
    männ­lich kon­no­tier­te Beru­fe zu8 und man hin­ter­fra­ge
    sozia­le Geschlech­ter­rol­le kritischer.9
    Die Sexus­dif­fe­ren­zie­rung erzeugt also nach Vor­stel­lung
    der femi­nis­ti­schen Lin­gu­is­tik ein Gegen­ge­wicht zu
    den „männ­li­chen“ Begrif­fen, die Sexus­in­dif­fe­ren­zie­rung
    ver­sucht, jede geschlecht­li­che Asso­zia­ti­on durch ver­meint­lich
    „geschlecht­lo­se“ Begrif­fe zu unter­bin­den.
    III. Umset­zung in Sprach­vor­ga­ben und Pra­xis
    Auch unter Anwen­dern des juris­ti­schen Sprach­ge­brauchs
    gibt es sol­che, die die unter II. erläu­ter­ten Vari­an­ten
    prak­ti­zie­ren. Unter­teilt wer­den soll im Fol­gen­den
    in die drei gro­ßen Berei­che der ver­schrift­lich­ten Rechts­spra­che:
    Gesetz­ge­bung (1.), Recht­spre­chung (2.) und
    Wis­sen­schaft (3.). Für die­se wer­den jeweils die wesent­li­chen
    Sprach­vor­ga­ben sowie deren prak­ti­sche Umset­zung
    dar­ge­stellt und das eine als auch das ande­re kri­tisch
    gewür­digt.
  5. Gesetz­ge­bung
    Wie auch nicht zuletzt das Grund­ge­setz sind die meis­ten
    Geset­zes­tex­te auf Bun­des- oder Lan­des­ebe­ne unter
    ande­rem im gene­ri­schen Mas­ku­li­num for­mu­liert. Die
    Selbst­ver­ständ­lich­keit der Tren­nung von Sexus und
    Genus im Auge des ver­fas­sungs­ge­ben­den Gesetz­ge­bers
    zeigt sich nicht zuletzt an Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, der fest­stellt,
    dass nie­mand wegen sei­nes Geschlech­tes benach­tei­ligt
    oder bevor­zugt wer­den darf. Ver­gleich­bar spricht
    das Bür­ger­li­che Gesetz­buch vom Ver­brau­cher, das Straf­ge­setz­buch
    vom Täter und die Kos­me­ti­ker­meis­ter­ver­ord­nung
    vom Kos­me­ti­ker­meis­ter.
    a. Regeln der Geset­zesspra­che
    Für Geset­ze und Rechts­ver­ord­nun­gen gibt das Bun­des­jus­tiz­mi­nis­te­ri­um
    das Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit
    (HdR) her­aus. Mit die­sem kommt das Minis­te­ri­um sei­ner
    Auf­ga­be nach, die Ent­wür­fe aus allen Res­sorts in
    recht­li­cher und förm­li­cher Hin­sicht zu über­prü­fen und
    die Bun­des­mi­nis­te­ri­en in Recht­set­zungs­vor­ha­ben zu
    bera­ten. Grund­la­ge für das Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit
    ist § 42 Abs. 4 der Gemein­sa­men Geschäfts­ord­nung
    der Bun­des­mi­nis­te­ri­en (GGO).
    Ent­spre­chend sei­ner Auf­ga­ben­zu­wei­sung war es
    auch das Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit, das bereits
    1991 unter Jus­tiz­mi­nis­ter Klaus Kin­kel (FDP) eine Berück­sich­ti­gung
    der femi­nis­ti­schen Sprach­kri­tik kund­tat:
    „Die Vor­schrif­ten­spra­che wird kri­ti­siert, weil die Häu­fung
    mas­ku­li­ner Per­so­nen­be­zeich­nun­gen den Ein­druck
    erwe­cke, als wür­den Frau­en über­se­hen oder nur „mit­ge­meint“.
    Frau­en müß­ten immer aus­drück­lich erwähnt
    wer­den. Zur Lösung wer­den ver­schie­de­ne For­mu­lie­rungs­wei­sen
    vor­ge­schla­gen, die jedoch nur zum Teil
    sach­ge­recht sind […].“10
    Eine voll­stän­di­ge Paarform11 soll­te, so heißt es im
    Wei­te­ren, nicht durch­gän­gig ver­wen­det wer­den, da es
    die Geset­zes­tex­te unüber­sicht­lich und unge­nau machen
    wür­de. Zudem wür­de vom eigent­li­chen Rege­lungs­ge­halt
    abge­wi­chen wer­den. Zum Zwe­cke der Ein­heit­lich­keit
    der Geset­zes­tex­te soll die voll­stän­di­ge Paar­form auch
    nicht dort ein­ge­setzt wer­den, wo es im Ein­zel­fall kei­ne
    Schwie­rig­kei­ten berei­ten würde.12 Bei der wört­li­chen
    Anga­be von Berufs‑, Funk­ti­ons- und Amts­be­zeich­nun­gen
    soll hin­ge­gen eine voll­stän­di­ge Paar­form ver­wen­det
    wer­den. Das­sel­be gilt für For­mu­la­re und per­sön­li­che
    Doku­men­te. Im Übri­gen sei aber auch inner­halb die­ser
    Geset­zes­tex­te das gene­ri­sche Mas­ku­li­num erlaubt.
    Eine abge­kürz­te Paarform13, etwa durch eine Bin­nen­ma­jus­kel,
    sei nicht erlaubt, da es für die­se Form kei­ne
    Ver­ein­fa­chung im Sin­gu­lar gebe und der Text nicht
    prä­zi­se münd­lich zitier­bar sei.14 Auch wenn ande­re abge­kürz­te
    Paar­for­men wie etwa mit­hil­fe des Aste­risks
    oder des Unter­strichs erst Jahr­zehn­te spä­ter von ein­zel­nen
    Anwen­dern auf­ge­nom­men wur­de, so wür­de die dama­li­ge
    Argu­men­ta­ti­ons­li­nie auch bei die­sen grei­fen.
    Soweit mög­lich, sol­len mas­ku­li­ne Per­so­nen­be­zeich­nun­gen
    durch eine expli­zit sexus­in­dif­fe­ren­te Umschrei­bung
    ver­mie­den wer­den. So soll bei­spiels­wei­se der Begriff
    der Per­son ver­wen­det wer­den. Dies wird auch in der
    aktu­el­len Fas­sung des Hand­buchs für Rechts­förm­lich­keit
    aus dem Jah­re 2008 fest­ge­stellt. Hier­nach ver­wirk­li­che
    die expli­zit sexus­in­dif­fe­ren­te Umschrei­bung „die
    5 8 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 2 ) , 5 5 — 6 7
    15 Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit 2008, Rn. 116.
    16 BGBl Teil I Nr. 38, S. 2154 ff.
    17 Vgl. Art. 1 zur Ände­rung der Bun­des­no­tar­ord­nung.
    18 BGBl Teil I Nr. 12, S. 367 ff.
    19 Refe­ren­ten­ent­wurf vom 19.09.2020.
    20 Jeden­falls im Ent­wurf eines Sanie­rungs­rechts­fort­ent­wick­lungs­ge­setz.
    21 So unter B.
    22 Ent­wurf zu § 270 b InsO.
    23 BGBl Teil I Nr. 66, S. 3256 ff.
    24 Bus­se, Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand Fach­spra­chen, S. 1382.
    25 Bus­se, Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand Fach­spra­chen, S. 1383.
    26 Christensen/Lerch, Recht ver­ste­hen, S. 21, 28.
    For­de­rung nach sprach­li­cher Gleich­be­hand­lung von
    Män­nern und Frau­en am besten.“15
    b. Prak­ti­sche Umset­zung
    Prak­tisch umge­setzt wer­den die Vor­ga­ben mehr oder
    weni­ger kon­se­quent. Wäh­rend eini­ge Moder­ni­sie­rungs­ge­set­ze
    sich dar­auf kon­zen­trie­ren, gram­ma­tisch männ­li­che
    Ober­be­grif­fe durch expli­zit sexus­in­dif­fe­ren­te Begrif­fe
    zu erset­zen, ste­chen ande­re durch die (unvoll­stän­di­ge)
    Ver­wen­dung voll­stän­di­ger Paar­for­men her­vor. So ersetzt
    bei­spiels­wei­se das Gesetz zur Moder­ni­sie­rung des nota­ri­el­len
    Berufs­rechts und zur Ände­rung wei­te­rer Vor­schrif­ten
    vom 25. Juni 202116 die Begrif­fe Lei­ter, Prü­fer
    und Not­ar­amt durch die das Prü­fungs­amt lei­ten­de Per­son
    (Lei­tung), Prü­fen­de und nota­ri­el­les Amt.17 Und auch der
    Fuß­gän­ger ist seit der Ver­ord­nung zur Neu­fas­sung der
    Stra­ßen­ver­kehrs-Ord­nung vom 6. März 201318 zwar
    noch im amt­li­chen Titel des § 25 zu lesen, im Übri­gen
    aber nur als einer der zu Fuß Gehen­den zu erken­nen.
    Der Ver­wen­dung voll­stän­di­ger Paar­form wid­me­te
    sich hin­ge­gen der Gesetz­ge­ber bei­spiels­wei­se mit der
    Neu­re­ge­lung der Ent­schä­di­gung von Zeu­gen und Sach­ver­stän­di­gen.
    Wäh­rend zuvor das Gesetz über die Ent­schä­di­gung
    von Zeu­gen und Sach­ver­stän­di­gen die Mate­rie
    regel­te, schaut der zu Gericht gela­de­ne juris­ti­sche Laie
    heut­zu­ta­ge anschlie­ßend in das Gesetz über die Ver­gü­tung
    von Sach­ver­stän­di­gen, Dol­met­sche­rin­nen, Dol­met­schern,
    Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern sowie die Ent­schä­di­gung
    von ehren­amt­li­chen Rich­te­rin­nen, ehren­amt­li­chen
    Rich­tern, Zeu­gin­nen, Zeu­gen und Drit­ten. Dabei
    wird ihm auf­fal­len, dass die Zeu­gin­nen aus dem Titel
    noch ein­mal in § 1 und anschlie­ßend gar nicht mehr auf­tau­chen.
    Schon ab § 2 ver­zich­tet der Gesetz­ge­ber wie­der
    auf die voll­stän­di­ge Paar­form und spricht nur noch von
    dem Zeu­gen. Für die Rich­te­rin lang­te die Aus­dau­er nicht
    ein­mal für einen gan­zen Para­gra­phen: In § 1 Abs. 1 Nr. 2
    noch so bezeich­net, soll sie bereits in § 1 Abs. 4 auch
    durch den Rich­ter seman­tisch getilgt sein.
    Im Jahr 2020 hat­te die dama­li­ge Bun­des­jus­tiz­mi­nis­te­rin
    Chris­ti­ne Lam­brecht (SPD) den Ent­wurf eines Geset­zes
    zur Fort­ent­wick­lung den Sanie­rungs- und Insolvenzrechts19
    vor­ge­legt, in wel­chem zum größ­ten Teil20
    aus­schließ­lich femi­nin movier­te Bezeich­nun­gen wie
    etwa Schuld­ne­rin oder Gläu­bi­ge­rin (in der Pres­se­be­richt­erstat­tung
    oft als „gene­ri­sches Femi­ni­num“ bezeich­net),
    aber auch voll­stän­di­ge Paar­for­men wie etwa Arbeit­neh­me­rin­nen
    und Arbeitnehmer21 ver­wen­det wur­den. Ver­ein­zelt
    wur­den auch gram­ma­tisch mas­ku­li­ne Ober­be­grif­fe
    wie der Sach­wal­ter oder auch Arbeit­neh­mer ver­wen­det.
    22 Das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um leg­te gegen die
    For­mu­lie­run­gen Wider­spruch ein und das Gesetz wur­de
    schluss­end­lich unter Ver­wen­dung des gene­ri­schen Mas­ku­li­nums
    verkündet.23
    Wäh­rend die Bun­des- und Lan­des­recht­set­zung hier­von
    kei­nen Gebrauch macht, fin­den sich in eini­gen kom­mu­na­len
    Nor­men auch die abge­kürz­ten Paar­for­men. So
    berück­sich­tigt § 5 der Frei­bur­ger Sta­di­on­ver­ord­nung
    vom 10. Novem­ber 2020 auch die Anwohner_innenrechte
    der Anwohner_innen. Es liegt nahe, dass sich bei die­ser
    Abwei­chung von Bun­des- und Lan­des­stan­dard die
    Selbst­ver­wal­tungs­ga­ran­tie der Kom­mu­nen gemäß
    Art. 28 Abs. 2 GG ver­wirk­li­chen soll.
    c. Kri­ti­sche Wür­di­gung
    Die Geset­zesspra­che steht natur­ge­mäß in einem Dilem­ma.
    Als „Pro­to­typ einer Fach­spra­che“ wie etwa auch die
    Spra­che der Infor­ma­ti­ons­tech­nik oder die mili­tä­ri­sche
    Spra­che ist die Rechts­spra­che zum einen der Ter­mi­no­lo­gi­sie­rung,
    der Prä­zi­si­on und der Sys­te­ma­tik unter­wor­fen.
    24 Dies gilt für die Geset­zesspra­che in beson­de­rer
    Form, ist sie doch der „insti­tu­tio­nel­le und fach­li­che Kern
    der Rechtssprache.“25 Auf der ande­ren Sei­te ist zu
    berück­sich­ti­gen, dass die Geset­zesspra­che aus ihrer
    demo­kra­ti­schen Basis her­aus auch mög­lichst all­ge­mein­ver­ständ­lich
    sein soll. Schließ­lich besteht ein demos nicht
    nur aus Rechts­ge­lehr­ten und hat einen Anspruch dar­auf,
    auch erken­nen zu kön­nen, in wel­cher kon­kre­ten Form
    sich die norm­ge­präg­te Staats­ge­walt nun mani­fes­tiert.
    Eine All­ge­mein­heit kann nichts bil­li­gen und damit legi­ti­mie­ren,
    wenn sie gar nicht oder miss­ver­steht, was sie
    bil­li­gen soll. Und wür­de etwa nur der Rich­ter als Fach­sprach­ler
    die Geset­zesspra­che ver­ste­hen, wäre sein Spre­chen
    unan­greif­bar und der Rechts­un­ter­wor­fe­ne ganz im
    Sin­ne einer tota­li­tä­ren Ord­nung sprachlos.26 Das­sel­be
    Pro­blem ergibt sich aber auch bei einer nicht-fach­li­chen
    Spra­che. Denn nur eine Fach­spra­che ver­mag es, kon­kret
    und effi­zi­ent genug zu sein, um Rechts­si­cher­heit im Sin­ne
    von Klar­heit über den Nor­m­in­halt zu schaf­fen. Bei­de
    Sei­ten der Medail­le, sowohl die Erfor­der­nis­se der Fach­sprach­lich­keit
    als auch die Erfor­der­nis­se der All­gem­ein­Lam­mich
    · Der Sexus im juris­ti­schen Sprach­ge­brauch 5 9
    27 Gleich- und ein­präg­sam erkann­te auch der Öster­rei­chi­sche Ver­fas­sungs­ge­richts­hof,
    dass eine Norm ver­fas­sungs­wid­rig ist, wenn
    sie nur „mit sub­ti­ler Sach­kennt­nis, außer­or­dent­li­chen metho­di­schen
    Fähig­kei­ten und mit einer gewis­sen Lust zum Lösen von
    Denk­sport­auf­ga­ben ver­stan­den wer­den kann“, VfGH 29.06.1990,
    G 81/90–11.
    28 Im Ergeb­nis auch Schröder/Würdemann, ZRP 2007, S. 231.
    29 Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit 2008, Rn. 53 ff.
    30 Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit 2008, Rn. 62.
    31 Nach § 13 BGB „jede natür­li­che Per­son, die ein Rechts­ge­schäft
    zu Zwe­cken abschließt, die über­wie­gend weder ihrer gewerb­li­chen
    noch ihrer selb­stän­di­gen beruf­li­chen Tätig­keit zuge­rech­net
    wer­den kön­nen“.
    32 Nach § 14 BGB „eine natür­li­che oder juris­ti­sche Per­son oder eine
    rechts­fä­hi­ge Per­so­nen­ge­sell­schaft, die bei Abschluss eines Rechts­ge­schäfts
    in Aus­übung ihrer gewerb­li­chen oder selb­stän­di­gen
    beruf­li­chen Tätig­keit han­delt“.
    33 Nach § 1565 Abs. 1 S. 2 BGB ist die Ehe geschei­tert, wenn „die
    Lebens­ge­mein­schaft der Ehe­gat­ten nicht mehr besteht und nicht
    erwar­tet wer­den kann, dass die Ehe­gat­ten sie wie­der­her­stel­len“.
    34 § 2 Abs. 1 Nr. 2 JVEG.
    35 BVerfG, Beschluss vom 10. Okto­ber 2017 – 1 BvR 2019/16 –,
    BVerfGE 147, 1–31.
    ver­ständ­lich­keit, sind sowohl Bedin­gung als auch gegen­sei­ti­ges
    Hin­der­nis für den­sel­ben, für einen demo­kra­ti­schen
    Staat exis­ten­ti­el­len, Zweck.27 Es bleibt nichts
    ande­res übrig, als die All­ge­mein­ver­ständ­lich­keit bei
    gleich­blei­ben­der Fach­sprach­lich­keit als dau­er­haf­te, nie
    in Gän­ze zu errei­chen­de Opti­mie­rungs­auf­ga­be zu
    betrachten.28
    Auch das Regel­werk für die deut­sche Geset­zesspra­che,
    das Hand­buch der Rechts­förm­lich­keit, erkennt die
    zwei Zie­le der Fach­sprach­lich­keit (Richtigkeit)29 und der
    All­ge­mein­ver­ständ­lich­keit theoretisch30 an. Und – um es
    all­ge­mein­ver­ständ­lich zu hal­ten – ver­korkst es am Ende
    durch sei­nen Kampf um und mit dem Sexus sowohl in
    die eine als auch die ande­re Rich­tung.
    aa. Rich­tig­keit
    Die gröbs­te Ein­bu­ße in der Rich­tig­keit erfährt Geset­zesspra­che
    durch die Vor­ga­be zur bzw. in der Umset­zung
    der Sexus­dif­fe­ren­zie­rung hin­sicht­lich der Sys­te­ma­tik.
    Begrif­fe soll­ten, wenn nicht schon im Sin­ner einer ein­heit­li­chen
    Rechts­ord­nung geset­zes­text­über­grei­fend,
    dann jeden­falls inner­halb eines Regel­wer­kes, in gegen­sei­ti­ger
    Bezie­hung ste­hend aus­ge­legt wer­den kön­nen.
    Wäh­rend Legal­de­fi­ni­tio­nen von gemein­sprach­li­chen
    Begriff­lich­kei­ten wie Verbraucher31, Unternehmer32 oder
    Schei­tern der Ehe33 einen abso­lu­ten seman­ti­schen Fix­punkt
    für die Aus­le­gung der Begrif­fe im Wei­te­ren gibt,
    ist auch jeder Begriff schon für sich ein rela­ti­ver seman­ti­scher
    Fix­punkt für die Aus­le­gung gleich­lau­ten­der
    Begrif­fe. Das bedeu­tet: Begrif­fe wer­den, sofern nicht der
    Kon­text evi­dent dage­gen­spricht, jeden­falls dahin­ge­hend
    zu defi­nie­ren sein, dass sie an jeder Stel­le das­sel­be bedeu­ten
    (sys­te­ma­ti­sche Wort­laut­aus­le­gung).
    Mit die­ser bis­her tri­vi­al erschie­ne­nen Regel kämpft
    der Gesetz­ge­ber, wenn er gram­ma­tisch mas­ku­li­ne, sexus­in­dif­fe­ren­te
    Ober­be­grif­fe zu bio­lo­gisch mas­ku­li­nen Bezeich­nun­gen
    erklärt, indem er die sexus­dif­fe­ren­zie­ren­de
    voll­stän­di­ge Paar­form ver­wen­det. Die voll­stän­di­ge Paar­form
    erklärt eine Nicht­an­er­ken­nung des Unter­schieds
    von Sexus und Genus, die sys­te­ma­tisch der­ge­stalt auf die
    Seman­tik der Begrif­fe ein­wirkt, dass etwa eine gram­ma­tisch
    männ­li­che Per­so­nen­be­zeich­nung auch nur die Bedeu­tung
    einer bio­lo­gisch männ­li­chen Per­son hat. Denn
    wür­de der Zeu­ge auch weib­li­che Zeu­gen bezeich­nen,
    bräuch­te es kei­ne expli­zi­te Erwäh­nung der Zeu­gin. Wenn
    nun das Jus­tiz­ver­gü­tungs- und ‑ent­schä­di­gungs­ge­setz in
    § 1 Abs. 1 Nr. 3 von Zeu­gin­nen und Zeu­gen spricht und
    die Anspruchs­frist nur für den Zeugen34 regelt, bedeu­tet
    das, dass die Anspruchs­frist der weib­li­chen Zeu­gen (Zeu­gin­nen)
    gar nicht gere­gelt ist. Die­se Rege­lungs­lü­cke kann
    aber nach der bis­he­ri­gen Metho­de der Geset­zes­ex­ege­se
    nicht plan­wid­rig sein, da das Gesetz ja auch den weib­li­chen
    Zeu­gen kennt und nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 sogar expli­zit
    zu behan­deln ver­spricht. Der Gesetz­ge­ber ver­sperrt
    somit den Weg der ana­lo­gen Anwen­dung. Der Rechts­an­wen­der
    wird gezwun­gen, die Ver­fas­sung her­an­zu­zie­hen
    und den Begriff des Zeu­gen ent­ge­gen der sys­te­ma­ti­schen
    Wort­laut­aus­le­gung nach dem all­ge­mei­nen Gleich­heits­satz
    des Art. 3 Abs. 1 GG ver­fas­sungs­kon­form so aus­zu­le­gen,
    dass auch weib­li­che Zeu­gen hier­un­ter zu fas­sen
    sind.
    Die Sexus­dif­fe­ren­zie­rung durch die voll­stän­di­ge
    Paar­form schei­tert im Wei­te­ren an der Bezeich­nung von
    Per­so­nen, die sich dau­er­haft weder dem männ­li­chen
    noch dem weib­li­chen Geschlecht zuord­nen las­sen. Mit
    sei­nem Beschluss zur per­so­nen­stands­recht­li­chen Regis­trie­rung
    des bio­lo­gi­schen Geschlechts stell­te das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt
    fest, dass es sowohl das all­ge­mei­ne
    Per­sön­lich­keits­recht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
    Art. 1 Abs. 1 GG als auch das Grund­recht nach
    Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ver­let­ze, wenn Per­so­nen diver­sen
    Geschlechts dazu gezwun­gen wer­den, sich als weib­lich
    oder männ­lich zu registrieren.35 Jede Anzei­ge eines Sexus,
    wie etwa in der voll­stän­di­gen Paar­form, ist eine expli­zi­te
    Unter­schla­gung der Geschlech­ter, die sich sprach­lich
    nicht anzei­gen las­sen und führt – wenn auch in stark
    abge­mil­der­ter Form – zu einem Zuord­nungs­zwang, wel­cher
    dem Dilem­ma in besag­tem Beschluss dem Prin­zip
    nach gleicht. Die­ses Pro­blem gibt es bei der sexus­in­dif­fe­ren­ten
    Spra­che, zu der sowohl allein­ste­hend gram­ma­tisch
    männ­li­che wie auch allein­ste­hend gram­ma­tisch
    weib­li­che Ober­be­grif­fe gehö­ren, nicht. Denn sie ent­hält
    kei­ner­lei Aus­sa­ge über das bio­lo­gi­sche Geschlecht.
    6 0 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 2 ) , 5 5 — 6 7
    36 § 38 Abs. 1 SchG BW wäre bei der nächs­ten Reform folg­lich dahin­ge­hend
    zu moder­ni­sie­ren, dass die Lehr­kräf­te und Lehr­kräf­te­ri­che
    im Dienst des Lan­des ste­hen.
    37 Vgl. auch die sexus­in­dif­fe­rent umschrie­be­nen Bus­fah­rer, die als
    Bus­fah­ren­de gar nicht mehr zu loka­li­sie­ren sind.
    38 § 55 Abs. 6 ERegG.
    39 Abge­kürzt: RflEt­tÜ­A­ÜG M‑V.
    40 § 616 S. 1 BGB.
    Über­dies fällt auf, dass es außer­halb der Umwand­lung
    des gene­ri­schen Mas­ku­li­nums kei­ne Klar­heit gibt.
    Nach dem Sprach­ge­brauch des moder­nen Gesetz­ge­bungs­hand­werks,
    wel­cher das gram­ma­ti­sche Geschlecht
    in die Seman­tik ein­be­zieht, muss die Per­son, die Wai­se
    oder die Gei­sel als Trä­ger eines bio­lo­gi­schen Geschlechts
    aus­schließ­lich einen bio­lo­gisch weib­li­chen Men­schen
    dar­stel­len. Möch­te der Gesetz­ge­ber auch Män­ner anspre­chen,
    müss­ten die Begrif­fe mit­tels Movie­rung mas­ku­lin
    sexus­mar­kiert wer­den und in künf­ti­gen Fas­sun­gen
    von der Per­son und dem Per­sonerich, der Wai­se und dem
    Wai­se­rich und der Gei­sel und dem Gei­sel­rich spre­chen.
    Glei­ches gilt im Übri­gen für ver­meint­lich sexus­in­dif­fe­ren­te
    Umschrei­bun­gen wie die Lehr­kraft. Denn kraft ihrer
    Geschlechts­trä­ger­ei­gen­schaft ist die Lehr­kraft nach
    der femi­nis­ti­schen Sprach­lo­gik auch bio­lo­gisch am
    gram­ma­ti­schen Geschlecht zu messen.36
    Auch die Prä­zi­si­on als wei­te­res Erfor­der­nis einer
    Fach­spra­che lei­det unter den Richt­li­ni­en des Bun­des­jus­tiz­mi­nis­te­ri­ums,
    wenn die expli­zi­te Sexus­in­dif­fe­ren­zie­rung
    sub­stan­ti­vier­te Par­ti­zi­pi­en ver­wen­det. Denn das
    sub­stan­ti­vier­te Par­ti­zip hat in aller Regel eine ande­re Bedeu­tung
    als das ersetz­te Wort. Sei­ne pri­mä­re Daseins­be­rech­ti­gung
    in der deut­schen Spra­che erfährt das sub­stan­ti­vier­te
    Par­ti­zip in der Beschrei­bung eines gera­de
    statt­fin­den­den Zustands. So ist der Teil­neh­men­de einer
    Ver­samm­lung jemand, der gera­de an etwas teil­nimmt.
    Ist er auf dem Nach­hau­se­weg von der Ver­samm­lung, so
    ist er kein Teil­neh­men­der mehr, son­dern ein Teil­neh­mer,
    der zugleich Heim­keh­ren­der ist. Nun ist es rich­tig, dass
    auch der prä-femi­nis­ti­sche Sprach­ge­brauch sub­stan­ti­vier­te
    Par­ti­zi­pi­en im Sin­ne einer zeit­un­ab­hän­gi­gen Per­so­nen­be­zeich­nung
    kann­te. So ist bei­spiels­wei­se der Vor­sit­zen­de
    nicht immer in Aus­übung sei­nes Vor­sit­zes,
    wenn er so bezeich­net wird. Die­se gebräuch­li­che Argu­men­ta­ti­on,
    dass der all­ge­mei­ne Sprach­ge­brauch auch
    aty­pi­sche Ver­wen­dun­gen von sub­stan­ti­vier­ten Par­ti­zi­pi­en
    auf­weist, hilft aber nicht dar­über hin­weg, dass auch
    die­se zwin­gend mit dem Ver­lust eines zeit­be­zo­ge­nen
    Prä­zi­sie­rungs­in­stru­ments ein­her­ge­hen. Denn wer den
    Teil­neh­men­den syn­onym zu den Teil­neh­mern ver­wen­det,
    gewinnt eine neue Bezeich­nung für den Teil­neh­mer hin­zu
    und ver­liert die Bezeich­nung für den bis­he­ri­gen Teil­neh­men­den.
    Das ist mit­nich­ten im Sin­ne einer prä­zi­sen
    Fachsprache.37
    bb. All­ge­mein­ver­ständ­lich­keit
    Die Geset­zesspra­che war bereits vor dem Sexus­kampf
    schwer ver­ständ­lich. Ein von der All­tags­spra­che abwei­chen­des
    Über­maß an Gerun­di­ven („Die in Bezug auf
    über­las­te­te Schie­nen­we­ge zu befol­gen­den Ver­fah­ren und
    anzu­wen­den­den Kri­te­ri­en sind“38), Suf­fixo­iden (sit­ten­wid­rig,
    rechts­wid­rig), Schach­tel­sät­zen und Sub­stan­tiv­kom­po­si­ta
    (Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz39)
    sowie teil­wei­se ver­al­te­te For­mu­lie­run­gen
    („Der […] Ver­pflich­te­te wird des
    Anspruchs […] nicht dadurch ver­lus­tig, […]“40) erschwe­ren
    die Erschlie­ßung des Inhalts. Dies wird frei­lich nicht
    bes­ser, wenn an sich prä­zi­se all­ge­mein­sprach­li­che Begrif­fe
    durch unüb­li­che Begrif­fe und For­mu­lie­run­gen ver­än­dert
    wer­den. So wird es sowohl dem juris­ti­schen Lai­en
    als auch dem juris­tisch Geschul­ten schnel­ler ein­leuch­ten,
    dass es sich bei dem Fuß­gän­ger um den Ver­kehrs­teil­neh­mer
    han­deln soll als bei dem zu Fuß Gehen­den. Es
    drängt sich für den juris­tisch Unge­schul­ten bei der­ar­ti­gen
    (sexus­in­dif­fe­ren­ten) For­mu­lie­run­gen unwei­ger­lich
    der Ver­dacht auf, dass es sich um etwas ande­res han­deln
    muss als um einen Fuß­gän­ger – schließ­lich, so liegt es
    nahe, hät­te man doch ansons­ten den übli­chen Begriff
    ver­wen­den kön­nen. Die­se Rest­zwei­fel durch die Über­set­zun­gen
    von all­ge­mein­sprach­lich ste­hen­den Begrif­fen
    in exo­ti­sche Umschrei­bun­gen min­dern die Behü­tet­heit
    der Geset­zes­lek­tü­re und somit die Sicher­heit im Recht.
    Doch nicht nur die neu­ar­ti­gen For­mu­lie­run­gen erschwe­ren
    die Ent­nah­me der durch den Rechts­satz inten­dier­ten
    Aus­sa­ge. Als wäre das Phä­no­men von Schach­tel­sät­zen
    in Geset­zes­tex­ten nicht schon bedrü­ckend genug,
    wird mit der Imple­men­tie­rung der voll­stän­di­gen Paar­form
    eine zusätz­li­che kogni­ti­ve Bar­rie­re geschaf­fen. So
    heißt es etwa in Art. 11 Abs. 2 des baye­ri­schen Kom­mu­nal-
    Wahl­be­am­ten-Geset­zes: „Ist die Wahl eines Bezirks­tags­prä­si­den­ten
    oder einer Bezirks­tags­prä­si­den­tin, eines
    wei­te­ren Bür­ger­meis­ters oder einer wei­te­ren Bür­ger­meis­te­rin
    bzw. eines gewähl­ten Stell­ver­tre­ters des Land­rats
    oder der Land­rä­tin bzw. des Bezirks­tags­prä­si­den­ten
    oder der Bezirks­tags­prä­si­den­tin als nich­tig fest­ge­stellt
    Lam­mich · Der Sexus im juris­ti­schen Sprach­ge­brauch 6 1
    41 Zur Pro­ble­ma­tik, dass der Stell­ver­tre­ter nicht sexus­mar­kiert als
    die Stell­ver­tre­te­rin auf­taucht, sie­he unter III. 1. c. aa.
    42 Anders als etwa recht­lich funk­ti­ons­lo­se Nor­men wie § 90a BGB,
    denen man geflis­sent­lich, aber guten Gewis­sens kei­nes Bli­ckes
    wür­di­gen kann. Bei funk­ti­ons­lo­sen Bestand­tei­len inner­halb eines
    Sat­zes, der auch funk­tio­na­le Bestand­tei­le inne­hat, ist das nicht
    mög­lich.
    43 So auch Mil­de, Ver­mit­teln und Ver­ste­hen, S. 125.
    44 Tausch et al., Sich ver­ständ­lich aus­drü­cken, S. 192.
    45 Wobei es sich gera­de nicht um eine ver­ständ­lich­keits­för­dern­de
    Red­un­danz im Sin­ne einer inhalt­li­chen Wie­der­ho­lung mit­tels
    anders­ar­ti­ger For­mu­lie­rung han­delt.
    46 BGH, Beschluss vom 14. Juli 1981 – 1 StR 815/80 –, BGHSt 30, 182-
    185, Rn. 2.
    47 MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, GVG § 184 Rn. 5.
    48 OLG Hamm, Beschluss vom 22. April 2010 – III‑2 RVs 13/10 –,
    Rn. 21, juris.
    49 Pau­lus, JuS 1994, S. 367, 369.
    50 „Das Recht der Sor­ben, in den Hei­mat­krei­sen der sor­bi­schen
    Bevöl­ke­rung vor Gericht sor­bisch zu spre­chen, ist gewähr­leis­tet.“
    oder auf­ge­ho­ben, so ist kein Beam­ten­ver­hält­nis begrün­det
    worden.“41 Wür­de man hier das sexus­in­dif­fe­ren­te gene­ri­sche
    Mas­ku­li­num ver­wen­den, so wür­de der Satz wie
    folgt lau­ten: „Ist die Wahl eines Bezirks­tags­prä­si­den­ten,
    eines wei­te­ren Bür­ger­meis­ters bzw. eines gewähl­ten
    Stell­ver­tre­ters des Land­rats bzw. des Bezirks­tags­prä­si­den­ten
    als nich­tig fest­ge­stellt oder auf­ge­ho­ben, so ist
    kein Beam­ten­ver­hält­nis begrün­det wor­den.“ Bei­de Alter­na­ti­ven
    wür­den vor jedem Ver­wal­tungs­ge­richt zu
    glei­chem Recht füh­ren, aber nur eine der Alter­na­ti­ven
    wür­de beim ers­ten Ansatz ver­stan­den sein.
    Die Ver­kom­pli­zie­rungs­pro­ble­ma­tik lässt sich im Übri­gen
    auch nicht durch abge­kürz­te Paar­for­men lösen, da
    die­se auch einer Kon­gru­enz zu Pro­no­men, Adjek­ti­ven
    oder Arti­keln bedür­fen, wel­che eben­falls jedes Mal aufs
    Neue auf­ge­lis­tet wer­den müss­ten. Auch die­se brin­gen
    kei­nen wei­te­ren recht­li­chen Erkennt­nis­ge­winn und auch
    die­se kann man gera­de nicht geis­tig über­sprin­gen, ohne
    sie zunächst erkannt und bewer­tet zu haben.42
    Möch­te man die Vor­ga­ben zum Sexus­ge­brauch in
    Geset­zes­tex­ten also nun bei­spiels­wei­se unter dem in der
    Text­ver­ständ­nis­for­schung all­ge­mein anerkannten43
    Ham­bur­ger Kon­zept bewer­ten, so sieht es schlecht aus.
    Die hiernach44 bestehen­den vier Merk­ma­le der Ver­ständ­lich­keit
    „Ein­fach­heit“, „Gliederung/Ordnung“,
    „Kürze/Prägnanz“ und „anre­gen­de Zusät­ze“ wer­den
    teil­wei­se mit Füßen getre­ten. Die Ein­fach­heit fällt – über
    das bis­he­ri­ge Maß hin­aus­ge­hen­den – unge­wohn­ten For­mu­lie­run­gen
    zum Opfer; die Kür­ze geht in dop­pelt lan­gen
    und gleich erkennt­nis­rei­chen Satz­un­ge­tü­men unter.
    45 Die Glie­de­rung ist durch die Geset­zes­sys­te­ma­tik
    vor­ge­ge­ben, anre­gen­de Zusät­ze kennt die Geset­zesspra­che
    ohne­hin nicht.
    Nur bestimm­te Umfor­mu­lie­run­gen schei­nen in der
    Hin­sicht mit einer nicht weni­ger ver­ständ­li­chen Geset­zesspra­che
    ver­ein­bar. Hier­zu zäh­len ins­be­son­de­re Erset­zun­gen
    von Per­so­nen­be­zeich­nun­gen durch Insti­tu­ti­ons­be­zeich­nun­gen.
    So kann bei­spiels­wei­se der Minis­ter
    durch das Minis­te­ri­um oder der Lei­ter durch die Lei­tung
    ersetzt wer­den.
  6. Recht­spre­chung
    Die Judi­ka­ti­ve spricht das Recht in kon­kre­ten Fäl­len und
    muss schon des­we­gen über die abs­trakt-gene­rell
    bestimm­te Geset­zesspra­che hin­aus­ge­hen.
    a. Regeln der Gerichts­spra­che
    Hin­sicht­lich der Spra­che sind Gerich­te – wie auch sonst
    in der Ver­fah­rens­ge­stal­tung – durch Pro­zess­ord­nun­gen
    gebun­den. Als Grund­norm wirkt hier­bei § 184 GVG.
    Nur ver­ein­zelt las­sen sich sprach­li­che Kon­kre­ti­sie­run­gen
    in Form­vor­schrif­ten für bestimm­te gericht­li­che
    Hand­lun­gen ent­neh­men. So las­sen sich etwa für straf­recht­li­che
    Urtei­le Sprach­er­for­der­nis­se aus § 267 StPO,
    für das zivil­recht­li­che Urteil Erfor­der­nis­se aus § 313 ZPO
    zie­hen. In Betracht kom­men schließ­lich Rund­erlas­se
    und Beschlüs­se der Län­der mit der Bin­dung an das
    Regel­werk für deut­sche Recht­schrei­bung.
    aa. Gerichts­ver­fas­sung
    Nach § 184 S. 1 GVG ist die Gerichts­spra­che deutsch.
    Dies umfasst alle Berei­che der rich­ter­li­chen Tätig­keit,
    nament­lich vor allem die münd­li­che Ver­hand­lung sowie
    alle vom Gericht stam­men­den und an die­se gerich­te­ten
    Schrift­stü­cke. Die Bestim­mung ist zwin­gen­der Natur
    und von Amts wegen zu beachten.46 Mit der deut­schen
    Spra­che ist in ers­ter Linie die deut­sche Hoch- und
    Schrift­spra­che gemeint.47 Fach­be­grif­fe und Fremd­wör­ter
    sind jedoch zulässig.48 Etli­che jün­ge­re Pro­zess­ord­nun­gen
    ver­wei­sen zur Sprach­fra­ge auf § 184 S. 1 GVG,
    etwa in § 55 VwGO, § 52 Abs. 1 FGO, § 17 BVerfGG oder
    § 8 FGG. Die Vor­schrift dient dem Zweck, den Ver­fah­rens­be­tei­lig­ten
    das Gesche­hen ver­ständ­lich zu machen.49
    Dabei ist – wie auch § 184 S. 2 GVG50 ver­deut­licht – die
    Rege­lungs­reich­wei­te auf die Spra­che in den Dimen­sio­nen
    Mut­ter- oder Fremd­spra­che zu ver­ste­hen. Inso­weit
    ist die Vor­schrift auch im zeit­li­chen Kon­text des 19. Jahr­hun­derts
    zu sehen, in dem die latei­ni­sche Spra­che als
    Gelehr­ten- und Uni­ver­si­täts­spra­che in greif­ba­rer Kon­kur­renz
    zur deut­schen Spra­che stand. Eine Vor­ga­be für
    6 2 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 2 ) , 5 5 — 6 7
    51 MüKoZPO/Musielak, 6. Aufl. 2020, ZPO § 313 Rn. 12.
    52 RGSt 4, S. 367, 370; 62, S. 216; 66, S. 8.
    53 BGH, Urteil vom 25. Okto­ber 1995 – 3 StR 391/95 –, Rn. 8, juris;
    BGH, Urteil vom 13. Okto­ber 1981 – 1 StR 471/81 –, BGHSt 30,
    225–228, Rn. 16.
    54 Bei­la­ge zum Bun­des­an­zei­ger vom 31. Okto­ber 1996, Nr. 205a.
    55 Vgl. etwa für Bran­den­burg: Amts­blatt für Bran­den­burg – Nr. 37
    vom 11. Sep­tem­ber 1998, S. 790.
    56 „Die Rich­ter sind unab­hän­gig und nur dem Geset­ze unter­wor­fen.“
    57 BVerfG, Beschluss vom 17. Janu­ar 1961 – 2 BvL 25/60 –, BVerfGE
    12, 67–73, Rn. 21; BVerfG, Beschluss vom 09. Mai 1962 – 2 BvL
    13/60 –, BVerfGE 14, 56–76, Rn. 44.
    58 OLG Karls­ru­he, Urteil vom 26. April 1956 – 2 Ss 27/56 –, juris;
    lesens­wert zur Reim­de­bat­te: Beau­mont, NJW 1989, S. 372.
    59 BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – I ZR 114/20 –, Rn. 13, juris.
    60 BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – I ZR 114/20 –, Rn. 16, juris.
    61 BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – I ZR 114/20 –, Rn. 18, juris.
    den Sprach­ge­brauch im Sin­ne der Ver­wen­dung von
    Begriff­lich­kei­ten inner­halb der Nicht­fremd­spra­che
    macht die Vor­schrift nicht. Mit­hin las­sen sich kei­ne Ant­wor­ten
    auf die Fra­gen der Sexus­ver­wen­dung ent­neh­men.
    bb. Spe­zi­fi­zie­run­gen für kon­kre­te Hand­lun­gen
    Zieht man als Bei­spiel für Spe­zi­fi­zie­run­gen die For­mu­lie­rung
    des Tat­be­stands eines Zivil­ur­teils nach
    § 313 Abs. 2 ZPO her­an, so sind auch etwa­ige Sexus­ver­wen­dun­gen
    unter dem Leit­prin­zip der Wesent­lich­keit
    und Ver­ständ­lich­keit zu bewer­ten. Über­flüs­si­ges und
    Neben­säch­li­ches ist wegzulassen.51 Den­sel­ben Akzent
    legt der Bun­des­ge­richts­hof in lan­ger Tradition52 auf die
    straf­recht­li­chen Urtei­le, wel­che „aus sich her­aus ver­ständ­lich
    sein müssen“.53 Dabei kann es kei­nen Unter­schied
    machen, ob sich die Unver­ständ­lich­keit nun aus
    dem Sprach­ge­brauch oder aus über­flüs­si­gen Ver­wei­sun­gen
    ergibt, da bei­des glei­cher­ma­ßen das inhalt­li­che Ver­ständ­nis
    prägt.
    cc. Bin­dung an das Regel­werk für deut­sche Recht­schrei­bung
    Am 7. Juni 1999 erließ das Bun­des­mi­nis­te­ri­um des
    Innern zum 1. August 1999 die Ein­füh­rung der Neu­re­ge­lung
    der deut­schen Recht­schrei­bung in den amt­li­chen
    Schrift­ver­kehr. Als maß­geb­li­ches Werk für die deut­sche
    Recht­schrei­bung von­sei­ten Beam­ter gilt hier­nach das im
    Bun­des­an­zei­ger ver­öf­fent­lich­te Werk „Deut­sche Recht­schrei­bung,
    Regeln und Wör­ter­ver­zeich­nis, Amt­li­che
    Regelung“.54 Durch Beschlüs­se oder Rund­erlas­se wur­de
    die Beach­tung die­ses Regel­werks auch für den amt­li­chen
    Schrift­ver­kehr in den Bun­des­län­dern verbindlich.55 Für
    den Kern­be­reich rich­ter­li­cher Tätig­keit gilt dies jedoch
    nicht. Urtei­le und Beschlüs­se, wel­che der Aus­übung ori­gi­nä­rer
    recht­spre­chen­der Gewalt unter­lie­gen, unter­fal­len
    nach Art. 97 Abs. 1 GG56 der rich­ter­li­chen Unab­hän­gig­keit.
    Sie sperrt jeg­li­che Ein­fluss­nah­me auf die recht­spre­chen­de
    Tätig­keit durch Ein­zel­wei­sun­gen,
    Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten und ande­re wei­sen­de Maß­nah­men
    von­sei­ten der Exekutive.57 Dazu zäh­len auch Vor­ga­ben
    zur rech­ten rich­ter­li­chen Recht-Schrei­bung. Die­se
    fin­det allen­falls dort Gren­zen, wo sie eine Par­tei in ihrer
    Wür­de ver­letzt und dadurch das Anse­hen der staat­li­chen
    Gerich­te beein­träch­tigt. Das wäre der Fall, wenn die
    Urteils­dar­stel­lung erken­nen lie­ße, dass das Gericht die
    Betei­lig­ten nicht als freie, selbst­ver­ant­wort­li­che Pro­zess­sub­jek­te,
    son­dern als recht­lo­se Objek­te des Staa­tes oder
    als zum Objekt eines Kol­lek­tivs degra­dier­te Men­schen
    behan­delt oder sie somit dif­fa­miert oder ernied­rigt hat.
    Ver­neint wer­den konn­te dies jeden­falls bei an sich sach­li­chen
    Urteils­grün­den in Knittelversen.58
    b. Prak­ti­sche Umset­zung
    Die weit über­wie­gen­de Pra­xis in der Recht­spre­chung
    mar­kiert bei natür­li­chen Per­so­nen den Sexus, soweit es
    sich um eine kon­kre­te Bezeich­nung inner­halb des Ent­schei­dungs­tex­tes
    han­delt. So wird bei­spiels­wei­se im
    Rubrum des Zivil­ur­teils der weib­li­che Klä­ger als Klä­ge­rin
    defi­niert und kon­se­quen­ter­wei­se in jeder Fol­ge­be­zeich­nung,
    sei es im Tat­be­stand oder in den Ent­schei­dungs­grün­den,
    auch so beti­telt. Bemer­kens­wer­ter­wei­se
    wer­den auch juris­ti­sche Per­so­nen, wel­che kein bio­lo­gi­sches
    Geschlecht haben, sexus­mar­kiert. Anknüp­fungs­punkt
    ist dabei das Genus der Rechts­form­be­zeich­nung.
    Ist der Klä­ger also eine Gesell­schaft, so wird er zu der Klä­ge­rin.
    Ledig­lich bei abs­trak­ten Aus­füh­run­gen zur Rechts­la­ge,
    oft­mals in Ober­sät­zen und Defi­ni­tio­nen von Ent­schei­dungs­grün­den,
    wird – ent­spre­chend dem regel­mä­ßi­gen
    gesetz­li­chen Vor­bild – der bio­lo­gisch
    geschlechts­lo­se Ober­be­griff ver­wen­det. Die­ser kann wie
    bei einer Per­son gram­ma­tisch weib­lich, aber eben wie
    auch bei dem Ver­brau­cher gram­ma­tisch männ­lich sein.
    Teil­wei­se, wenn auch sel­ten, las­sen sich auch abs­trak­te
    Erklä­run­gen in voll­stän­di­ger Paar­form fin­den. So stell­te
    der 1. Zivil­se­nat des Bun­des­ge­richts­hofs fest, dass „ein
    erheb­li­cher Teil der Ver­brau­che­rin­nen und Ver­brau­cher
    davon aus[gehe]“59, dass für sie als „Pati­en­tin­nen und
    Patienten“60 nur ein Fach­zahn­arzt für Kie­fer­or­tho­pä­die
    kie­fer­or­tho­pä­di­sche Leis­tun­gen erbrin­gen dür­fe. Bereits
    weni­ge Zei­len spä­ter wer­den auch die­se Ver­brau­che­rin­nen
    und Ver­brau­cher an dem durch­schnitt­lich infor­mier­ten,
    auf­merk­sa­men und ver­stän­di­gen Ver­brau­cher
    gemes­sen und zu sexus­in­dif­fe­ren­ten, aber gram­ma­tisch
    mas­ku­li­nen Patienten61 gemacht. Von Zahn­ärz­tin­nen
    spricht die Ent­schei­dung namens „Kie­fer­or­tho­pä­die“
    Lam­mich · Der Sexus im juris­ti­schen Sprach­ge­brauch 6 3
    62 Vgl. bei­spiels­wei­se BGH, Urteil vom 15. April 2021 – I ZR 134/20
    –, juris; BGH, EuGH-Vor­la­ge vom 29. Juli 2021 – I ZR 135/20
    –, juris; Saar­län­di­sches Ober­lan­des­ge­richt Saar­brü­cken, Urteil
    vom 09. Sep­tem­ber 2021 – 1 U 68/20 –, juris; VG Olden­burg
    (Olden­burg), Beschluss vom 29. Juli 2021 – 7 B 2440/21 –, juris;
    OLG Koblenz, Urteil vom 16. Dezem­ber 2020 – 9 U 595/20 –,
    juris; Ober­ver­wal­tungs­ge­richt für das Land Nord­rhein-West­fa­len,
    Beschluss vom 23. Janu­ar 2020 – 13 B 1423/19 –, juris.
    63 LG Koblenz, Beschluss vom 19. Dezem­ber 2012 – 2090 Js 29752/10
  • 12 KLs –, juris.
    64 LG Flens­burg, Beschluss vom 20. Janu­ar 2021 – V KLs 2/19 –,
    Rn. 1, juris.
    65 LG Flens­burg, Beschluss vom 20. Janu­ar 2021 – V KLs 2/19 –, Rn.
    6, juris.
    66 Vgl. zur 5. Gro­ßen Straf­kam­mer: LG Flens­burg, Beschluss vom 11.
    Juni 2021 – V Qs 26/21 –, juris; LG Flens­burg, Beschluss vom 27.
    Mai 2021 – V Qs 17/21 –, juris; LG Flens­burg, Beschluss vom 23.
    Sep­tem­ber 2021 – V Qs 42/21 –, juris.
    67 BGH, Urteil vom 13. März 2018 – VI ZR 143/17 –, BGHZ 218, 96-
    111, Rn. 37.
    68 Anders die Neue Juris­ti­sche Wochen­schrift (NJW) in ihren Autoren­hin­wei­sen
    vom August 2016, wel­che kei­ner­lei Anfor­de­run­gen
    an die Recht­schrei­bung haben.
    kein ein­zi­ges Mal. Mit die­sem offen­sicht­lich zufäl­li­gen,
    sys­tem­lo­sen Wech­sel von sexus­dif­fe­ren­ter Spra­che und
    sexus­in­dif­fe­ren­ter Spra­che steht das Urteil stell­ver­tre­tend
    für nahe­zu alle von dem Ver­fas­ser gele­se­nen Urtei­le,
    wel­che sich bei abs­trak­ten Ober­be­grif­fen – jeden­falls
    ab und an – der voll­stän­di­gen Paar­form hingaben.62
    Nur mit auf­wen­di­ger Recher­che las­sen sich auch abge­kürz­te
    Paar­for­men fin­den. So schreibt das Land­ge­richt
    Flens­burg in einer – erstaun­lich bekannt anmutenden63
    – Befan­gen­heits­ent­schei­dung zu ver­teil­ten Scho­ko­la­den­weih­nachts­män­nern
    in einer Haupt­ver­hand­lung über
    Ergän­zungs­schöffinnen, Berufs­rich­terinnen und
    Verteidiger*innen.64 Was zunächst wie ein Aus­druck femi­nis­ti­schen
    Sprach­ak­ti­vis­mus anmu­tet, erscheint bei
    nähe­rer Betrach­tung eher wie ein sar­kas­ti­scher Sei­ten­hieb
    gegen­über den Ver­tei­di­gern. Die­se lehn­ten zuvor
    (erfolg­los) die Vor­sit­zen­de auf­grund einer kri­ti­schen
    Anmer­kung zu den von den Ver­tei­di­gern ver­wen­de­ten
    „Gen­der­stern­chen“ als befan­gen ab65 – in ande­ren Ent­schei­dun­gen
    schreibt der Spruch­kör­per ohne ent­spre­chen­de
    Sonderzeichen.66
    c. Kri­ti­sche Wür­di­gung
    Die Schreib­ak­te der Gerich­te sind sprach­lich in einer
    ver­mit­teln­den Funk­ti­on zwi­schen dem Gesetz und den
    Ver­fah­rens­be­tei­lig­ten. Das erkennt man in dem Leit­prin­zip
    der Ver­ständ­lich­keit, das sich von der all­ge­mei­nen
    Amts­spra­che bis hin zur ein­fach­ge­setz­li­chen Form­vor­ga­be
    einer kon­kre­ten Gerichts­hand­lung durch­zieht.
    In die­ser Gren­ze kann die Gerichts­spra­che auch von der
    Ver­wen­dung von Sys­tem­be­grif­fen abwei­chen und auch
    die Recht­schreib­re­geln ver­nach­läs­si­gen. Ob nun eine
    inkon­se­quent genutz­te voll­stän­di­ge Paar­form oder eine
    abge­kürz­te Paar­form die Gren­ze der Ver­ständ­lich­keit in
    den weit­räu­mi­gen Dimen­sio­nen der gesetz­li­chen Vor­ga­ben
    über­schrei­tet, ist für den Ein­zel­fall zu bewer­ten und
    nur im Aus­nah­me­fall zu beja­hen. Wer auf Num­mer
    sicher gehen möch­te, kann aber jeden­falls die sexus­in­dif­fe­ren­te
    Spra­che nach Art des Grund­ge­set­zes über­neh­men,
    die auch bei gram­ma­tisch mas­ku­li­nen bzw. gram­ma­tisch
    femi­ni­nen Ober­be­grif­fen all­ge­mein­hin als bio­lo­gisch
    geschlechts­über­grei­fend ver­stan­den wird.67
  1. Wis­sen­schaft
    Für den hier soge­nann­ten juris­ti­schen Sprach­ge­brauch
    in der Wis­sen­schaft sol­len vor allem die Erzeug­nis­se
    juris­ti­scher Fach­li­te­ra­tur, ins­be­son­de­re Kom­men­tarund
    Auf­satz­li­te­ra­tur, beleuch­tet wer­den.
    a. Regeln der wis­sen­schaft­li­chen Spra­che
    Für den Sprach­ge­brauch inner­halb von Kom­men­tarund
    Auf­satz­li­te­ra­tur gibt es in einer frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen
    Grund­ord­nung kei­ne form­be­zo­ge­nen staat­li­chen
    Regeln außer­halb der all­ge­mei­nen Geset­ze im Sin­ne
    des Art. 5 Abs. 2 GG.
    Zwi­schen der Redak­ti­on und dem Autor kön­nen hin­ge­gen
    for­ma­le Regeln ver­ein­bart wer­den, die in Redak­ti­ons­richt­li­ni­en
    nie­der­ge­schrie­ben sind. Hin­sicht­lich der
    Ver­wen­dung von sexus­dif­fe­ren­ter bzw. sexus­in­dif­fe­ren­ter
    Spra­che gibt es unter­schied­li­che Ansät­ze. Die Redak­ti­ons­richt­li­nie
    des Ver­lags C.H.BECK/Franz Vah­len für
    die Gestal­tung von Zeit­schrif­ten vom 1. Juni 2018 macht
    kei­ner­lei Vor­ga­ben zur Recht­schrei­bung, son­dern kon­zen­triert
    sich vor allem auf die gleich­mä­ßi­ge Form von
    bestimm­ten typi­schen For­mu­lie­run­gen, etwa Recht­spre­chungs­zi­ta­te,
    Zeit­schrif­ten­zi­ta­te oder die Wie­der­ga­be
    von Para­gra­phen. Man­gels Bin­dung an ortho­gra­phi­sche
    Vor­ga­ben kön­nen dem­nach auch abge­kürz­te Paar­for­men
    außer­halb der deut­schen Recht­schrei­bung, wie
    etwa Bin­nen­ma­jus­kel oder Son­der­zei­chen, ver­wen­det
    wer­den. Jedoch gibt es auch inner­halb der Ver­la­ge Zeit­schrif­ten,
    die die Regeln für sich spe­zi­fi­zie­ren. Die­se Autoren­hin­wei­se
    beschrei­ben den abs­trak­ten Auf­bau eines
    Arti­kels, deren Zei­chen­zahl und machen im Ein­zel­fall
    auch ortho­gra­phi­sche Vor­ga­ben. Bei­spiels­wei­se erklärt
    die Zeit­schrift Recht der Trans­port­wirt­schaft (RdTW) in
    ihren Autoren­hin­wei­sen vom Sep­tem­ber 2012 die neue
    deut­sche Recht­schrei­bung für anwendbar.68 Hier wäre
    der Gebrauch von recht­schreib­wid­ri­gen abge­kürz­ten
    Paar­for­men unter­sagt. Eine anders­ar­ti­ge Sexus­mar­kie­rung,
    ins­be­son­de­re die voll­stän­di­ge Paar­form, bleibt jedoch
    jedem Autor anheim­ge­stellt.
    Wäh­rend es in der Über­sicht kei­ne nen­nens­wer­te
    Ver­bo­te zur Sexus­mar­kie­rung gibt, sehen ein­zel­ne Pub6
    4 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 2 ) , 5 5 — 6 7
    lika­ti­ons­ver­trei­ber das Gegen­teil vor: Wer bei­spiels­wei­se
    bei dem Ber­li­ner Online-Start-up juri­ver­se, wel­ches juris­ti­sche
    Übungs­fäl­le sam­melt, einen Bei­trag ver­öf­fent­li­chen
    möch­te, muss pri­mär eine expli­zi­te Sexus­in­dif­fe­ren­zie­rung
    (Stu­die­ren­de statt Stu­den­ten) und hilfs­wei­se
    eine abge­kürz­te Paar­form mit dem Dop­pel­punkt (der:die
    Autor:in statt der Autor) ver­wen­den. Das Pro­no­men
    man darf man gar nicht verwenden.69
    Die­ser Ansatz gleicht damit im Wesent­li­chen den
    Emp­feh­lun­gen zur „geschlech­ter­ge­rech­ten Spra­che“, die
    auch Dut­zen­de deut­sche Hochschulen70 für ihr Per­so­nal
    machen, wobei über­wie­gend die Ver­wen­dung des Aste­risks
    als Son­der­zei­chen für die abge­kürz­te Paar­form vor­ge­schla­gen
    wird. Teil­wei­se räu­men die Hoch­schu­len den
    Dozen­ten die Mög­lich­keit ein, die Ver­wen­dung der „geschlech­ter­ge­rech­ten
    Spra­che“ als Bewer­tungs­kri­te­ri­um
    für Prü­fungs­leis­tun­gen her­an­zu­zie­hen. So hieß es bis
    April 2021 noch auf der Web­site der Uni­ver­si­tät Kas­sel,
    es ste­he „Leh­ren­den grund­sätz­lich frei, die Ver­wen­dung
    geschlech­ter­ge­rech­ter Spra­che als ein Kri­te­ri­um bei der
    Bewer­tung von Prü­fungs­leis­tun­gen her­an­zu­zie­hen“.
    Dem Ver­fas­ser lie­gen auch Kor­rek­tu­ren von Abschluss­ar­bei­ten
    ande­rer Hoch­schu­len vor, in denen aus­drück­lich
    gerügt wur­de, dass für bestimm­te Begrif­fe kei­ne abge­kürz­te
    Paar­form mit­tels Son­der­zei­chen ver­wen­det
    wur­de. Von dem stu­den­ti­schen Prüf­ling kann nicht erwar­tet
    wer­den, in einer sol­chen aus­drück­li­chen Rüge
    eine Unbe­acht­lich­keit für die Noten­ge­bung zu erken­nen.
    Gera­de für Abschluss­ar­bei­ten wie etwa Bache­lor­ar­bei­ten,
    Mas­ter­ar­bei­ten oder Dis­ser­ta­tio­nen ist daher im
    Ein­zel­fall, abhän­gig vom Prü­fer und der Hoch­schu­le,
    eine infor­mel­le und unter Sank­ti­ons­druck durch­setz­ba­re
    Nor­mie­rung der Spra­che anzu­neh­men, die auch auf die
    Sprach­ver­wen­dung in rechts­wis­sen­schaft­li­chen Tex­ten
    durch­schla­gen kann.
    b. Prak­ti­sche Umset­zung
    Ein Blick in die letz­ten Aus­ga­ben gän­gi­ger juris­ti­scher
    Fachzeitschriften71 offen­bart – wenig über­ra­schend –
    hin­sicht­lich des Sprach­ge­brauchs ein ähn­li­ches Bild wie
    die Recht­spre­chung. In aller Regel wer­den klas­si­sche
    sexus­in­dif­fe­ren­te Ober­be­grif­fe, gege­be­nen­falls im gene­ri­schen
    Mas­ku­li­num, ver­wen­det. Die Bei­trä­ge schrei­ben
    über die Vor­ga­ben für Ver­brau­cher, las­sen den Käu­fer
    oder den Täter han­deln. Kom­men­tie­run­gen, wel­che
    Geset­ze behan­deln, in denen eine voll­stän­di­ge Paar­form
    (bei­spiels­wei­se Zeu­gin­nen und Zeu­gen) oder eine unüb­li­che
    expli­zit sexus­in­dif­fe­ren­te Umfor­mu­lie­rung (bei­spiels­wei­se
    zu Fuß Gehen­de) ver­wen­det wird, wan­deln
    die­se eben­falls in die klas­si­sche sexus­in­dif­fe­ren­te Form
    um (Zeuge72 bzw. Fußgänger73). Nur gele­gent­lich wird,
    wie auch in der Recht­spre­chung, in Auf­sät­zen die voll­stän­di­ge
    Paar­form ver­wen­det. Dies aber mit ähn­lich
    über­schau­ba­ren Durch­hal­te­ver­mö­gen wie in der Recht­spre­chung.
    74
    Nur ver­ein­zelt las­sen sich in gedruck­ten Publi­ka­tio­nen
    auch abge­kürz­te Paar­for­men fin­den. So kenn­zeich­net
    sich der Kom­men­tar von Huber/Mantel zum Auf­ent­halts-
    und Asyl­ge­setz in kon­se­quen­ter Abwei­chung von
    gesetz­li­chen Sys­tem­be­grif­fen mit über 2.000 „Gen­der­stern­chen“
    75 und etli­chen expli­zit sexus­in­dif­fe­ren­ten
    Umfor­mu­lie­run­gen (bei­spiels­wei­se mit im Aus­land leben­den
    Per­so­nen). Bemer­kens­wert sind auch enga­gier­te
    Wort­neu­schöp­fun­gen in Form von Sexus­mo­vie­run­gen
    bei Begrif­fen mit gram­ma­tisch neu­tra­lem Geschlecht. So
    spre­chen bei­spiels­wei­se Heldt/Klatt in ihrer Abhand­lung
    zur „Pri­vi­le­gie­rung der Jus­tiz­pres­se­kon­fe­renz durch das
    Bundesverfassungsgericht“76 mehr­fach, wenn auch nicht
    durchgehend77, von Mitglieder*innen der Jus­tiz­pres­se­kon­fe­renz.
    Das ein­zel­ne Mit­glied der deut­schen Sprach­ge­mein­schaft
    mag sich wun­dern.
    c. Kri­ti­sche Wür­di­gung
    Es ver­steht sich in Anbe­tracht der Not­wen­dig­keit einer
    mög­lichst umfang­rei­chen Mei­nungs- und Wis­sen­schafts­frei­heit
    von selbst, dass ein Autor eines rechts­wis­sen­schaft­li­chen
    Wer­kes von­sei­ten des Staa­tes schrei­ben
    darf, wie er es für rich­tig hält. Das gilt ins­be­son­de­re für
    Sprach­ex­pe­ri­men­te mit dem Sexus, die in aller Regel kei­ne
    juris­tisch, son­dern poli­tisch moti­vier­te Kund­ga­be
    sind. Wäh­rend bereits die weni­ger radi­ka­le voll­stän­di­ge
    Paar­form von einer weit über­wie­gen­den Mehr­heit der
    69 Autoren­hin­wei­se juriverse.com.
    70 Ins­ge­samt über 80, dar­un­ter die Albert-Lud­wigs-Uni­ver­si­tät Frei­burg,
    die Ruprecht-Karls-Uni­ver­si­tät Hei­del­berg, die Hoch­schu­le
    Offen­burg, die Uni­ver­si­tät Kon­stanz, die Hum­boldt-Uni­ver­si­tät
    zu Ber­lin und die Freie Uni­ver­si­tät Ber­lin.
    71 Nament­lich Neue Juris­ti­sche Wochen­schrift, Neue Zeit­schrift für
    Ver­wal­tungs­recht, Juris­ti­sche Schu­lung, Archiv für die civi­lis­ti­sche
    Pra­xis, Goltdammer’s Archiv für Straf­recht.
    72 BDZ/Binz, 5. Aufl. 2021, JVEG § 8 Rn. 1; Beck­OK KostR/Bleutge,
  2. Ed. 1.10.2021, JVEG § 1; Landmann/Rohmer GewO/Bleutge,
  3. EL Febru­ar 2021, GewO § 36 Rn. 44.
    73 Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVO
    § 25 Rn. 1; Geigel Haftpflichtprozess/Freymann, 28. Aufl. 2020,
    Kap. 27 Rn. 593 bei­spiel­haft für einen Fach­auf­satz mit dem­sel­ben
    Begriff Rabe/Look, NJW-Spe­zi­al 2020, S. 521.
    74 Vgl. etwa allein zu der Dop­pel­form Ver­brau­che­rin­nen und
    Ver­brau­cher: Kocher, ZEuP 2021, 606, 629; Geiß/Felz, NJW 2019,
    2961, 2965; Kaß­ler, ZWE 2021, 146, 147; Gru­ne­wald, NJW 2021,
    1777, 1778; Bilsdorfer/Sigel, NVwZ 2021, S. 594.
    75 So jeden­falls die Tref­fer­an­ga­be in der Online-Daten­bank beck­on­line.
    76 Heldt/Klatt, NVwZ 2021, S. 684.
    77 Dann Mit­glie­der.
    Lam­mich · Der Sexus im juris­ti­schen Sprach­ge­brauch 6 5
    weib­li­chen und männ­li­chen Deut­schen abge­lehnt wird78,
    ist die abge­kürz­te Paar­form mit Son­der­zei­chen ein offen­kun­di­ges
    poli­ti­sches Statement79, das auch in wis­sen­schaft­li­chen
    Tex­ten gesetzt wer­den darf. Ent­ge­gen jeder
    Vor­stel­lung einer offen mei­nungs­plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schaft
    und somit unver­ein­bar mit der ver­fas­sungs­mä­ßi­gen
    Ord­nung ist dem­entspre­chend aber auch der teil­wei­se
    prak­ti­zier­te Zwang von Stu­den­ten zu der­ar­ti­ger
    Schreib­wei­se.
    Nicht gefeit ist der sprach­ak­ti­vis­ti­sche Autor hin­ge­gen
    vor den unter­schied­li­chen Erwar­tun­gen an wis­sen­schaft­li­che
    Arbei­ten sei­tens des Ver­lags. Wie viel Dar­stel­lung
    per­sön­li­chen, meist the­men­frem­den poli­ti­schen
    Befin­dens sich in einem Fach­text wie­der­fin­den darf,
    bleibt eine Geschmacks­sa­che. Aller­dings ist gera­de für
    juris­ti­sche Tex­te zu beach­ten, dass die wer­tungs- und bedin­gungs­lo­se
    Über­nah­me von Sys­tem­be­grif­fen ein
    Grund­bau­stein dafür ist, dass der Text auch die Ori­en­tie­rung
    inner­halb des Sys­tems unter­stützt. Ein Geset­zes­kom­men­tar,
    der das kom­men­tier­te Gesetz in der Erläu­te­rung
    nicht aus­zu­spre­chen ver­mag, ist, salopp for­mu­liert,
    nur für den­je­ni­gen gut geeig­net, der sich an der
    Kom­ple­xi­tät der gesetz­li­chen Mate­rie lang­weilt und mit
    simul­ta­ner Sprach­über­set­zung bei Lau­ne gehal­ten wer­den
    möch­te.
    Schließ­lich lässt sich sämt­li­chen Redi­gier­richt­li­ni­en
    die Maxi­me der Ein­heit­lich­keit und Fol­ge­rich­tig­keit in
    der Dar­stel­lung ent­neh­men. Sei es nun durch das Gebot
    der ein­heit­li­chen Quel­len­an­ga­be oder durch das fol­ge­rich­ti­ge
    Glie­dern der ein­zel­nen Abschnit­te. Begreift man
    die ein­zel­nen Wör­ter rich­ti­ger­wei­se als Bestand­teil der
    for­ma­len Dar­stel­lung, so habe auch sie ein­heit­lich und
    fol­ge­rich­tig zu sein – auch hin­sicht­lich der Sexus­dif­fe­ren­zie­rung.
    Hier stellt sich zum einen das Pro­blem, dass
    unklar ist, wie weit die Sexus­dif­fe­ren­zie­rung gehen soll.
    Ist es nun derdie Bür­ger­meis­ter­kan­di­datin oder derdie Bür­gerinnen­meis­terinkan­di­datin? Und was ist mit
    dem so scho­nungs­los ver­wen­de­ten juris­tisch? Immer­hin
    han­delt es sich bei ‑isch um ein nach­ge­stell­tes Wort­bil­dungs­ele­ment,
    das ein Adjek­tiv von einem Sub­stan­tiv
    ablei­tet – hier: dem gram­ma­tisch mas­ku­li­nen Jurist-en.
    Und selbst wenn man die Fra­ge der anvi­sier­ten Reich­wei­te
    der Ein­heit­lich- und Fol­ge­rich­tig­keit in die­ser Dimen­si­on
    bewäl­tigt hat, bleibt zu fra­gen: Schafft man es,
    das auch kon­se­quent durch­zu­zie­hen? Der Blick in die
    bis­he­ri­ge Pra­xis der Gesetz­ge­bung, der Recht­spre­chung
    und Wis­sen­schaft lässt dar­an zwei­feln.
    IV. Fazit
    Die Sexua­li­sie­rung des juris­ti­schen Sprach­ge­brauchs
    geht in allen hier beleuch­te­ten Teil­ge­bie­ten mit Nach­tei­len
    ein­her, die jedoch in unter­schied­li­cher recht­li­cher
    Rele­vanz zu Buche schla­gen. Eine recht­lich beson­ders
    schwer­wie­gen­de Beein­träch­ti­gung demo­kra­tie­be­zo­ge­ner
    Natur liegt in der Umfor­mu­lie­rung von Geset­zes­tex­ten.
    Nur in Ein­zel­fäl­len kann hier den Richt­li­ni­en ent­spre­chend
    eine Fach­spra­che abge­bil­det wer­den, die nicht
    sowohl in ihrer Rich­tig­keit als auch in ihrer All­ge­mein­ver­ständ­lich­keit
    ein­büßt. Möch­te man den Sexus­ge­brauch
    der Geset­zesspra­che tat­säch­lich auf dem Gleichberechtigungsförderungsgebot80
    einer Ver­fas­sung beru­hen
    las­sen, wel­che selbst das gene­ri­sche Mas­ku­li­num
    ver­wen­det, so stün­den die­sen Ein­bu­ßen jeden­falls ein
    über­wie­gen­des kol­li­die­ren­des Ver­fas­sungs­in­ter­es­se ent­ge­gen.
    Abschlie­ßend, um die Ein­gangs­fra­ge nun weni­ger
    prä­zi­se aber all­ge­mein­ver­ständ­lich zu beant­wor­ten,
    bleibt zu sagen: Der Sexus im juris­ti­schen Sprach­ge­brauch
    kann nicht nur ner­ven – er tut dies in etli­chen
    Fäl­len auch zu Unrecht.
    Dr. Theo­dor Lam­mich ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter
    der For­schungs­stel­le für Hoch­schul­ar­beits­recht der
    Albert-Lud­wigs-Uni­ver­si­tät Frei­burg, Lehr­be­auf­trag­ter
    der Dua­len Hoch­schu­le Baden-Würt­tem­berg und
    Rechts­re­fe­ren­dar am Land­ge­richt Frei­burg.
    78 Vgl. 65 Pro­zent Ableh­nung mit stei­gen­der Ten­denz Infra­test
    Dimap, Gen­der­ge­rech­te Spra­che KW 19/2021; 86 Pro­zent Ableh­nung
    Mit­tel­deut­scher Rund­funk AdÖR, MDRfragt-Umfra­ge KW
    29/2021; 82 Pro­zent Ableh­nung for­sa, RTL/ntv-Trend­ba­ro­me­ter
    KW 17/2021.
    79 Sie ist ein Aus­druck der sog. Iden­ti­täts­po­li­tik.
    80 Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG.
    6 6 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 1 ( 2 0 2 2 ) , 5 5 — 6 7